Ist Deutschland ein Entwicklungsland in der Begabtenförderung? Der schulische und bildungspolitische Umgang mit Hochbegabung


Bachelorarbeit, 2015

41 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hochbegabung - Definition

3. Deutschland - ein "Entwicklungsland" der Hochbegabtenförderung?
3.1 Die Aussagen der Fachliteratur
3.2 Die Stimmen der Hochbegabten-Interessenverbände
3.3 Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen - das Problem mit dem Begriff „Elite"
3.4 Die Kulturhoheit der Länder als Problem einer Förderung auf nationaler Ebene
3.5 Die Rolle des dreigliedrigen Schulsystems
3.6 Die deutsche Aversion gegen Internate
3.7 Ungenügende Ausbildung der Lehrer bezüglich Erkennen und Förderung der Hochbegabung
3.8. Pädagogische Probleme: Das Überspringen der Klasse
3.9 Ungenügende Angebote der Schulen bezüglich Förderung Hochbegabter

4. Zusammenfassung und abschließende Thesen

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

"Deutschland ist bezüglich der Förderung Hochbegabter ein Entwicklungsland."1 Dieses drastische Urteil findet sich so oder ähnlich2 immer wieder seit Jahrzehnten in der Fachliteratur, die sich mit Hochbegabung beschäftigt, aber auch bei Interessenverbänden, in denen sich Hochbegabte bzw. ihre Angehörigen zusammengefunden haben. Preuß konstatiert im Jahr 2012 zwar erhebliche Verbesserungen hinsichtlich der Tatsache, dass über Hochbegabtenförderung im Gegensatz zu früher überhaupt gesprochen wird und sie anerkannter Teil der Bildungspolitik ist3, dennoch gelte, dass "sich Hochbegabungsförderung trotz ihrer Popularisierung zwar weniger, aber immer noch rechtfertigen muss."4

So resümieren Sparfeldt/Schilling/Rost: "Es wird beklagt, die in Deutschland angebotenen Fördermaßnahmen seien unzureichend, unsystematisch und nur selten evaluiert"5. Stapf beklagt das Fehlen von Spezialschulen und Spezialklassen im staatlichen Schulsystem und dass Hochbegabung kein Thema an Schulen, Hochschulen und Kindergärten sei. Lehrer würden hinsichtlich der Erkennung und Förderung von Hochbegabung nicht ausgebildet, während intensiv Wissen über Minderbegabte vermittelt werde. Grund dafür sei u.a. die Annahme, "Hochbegabte bewältigen sowieso alle schulischen Anforderungen erfolgreich"6. Die vorliegende Arbeit leitet aus diesen Aussagen ihre Fragestellung ab: Werden Hochbegabte bzw. hochbegabte Kinder/Schüler in Deutschland tatsächlich ungenügend gefördert? Stimmen die Klagen, die diesbezüglich zu hören sind? Welche Gründe werden für die ungenügende Förderung in der Fachliteratur und von den Interessenverbänden genannt (und erscheinen diese schlüssig?), welche Kurskorrekturen schlagen sie in der Bildungspolitik vor?

Die Arbeit gliedert sich folgendermaßen: Einer Definition von Hochbegabung folgen detaillierte Darlegungen der Fachliteratur und der Hochbegabten-Interessenverbände bezüglich der ungenügenden Förderung. Danach werden die für Deutschland spezifischen Probleme mit dem Begriff "Elite" vorgestellt, der mit Hochbegabung assoziiert wird. Welche Hindernisse der deutsche Bildungsföderalismus für die Hochbegabtenförderung bereithält, wird danach erörtert. Das gleiche gilt für das gegliederte Schulsystem in Deutschland und die hierzulande verbreitete Abneigung gegen Internate. Der nächste Punkt widmet sich den Lehrkräften, die auch in der Literatur prominent behandelt werden, da von ihnen abhängt, dass Hochbegabung erkannt und spezifisch gefördert wird - wobei bisher starke Defizite postuliert werden. Der Fördermöglichkeit des Überspringens von Klassenstufen wird ebenfalls ein eigener Abschnitt gewidmet. Die sonstigen, oft als unzureichend bezeichneten Fördermaßnahmen der Schulen werden danach betrachtet, bevor im Fazit die Ergebnisse zusammengefasst werden und nach dem Versuch einer Beantwortung der Fragestellungen eigene Thesen formuliert werden.

2. Hochbegabung - Definition

Es existieren viele verschiedene Definitionen der Hochbegabung7. Gauck wählt diejenige, die Hochbegabung beschreibt als "Disposition oder intellektuelles Potenzial zur Erbringung von Leistungen, nicht als die Leistung selbst"8 und deutet damit die Trennung von Hochbegabung und Hochleistung an, die jedoch für manche nur zusammengedacht Hochbegabung ergeben9. Die Definition der Hochbegabung als hohe allgemeine Intelligenz, (die insbesondere Problemlösung erleichtert und die Fähigkeit, sich gedanklich auf neue Anforderungen einzustellen) ist sehr weit verbreitet10.

Neben dieser intellektuellen Hochbegabung gibt es andere Begabungsbereiche, wie z.B. den sprachlichen, musikalischen, logisch-mathematischen, räumlichen und sozialen11. Stapf unterscheidet intellektuelle Begabung, soziale, musische, bildnerisch-darstellende und psychomotorische Begabung12.

Inzwischen populärwissenschaftlich gängige Formulierungen anderer Intelligenz-Arten wie z.B. "emotionale Intelligenz" werden in der Wissenschaft sehr kritisch und ablehnend betrachtet13.

Mit Rückgriff auf historische Betrachtungen kommt Stapf zum Schluss, dass zwei Gesichtspunkte die Klassifizierung einer Person als "hochbegabt" leiten, nämlich Personen, "die etwas Außergewöhnliches leisten, die extrem schwierige Aufgaben lösen, ein höchst ungewöhnliches Werk schaffen" als absolutes, qualitatives Kriterium und Personen, "die in einem festgelegten Bereich eine so hohe Leistung aufweisen, wie sie nur noch von wenigen Personen der Bezugsgruppe erbracht werden kann" als relatives, quantitatives Kriterium14.

Henze/Sandfuchs/Zumhasch erwähnen wie Gauck ebenfalls, dass es viele Definitionen der Hochbegabung gibt, behaupten aber, dass sich diese letztlich auf wenige theoretische Konzepte zurückführen lassen: etwa auf hervorragende Leistungen auf mathematischem, musischem oder sportlichem Gebiet, auf IQ-Definitionen, auf einen relativen Anteil (z.B. 5%) der besten Schüler in einem Jahrgang15.

"Relative Einigkeit besteht darin, dass nahezu alle Hochbegabungskonzepte - in einer jeweils spezifischen Art und Weise - die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Personen berücksichtigen"16.

Ergänzt wird diese potentielle Leistungsfähigkeit im besten Fall durch andere Faktoren, die die Entfaltung dieser Leistungsfähigkeit begünstigen. Henze/Sandfuchs/Zumhasch verweisen auf Renzulli, der Hochbegabung als eine Interaktion von deutlich überdurchschnittlicher Begabung, Aufgabenmotivation und Kreativität definierte17.

Heinbokel, die sich auf das Thema Akzeleration fokussiert, bringt Hochbegabung damit in Verbindung: "Zur Hochbegabung gehört oft dazu, dass die Kinder bestimmte intellektuelle, aber zum Teil auch körperliche und emotionale Entwicklungsschritte nicht nur deutlich früher als der Durchschnitt, sondern auch mit Leichtigkeit erreichen."18

Einigkeit besteht im Weiteren darin, dass pragmatisch ein Weg gefunden werden muss, die Hochbegabung bzw. Intelligenz zu messen, um hochbegabte Schüler zu identifizieren19. Daraus erklärt sich die Konzentration auf allgemeine Intelligenz bzw. intellektuelle Begabung, da Kriterien wie Kreativität oder soziale Intelligenz nur schwer operationalisierbar sind20.

Wie hoch ist nun der quantitative Anteil der Hochbegabten an der Bevölkerung bzw. dem schulpflichtigen Anteil der Bevölkerung?

In den USA werden seit 1972 jene 3% der Leistungsbesten, die in Schulen an Mathe- Wettbewerben teilnehmen, für weitere Tests ausgewählt, deren Bestehen den Zugang zur Universität erleichtert21. Anhand der IQ-Relationen in der Bevölkerung wird der Anteil der Hochbegabten - deren IQ sich weit über oder außerhalb des Durchschnitts befindet - auf 2-5% taxiert22. Oft wird auch nur ein Anteil von 2% genannt23. Die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind nennt 3% aller Kinder als "weit überdurchschnittlich befähigt und [...] somit [...] hochbegabt."24

Zusammenfassend sollte also im Hinterkopf behalten werden, "dass es sich bei jeder Definition der Hochbegabung um ein gesellschaftlich definiertes Konstrukt handelt, das kulturspezifisch ist"25 Dies wird im weiteren Verlauf der Arbeit vor allem dort deutlich werden, wo es um spezifisch deutsche Befindlichkeiten und Mentalitäten geht.

3. Deutschland - ein "Entwicklungsland" der Hochbegabtenförderung?

Anknüpfend an die Darstellung in der Einleitung werden hier in den nächsten beiden Abschnitten im Detail die Gründe dargelegt, die sowohl in der Fachliteratur als auch bei den Hochbegabten-Interessenverbänden für die angeblich unzureichende Förderung genannt werden.

3.1 Die Aussagen der Fachliteratur

Grobel berichtet in ihrer 2005 vorgelegten Veröffentlichung, dass sie über neunzig Prozent aller Veröffentlichungen zum Thema Hochbegabung in [nichtdeutschen] und überseeischen Publikationen fand, und lässt andere zum Thema zu Wort kommen, die von Kollegen im Wissenschaftsbetrieb "mit Wortbrocken wie 'soziale Isolation' und "Elitarismus' angefeindet wurden", berichtet ferner, dass das Thema "offenbar Explosionsstoff" in universitätsinternen Diskusionen enthielt und konstatiert zusammenfassend "die beklagenswerte und defizitäre Kenntnis und Erkenntnissituation Hochbegabter in unserem Lande"26

Vock/Preckel/Holling verweisen darauf, dass im Gegensatz zu Deutschland in Ländern wie den USA und Großbritannien "schon seit Jahrzehnten Schülerinnen und Schüler mit besonderen Begabungen durch spezielle Programme in der Entfaltung ihrer Fähigkeiten unterstützt" werden27.

Gauck differenziert: sie behauptet eine geringe Zahl konkreter Fördermöglichkeiten nur bezüglich der (praxisrelevanten) intellektuellen Hochbegabung28 ; "Im Gegensatz dazu werden zum Beispiel sportliche oder musikalische Hochbegabungen durch die weit verbreiteten Sportvereine und Musikschulen meist früh erkannt und gefördert"29. Auch Stapf postulierte 1997, dass in Deutschland lediglich im sportlichen und musischen Bereich hochbegabte Kinder anerkannt und gefördert werden30.

Während in Deutschland also sportliche und musische Interessen durchaus erkannt und gefördert werden, ist insbesondere so etwas wie soziale/politische Intelligenz bzw. deren Förderung in dieser Hinsicht offenbar ein Fremdwort. Henze/Sandfuchs/Zumhasch erwähnen ein Unterrichtsprojekt, das sich mit der Bundestagswahl 2002 befasste. Fragestellungen waren u.a. ob hochbegabte Schüler ein besseres Vorwissen bezüglich politischer Themen haben, wie sie sich bei Gruppenarbeiten beteiligen und ob Hochbegabte eher die Rolle von Klassensprechern übernehmen31. Es ergab sich, dass die Hochbegabten nicht besser über Parteien und Politiker informiert waren als die anderen Schüler, das Vorwissen war allgemein gering32, allerdings zeigten die hochbegabten Schüler im und nach dem Unterricht größeres Wissen, das sie sich offensichtlich direkt im Unterricht erarbeiteten, und sie waren es auch, die sich vorwiegend am Unterricht beteiligten und die Leitung der Gruppenarbeiten übernahmen. Selbst der zum Klassensprecher gewählte war ein Hochbegabter33. 2004 schrieb Stapf unter Berufung auf Studien aus den USA "Eindeutig ist die Überlegenheit intellektuell hochbegabter Vorschul- und Schulkinder in dem Bereich der sozialen Kognition, d.h. beim Lösen sozialer Probleme, der sozialen Perspektivenübernahme und des Wissens um soziale Strukturen (z.B. bei psychometrischen Wahlen) in ihrer Gruppe. Hochbegabte Kinder haben gute Ideen und unterbreiten oft Vorschläge, wie Konflikte kooperativ in der Gruppe zu lösen sind."34

Vock/Preckel/Holling bemängeln, dass Hochbegabtenfördermaßnahmen in Deutschland (und übrigens auch sonst in Europa) kaum evaluiert werden35.

Eine Notwendigkeit der Evaluation leiten sie allein schon daraus ab, dass kritisiert wird, dass die Förderprogramme nicht auf die speziellen Bedürfnisse der hochbegabten Kinder zugeschnitten seien36. Sie konstatieren jedoch auch, dass das Thema Hochbegabung zunehmend kein Tabuthema mehr sei und in jüngster Zeit stärker ins Bewusstsein der Lehrkräfte rücke37.

3.2 Die Stimmen der Hochbegabten-Interessenverbände

In einem Positionspapier aus dem Jahr 2012 beruft sich der Vorstand des Vereins "Mensa" (der nur Personen mit einem IQ von über 130 aufnimmt) auf das Grundgesetz: "Weil das Grundgesetz die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden Menschen fordert, muss die Förderung von hochbegabten Kindern ebenso selbstverständlich werden wie beispielsweise die Förderung von Kindern mit Lernschwächen."38 Behauptet wird ferner, dass Begabungen sich nur dann optimal entfalten können, wenn sie gefördert werden39. "Förderung hat das Ziel, das Potenzial eines jeden Menschen möglichst weitgehend zur Entfaltung zu bringen. Diese Potentiale auszuschöpfen, ist auf allen Begabungsstufen und -formen wichtig. Die Erkenntnis, dass auch Hochbegabte der Förderung bedürfen, ist in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend verbreitet."40

Eine Ausnahme wird ausdrücklich bezüglich des Sports gemacht: "Ganz selbstverständlich begrüßt die öffentliche Meinung die Förderung von Talenten im Bereich des Sports: Das mag daran liegen, dass das frühe Erkennen einer besonderen Begabung und die intensive Förderung von besonders begabten jungen Menschen in speziellen Einrichtungen sich öffentlichkeitswirksam in Olympiaden und Weltmeisterschaften 'auszahlt'. Noch nicht geschafft haben wir das adäquate Fördern der Potenziale bei Menschen mit intellektueller Hochbegabung."41

Unter Berufung auf Studienergebnisse und Mitgliederumfragen (im übrigen ist das Papier mit Fußnoten und Literaturnachweisen versehen und wirkt so wie ein wissenschaftlicher Aufsatz) wird dann postuliert, dass ein hoher Anteil von Schüler/innen "mangels entsprechender Förderung deutlich unter ihren Möglichkeiten bleiben", was die Lernerfolge und Schulnoten betrifft42. Diese Argumentation betreffend die "Underachiever" ist auch in der Fachliteratur stark vertreten, es gibt eigene Bücher dazu43. Selbst das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat eine eigene Broschüre dazu entwickelt, die 2001 erschien und 2006 nachgedruckt wurde44. Dass diese Problematik so in den Vordergrund gespielt wird, hängt meines Ansicht nach damit zusammen, dass es für die Akteure nur so möglich ist, ein in ihren Augen adäquates Interesse der Öffentlichkeit für ihre Belange zu wecken. Offenbar ist es nur so möglich, eine Teilnahme der Öffentlichkeit für die Hochbegabten zu erreichen - indem diese in gewisser Weise zu den Schwachen gruppiert werden, bei denen es selbstverständlich ist, dass man ihnen besondere Förderung zukommen lässt, um sie zu integrieren, Stichwort "Inklusion"45. Allerdings ist diese Strategie ambivalent: sie befördert so nämlich das Bild des Hochbegabten als überempfindliches Seelchen, gegen das die Fachliteratur und die Interessenverbände oft im gleichen Atemzug ebenfalls ankämpfen. Nach Stapf sind die Studien dazu widersprüchlich: Einige attestieren Hochbegabten emotionale Instabilität und höhere psychische Verletzlichkeit, andere hingegen bescheinigen ihnen höhere psychische Stabilität und geringer ausgeprägte Ängstlichkeit46.

An notwendigen Fördermaßnahmen wird dann im Positionspapier konkret aufgelistet47:

"Mit nur wenigen grundlegenden Weichenstellungen in der Bildungspolitik kann vieles zur Verbesserung der Situation getan werden. Wichtig sind der gesellschaftliche Konsens, dass auch intellektuelle Hochbegabung der Förderung bedarf, und der politische Wille, die Erkenntnisse in Handeln umzusetzen. Konkrete Maßnahmen dazu sind vor allem

- Verbesserung der Aus- und Weiterbildung von Erzieherinnen, Erziehern und Lehrkräften zum Thema Hochbegabung
- Stärkere innere Differenzierung im Unterricht
- Ausweitung des Schulpsychologischen Dienstes als Anlaufstelle für Problemfälle
- Beratungslehrer zum Thema Hochbegabung,
- Akzelerations- und Enrichment-Maßnahmen
- Ausbau des Zweiten Bildungswegs
- Vergabe von Hochbegabtenstipendien"

Es fällt in diesem Positionspapier extrem auf, dass immer wieder Aussagen gemacht werden, die ausgesprochen "anti-elitär" erscheinen; es wird z.B. auf eine mögliche "ungünstige Elitehaltung" als mögliche Wirkung des Besuchs von Spezialschulen hingewiesen48 und der Zweite Bildungsweg betont: "Der zweite Bildungsweg ist für viele Menschen wichtig, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft, eines Migrationshintergrundes oder anderer Probleme im schulischen Bereich hinter ihren intellektuellen Möglichkeiten zurückgeblieben sind. Darunter gibt es auch eine große Zahl von Hochbegabten, die erst spät ihre geistigen Fähigkeiten entdeckt haben. Wenn es gesellschaftspolitisch um das Erschließen von Begabungspotenzialen geht, ist die Chance groß, hier fündig zu werden."49. Auch der Mitgliedsbeitrag, den Mensa erhebt, bewegt sich nicht gerade auf Tennisclub-Niveau: er liegt bei lediglich 44 Euro pro Jahr50. Der dazu angebotene IQ-Test als Eingangsvoraussetzung kostet 49 Euro51.

Kritisiert wird im Papier die bisherige Förderung durch Stiftungen etc., die sich ihre Klientel z.B. nur nach bestimmten gesellschaftlichen Kriterien aussuchen, und dass nur hohe Leistung, nicht das Potenzial zur hohen Leistung gefördert wird:

"Überdenken der Förderungskriterien - Derzeit werden von den Begabtenförderungswerken und anderen Institutionen aufgrund ihrer Auswahlkriterien fast ausnahmslos Hochleistende gefördert, also Bewerber, die beste Noten vorweisen können. Die Intelligenz, also das Potenzial für Leistung, spielt kaum eine Rolle, und die außerschulischen Leistungen werden nur insoweit berücksichtigt, als es in der Zielrichtung der Stiftungen liegt (z.B. soziales/politisches Engagement).

Mit der Ausrichtung auf die gezeigte schulische Leistung und die Besonderheiten des Auswahlverfahrens fallen in fast allen Stiftungen diejenigen Bewerber systematisch durch das Raster, die eher unangepasst sind, die wegen ihrer sozialen Herkunft (z. B. aus bildungsfernen Schichten) noch nicht souverän auftreten oder wegen ihres breiten Interessenspektrums nicht über Top-Noten verfügen (sog. schulische Underachiever). Damit bleibt viel kreatives und intellektuelles Potenzial ungenutzt. Gerade weil das Stipendiaten-Netzwerk ein wesentlicher Teil der Förderung ist, wäre es wichtig, es auch und ganz besonders denjenigen zu öffnen, die die Fähigkeit zum Bewegen auf diesem gesellschaftlichen Parkett nicht aus dem Elternhaus mitbringen."52

Ein weitverbreitetes Argument bei den Interessenverbänden, aber auch in der Fachliteratur53, ist die implizite Drohung, dass Deutschland bei einer Vernachlässigung der Hochbegabtenförderung sein (Wohlstands-)Niveau nicht halten können werde; diese Sätze finden sich ganz am Anfang des Positionspapiers: "Eine Gesellschaft profitiert von der Zufriedenheit ihrer Mitglieder. Ihr Wohlstand basiert neben anderen sozialen Faktoren vor allem auf den Potenzialen der Menschen, ihrer Kreativität, Zuverlässigkeit und Intelligenz. Solche geistigen Ressourcen zu finden, zu erschließen und zu fördern ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe."54 Damit wird zugleich die Brücke zur Gesamtgesellschaft geschlagen: sie ist es, die in dieser Argumentation letztlich von den Hochbegabten profitiert, deswegen obliegt es ihr auch, diese zu fördern. Das Interesse der Hochbegabten an ihrer Förderung ist somit kein Partikularinteresse mehr.

[...]


1 Stapf, 1997.

2 Urban charakterisiert in einem Aufsatz von 1982 die Bundesrepublik als "unterentwickelt" bzw. "Entwicklungsland" der Hochbegabtenförderung und fügt in zeitlich späteren Ergänzungen (1989, 1990) hinzu, dass sich die Lage nicht wesentlich verändert habe bzw. noch lange nicht von einer durchgängigen und effektiven Förderung besonders Begabter in der Bundesrepublik gesprochen werden könne Urban, 2004, S. 59- 60, 87, 107.

3 Preuß, 2012, S. 46 ff.

4 Preuß, 2012, S 67.

5 Sparfeldt/Schilling/Rost, 2000, S. 483.

6 Stapf, 1997.

7 Gauck, 2007, S. 5; Joder, 208, S. 11, 13.

8 Gauck, 2007, S. 5.

9 Joder, 2008, S. 13.

10 Joder, 2008, S. 11.

11 Gauck, 2007, S. 5.

12 Stapf, 1997.

13 Joder, 2008, S. 12-13; Stapf, 1997.

14 Stapf, 2004, S. 17.

15 Henze/Sandfuchs/Zumhasch, 2006, S. 13-14.

16 Henze/Sandfuchs/Zumhasch, 2006, S. 14.

17 Henze/Sandfuchs/Zumhasch, 2006, S. 14-15.

18 Heinbokel, 2009, S. 3.

19 Henze/Sandfuchs/Zumhasch, 2006, S. 17

20 Henze/Sandfuchs/Zumhasch, 2006, S. 17-18; Joder, 2008, S. 12-13.

21 Heinbokel, 2009, S. 37.

22 Heinbokel, 2009, S. 80-81.

23 Joder, 2008, S. 12; Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2006, S. 7-8; Karg-Stiftung, Wie häufig kommt eine Hochbegabung vor?

24 Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind, Willkommen bei der DGhK.

25 Gauck, 2007, S. 141.

26 Grobel, 2005, S. 4-5.

27 Vock/Preckel/Holling, 2007, S. 11.

28 Gauck, 2007, S. 5.

29 Gauck, 2007, S. 6.

30 Stapf, 1997.

31 Henze/Sandfuchs/Zumhasch, 2006, S. 246, 250.

32 Henze/Sandfuchs/Zumhasch, 2006, S. 255.

33 Henze/Sandfuchs/Zumhasch, 2006, S. 252, 256-258, 263.

34 Stapf, 2004, 45-46.

35 "Im deutschen Sprachraum begnügen sich viele Anbieterinnen und Anbieter von Maßnahmen mit dem Hinweis darauf, dass bestimmte Maßnahmen offenkundig zu großen Lernfortschritten bei den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern geführt hätten. Dabei wird allerdings kaum berücksichtigt, dass allein die exzellenten Eingangsvoraussetzungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wie eine hohe Begabung, Lernfreude oder eine hohe Leistungsmotivation schon derartige Erfolge begünstigen [...] Bis heute liegen daher nur sehr wenige systematische Evaluationsstudien vor, die eindeutig die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen aufzeigen. Häufiger trifft man auf Erfahrungsberichte über die Arbeit mit einzelnen Kindern. Doch diese sind kaum generalisierbar und können wissenschaftliche Studien nicht ersetzen. Evaluationen von Hochbegabtenfördermaßnahmen bringen Sicherheit, das richtige Angebot für die richtige Zielgruppe zu machen und ermöglichen einen verantwortlichen Umgang mit finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen" Vock/Preckel/Holling, 2007, S. 17.

36 Vock/Preckel/Holling, 2007, S. 17.

37 Vock/Preckel/Holling, 2007, S. 150.

38 Mensa, 2012, S. 1.

39 Mensa, 2012, S. 1.

40 Mensa, 2012, S. 2.

41 Mensa, 2012, S. 4.

42 Mensa, 2012, S. 2.

43 Greiten, Hochbegabte Underachiever.

44 Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2006, Impressum.

45 So schreibt Preuß, dass die Akzeptanz der Hochbegabtenförderung sich dadurch verbessert habe, dass "ein Inklusionsimpuls aus[geht], der allen Kindern, auch den besonders Begabten, das Recht zugesteht, ihre Potenziale maximal zu entwickeln" Preuß, 2012, S. 51.

46 Stapf, 2004, S. 56-60.

47 Mensa, 2012, S. 4.

48 Mensa, 2012, S. 8.

49 Mensa, 2012, S. 10.

50 Mensa, Wie werde ich Mitglied bei Mensa?

51 Mensa, Intelligenztests.

52 Mensa, 2012 S. 11.

53 "Ziegler führt die veränderte Wachheit von Politik, Wirtschaft und Bildungswesen auf den Innovationsdruck an die Industrienation Deutschland zurück, der den Boden bereitet für einen unverkrampfteren Umgang mit dem Elitebegriff als auch auf die im Vergleich zum OECD-Durchschnitt schlechten PISA-Resultate, welche die Bildungspolitik in Deutschland aufrührte." Preuß, 2012, S. 47 [Hervorhebung N.A.].

54 Mensa, 2012, S. 1.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Ist Deutschland ein Entwicklungsland in der Begabtenförderung? Der schulische und bildungspolitische Umgang mit Hochbegabung
Hochschule
Universität Hamburg
Veranstaltung
Erziehungswissenschaften - Lehramt
Note
1.0
Autor
Jahr
2015
Seiten
41
Katalognummer
V309161
ISBN (eBook)
9783668074927
ISBN (Buch)
9783668074934
Dateigröße
668 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hochbegabung, Erziehungswissenschaften, Hochbegabte, förderung, bildungspolitik, Elite, begabtenförderung, Internate
Arbeit zitieren
Mariam Ahmadi (Autor:in), 2015, Ist Deutschland ein Entwicklungsland in der Begabtenförderung? Der schulische und bildungspolitische Umgang mit Hochbegabung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309161

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