Förderung transkultureller Lernkulturen als Beitrag zur Integration schwer erreichbarer Zielgruppen in Vorhaben der Erwachsenenbildung in der Entwicklungszusammenarbeit


Hausarbeit, 2015

46 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Glossar

1.Einleitung und Einführung in das Forschungsthema
1.1 Relevanz der Erwachsenenbildung in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit
1.2 Darstellung und Eingrenzung des Forschungsgegenstandes
1.3 Methodisches Vorgehen und Aufbau

2. Kritische Reflektion der Zielgruppenorientierung in Erwachsenenbildungsvorhaben der Entwicklungszusammenarbeit
2.1 Zielgruppenorientierung und Zielgruppen in der Erwachsenenbildung
2.2 Zielgruppenorientierung in der Erwachsenenbildung der EZ - Vorteile und Herausforderungen

3. Chancen einer stärkeren Einbeziehung der Milieuforschung und milieutypischer Lernkulturen in die Zielgruppenentwicklung
3.1 Soziale Milieus und das Sinus-Milieumodell
3.2 Soziale Milieus und Lernkulturen

4. Soziale Milieus und Lernkulturen aus transkultureller Perspektive
4.1 Das Konzept der Transkulturalität
4.2 Lernen durch Erweiterung der Driftzonen zwischen transkulturellen institutionellen und informellen Lernkulturen

5. Zusammenfassung, Bewertung und Ausblick

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Sinus-Meta-Milieus in emerging markets, Sinus-Institut 2013

Abb. 2: Milieustruktur der BRD, Sinus-Institut 2015

Abb. 3: Sinus-Meta-Milieus in established markets, Sinus-Institut 2013

Glossar

Alphabetisierung (literacy)

Kontextgebundenes Kontinuum von Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen, das in Lern - und Anwendungsprozessen in Schulen sowie anderen für Heranwachsende und Erwachsene geeigneten Umgebungen erworben und entwickelt wurde (vgl. UNESCO 2006: 30).

Bedarf

Klarer, quantifizierbarer Wunsch, der sich auf ein bestimmtes Gut, eine Dienstleistung oder den Erwerb bestimmter Kompetenzen bezieht (vgl. Schlutz 2014: 11).

Bedürfnis

Unbewusstes oder diffuses Gefühl eines Mangels, der nach Ausgleich verlangt (vgl. Schlutz 2014: 11).

Formale Bildung

Institutionalisierte Lernaktivitäten innerhalb einer Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung. Die Lernaktivitäten sind strukturiert in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung bzw. Lehr-Lernprozesse und führen zur Anerkennung bzw. Zertifizierung im Rahmen von nationalen Standards. Formales Lernen ist aus der Sicht der Lernenden zielgerichtet (vgl. Europäische Kommission 2006: 17; UNESCO 2012: 8).

Grundbildung

Grundbildung befriedigt, „grundlegende Lernbedürfnisse“. Dazu zählen „wesentliche Lernwerkzeuge“, wie Lesen, Schreiben, Rechnen, mündliche Ausdrucksfähigkeit und Problemlösungsfähigkeiten sowie „grundlegende Lerninhalte“, wie Wissen, Kompeten- zen, Werte und Einstellungen. Diese Lernwerkzeuge und Lerninhalte dienen dem Über- leben, dem Leben und Arbeitens in Würde, der Partizipation an Entwicklungsprozessen, dem Treffen informationsbasierter Entscheidungen und dem weiteren Lernen (vgl. In- ter-Agency Commission for the World Conference on Education for All 1990: ix, 11).

Implizites Lernen

Lernen, das eher unreflektiert und unbewusst stattfindet (vgl. Overwien 2004: 56)

Informelle Wirtschaft

Die informelle Wirtschaft umfasst „alle wirtschaftlichen Tätigkeiten von Arbeitnehmern und wirtschaftlichen Einheiten, die - vom Gesetz oder in der Praxis - nicht oder nur unzureichend von formellen Regelungen gedeckt sind“ (ILO 2002: 2).

Informelles Lernen

Informelles Lernen findet in Alltagssituationen statt. Es ist (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung) nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist jedoch in den meisten Fällen nicht intentional (vgl. EU-Kommission 2001: 33).

Institutionalisiertes Lernen

Lernen im Rahmen von im Hinblick auf Lehr- Lernarrangements strukturierten Lernaktivitäten in Institutionen bzw. Organisationen, die berufliche oder allgemeine Bildung anbieten (vgl. Europäische Kommission 2006: 14)

Lebenswelt

Alltägliche subjektiv erlebte und empfundene Wirklichkeit bzw. Erfahrungswelt von Menschen, die die Grundlage für menschliches Handeln und Denken bildet, die ein Mensch selbst beeinflussen kann, in der er aber auch in Interaktion mit anderen Menschen steht (vgl. Husserl, Schütz/Luckmann).

Lernkultur

Wertvorstellungen, Rollenmuster und Verhaltensweisen in Bezug auf Bildung, Lehren und Lernen, die sich in einer Gesellschaft bzw. gesellschaftlichen Gruppe herausgebildet und routinisiert haben und sich kontinuierlich weiterentwickeln.

Non-formale Bildung

Dabei handelt es sich um Lernen, dass in (weniger formalisierten) Organisationen oder Gruppen stattfindet. Rahmenbedingungen, Strukturen, Lerntempo und Unterrichtsform können stark variieren und sind in der Regel den Bedürfnissen der Zielgruppe ange- passt. In den meisten Fällen erfolgt keine Vergabe von Zertifikaten. Wenn Zertifikate vergeben werden, stehen diese nicht in Bezug zum formalen Bildungssystem. Das Ler- nen erfolgt zielgerichtet und bewusst (vgl. Europäische Kommission 2006: 17; UNESCO 2012: 8).

Soziale Milieus

Gruppen von Menschen innerhalb der Gesellschaft mit ähnlichen Lebenswelten, Wertorientierungen, Lebensstilen und Lebenszielen (vgl. Tippelt, R./Reich, J. 2005:VI)

Transkulturalität

Durchdringung von Gesellschaften, Bevölkerungsgruppen und Individuen mit unterschiedlichen kulturellen Merkmalen (im Rahmen der Globalisierung). Dies führt dazu, dass es keine klar abgrenzbaren homogenen kulturellen Einheiten gibt. Es bilden sich neue Kulturen, die unabhängig von Nationen sind.

Zielgruppen der Erwachsenenbildung

Bevölkerungsgruppen, die gemeinsame sozialstrukturelle bzw. soziodemografische sowie lernkulturelle Merkmale und einen gemeinsamen subjektiv empfundenen Mangel aufweisen, der die persönliche, soziale und/oder wirtschaftliche Entwicklung behindert und die Bildung als einen Beitrag zur Überwindung des Mangels betrachten bzw. bereit sind, Bildung als Möglichkeit der Problemlösung zu reflektieren.

1. Einleitung und Einführung in das Forschungsthema

1.1 Relevanz der Erwachsenenbildung in der internationalen Entwicklungszu- sammenarbeit

In den auf der UNESCO Generalkonferenz 1976 in Nairobi angenommenen Empfeh- lungen zur Entwicklung der Erwachsenenbildung heißt es, dass der „Zugang von Er- wachsenen zu Bildung, im Kontext von lebenslanger Bildung, ein fundamentaler As- pekt des Rechts auf Bildung ist […]“ (UNESCO 1976:1). Erwachsenenbildung wird definiert als die

"Gesamtheit der formalen oder sonstigen Lernprozesse, in denen Menschen, die von der Gesellschaft, zu der sie geh ö ren, als Erwachsene betrachtet werden, ihre F ä higkeiten entfalten, ihr Wissen erweitern und ihre fachlichen oder beruflichen Qualifikationen verbessern oder sie neu ausrichten, um ihren eigenen Bed ü rfnissen und denjenigen ihrer Gesellschaft zu entsprechen". (UNESCO 1997: 1, Punkt 3)

Für die Bildungspolitiken der Entwicklungsländer sowie die internationale Entwicklungszusammenarbeit (EZ) hat Erwachsenenbildung insbesondere vor dem Hintergrund der Weltkonferenz zu „Bildung für Alle“ (1990) in Jomtien, Thailand sowie dem gleichnamigen UNESCO Aktionsplan von Dakar (Dakar Framework for Action) aus dem Jahr 2000 an Bedeutung gewonnen. Im Aktionsplan von Dakar verpflichteten sich 164 Regierungen dazu, bis 2015
- die Lernbedürfnisse von Jugendlichen und Erwachsenen durch den Zugang zu
Lernangeboten und Training von Basisqualifikationen abzusichern,
- den Alphabetisierungsgrad unter Erwachsenen, insbesondere Frauen, um 50% zu
steigern sowie den Zugang Erwachsener zu Grund- und Weiterbildung sicherzustellen (UNESCO 2000: 16, Ziele 3 und 4).

Entsprechende Verpflichtungen, mit der Zielperspektive 2030, finden sich auch in der Erklärung des Weltbildungsforums in Incheon, Korea im Mai 2015 (Incheon Declaration) wieder. Alle Jugendlichen und Erwachsenen, insbesondere Mädchen und Frauen, sollen relevante und anerkannte funktionale Lese-, Schreib- und Rechenfähig- keiten sowie lebensrelevante Kompetenzen erlangen. Dies soll durch die Bereitstellung von Möglichkeiten zum Erwachsenenlernen und zur Weiterbildung gewährleistet wer- den (vgl. UNESCO 2015: 8).

Am 25. September 2015 wurde auf dem Gipfel der Vereinten Nationen in New York die “Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung” verabschiedet. Sie löst die Millenniums- entwicklungsziele aus dem Jahr 2000 ab. Die Agenda 2030 formuliert 17 Entwick- lungsziele (Sustainable Development Goals). Ziel 4 bezieht sich auf die Sicherstellung inklusiver und hochwertiger Bildung für alle und die Förderung des lebenslangen Ler- nens. Im Hinblick auf Erwachsenenbildung stellt sich die internationale Gemeinschaft die Aufgaben,
- einen gleichberechtigten Zugang für alle Frauen und Männer zu erschwinglicher
und qualitativ guter fachlicher, beruflicher und tertiärer Bildung, inkl. universitärer Bildung, zu schaffen;
- die Anzahl der Jugendlichen und Erwachsenen, die über ausreichende Kompeten-
zen für den Zugang zu würdiger Beschäftigung bzw. zur Führung eines eigenen Unternehmens verfügen, zu steigern sowie
- die Aneignung von Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten für alle Jugendlichen
und einen signifikanten Anteil Erwachsener zu ermöglichen (vgl. United Nations 2015).

Trotz des langjährigen Engagements der internationalen Gemeinschaft in der Bildung und Erwachsenenbildung gibt es weltweit jedoch noch ca. 757 Millionen Analphabeten, davon zwei Drittel Frauen. Die höchsten Analphabetenraten weisen Süd- und Westasien sowie Subsahara-Afrika auf (United Nations 2015: 1). Viele junge Erwachsene sind zudem nicht ausreichend für den modernen Arbeitsmarkt qualifiziert (vgl. ILO 2013: 25 f.). Die Beschäftigung in der informellen Wirtschaft, die sich staatlicher Gesetzgebung und Kontrolle entzieht und in der Arbeit häufig unter gesundheitsgefährdenden und ausbeuterischen Bedingungen stattfindet, ist in Entwicklungsländern weit verbreitet. In einigen Ländern Süd- und Südostasiens ist sie für bis zu 90% der Gesamtbeschäftigung verantwortlich (vgl. ILO 2014: 13). Viele Länder haben zwar Politiken zu Erwachse- nenbildung und lebenslangem Lernen formuliert, deren Umsetzung und die Investitio- nen in Erwachsenenbildung sind jedoch mangelhalft (vgl. UNESCO 2013: 155, 157). Insgesamt fehlt es an konzeptioneller Klarheit im Bereich der Erwachsenenbildung (vgl. Ebda: 57). Darüber hinaus ist der Erwachsenenbildungssektor im Hinblick auf Profes- sionalisierung und Qualitätssicherung wenig reguliert (vgl. Ebda: 159).

Die Erwachsenenbildung (vgl. UNESCO 2013: 41) und somit auch Erwachsenenbil- dungsvorhaben der internationalen EZ richten sich an (junge) Frauen und Männer ab 15 Jahren, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind. Es handelt sich meist um die För- derung non-formaler Bildungsangebote, bei denen Rahmenbedingungen, Lernziele so- wie Lehr- und Lernformen weniger strukturiert bzw. vorgegeben sind, sondern sich stärker am Bedarf der konkreten (potenziellen) Lerngruppen orientieren. Die Vorhaben setzen auf mehreren Ebenen an. Diese umfassen: Bildungspolitikberatung und Verbes- serung des Bildungsmanagements; Kapazitätsentwicklung von Bildungsträgern und Lehrkräften; Erarbeitung bedarfsgerechter Curricula; Entwicklung von Lehr- und Lern- materialien; Vernetzung relevanter staatlicher, zivilgesellschaftlicher und privater Ak- teure; Beratung bei der Umsetzung von Bildungsmaßnahmen sowie Monitoring und Evaluierung. Die Lernenden sollen dabei unterstützt werden, ihre persönlichen Entwick- lungsmöglichkeiten, ihre Lebenssituation sowie ihre politische, soziale und wirtschaftli- che Teilhabe zu verbessern.

Auf der Ebene der konkreten Durchführung der Bildungsangebote hat sich allerdings gezeigt, dass in vielen Maßnahmen vor allem solche Personen regelmäßig und bis zum Ende teilnehmen, die bereits über Bildungsmotivation, Selbstlernkompetenzen sowie eine gewisse Vorbildung verfügen. Personen aus besonders marginalisierten Gebieten bzw. „bildungsferneren“ Bevölkerungsgruppen werden oft nicht erreicht oder sie kön- nen aufgrund der täglichen Überlebenssicherung nur unregelmäßig teilnehmen (vgl. Adam/ Hiltmann 2013: 145). Nationale und internationale Studien haben wiederholt belegt, dass diejenigen, die „mehr haben auch mehr bekommen“ (UNESCO 2013: 158). Diese immer wiederkehrende Erkenntnis bildet die Grundlage dieser Hausarbeit.

1.2 Darstellung und Eingrenzung des Forschungsgegenstandes

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Ausgangssituation und Problemstellung geht die vorliegende Hausarbeit folgender Forschungsfrage nach:

Welchen Beitrag k ö nnte eine st ä rkere Ber ü cksichtigung milieutypischer Lernkulturen sowie die F ö rderung transkultureller (institutioneller und informeller) Lernkulturen leisten, damit stark marginalisierte und bildungsferne Personengruppen besser an Vorhaben der Erwachsenenbildung in der EZ partizipieren?

Die mangelnde Partizipation dieser Personengruppen an institutionalisierter Erwachse- nenbildung wird vor allem auf „multiple Benachteiligungen“ (UNESCO 2013: 121) sozio-ökonomischer und sozialstruktureller Art zurückgeführt, z. B. niedriges Bildungs- niveau, Arbeitslosigkeit oder geringes Einkommen (Desjardins 2010, zitiert nach UNESCO 2013: 121). Hinzu kommen Lernbarrieren aufgrund von ungewohnten oder als unangenehm empfundenen Lehr-Lernpraktiken in Bildungsinstitutionen, differieren- de Einstellungen im Hinblick auf Bildung und Lernen (abweichend von den Einstellun- gen der Bildungsanbieter) sowie mangelnde Information über Bildungsangebote und deren Nutzen (Cross 1981; Rubenson 2010, zitiert nach UNESCO 2013: 117).

Lernen erfolgt jedoch nicht nur zielgerichtet und strukturiert im Rahmen von formali- sierten Lernprozessen. Etwa 70% des menschlichen Lernens findet in informellen Lern- zusammenhängen im Alltagsleben statt, z. B. innerhalb von Familie, im sozialen Um- feld, in der Gemeinde, am Arbeitsplatz oder durch Medien. (Faure 1973, zitiert nach: Hungerland/ Overwien 2004: 9). Es handelt sich dabei sowohl um stärker reflektiertes Erfahrungslernen als auch um implizites, d.h. unbewusstes, unreflektiertes Lernen (vgl. Overwien 2004: 56). Der Faure-Report der UNESCO von 1972 hebt hervor, dass Kin- der und Erwachsene einen großen Teil ihrer Bildung außerhalb von Bildungsinstitutio- nen erwerben und informelles Lernen die Grundlage bilde, an die formalisierte Bildung anknüpfen könne. Die formalisierte Bildung helfe den Lernenden wiederum dabei, das in der Umwelt erworbene Wissen zu strukturieren, zu reflektieren und begrifflich zu erfassen (vgl. Faure 1972: 5). Diese Sichtweise sowie die Aufforderung, eine Balance zwischen den Lernformen zu wahren, geht zurück auf den US-amerikanischen Erzie- hungswissenschaftlicher John Dewey, (vgl. Dewey 1916: 8) und wird auch im Delors- Bericht der UNESCO von 1996 aufgegriffen (vgl. Delors 1996: 23/24).

Um im Rahmen von Erwachsenenbildung Anschluss an Menschen in ihren informellen Lernzusammenhängen zu bekommen, bedarf es des Zugangs zu ihrer Lebenswelt. Der Begriff der Lebenswelt bezieht sich in Anlehnung an Husserl sowie Schütz/Luckmann auf die alltägliche subjektive und intersubjektive Wirklichkeit bzw. Erfahrungswelt, die die Grundlage für menschliches Handeln und Denken bildet (vgl. Husserl 1935; Schütz/ Luckmann 2003: 29f.). Es gibt zahlreiche Ansätze der Erwachsenenbildung der EZ, die Anschluss an die Lebensrealität „bildungsferner“ Bevölkerungsgruppen suchen, z. B. im Gemeinde- oder Arbeitskontext, durch die Nutzung lokaler Medien (vgl. UNESCO 2013: 122f; Dehnbostel 2004: 51f., Adam/ Hiltmann 2013). Trotzdem gelingt es häufig nicht, eine Brücke zu schlagen zwischen den meist in institutionalisierten Lernkontexten gewonnen Bildungserfahrungen von Bildungsplanern bzw. -anbietern und den Lebens- welten und stärker informellen Lernformen marginalisierter Bevölkerungsgruppen.

Die Milieuforschung bietet Ansatzpunkte zur Annäherung an subjektiv empfundene Lebenswirklichkeiten von Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen, indem sie länder- und schichtübergreifende soziale Milieus mit ähnlichen Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen beschreibt. Dabei werden auch Schnittstellen zwischen den Mili- eus sichtbar. Tippelt und Barz richten einen besonderen Blick auf Lernkulturen in sozia- len Milieus bezogen auf Deutschland. Das Konzept der Transkulturalität erklärt die Herausbildung von globalen sozialen Milieus und kulturellen Orienteirungen anhand der zunehmenden Durchdringung von Gesellschaften und Individuen mit vielfältigen kulturellen Einflüssen. Die Auseinandersetzung mit milieutypischen Lernkulturen in unterschiedlichen Regionen und Ländern sowie mit länderübergreifenden Lernkulturen in bestimmten Milieus mittels des Konzepts der Transkulturalität ist in der erziehungs- wissenschaftlichen Diskussion bisher allerdings zurückhaltend (vgl. Gieseke/ Robak 2009: 20). Es gibt einige interessante Beiträge, die transkulturelle Lernkulturen aus der Perspektive von Organisationen, Unternehmen und Bildungssystemen betrachten (Gieseke, Robak, Ming-Lieh, Fleige). Diese Ansätze sind innerhalb der EZ bisher kaum reflektiert worden. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Christian Fischer, der aus transkultureller Perspektive auch Anregungen für die Personalauswahl und - entwicklung in der EZ gibt.

Die vorliegende Hausarbeit verbindet die genannten Forschungsstränge zu Lernkulturen in sozialen Milieus und Transkulturalität, bezieht sie auf die individuellen Akteure in- nerhalb des Systems der Erwachsenenbildung (Bildungsplaner und -anbieter, Lehrkräf- te, Zielgruppen) und versucht sie für die Erwachsenenbildung der EZ nutzbar zu ma- chen.

1.3 Methodisches Vorgehen und Aufbau

Die Grundlage für die vorliegende Hausarbeit bildet die Studie „Non-formale Bildung. Auswertung von Erfahrungen der deutschen und internationalen Entwicklungszusam- menarbeit“ (Adam/ Hiltmann 2013), die im Auftrag der Arbeitsgruppe zu non-formaler Bildung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführt wurde. In dieser Studie werden die Lernerfahrungen von 19 Projekten in den Bereichen non- formale Allgemeinbildung, non-formale berufliche Bildung sowie non-formale Bildung im Rahmen der Jugend(sozial)arbeit analysiert und dokumentiert. Davon sind/waren 17 Vorhaben im Bereich der Erwachsenenbildung angesiedelt und werden im Folgenden berücksichtigt. Bei der Auswertung konnten die Verfasserinnen auf Projektkonzeptio- nen, Evaluierungsberichte, Materialien der Öffentlichkeitsarbeit sowie persönliche Ar- beitserfahrungen in einigen Projekten zurückgreifen. Um die Validität der zentralen Ergebnisse der GIZ-Studie im Hinblick auf das der Forschungsfrage zugrundeliegende Kernproblem zu untermauern, stützt sich die Hausarbeit zusätzlich auf die Ergebnisse des zweiten Berichts zu Erwachsenenlernen und Erwachsenenbildung der UNESCO von 2013.

Die Bearbeitung der Forschungsfrage erfolgt systematisch in aufeinander aufbauenden Schritten. Dabei wird relevante wissenschaftliche Literatur zur Zielgruppenentwicklung, zu sozialen Milieus sowie zum Konzept der Transkulturalität berücksichtigt. Zu Beginn jedes Kapitels des Hauptteils werden wesentliche Begriffe geklärt. Ausgehend von einer kritischen Reflektion des Zielgruppenansatzes in der EZ erfolgt eine Betrachtung der Potenziale der Milieuforschung hinsichtlich einer lebensweltorientierten Zielgruppen- differenzierung. Dabei wird das Modell der Sinus Milieus, insbesondere der Sinus- Meta-Milieus, des Heidelberger Marktforschungsinstituts Sinus Sociovision zugrunde- gelegt. Anschließend wird auf lernkulturelle Merkmale sozialer Milieus am Beispiel Deutschlands eigegangen.

Darauf folgend wird, anhand des Konzepts der Transkulturalität, die Übertragbarkeit der für Deutschland gewonnen Erkenntnisse auf Lernkulturen in Milieus der Akteure der Erwachsenenbildung der EZ überprüft. Dabei werden Möglichkeiten für transkulturelles Lernen und die gleichberechtigte Partizipation aller Beteiligten an Erwachsenenbildung beleuchtet. Abschließend erfolgen eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, eine kritische Bewertung sowie die Formulierung von Anregungen für die Erwachse- nenbildung der EZ.

Aufgrund einer besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen und Ergebnisse gelten jedoch für Frauen und Männer.

2. Kritische Reflektion der Zielgruppenorientierung in Erwachsenenbildungs- vorhaben der Entwicklungszusammenarbeit

2.1 Zielgruppenorientierung und Zielgruppen in der Erwachsenenbildung

Die Unterscheidung und Eingrenzung spezifischer Gruppen potenzieller Bildungsteil- nehmer (sogenannter Zielgruppen) anhand bestimmter gemeinsamer Kriterien ermög- licht aus Sicht der Bildungsplaner eine bedarfsgerechtere Entwicklung und Umsetzung von Bildungsangeboten sowie eine effektivere Ansprache der möglichen Teilnehmer. Diese lernpsychologische Intention der Identifizierung (lern-) homogener Zielgruppen ist für die Erwachsenbildung von besonderer Bedeutung, da sie sich prinzipiell an alle Menschen richtet, die in einem länderspezifischen oder institutionellen Kontext als Er- wachsen definiert werden und meist auf deren freiwillige Teilnahme angewiesen ist.

Seit der Entwicklung des Zielgruppenansatzes in der Erwachsenenbildung im Rahmen der internationalen gesellschafts- und bildungspolitischen Reformbewegungen der 1960er und 1970er Jahre steht die Zielgruppenentwicklung im Spannungsfeld zwischen einer Einteilung nach äußeren sozialstrukturellen und soziodemografischen Faktoren (z.B. wie Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Erwerbsstatus) und den subjektiven Sichtwei- sen der potenziellen Bildungsteilnehmer (vgl. Schiersmann/ Thiel/ Völker 1984: 13f.). Vor allem zu Beginn stand die sozialpolitisch motivierte Intention zur Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit, zur Förderung von Mündigkeit und Befähigung der Bildungs- teilnehmer zu politischem Handeln im Vordergrund (vgl. Heydorn, Freire).

Seit Mitte der 1970er Jahre rücken zunehmend die subjektiv erlebte Lebenssituation der Zielgruppen sowie deren tatsächliche Bildungsmotivation in den Blickpunkt (vgl. Schiersmann/ Thiel/ Völker 1984: 15). In ihrer „Typologie der Zielgruppenentwick- lung“ beschreiben Mader und Weymann die Bestimmung der Zielgruppen als Aushand- lungsprozess zwischen einem „normativen Paradigma“ und einen „interpretativen Para- digma“ (vgl. Siebert 1979: 351). Im Rahmen des „normativen Paradigmas“ nehmen Bildungsplaner die Situation, Bildungsmotivation und Lernbarrieren potenzieller Bil- dungsteilnehmer gedanklich vorweg (Antizipation) und definieren gemeinsame Merk- male spezifischer Teilnehmergruppen. Dabei spielen vor allem äußere Kriterien der sozialen Lage eine Rolle. Im Rahmen des „interpretativen Paradigmas“ wird geklärt, ob die antizipierten Merkmale aus subjektiver Sicht der identifizierten Zielgruppen der Wirklichkeit entsprechen.

Diese subjektive Dimension spiegelt sich noch stärker in subjektwissenschaftlichen und konstruktivistischen Lerntheorien wieder, die davon ausgehen, dass innere Beweggrün- de ausschlaggebend für die Bildungsmotivation sind (vgl. Holzkamp, in Arnold 2008: 100 f.) bzw. dass Menschen ihre gesellschaftliche Wirklichkeit aufgrund von biogra- fisch bedingten kognitiven und emotionalen Deutungsmustern selbst konstruieren und somit auch der Bildungsbedarf auf subjektiven Sichtweisen beruht (vgl. Siebert 2011: 7 f.; Arnold 2010: 115/116). Allerdings entwickelt der Mensch seine subjektiven Deu- tungsmuster auch in Wechselwirkung mit äußeren, in der Gesamtgesellschaft veranker- ten Werten und sozialen Strukturen. Schiersmann, Thiel und Völker definieren als Ziel- gruppen für die Bildungsarbeit mit Erwachsenen daher „alle Bevölkerungsgruppen […], die durch eine sozialstrukturelle Benachteiligung objektiv gekennzeichnet sind und zu- gleich ihre Belastung auch subjektiv als Problem wahrnehmen und zumindest eine vage Vorstellung davon haben bzw. entwickeln, dass Bildung einen Beitrag zur Bearbeitung bzw. Reduzierung dieses Problems leisten könnte“ (Schiersmann/ Thiel/ Völker 1984: 17).

Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Globalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft sowie der Pluralisierung und Individualisierung von Lebensbedingungen (vgl. Tippelt/ Reich 2005: 24) erfolgt vor allem in europäischen Ländern eine immer stärkere Ausdifferenzierung von Zielgruppen.

Im Gegensatz zu Entwicklungs- und Schwellenländern nimmt die Minderung von Be- nachteiligung als überwiegende Intention für Erwachsenenbildung ab (vgl. Ebda: 6). Darüber hinaus gewinnen im Rahmen der Milieu- und Lebensstilforschung auch lern- kulturelle Aspekte wie Einstellungen, Verhaltensweisen und Werthhaltungen in Bezug auf (Weiter-) Bildung an Bedeutung für die Zielgruppenentwicklung (vgl. Kap. 3).

In Anlehnung an die beschriebenen Ansätze der Zielgruppenentwicklung versteht die vorliegende Forschungsarbeit als Zielgruppen der Erwachsenenbildung: Bevölkerungsgruppen, die gemeinsame sozialstrukturelle bzw. soziodemografische sowie lernkulturelle Merkmale und einen gemeinsamen subjektiv empfundenen Mangel aufweisen, der die persönliche, soziale und/oder wirtschaftliche Entwicklung behindert und die Bildung als einen Beitrag zur Überwindung des Mangels betrachten bzw. bereit sind, Bildung als Möglichkeit der Problemlösung zu reflektieren.

2.2 Zielgruppenorientierung in der Erwachsenenbildung der EZ - Vorteile und Herausforderungen

Die Zielgruppen der Erwachsenenbildung in der EZ umfassen:

- (junge) Frauen und Männer ab 15 Jahre, in ländlichen Regionen und städtischen

Armutsgebieten, die keinen (ausreichenden) Zugang zu (qualitativ guter) Bildung und Weiterbildung hatten oder haben bzw. die formale Schulbildung vorzeitig abgebrochen haben;
- arbeitslose, von Erwerbslosigkeit bedrohte, unterbeschäftigte, arbeitsuchende und
unter prekären Arbeitsbedingungen beschäftigte (junge) Frauen und Männer;
- Klein(st)unternehmer sowie Beschäftigte und Lehrlinge in kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen im informellen Sektor;
- Jugendliche und Erwachsene in (Post-) Konflikt- bzw. von Katastrophen betroffe-
nen Regionen sowie Flüchtlinge, Vertriebene und Rückkehrer und die Menschen in den aufnehmenden Gemeinden;
- Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren1 (vgl. UNDESA 2013 : 1) aus städtischen

und ländlichen Armutsgebieten unabhängig von Schulbildung und Erwerbsstatus, im Rahmen der Jugend(sozial)arbeit.

Die gleichberechtigte und inklusive Bildungsbeteiligung von Frauen und Männern, von Lernenden aus unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen sowie von Menschen mit spezifischen Lernbarrieren und Lernbedürfnissen ist ein wichtiges Anliegen.

Bei den Zielgruppen handelt sich gemäß äußeren sozialstrukturellen Kriterien und in der (westlichen) Mehrheitsbevölkerung verankerten Wertvorstellungen um „benachteiligte Bevölkerungsgruppen“. Die in den Projektkonzeptionen der Erwachsenenbildungs- vorhaben der EZ vorgenommene Analyse der Lebensrealität dieser potenziellen Bil- dungsteilnehmer erfolgt in der Regel im Hinblick auf den Gesamtkontext in einem Land/einer Region und vorwiegend aus einer Defizitperspektive. Dabei wird berück- sichtigt, dass die Defizite, die zu Benachteiligung führen, durch ein komplexes Zusam- menspiel individueller und sozialer Faktoren sowie struktureller und politische- systemischer Rahmenbedingungen entstehen (vgl. Brüning/Kuwan 19, 21; Adam/ Hiltmann 2013: 128 f.; UNESCO 2013: 156 f.). Die Erwachsenenbildungsmaßnahmen knüpfen an den spezifischen poltischen, strukturellen, sozio-kulturellen und individuel- len Ursachen für (Bildungs-) Benachteiligung an und zielen in der Regel darauf ab, die Kapazitäten, Strukturen und Qualität der Erwachsenenbildung bzw. des (Aus-) Bil- dungssystems insgesamt zu verbessern.

Für die konkrete Durchführung der Erwachsenenbildungsmaßnahmen ist die in den Pro- jektkonzeptionen vorgenommene Analyse der Ausgangssituation „benachteiligter und bildungsferner“ Zielgruppen sowie die Einteilung potenzieller Bildungsteilnehmer in die oben beschriebenen Großgruppen angesichts der Vielfältigkeit der möglichen Le- benslagen dieser Personengruppen zu allgemein, um bedarfs- und bedürfnisgerechte Angebote bereitzustellen. Eine weitere Ausdifferenzierung der sozio-kulturellen, politi- schen und ökonomischen Lage sowie der möglichen Bildungsmotivationen und -bedarfe der Zielgruppen auf dezentraler Ebene und für bestimmte Bevölkerungsgruppen muss bei der Projektumsetzung erfolgen. Dabei sollten jedoch nicht allein anhand äußerer sozialstruktureller und soziodemografischer Faktoren Rückschlüsse auf die subjektive Bildungsmotivation der potenziellen Teilnehmer gezogen werden (vgl. Bremer 2010: 04-2).

[...]


1 nach Definition der Vereinten Nationen

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Details

Titel
Förderung transkultureller Lernkulturen als Beitrag zur Integration schwer erreichbarer Zielgruppen in Vorhaben der Erwachsenenbildung in der Entwicklungszusammenarbeit
Hochschule
Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau  (Distance & Independent Studies Center)
Veranstaltung
Fernstudium Erwachsenenbildung
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
46
Katalognummer
V309661
ISBN (eBook)
9783668098350
ISBN (Buch)
9783668098367
Dateigröße
693 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Non-formales Lernen, informelles Lernen, Lebenswelt, Lernkulturen, Zielgruppen, soziale Milieus, Transkulturalität, Entwicklungszusammenarbeit
Arbeit zitieren
Inka Hiltmann (Autor:in), 2015, Förderung transkultureller Lernkulturen als Beitrag zur Integration schwer erreichbarer Zielgruppen in Vorhaben der Erwachsenenbildung in der Entwicklungszusammenarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309661

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