Die Verwendung des Rezipientenpassivs im Deutschen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entwicklung des Rezipientenpassivs
2.1 Bildung
2.2 Entstehung
2.3 Grammatikalisierung

3. Regeln und Restriktionen in der Verwendung
3.1 Bei Vollverben
3.1.1 Transitive Verben
3.1.2 Intransitive Verben
3.2 Bei den Hilfsverben
3.2.1 Grammatische Aspekte
3.2.2 Stilistische Unterschiede
3.3 Eigenschaften der 'Mitspieler'

4. Fazit

Literaturverzeichnis
Korpora:
Internetquellen:

1. Einleitung

Ein in den letzten Jahren immer mehr ins Zentrum der Forschung gerücktes Phänomen der Sprachwissenschaft ist die Grammatikalisierung. Darunter versteht man einen Prozess des Sprachwandels, bei dem lexikalische Elemente des Wort-schatzes zunehmend grammatische Funktionen übernehmen und als grammatische Zeichen verwendet werden können (Leuschner 2005: 1). Von der Entwicklung von Lexemen zu Suffixen (vgl. Werk – Schuhwerk) bis zur Verwendung des englischen Verbs to go, um eine zukünftige Handlung auszudrücken (vgl. h e is going to Erlangen – he is going to come), gibt es eine große Bandbreite an Gramma-tikalisierungsprozessen, deren vielfältiges Vorkommen in unterschiedlichen Sprachen belegt ist.

In dieser Arbeit soll nun am Beispiel des sog. Rezipienten- oder ' bekommen -Passivs' auf dieses Phänomen eingegangen werden. Hier zeigt sich, wie aus den Vollverben bekommen, kriegen und erhalten, lexikalische Elemente mit eigen-ständiger Bedeutung, Hilfsverben zur Passivbildung und somit grammatische Be-standteile der Sprache werden. Neben der Hilfsverbverwendung bleiben die Vollverben aber weiter erhalten, was deutlich macht, dass Grammatikalisierung nicht von heute auf morgen geschieht, sondern als gradueller Prozess mit vielen Zwischenphasen einzustufen ist. Bekommen ist also zu keinem reinen Passivmarker geworden, sondern steht an der Schwelle zwischen lexikalischen und grammatischen Einheiten der Sprache.

Der wissenschaftliche Status des Rezipientenpassivs war lange Zeit umstritten, was zum einen am noch vorhandenen semantischen Gehalt der Hilfsverben , zum anderen an der häufigen Verwendung in der Umgangssprache liegt (Pape-Müller 1980: 37). Zifonun (1997: 1824) ordnet daher das ' bekommen -Passiv' „eher der Peripherie der Konstruktion zu, da nicht alle für das Passiv konstitutiven Bedin-gungen hier erfüllt sind“. In letzter Zeit ist die Forschung allerdings mehrheitlich der Meinung, dass Sätze wie:

(1) Sie bekommt ein Buch geschenkt.

„in den Bereich des Genus verbi bzw. der Diathesen“ (Diewald 1997: 30) fallen und somit als reguläre Passivformen des Deutschen zu betrachten sind. Auch Eroms (1987: 74) ist von der Erweiterung des Passivparadigmas durch die Hilfsverben bekommen, kriegen und erhalten überzeugt und sieht daneben noch weitere Ersatzkonstruktionen, die passivische Aufgaben übernehmen können. Einen neutralen Standpunkt dazu vertritt Leirbukt in seinen 'Untersuchungen zum bekommen-Passiv im heutigen Deutsch' , indem er Bildungen mit bekommen, erhalten oder kriegen, je nach Breite des angenommenen Passivbegriffs, als Passiv-varianten oder passivähnliche Konstruktionen einstuft, „deren Subjekt einer im Aktivsatz begegnenden Dativphrase entspricht“ (Leirbukt 1997: 1).

Im Rahmen dieser Arbeit soll nun der Grammatikalisierungsprozess der drei Konstruktionsverben weiter untersucht werden. Außerdem wird auf die Restriktionen in der Verwendung des Rezipientenpassivs eingegangen, also in welchen Fällen eine Bildung möglich ist und wann nicht, welche Vollverben für eine Konstruktion in Frage kommen und welche ausscheiden. Gibt es zudem stilistische Aspekte, die das Vorkommen in der geschriebenen und gesprochenen Sprache bedingen? Und wann ist das auxiliar verwendete bekommen mit erhalten oder kriegen austauschbar? Auf diese und weitere Fragestellungen soll nun im Folgenden weiter eingegangen werden.

2. Entwicklung des Rezipientenpassivs

2.1 Bildung

Das in der Forschungsliteratur viel diskutierte und unterschiedlich, meist synonym, bezeichnete Dativpassiv (Eroms 1978 359), Adressatenpassiv (Hall 2001: 86), Rezipientenpassiv (Pitner/Berman 2007: 74) oder bekommen- Passiv (Leirbukt 1997) wird gebildet mit dem auxiliar verwendeten bekommen bzw. kriegen oder erhalten und dem Partizip II eines Vollverbs. Dabei handelt es sich um Verben, die bei aktivischer Verwendung ein Dativobjekt fordern, das dann im Passivsatz zum Subjekt wird, im Gegensatz zum Passiv mit werden und sein, wo das Akkusativobjekt im Passivsatz subjektiviert wird.

2.2 Entstehung

Die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der in dieser Arbeit weiter als Rezipientenpassiv bezeichneten Konstruktion ist bisher nur wenig erforscht. Interessanterweise sind solche, eigentlich als neuere Entwicklung des Sprachwandels betrachtete, Verwendungen (vgl. Levin-Steinmann 2010) bereits ab dem 16. Jahrhundert, hier in der Variante mit kriegen, das als ältestes und wichtigstes der drei Verben gilt (Eroms 1978: 360), vereinzelt belegt:

(2) Bat mich, ich wollt die kunst nicht schweigen, ich soll't sie wohl belohnet kreigen (Rollenhagen, ca. 1590).

(3) Mehr speck und butter und eier kriegtest du in den tornister geschenkt, als ein Jäger geschenkt kriegt (Goethe, 1773).

Die ersten Belege von bekommen oder erhalten sind nach Eroms (1978: 365) erst im 19. Jahrhundert datiert (4,5). Jedoch finden sich im DWDS-Korpus Deutsches Textarchiv, das historische Texte bis 1900 beinhaltet, bereits im 17. Jahrhundert mehrfach Belege dieser beiden Hilfsverben (6,7). Im Laufe der Zeit wurde dann kriegen immer mehr aus der Schriftsprache verdrängt und durch bekommen bzw. erhalten ersetzt. Ein Grund dafür wäre, dass kriegen, auch in seiner aktivischen Verwendung, bereits im 18. Jahrhundert eine stilistische Abwertung erfährt und der niederen Sprache angehört (Eroms 1978: 362), im mündlichen Gebrauch aber bleibt es weiter (bis heute) erhalten. Somit dominiert dann auch die Bildung des Passivs v.a. mit bekommen in der Schriftsprache.

(4) […] so muß man die Ursache darin suchen, daß sie dergleichen zu einer Zeit als Dogmen überliefert bekommen haben […] (Eckermann, 1823).

(5) Zum Schluß bekomme ich nach Neujahr wieder abgenommen, was ich zu Weihnachten erhalten habe (Presber, 1858).

(6) […] theils von den Persern glaubwürdig beschrieben bekommen habe […] (Olearius, Adam: Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Rejse. Schleswig, 1647).

(7) […] wie denn auch landstädte von irem landesherrn ehedem das münzrecht verlihen erhalten […] (Estor, Johann Georg: Bürgerliche rechtsgelehrsamkeit der Teutschen. Bd. 1. Marburg, 1757).

An diesen Überlieferungen ist gut ersichtlich, dass die Konstruktionen weitgehend den heutigen entsprechen, und somit bereits zu diesem Zeitpunkt ein weit fortgeschrittener Grammatikalisierungsprozess angenommen werden darf.

2.3 Grammatikalisierung

Im folgenden Abschnitt wird nun auf den eben genannten Grammatikalisierungs-prozess, also die Entwicklung der Vollverben bekommen, kriegen und erhalten vom lexikalischen in den grammatischen Bestandteil der Sprache, eingegangen. Zentral an dieser Stelle ist die Frage, ob die drei Konstruktionsverben bei passivischer Verwendung tatsächlich als Hilfsverben einzuordnen sind, worüber sich auch die Forschung nicht ganz einheitlich äußert. Haider (1986) zum Beispiel betrachtet bekommen/kriegen/erhalten als sog. „parasitäre Verben“, eine Art Übergangstyp zwischen Voll- und Hilfsverb (vgl. Leirbukt 1997: 212). Demnach wird von einem eher eng gefassten Passivbegriff ausgegangen, was auch gegen die Existenz eines eigenen Rezipientenpassivs spricht und dieses nur als Passiväquivalent ansieht. Andere Positionen (z.B. Eroms 1978) dagegen vertreten einen erweiterten Passivbegriff sowie die Auffassung einer Dichotomie Vollverb – Hilfsverb, wonach bekommen/kriegen/erhalten in dieser Passivkonstruktion eher den Auxiliaren zuzu-ordnen sind. Eine weitere These zur Grammatikalisierung vertritt Heine, der von verschiedenen Verwendungsweisen der drei Verben ausgeht. Dazu kann das sog. „Übergangsmodell“ (Heine 1993) weiter Aufschluss geben.

„Der Übergang von lexikalischen zu grammatischen Formen ist nicht sprunghaft, sondern verläuft kontinuierlich […], wobei A die konkrete (bzw. weniger abstrakte) Ausgangsform und B die stärker abstrakte Endform symbolisiert: A → AB → B“ (Heine 1993: 27).

Zur Vorstufe A gehören seiner Meinung nach Sätze wie:

(8) Sie bekommt ein Buch.

Hier wird bekommen in seiner Ausgangsbedeutung als Vollverb verwendet. Mit AB setzt Heine eine Art Übergangsform an, bei dem nun das Partizip II am Ende des Satzes hinzugefügt wird (vgl. Beispielsatz 1) und eine doppeldeutige Lesart möglich ist. Zur Endform B zählen schließlich Sätze wie:

(9) Er bekommt den Führerschein entzogen.

Die Übergangsformen bilden seiner Meinung nach den Ausgangspunkt zur Gram-matikalisierung, denn aufgrund ihrer zweideutigen Lesart ist bekommen hier sowohl als Voll- als auch als Hilfsverb interpretierbar und auch das Partizip II kann unter-schiedliche Satzfunktionen haben. Dies soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden:

(10) Er bekommt von ihr die Wäsche gebügelt.

a) Das Partizip gebügelt wird als Adjektiv verstanden, bezieht sich also auf den Zustand der Wäsche. Somit handelt es sich hier um einen Aktivsatz mit bekommen als Vollverb und der Bedeutung 'Er bekommt von ihr die Wäsche in gebügeltem Zustand'.
b) Die zweite Interpretation lässt eine passivische Bedeutung zu, bekommen ist also Hilfsverb und gebügelt Partizip II des Vollverbs bügeln, das sich auf bekommen bezieht. Beide Verben bilden zusammen die Passivkonstruktion. Aktivische Bedeutung dieses Satzes ist 'Sie bügelt ihm die Wäsche'.

Hier ist gut erkennbar, dass ein und derselbe Satz sowohl eine aktivische als auch eine passivische Interpretation ermöglicht. Im Laufe der Zeit verankert sich dann die Verwendung b) in der Sprache und setzt sich gegenüber der Aktivkonstruktion durch, sodass man als Leser oder Sprecher automatisch von b) ausgeht und somit eine Grammatikalisierung bzw. Auxiliarisierung stattgefunden hat. Eine weitere Stufe (bei Heine die Endform B) kann dann durch Analogiebildung, also durch Übertragung auf andere Verben, erreicht werden (vgl. Beispielsatz 9). Hier ist nur noch die passivische Lesart möglich, eine Interpretation wie in a) würde keinen Sinn machen bzw. genau das Gegenteil aussagen, da hier ja niemand etwas bekommt, sondern etwas weggenommen wird. Diese Entwicklung beruht auf folgenden vier Mechanismen (Szczepaniak 2009: 11f.):

- Desemantisierung: Ausbleichung und Verlust der ursprünglichen Bedeutung
- Extension: Ausweitung auf neue Kontexte
- Dekategorialisierung: Verlust der morphosyntaktischen Eigenschaften
- Erosion: Verlust phonetischer Substanz

Schauen wir uns nochmal den Beispielsatz (1) Sie bekommt ein Buch geschenkt an. Hier ist die Bedeutung von bekommen noch bewahrt, das Subjekt erhält tatsächlich etwas. Im Gegensatz dazu ist in Sätzen wie

(11) Hanna bekommt eine Geschichte vorgelesen.

(9) Er bekommt den Führerschein entzogen.

die Bedeutung 'A erhält B' schon verloren gegangen und sogar das Gegenteil kann ausgedrückt werden, weshalb man von einer Desemantisierung von bekommen und einer Extension auf weitere Kontexte, in diesem Fall andere Vollverben, sprechen kann. Bekommen ist nun eindeutig Hilfsverb. Eine Dekategorialisierung ist in folgendem Satz zu beobachten:

(12) Er bekommt von uns gratuliert.

Das beim Vollverb bekommen obligatorische Akkusativobjekt ist nun verschwunden, die ursprüngliche Semantik vollständig verloren. Das Verb ändert seine Valenz und somit seine syntaktischen Eigenschaften. Zu einer Erosion kommt es jedoch nicht, die phonetische Substanz bleibt erhalten.

Damit ist aber die Frage, wie es zu solchen Grammatikalisierungsprozessen kommt, noch nicht ganz geklärt. Szczepaniak nennt Metonymie und Metapher als Antrieb für Grammatikalisierungen und Motor unseres Denkens. Gemeint sind allerdings nicht die rhetorischen Figuren, sondern „kognitive Prozesse der Konzeptersetzung oder -übertragung“ (Szczepaniak 2009: 30). In folgender Abbildung sind die Stufen der Grammatikalisierung sowie deren Bezug zu den kog-nitiven Prozessen der Metonymie und Metapher dargestellt (Szczepaniak 2009: 37):

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Verwendung des Rezipientenpassivs im Deutschen
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Department Germanistik und Komparatistik)
Veranstaltung
Hauptseminar: Geschichte des deutschen Wortschatzes
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
24
Katalognummer
V309947
ISBN (eBook)
9783668083134
ISBN (Buch)
9783668083141
Dateigröße
550 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
verwendung, rezipientenpassivs, deutschen
Arbeit zitieren
Anna Hummel (Autor:in), 2014, Die Verwendung des Rezipientenpassivs im Deutschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309947

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