Die Flexible Schuleingangstufe aus Sicht der Kinder


Examensarbeit, 2009

111 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Reformbestrebungen und empirische Befunde zum Anfangsunterricht
2.1 Der Weg zur Altersmischung
2.1.1 Veränderungen des Schulanfangs
2.1.2 Die flexible Schuleingangsstufe
2.2 Forschungsstand zum jahrgangsübergreifenden Lernen
2.2.1 Leistungsentwicklung der FLEX-Schüler
2.2.2 Zur Entwicklung der Sozialkompetenzen
2.2.3 Zu den Auswirkungen auf das Wohlbefinden
2.2.4 Zur Praktikabilität des Konzeptes
2.3 Resümee des theoretischen Hintergrunds und Fragestellung der Untersuchung

3. Methodisches Vorgehen
3.1 Stichprobe
3.2 Methode
3.2.1 Die Gruppendiskussion
3.2.2.1 Historische Bezüge zum Gruppendiskussionsverfahren
3.2.2.2 Theoretische Bezüge zum Gruppendiskussionsverfahren
3.2.2.3 Herausforderungen bei Gruppendiskussionen mit Kindern
3.3 Durchführung
3.3.1 Reflexion der Durchführung
3.4 Auswertung
3.4.1 Datenaufbereitung
3.4.2 Die Kurzform der Grounded-Theory-Methodologie
3.4.2.1 Das theoretische Sampling
3.4.2.2 Das theoretische Kodieren
3.4.2.3 Die vergleichende Analyse

4. Ergebnisse
4.1 Kategorie „Bejahung der Patenschaften“
4.2 Kategorie „Kritik an ungenügender Kommunikation“
4.3 Kategorie „Ablehnung der Vielzahl an Schülerfragen“
4.4 Kategorie „Vergleiche zur Erwachsenenrolle“
4.5 Kategorie „Kontaktsuche zur Lehrperson“
4.6 Kategorie „Widersprüchliche Zukunftswünsche“
4.7 Resümee und Reflexion der Ergebnisse

5. Diskussion und Ausblick

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anhang
I. Transkript

1. Einleitung

Kinder verbringen in der Regel zwölf Jahre ihres Lebens in der Schule. Um diese Zeit möglichst erfolgreich zu erleben, haben Pädagogen die stetigen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich auf die Lebensbedingungen der Kinder beziehen, zu berücksichtigen. Der Wandel in den Familienkonstellationen, soziale Benachteiligungen, vermehrte Multikultur, fortschreitende Mediatisierung als auch eine veränderte Erziehungskultur sind nur einige Schlagwörter, um die veränderten Bedingungen für die Lehrenden in den Anfangsklassen zu verdeutlichen (vgl. Hanke 2007). Dass insbesondere der Schulanfang für den weiteren Schulverlauf prägend ist, wird oftmals unterschätzt. Tatsächlich kommt es darauf an, wie reibungslos der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule verläuft und wie die ersten beiden Schuljahre von den Schülern1 erlebt werden (vgl. Weinert 1989). Ziel ist es daher, die sprachliche, soziale und kulturelle Verschiedenheit im Anfangsunterricht anzuerkennen und ein positives Bild von Schule und Lernen zu vermitteln. Diesem Anspruch wollen deutsche Grundschulen gerecht werden, jedoch zeigen sich bundesweit unterschiedliche Praktiken.

Um eine Antwort auf die aktuellen Aufgaben der Grundschule hinsichtlich der veränderten Kindheit und Heterogenitätsproblemen zu geben, wurde vor 20 Jahren vermehrt auf reformpädagogische Konzepte zurückgegriffen Mit dem Perspektivwechsel von einem ´schulgerechten´ Kind hin zu einer ´kindgerechten´ Schule wurden vor allem Überlegungen zur Altersmischung, wie es Maria Montessori (1870-1950) und Peter Petersen (1884-1952) bereits Jahrzehnte zuvor forderten, aktuell. Der bildungspolitische Blick richtet sich weg von den historisch tief verankerten Jahrgangsklassen, welche mit einer Altershomogenität eine Leistungshomogenität erzielen wollen. Stattdessen versucht die Altersmischung im Sinne einer Pädagogik der Vielfalt, Kinder voneinander lernen zu lassen und gleichzeitig soziales Lernen zu fördern. In der Integration der Vielfalt kindlicher Lebenswelten, Interessen und Entwicklungsständen geht man dem Versuch nach, eine positive kognitive und sozio-emotionale Entwicklung zu fördern und eine Chancengleichheit für alle Kinder zu garantieren.

Die in Deutschland am weitesten verbreitete Variante nennt sich die flexible Schuleingangsstufe, welche einen jahrgangsübergreifenden Unterricht in den ersten beiden Schuljahren vorsieht. Spätestens seit der Kultusministeriums-konferenz (KMK) von 1997 wird sie in den meisten Bundesländern durchgeführt, um der wachsende Heterogenität, welche besonders im Anfangsunterricht offensichtlich ist, produktiv zu begegnen und insbesondere die hohen Rückstellungsquoten zu senken (vgl. Risswick 2006). Sie verzichtet auf selektive Maßnahmen wie Zurückstellungen und Überweisung sonderpädagogisch bedürftiger Kinder an andere Schulen, sondern versucht stattdessen, die lernförderlichen Potentiale der Heterogenität mittels eines individualisierten Unterrichts zu nutzen. Die sogenannten „FLEX“-Klassen scheinen sich aus Sicht der Erwachsenen zu bewähren, denn seit 2001 sind sie als optionale Unterrichtsform im deutschen Schulgesetz verankert. Dennoch zeigen sich immer wieder Probleme in der Umsetzung, Uneinigkeiten in der empirischen Forschung sowie fehlende Perspektiven. Gerade die Sicht der Kinder zum altersgemischten Unterricht fehlt, da sie zusätzliche Indizien in der Beurteilung der Organisationsform bietet (vgl. Kucharz/Wagener 2007 und Liebers 2008).

Diese Forschungsarbeit untersucht die Eingangsstufe aus der Perspektive der Kinder. Statt eine weitere Untersuchung aus Sicht der Erwachsenen vorzunehmen, liegt das Bestreben dieser Arbeit in der Hervorhebung der Schülermeinungen. Demzufolge wird die Annahme unterstützt, dass Schüler die Hauptakteure im Unterricht sind und daher in der Befragung essentielle Hinweise eines für sie gelingenden Unterrichts geben (vgl. Bamler et al. 2010). Die Wahrnehmung der Schüler in die Beurteilung der FLEX einzuholen, erscheint umso wichtiger, da die Lernfreude und Anstrengungsbereitschaft der Kinder maßgebende Indikatoren für einen gelingenden Schulanfang darstellen (vgl. Liebers 2008). Die Studie soll demnach einen Einblick in die altersgemischte Praxis geben, indem weniger die Leistungsentwicklung, als vielmehr die Perspektive von Kindern untersucht wird. Im Rahmen einer qualitativen Studie soll eine Gruppe von sechs Kindern der Schule befragt werden, um ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Eindrücke aus der ehemaligen FLEX. zu verstehen. Dabei erweisen sich Schüler der dritten Jahrgangsstufe als Experten auf diesem Gebiet, da sie die ersten beiden Schuljahre altersheterogen gelernt und ab der dritten Klasse einen getrennten Unterricht erfahren haben. Das Untersuchungsinstrument der Gruppendiskussion wird gewählt, da es dank seiner offenen und natürlichen Struktur eine Vielzahl an Aussagen zulässt (vgl. Lamnek 2010). Die Auswertung im Sinne der Grounded Theory soll einmal mehr den Wunsch unterstreichen, möglichst unbeeinflusst die Kinderkonstruktionen zum altersgemischten Schulanfang zu gewinnen (vgl. Strauss/Corbin 1996).

Im Folgenden wird zunächst ein Überblick sowohl über die historischen Reformbestrebungen zum Schulbeginn als auch über den aktuellen Forschungsstand zum altersgemischten Lernen gegeben. Daraus ergibt sich die für die Untersuchung relevante Forschungsfrage. Der darauffolgende Schritt umfasst das methodische Vorgehen in dieser Studie. Dabei werden die Wahl qualitativer Methoden und das Untersuchungsinstrument der Gruppendiskussion begründet. Danach erfolgt die chronologische Darstellung der Studie: die Durchführung, die Reflexion und die Auswertung der Studie mit den Schülern. Die Forschungsergebnisse werden anschließend kategorisiert dargestellt und reflexiv zusammengefasst. Schließlich werden die Ergebnisse dieser Untersuchung mit den bereits vorliegenden Forschungsbefunden zu dem Bereich des jahrgangsübergreifenden Lebens und Lernens verglichen. Dabei soll herausgestellt werden, welche Schlüsse aus der Diskussion mit den Kindern gezogen werden können und welchen Nutzen sie für die Gestaltung des Anfangsunterrichts in der Grundschule haben.

2. Reformbestrebungen und empirische Befunde zum Anfangsunterricht

Im Folgenden werden sowohl die historischen Bestrebungen zur Reformierung des Schulalltags als auch die Befunde der Grundschulforschung zusammenfassend beschrieben und miteinander verglichen. Dabei sind nur die Aspekte, die für die Fragestellung der Forschungsarbeit relevant erscheinen, inbegriffen, sodass das Thema historisch und wissenschaftlich eingebettet und hinsichtlich zukünftiger Tendenzen geschärft ist. Es wird sich folglich auf die Entwicklung der Grundschule im Hinblick auf den Anfangsunterricht beschränkt und dabei der hessische Verlauf der Altersmischung im Vergleich zu anderen Bundesländern betrachtet.

2.1 Der Weg zur Altersmischung

2.1.1 Veränderungen des Schulanfangs

Die Idee eines gemeinsamen Unterrichts hat ihren Ursprung im 17. Jahrhundert, als alle Kinder, sowohl Reiche als auch Arme, Jungen oder Mädchen, in größeren Lerngruppen zusammen unterrichtet werden sollten. Damals wurde die Auffassung vertreten, dass ein Lernen miteinander das „zweckmäßigste“ (Hinz 2009: 133) sei und Gruppierungen entsprechend des Lebensalters zusammengesetzt werden müssten. Seit dem 18. Jahrhundert ist eine beeindruckende Vielfalt von Reformbestrebungen zum Schulanfang zu verzeichnen. Die Bedeutung der ersten Schuljahre wurde früh erkannt, sodass sich zahlreiche Formen der Unterrichtsgestaltung entwickelten. Einzelne Pädagogen grenzten sich bereits von dem damaligen streng selektiven Frontalunterricht ab, indem sie sich mit innovativen Ideen der Altersmischung an Einzelschulen orientierten (vgl. Pfeiffer 2013: 75). Für die Schulentwicklung setzte Friedrich Fröbel2 (1782-1852) die ersten Grundsteine. Er initiierte eine pädagogische Bewegung ´vom Kinde aus´, welche das Kind als Individuum mit unterschiedlichen Interessen, Fähigkeiten und Eigenschaften sowie die Bedeutung spielerischen Lernens herausstellte (vgl. ebd.: 50). Maria Montessori3 (1870-1952) knüpfte an diesen Wunsch an und verwies auf die Notwendigkeit, Schüler in natürlichen Lernumgebungen lernen zu lassen. In altersgemischten Lerngruppen sollten sie mit vertrauten Materialien arbeiten können und ihre Selbstständigkeit nach dem Prinzip des „Hilf mir, es selbst zu tun!“ (ebd.: 81) zu stärken. Jahrgangsübergreifendes Lernen sollte mithilfe vorbereiteter Lernumgebungen geschehen und Verantwortung wie beispielsweise bei der Gartenarbeit kennengelernt werden. Neben Pestalozzi (1746-1827), der früh ein Lernen mit Kopf, Herz und Hand und somit eine selbstverantwortliche Tätigkeit der Schüler forderte, leisteten Fröbel und Montessori wesentliche Beiträge, um Kindheit als eigenständige und bedeutsame Lebensphase anzuerkennen.

Ferner finden sich historische Wurzeln der Jahrgangsmischung in den Bemühungen Berthold Ottos4 (1859-1933) zum ´Gesamtunterricht´ sowie Peter Petersens5 (1884-1952) und seiner „Stammgruppenbildung“ (Hinz 2009: 133). Beide teilten mit anderen Visionären die Haltung, dass Kinder gleichen Alters unterschiedliche Fähigkeiten vorweisen. Ein mentaler Wandel ist erforderlich, um den Unterricht nicht an festgelegten Zielen und Normen, sondern an den individuellen Möglichkeiten der Lernenden zu orientieren. Sie alle hatten gemein, dass Altersmischung als Organisationsform, Freiarbeit als zentrale Arbeitsform, alltägliche Materialien sowie individualisierende didaktisch-methodische Schwerpunkte im Unterricht favorisiert werden sollten. Diese radikalen Standpunkte stachen bereits damals heraus und spiegeln ihre ernstzunehmenden Vorzüge in der heutigen Popularität der Montessori-Pädagogik und Jenaplan-Pädagogik nach Petersen wider (vgl. Pfeiffer 2013: 75 und Liebers 2008: 60). Die Weimarer Verfassung von 1919 gab die bildungspolitische Antwort auf die Homogenisierungs- und Heterogenisierungstendenzen im Schulwesen, indem eine „für alle gemeinsame Grundschule, auf der sich auch das mittlere und höhere Schulwesen aufbaut“ (Grundschulgesetz 1920: 58), festgeschrieben wurde. So sollten Schulklassen unterschiedliche Konfessionen, Geschlechter und Sozialgrenzen überwinden, dennoch zeigte sie sich für die Differenz nur bedingt geöffnet. Eine Selektion sollte bereits nach vier Schuljahren erfolgen und auch das separate Sonderschulwesen, das seit 1920 legalisiert wurde, unterstützte den Segregationsgedanken (vgl. Hinz 2009: 16).

Seither besteht die Aufgabe der Grundschule darin, Anschlussfähigkeiten für die Schüler herzustellen, um trotz der noch immer großen Spannbreite an Fähigkeiten zum Schulbeginn bestmöglich Wissen zu vermitteln und die Kinder für die weiterführenden Schulen vorzubereiten. Jegliche Heterogenisierungspraktiken fanden jedoch bereits zu Beginn des Nationalsozialismus (1833-1945) ein jähes Ende. Die Pädagogik ´vom Kinde´ wurde von der ´vom Volke´ ersetzt und charakterisierte sich durch einen engen Instruktionsunterricht sowie starke Segregationspraktiken (vgl. Liebers 2008: 65f.). Reformbestrebungen schienen sich weiter bis zu den 1960er Jahre überwiegend auf Unterrichtsinhalte zu konzentrieren. Bis in die 70er Jahre wurde bundesweit ebenfalls die Annahme vertreten, Kinder schulgerecht zu formen, statt Unterrichtsmethoden und -inhalte zugunsten der Unterschiedlichkeit der Schülerschaft zu variieren (vgl. Risswick 2006: 9). Anfang der 80er Jahre schien ein bedeutender Paradigmenwechsel stattzufinden. Es wurden vermehrt kindgerechte Ansätze praktiziert und weitflächig nach „Chancengleichheit“ (Hinz 2009: 16) gestrebt. Es blieb jedoch bei ähnlichen, teils widersprüchlichen, Schulverhältnissen. Einerseits stieg die Anzahl integrativ unterrichteter Kinder mit Behinderung an Grundschulen, andererseits „stellten andere Grundschulen jedoch häufiger Kinder zurück, die sie für nicht schulfähig hielten“ (Berthold 2008: 7). Die Erkenntnis, dass die Ungleichheit der Schüler, die Zusammensetzung der Klassen sowie die Unterschiedlichkeit der Lehrkräfte und die entsprechenden Methoden und Inhalte im Unterricht große Benachteiligungen und Privilegien verursachten, bestand zwar, doch kam erst später das Zugeständnis, dass Chancengleichheit nicht gleiche Bedingungen für Schüler erfordert, sondern, im Gegenteil, individuelle Förderung (vgl. Traxler 1983: 25).

Die 90er Jahre galten als die Zeit der Individualisierung und zeichneten sich vor allem durch die bewusste Begrüßung heterogener Lerngruppen aus (vgl. Schründer-Lenzen 2008: 108). Neben den produktiven Nutzung der Heterogenität sollte selbstständiges, differenziertes Arbeiten in altersheterogenen Lerngruppen der Vermutung entgegenwirken, dass Lehrerzentrierung die Schüler passiv, unkonzentriert und leistungsschwach mache (vgl. Gruehn 2000: 45f.). Man stellte sich somit gegen das seit jeher praktizierte Jahrgangsklassensystem, welches als Folge der altersmäßig festgesetzten Schulpflicht zu dem fundamentalen Kennzeichen des bundesrepublikanischen Schulsystems gehörte (vgl. Beutel/Hinz 2008: 24). Ingenkamp (1969) deutete bereits früh mit seiner Veröffentlichung Zur Problematik der Jahrgangsklassen auf die fehlerhafte Sicht hin, dass mit der Altersbegrenzung Homogenität in deutschen Schulklassen gesichert werden würde. Stattdessen müsste mit der Altersmischung die entwicklungsheterogene Schülerschaft bewusst wahrgenommen und Selbsttätigkeit, individuelles Lernen und ein prosozialer Umgang miteinander ermöglicht werden:

„Unterschiedlichkeit wird nicht als Bremse oder als zu beseitigendes Problem angesehen, sondern als Entwicklungsmotor. Und das nicht nur für soziales, sondern auch für kognitives Lernen“ (Hahn/Berthold 2010: 7).

Zudem trugen empirische Daten zu Entwicklungs- und Leistungsunterschieden bei Schulanfängern dazu bei, dass Reformbewegungen zum Schulanfang stark in den Mittelpunkt rückten (vgl. Neuhaus-Siemon 1993 und Spiegel/Selter 1997). Prengel (1999: 29) hob die notwendigen Umstrukturierungen des Anfangsunterrichts klar hervor:

Die Heterogenität der Erstklässler ist derart drastisch belegt, dass Pädagogik nicht umhin kommt, Antworten zu entwickeln! Wer diese Forschungsergebnisse ignoriert und weiterhin Anfangsunterricht als gleichschrittigen Unterricht der homogen gedachten Schulklasse entwirft, geht an der Realität der Schülerinnen und Schüler vorbei.“

Die jahrgangsübergreifende Gestaltung sollte ihre grundlegende Bedeutung im Schulbeginn offenbaren, da hier die natürliche Variationsbreite an Leistungsfähigkeit am offensichtlichsten zur Geltung kam. Hahn und Berthold (2010) erwähnten hierbei die große Heterogenitätsspanne im ersten Schuljahr, welche sich in der großen Altersdifferenz als Folge des Sitzenbleibens und der Früheinschulung immer deutlicher ausdrückte (vgl. ebd.: 6). Die Gleichsetzung von Altershomogenität mit Leistungshomogenität galt als überholt und forderte einen veränderten Anfangsunterricht. Die seit 1948 regelmäßig tagende Kultusministerium Konferenz (KMK) versuchte mit ihren Empfehlungen zur Gestaltung des Grundschulunterrichts die Entwicklung des Schulwesens maßgeblich zu lenken. Spätestens nach der KMK vom Herbst 1997 wurde eine neue Eingangsstufe in den Fokus gerückt, da sich die Empfehlungen nun direkt auf die Gestaltung des Anfangsunterrichts bezogen. Bemühungen sollten demnach gegen das im internationalen Vergleich sehr hohe Einschulungsalter gerichtet sein und einen integrativen Charakter hinsichtlich einer Flexibilisierung der Verweildauer in der auf zwei Jahren konzipierten Eingangsphase aufweisen6. Hinz (2009: 133) bezeichnete die Durchführung altersgemischter Lerngruppen als „neues ´altes Prinzip´“, da bereits Jahre zuvor ähnliche Forderungen versucht wurden, an Einzelschulen durchzusetzen. Sie erinnern stark an die bereits erwähnten Forderungen Pestalozzis und anderen Befürwortern der Kindorientierung, welche beachtliche 200 Jahre zurückliegen. Bereits damals wurde festgestellt, dass gerade die erste Klasse eine große Bandbreite an kognitiven und sozialen sowie emotionalen Entwicklungsniveaus der Schulanfänger aufwies. Trotz der frühen Erkenntnisse der stetig wachsenden Heterogenitätsprobleme zu Schulbeginn wurden erst Ende des 20. Jahrhunderts die Vorteile der Unterschiedlichkeit bewusst mittels altersgemischter Lerngruppen zu nutzen versucht.

Die Hervorhebung einer neuen Eingangsstufe begründet sich zudem im „Wandel von Kindheit“ (Rohlfs 2009: 18), der Ende der 90er Jahre bis heute zu beobachten ist. Risswick (2006) wies darauf hin, dass Kinder aufgrund von veränderten Familienkonstellationen, Erziehungsnormen, veränderten Freizeitangebote und -aktivitäten sowie der auffälligen Ich-Bezogenheit problembelastet ihre Schullaufbahn antreten. Verhaltensauffälligkeiten hinsichtlich mangelnder Sozialkompetenzen und Konzentrationsfähigkeiten sollten daher Pädagogen im Hinblick auf gesellschaftsbezogene Veränderungen dafür sensibilisieren, die Förderung sozialer Bereiche im Unterricht zu akzentuieren (vgl. ebd.: 31ff.). Gruppenarbeiten sollten betont werden, jedoch sich mit individualisiertem Lernen abwechseln, sodass jedem Schüler die benötigten Lernzeiten, Lernrhythmen oder gar Lernwörter ermöglicht werden (vgl. ebd.: 39). Weinert (1989) bezeichnete ebenfalls die Bedeutung des Übergangs in die Grundschule aufgrund der veränderten Kindheit als umso bedeutsamer, da Brüche sowohl positive als auch negative Entwicklungen bei dem Kind auszulösen vermögen und daher institutioneller, sozialer und didaktischer Anstrengungen bedürfen (vgl. ebd.: 18). Ferner sollte auf negativ prägende Erlebnisse der Zurückstellung, Klassenwiederholung oder Zuweisung in Förderklassen verzichtet werden, um sozio-emotionale Verbesserungen bei den Schülern zu erreichen (vgl. Liebers/Prengel/Bieber 2008: 7).

Die Wahrnehmung der Bedeutung altersgemischter Lerngruppen zum Schulbeginn spiegelte sich seit 1992 in zahlreichen Reformkonzepten wider. Sie hatten den Zweck, die für den gesamten Lebenslauf prägende Phase so zu gestalten, dass die Kinder „positive Einstellungen zu Schule und Lernen“ entwickeln (vgl. Risswick 2006: 9). Allen voran kam es zur Verbreitung verschiedener Reformschulen, welche als klare Alternativen zu den staatlichen Schulen angesehen werden wollten und den Anspruch vertraten, sowohl Elemente der klassischen Reformpädagogik der 1920er Jahre als auch Methoden der modernen Erziehungswissenschaft zu vereinen (vgl. Montessori-Schulen und Waldorfschulen in Schönborn 2007).

Trotz aller Euphorie sprachen jedoch die 2003/2004 eingeführten Bildungsstandards 7 für deutsche Schulen gegen einen nach individuellen Lernvoraussetzungen orientierten Unterricht. So sollte die Berücksichtigung der individuellen Lernausgangslagen der Schüler gleichzeitig den gesellschaftlich definierten Bildungszielen entsprechen. Prengel (2005: 89) beschrieb ein „Dilemma“, da eine individuelle Förderung der Schüler den Rahmenzielen zu widersprechen schien. In den folgenden Jahren entwickelte sich der Trend an Grundschulen weiter in Richtung der jahrgangsübergreifender Lerngruppen-bildung. Didaktisch-pädagogische Maßnahmen im altersgemischten Unterricht sollten die Brücke zwischen den Anforderungen und den Lernvoraussetzungen schlagen (vgl. Liebers 2008: 12f.).

2.1.2 Die flexible Schuleingangsstufe

Mit der bewussten Wahrnehmung der natürlichen Heterogenität in den Anfangsklassen verbreitete sich in den letzten Jahren die Altersmischung kontinuierlich an deutschen Grundschulen. Sie fußte auf der „Annahme, dass Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen voneinander lernen können, aber unterschiedlich viel Zeit für das Pensum der beiden ersten Klassen benötigen“ (Berthold 2008: 20). Zudem sollten Ziele der Inklusion und Flexibilisierung durch altersgemischte Lerngruppen vereinfacht werden. Die 90er Jahre wurden nicht ohne Grund als die Renaissance der flexiblen Eingangsstufe (FLEX) bezeichnet, da durch eine Individualisierung des Lerntempos als auch des -umfangs immer mehr Grundschulen in Deutschland Heterogenität als „mögliche lernförderliche Ressource“ (Hahn/Berthold 2010: 7) wiedererkannten. Die FLEX zeichnet sich durch drei wesentliche Aspekte aus: die Zusammenlegung der Jahrgänge 1 und 2 (Schuleingangsphase), eine flexible Verweildauer zwischen einem Jahr und drei Jahren sowie ein für die Individualisierung geöffneter Unterricht im Rahmen eines rhythmisierten Tagesablaufs (vgl. Faust 2008: 20). Knörzer und Grass (2008) haben die Verlaufsmöglichkeiten in der FLEX anschaulich dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Modell des integrativen Schulanfangs, Knörzer/Grass 2000: 134.

Je nach Konzeption soll es neben Phasen gemeinsamer Arbeit in der Gesamtgruppe Phasen von Kleingruppen- und Einzelarbeit geben, sodass jedem Kind ein individuelles Lerntempo ermöglicht wird. Die Lehrkraft findet darüber hinaus in ihrer Arbeit mit förderbedürftigen Schülern, mit Kleingruppen als auch mit der gesamten Lerngruppe Unterstützung durch einen Sozialpädagogen.

Die Beschlüsse der KMK von 1997 initiierten eine mit Ausnahme des Saarlandes bundesweite Erprobung von Eingangsmodellen, welche die neue Gestaltungsformen sowie den Verzicht auf Zurückstellungen unterstrichen (vgl. Berthold 2008: 8). Die umfangreichen Schulversuche in den Bundesländern sollten dabei eine Antwort auf die praktische Umsetzbarkeit des altersgemischten, integrativen und flexiblen Konzepts geben. In Hessen wurde der BLK-Modellversuch ´ Pädagogische und strukturelle Neukonzeption des Schulanfangs entsprechend einer ökopsychologischen Sichtweise bei Integration der Sondermaßnahmen zur Förderung der Schulfähigkeit in das 1. und 2. Schuljahr´ 8 zwischen den Jahren 1994 und 1998 durchgeführt. Der hessische Schulversuch zur Neuen Schuleingangsstufe (1998-2004) setzte den hessischen BLK-Modellversuch fort und beteiligte dabei 29 Schulen. Die Gründe für die Einführung der FLEX sind vielfältig; entsprechend hohe Erwartungen wurden an die deutschen Modellschulen gesetzt. Die Liste pädagogischer Argumentationen ist lang (vgl. Kucharz/ Wagener 2007: 11f., Hanke 2007: 139f., Liebers 2008: 12ff. sowie Kucharz/Baireuther 2010: 194ff.):

- Möglichst bruchloser Übergang für Kinder von der Elementarstufe in die Grundschule
- Ein niedrigeres Einschulungsalter aufgrund der flexiblen Einschu-lungszeitpunkte
- Förderung der Sozialkompetenzen aufgrund des Lernens von- und miteinander
- Förderung leistungsschwacher und -starker Schüler mittels Individu-alisierung und Differenzierung
- Positiveres Selbstkonzept dank Selbstständigkeit, Rollenwechsel in den Stammgruppen als auch Fehlen von Klassenwiederholungen
- Altersgerechte und zeitgemäße Nutzung der individuellen Lernvoraussetzungen dank Rhythmisierung des Schultag
- Nachhaltigeres Wissen aufgrund der Reflexionsprozessen in den Helferstrukturen
- Standortnahe Schulen aufgrund des integrativen Charakter

Die aufgezeigten ´Vorteile´ der Altersmischung ergeben sich nicht automatisch. Für das Gelingen der alternativen Organisationsform ist „insbesondere deren entwicklungsorientierte pädagogisch-didaktische Ausgestaltung“ (Hanke 2007: 140) verantwortlich. Auch die zu erwarteten Defizite des Konzeptes waren zum Zeitpunkt der Erprobung in den Bundesländern bekannt (vgl. Hanke 2005: 7 und Kucharz/Wagener 2007: 12f.):

- Drohende Überforderung der leistungsschwachen Schüler im Falle eines sehr geöffneten Lernarrangements sowie im Hinblick auf die zweifache Beziehungsorganisation (Lehrkraft und Pate beziehungsweise Gleichaltrige)
- Drohende Vernachlässigung der Förderung leistungsstarker Schüler aufgrund des Helferprinzip
- Drohende Überforderung des Lehrenden aufgrund der organisato-rischen, didaktischen und methodischen Herausforderungen im Unterricht
- Schwierigkeiten, eine Balance zwischen den unterschiedlichen Interessen der Stammgruppen hinsichtlich der Themenwahl, der Gesprächsinhalte und der Beziehung zwischen Schüler und Lehrkraft zu sichern
- Fehlende Rahmenbedingungen (finanzielle und personelle sowie materielle Defizite)
- Zweifel nach der Notwendigkeit, in Anbetracht der vielfältigen didaktischen, methodischen und pädagogischen Herausforderungen primär die Organisationsform zu modifizieren, statt pädagogisch-didaktische Maßnahmen innerhalb der Jahrgangsklassen durchzu-führen

Die Reformbestrebungen in Deutschland erwiesen sich in den Ergebnissen der PISA-Studie vom Jahr 2000 als unzureichend für eine positive schulische Leistungsentwicklung der Schüler. Umso mehr wartete man gespannt auf die Evaluationsberichte der Schulversuche und Entwicklungsprojekte. Gleichzeitig konzentrierten sich weitere Zielsetzungen auf die Präzisierung bereits begonnener Reformvorhaben. Insbesondere Maßnahmen zur besseren Verzahnung von vorschulischem Bereich und Grundschule mit dem Ziel einer frühzeitigen Einschulung, welche in der KMK-Sitzung von 2002 gefordert wurden, erfolgten mit größerem Eifer, um einen gelingenden Schulstart zu garantieren. Liebers (2010) führte die für einen positiven Schulstart relevanten Aspekte der Individualisierung, Unterstützung des Wohlbefindens, des Selbstkonzeptes und der Lernfreude sowie der Erfahrung sozialer Integration auf und verwies gleichzeitig auf deren Realisierungsbestreben in der FLEX (vgl. ebd.: 89). Die Verankerung der flexiblen Schuleingangsstufe im Schulgesetz 2003/2004 deutete auf erfolgreiche Verläufe hin und auch Hessen bietet seit 2007 den Flexiblen Schulanfang als optionale Organisationsform an. Nach den Recherchen Bertholds von 2008 konnten 47 altersgemischte von insgesamt 1171 hessischen Grundschulen gezählt werden (vgl. Berthold 2008: 18). In insgesamt 11 Bundesländern (BW, BE, BB, HB, HH, HE, NI, NW, ST, SH, TH)9 durften die ersten beiden Schuljahre in ein bis drei Jahren durchlaufen und dabei als „pädagogische und organisatorische Einheit“ (ebd.: 20) verstanden werden. Zudem fallen Hessen und Baden-Württemberg auf, da in diesen Bundesländern ein zweiter Einschulungstermin erprobt wurde. Trotz der Zusatzbelastung für die Schulen sieht man hier große Vorteile in der flexiblen Abstimmung der Verweildauer auf das Geburtsdatum und die Voraussetzungen des Kindes (vgl. Faust 2006: 140).

Begünstigt durch die Länderautonomie zeigen sich noch in heutiger Sicht große Unterschiede in der flächendeckenden Umsetzung des Konzeptes an deutschen Schulen (vgl. Liebers 2008: 93). Die Umsetzungen in den Ländern variieren in Umfang und Intensität der Altersmischung, Kooperation mit Schulkindergärten, Integrationsfaktoren sowie Ausmaß der finanziellen Ressourcen der Grundschulen und deuten auf eine noch bestehende Skepsis gegenüber der neuen Organisationsform hin. Die zögerlichen Umsetzungen von 4% an hessischen Grundschulen erscheinen repräsentativ für Deutschland, da lediglich Berlin, Brandburg und Bremen mit einer hohen Anzahl von Reformschulen auffallen (vgl. ebd.). Offensichtlich ist mit der FLEX eine Reihe von Erwartungen wie auch Befürchtungen verbunden. Diese sind neben Praxiserfahrungen vor allem der empirischen Forschung überlassen.

2.2 Forschungsstand zum jahrgangsübergreifenden Lernen

In die Recherche werden sowohl die Forschungsliteratur als auch die vorliegenden Berichte aus Schulversuchen zur veränderten Eingangsphase in anderen Bundesländern einbezogen. Dabei ist auffällig, dass einerseits eine Anzahl von Untersuchungen erfolgt sind, andererseits keine eindeutigen Ergebnisse vorliegen. Forscher bemängeln gleichermaßen Umfang und Qualität der bereits vorgelegten empirischen Befunde, jedoch lassen sich durchaus interessante Aspekte nennen. Im Folgenden werden sowohl internationale als auch inländische Forschungsberichte herangezogen und hinsichtlich der zur Beurteilung der Effektivität relevanten Faktoren untersucht: die Leistungsentwicklung, die Entwicklung der Sozialkompetenzen, die Auswirkungen der Individualisierung auf das Wohlbefinden sowie die Praktikabilität des Konzeptes.

2.2.1 Leistungsentwicklung der FLEX-Schüler

Betrachtet man die internationale Forschung, so sind bereits seit den 70er Jahren wissenschaftlich begleitete Projekte zur jahrgangsübergreifenden Unterrichtspraxis zu finden. Insbesondere im englischsprachigen Raum wird versucht, die Effektivität in Bezug auf die Leistung nachzuwiesen. Allerdings drücken sie ernüchternde Resultate im Falle einer zu starken Individualisierung aus: Werden heterogene Gruppen ohne direkte Instruktion (direct teaching) unterrichtet, fallen Leistungsentwicklungen hinter die der Schüler in Jahrgangsklassen zurück (vgl. Gutiérrez/Slavin 1992: 367). Eine empirisch begründete Überlegenheit bezüglich der Effizienz findet sich insbesondere in der Position der erfahrenen Schüler, da sie mit dem selbstständigen Arbeiten besser zurechtzukommen scheinen (vgl. Hinz 2009: 137). Insgesamt geben die internationalen Forschungsergebnisse ein diffuses Bild ab. Vor- und Nachteile der Alternativform wiegen sich nach Veenman (1995: 367) gegeneinander aus: „These classes are simply no worse and simply no better, than single-grade or single-aged classes“.

Nationale Forschungen legen ähnliche Schlussfolgerungen offen. Dabei bieten die länderspezifischen Evaluationsberichte „keine eindeutigen Vor- oder Nachteile im Bereich der Schulleistung“ (Hacker 2011: 418). So werden in Anbetracht der veränderten Kindheit positive Ergebnisse genannt: Durch die Rhythmisierung als auch Individualisierung des Schultages werden Störungen sowie Defizite in der Konzentrationsfähigkeit und im Sozialverhalten bewusst in der Unterrichtsorganisation aufgegriffen (vgl. Risswick 2006: 31ff.). Die Qualität des Unterrichts, welche sich positiv auf die Leistungsentwicklung auswirke, beschreibt Risswick (ebd.) daher als verbessert. Dem gegenüber steht die Auffassung Brunners, Birris und Tuggeners (2009), dass zur Vermeidung der Überforderung Aufgaben im Unterricht qualitativ schlechter als im Jahrgangsunterricht sind. Zu ähnlichen Schlüssen kommen Kucharz und Baireuther (2010: 194f.) mit ihrer Kritik an der „Orientierung am Mittelfeld“. Von empirisch leicht besseren als auch leicht schlechteren Leistungen der FLEX-Schüler spricht ferner Liebers (2010). Sie betont dabei die Bedeutung des Selbstkonzeptes, welches sich auf die Leistungen desjenigen auswirke (vgl. ebd.: 90ff.). Die Altersmischung gehe in ihrer Konzeption den richtigen Weg, da ein hohes Selbstkonzept bei den FLEX-Schülern aufzufinden ist. Positive Schulleistungen finden sich jedoch nur dann, wenn homogene Gruppen gebildet werden, in denen mit der Methode der direkten Instruktion unterrichtet wird (vgl. Liebers 2008: 118). Diese Resultate ähneln in diesem Aspekt den Befunden von Rossbach und Wellenreuther (2002: 47), da die Beschränkung auf einen stark individualisierten Unterricht zu eng gefasst sei und „die positiven Effekte individueller Zuwendung […] durch ein erhöhtes Ausmaß an Stillarbeit und Arbeit mit verschiedenen, speziell schriftlichen Materialien kompensiert [werden]“.

Interessant sind hierbei die Erkenntnisse der DÜnE-Studie, welche die Leistungsentwicklung im Hinblick auf das Selbstkonzept und den Lesekompetenzen untersuchte (vgl. Hinz/Beutel 2010: 105-122). Während das altersgemischte Konzept ein besseres Selbstkonzept der Schüler aufweist, punktet die Jahrgangsklasse im Lesen. Ferner weist Lorenz (2012: 83) darauf hin, dass die „Prozessqualität“ bedeutend für die Leistungen der Schüler ist, jedoch weniger von der Organisationsform als vielmehr von einer differenzierten Unterrichtsgestaltung abhängig ist. Man distanziert sich somit von der aufwendigen Einführung neuer Konzepte wie die der Altersmischung und ruft stattdessen zu didaktisch-methodischen Neuerungen auf (vgl. Eckerth/Hanke 2009: 17). Darüber hinaus verweist Liebers (2008) eher auf die bislang eher vernachlässigte Bedeutung der Lehrkraft. Sie nehme in ihrer Persönlichkeit und in ihrem Verhalten großen Einfluss in die Leistungsentwicklung der Schüler (vgl. ebd.: 112).

2.2.2 Zur Entwicklung der Sozialkompetenzen

Die Förderung der Sozialkompetenzen spiegelt sich in den Patenschaften wider. Wagener (2010) sieht im Helferprinzip eine große Bedeutung für die Schüler, jedoch widerspreche der Wille zum Helfen der verfügbaren Zeit, weshalb eine Vermeidung von zu viel Input Voraussetzung für eine funktionierende Zusammenarbeit der Schüler sei (vgl. ebd.: 81ff.). Wagener hat in Zusammenarbeit mit Kucharz in den Jahren 2001 bis 2004 eine Studie durchgeführt, welche die Interaktion in der FLEX fokussierte. So können in der Praxis Strukturen der ´ caring community´, wie Lambrich bereits 1997 anstrebte, beobachtet werden und verdeutlichen den hohen Stellenwert des sozialen Lernens in den FLEX-Klassen (vgl. Kucharz/Wagener 2007: 153). Der gegenseitige Austausch ist sehr intensiv zu beschreiben, weshalb jedoch anscheinend ältere Schüler beim Lernen zu kurz kommen. Dies verweist zudem auf andere Befunde, wonach die Rolle des Helfenden vom Alter statt vom Leistungsstand bestimmt ist und vor allem Schüler der zweiten Stammgruppe den Jüngeren Hilfestellungen geben (vgl. Wagener 2010: 78f.). Risswick (2006) beschäftigt sich zudem mit der gegenseitigen Unterstützung der Schüler und lobt die Kommunikation zwischen den Paten. Sie sind, entgegen aller Annahmen, inhaltsbezogen und überwiegend produktiv. Liebers (2010: 90) benennt außerdem „etliche Hinweise auf gelingendes soziales Lernen“: 90% der Befragten fühlen sich sozial angenommen und 87% sehen ihre Mitschüler als nett an. Liebers offenbart allerdings die Tatsache, dass Patenkinder nicht automatisch als Freunde betrachtet werden und das Helfen teilweise als Zwang angesehen wird. Als Folge der veränderten Kindheit zeigen sich negative Aspekte in den durchgeführten Untersuchungen, da Kinder in einem sehr eigenständigen FLEX-Unterricht ihr isoliertes Verhalten, welches sich als Folge des intensiven Medienkonsums heutzutage vermehrt ausprägt, fortführen. Schiller (2010: 40) spricht hierbei von einem vernachlässigten Gemeinschaftsgefühl, was dadurch bestärkt wird, dass zu wenig gemeinsame Themen im Unterricht durchgenommen werden:

"Ich richte eine Lernumgebung ein und jeder macht etwas für sich. Da werden Kinder nicht glücklich. Die wollen ein gemeinsames Thema, an dem sie forschen. Und sie wollen das dann präsentieren".

Insgesamt kommen auch hier keine einheitlichen Schlüsse zum Ausdruck. Liebers (2010) findet in ihren empirischen Befunden ebenfalls keinen sehenswerten Unterschied im Vergleich zu den Jahrgangsklassen, zumal keinerlei Zusammenhänge zwischen der von den Kindern eingeschätzten sozialen Integration und ihren Schulleistungen bestehen (vgl. ebd.: 92). Dennoch lassen die Ergebnisse positive Tendenzen im Hinblick auf die Entwicklung der Sozialkompetenzen erahnen.

2.2.3 Zu den Auswirkungen auf das Wohlbefinden

Das kindliche Wohlbefinden stellt einen wesentlichen Indikator für die Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung der FLEX dar. Dennoch ist das Ausmaß an bereits durchgeführten Forschungen zu diesem Aspekt gering, da selten die Perspektive der Schüler eingeholt wird. Die für das Konzept der Altersmischung wesentliche Individualisierung wird folglich in mehreren Forschungsberichten aufgegriffen, aber nur selten werden die Auswirkungen auf das Wohlbefinden thematisiert. Liebers (2008) lässt erste wichtige Hinweise zu, wie Schüler selbst über ihr Leben und Lernen in der FLEX reflektieren. Der Anfangsunterricht macht demnach 92% aller von Liebers untersuchten 229 Kindern Spaß. Sie fühlen sich überwiegend wohl bis sehr wohl und stufen ihre Anstrengungsbereitschaft sowie Lernfreude als sehr hoch ein (vgl. ebd.: 94ff.). Zudem stellt Liebers erstaunt fest, dass die Lernfreude und -motivation bei Schülern der zweiten Stammgruppe höher als im Jahr zuvor sind. Dagegen weisen Kinder im dritten Verweiljahr eine geringer ausgeprägte Lernfreude auf. Ebenfalls das Wohlbefinden, die Lernfreude und die Motivation der Schüler mit förderdiagnostischem Lernbedarf fallen als leicht niedriger als die der regulär Lernenden in Hamburg und Schleswig-Holstein aus. Für vorzeitig eingeschulte Kinder wie auch Schüler mit einer kürzeren Verweildauer lassen sich aufgrund der geringen Datenmenge keine sicheren Ergebnisse beschreiben, so Liebers (ebd.) weiter. Insgesamt schließt sie ihre empirische Forschung mit leicht positiven Folgen der FLEX-Settings auf die sozio-emotionalen Entwicklungen der Kinder ab (vgl. Eckerth/Hanke 2009: 17). Die Ergebnisse von Hinz (2009) stimmen dem in vielen Bereichen überein. Sie drücken ein positiveres Befinden bei der älteren Stammgruppe, das Fehlen abfallender Lernfreude in den beiden Jahren wie auch ein vermindertes Wohlbefinden bei Schülern in der dritten Verweildauer aus (vgl. ebd.: 138f.). Hinz merkt an, dass vor allem die Patenschaften einen wesentlichen Beitrag leisten, da dadurch nicht nur kommunikative und soziale Kompetenzen geschult werden, sondern zudem das kindliche Befinden gesteigert wird. In der caring community erfahren die Schüler Beachtung, Unterstützung und Akzeptanz. So ist vor allem das Helfersystem im Unterricht zu integrieren.

Die Bewertungen der Schüler über ihre jahrgangsübergreifende Eingangsstufe können positiv zusammengefasst werden. Da Korrelationen zwischen den Leistungsemotionen und der Leistungsentwicklung existieren, deuten die empirischen Befunde auf positive Praxiserfahrungen mit FLEX-Klassen hin. Unklar ist dennoch, welche Faktoren konkret das Wohlbefinden bestimmen (vgl. Liebers 2010: 96f.).

2.2.4 Zur Praktikabilität des Konzeptes

Gerade der Aspekt der Praktikabilität ist angesichts des komplexen und umfangreichen altersgemischten Konzepts interessant. So ergibt die SCHOLASTIK-Studie von Weinert und Helmke (1997) eine heute noch vorherrschende Unsicherheit der Schulen, welche in den national unterschiedlichen Konzeptionen der altersgemischten Organisationsform deutlich wird. Sie legt den Schwerpunkt in den individuellen Entwicklungsverläufen von Grundschulkindern „in Abhängigkeit von affektiven und kognitiven Eingangsbedingungen sowie vom schulischen Kontext“ (ebd.: 3) zu beschreiben. Mithilfe von zahlreichen Schülerfragebögen, Tests sowie Unterrichts-beobachtungen und Lehrerbefragungen wird das Fazit gezogen, dass eine bessere Passung zwischen Unterricht und individuellen Lernangeboten in der Grundschule nicht durch herkömmliche Unterrichtsmodalitäten erreicht werden kann. Gleichzeitig mahnt man vor zu befürchtenden Herausforderungen in der Umstellung des Anfangsunterrichts (vgl. Beutel/Hinz 2008: 26f.). So beschreiben verschiedene Forschungen einen großen Aufwand für Grundschullehrkräfte, da die didaktisch-methodisch-pädagogischen Aufgaben des Alltags sich mit der Einführung der FLEX „vervielfältigen“ (Kucharz/Wagener 2007: 12). Faust (2008) spricht ebenfalls von hohen Anforderungen an die lernförderdiagnos-tischen Kompetenzen und das Engagement der Lehrkräfte (vgl. ebd.: 21). Die Forschungsergebnisse drücken die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis aus, wonach die Potentiale der FLEX hinsichtlich eines kindgerechten Schulanfangs in der realen Unterrichtsdurchführung kaum ausgeschöpft werden (vgl. Risswick 2006: 60f.). Um mit den veränderten Aufgaben und den Differenzen der Schüler produktiv umgehen zu können, sind zudem eine Reihe von Vorbereitungen sowie ein allgemeines Neu- und Umdenken notwendig (vgl. Hinz 2009: 141). Schiller (2010) unterstützt die Forderung einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Konzeptes und warnt vor einer oberflächigen Umsetzung. Schiller zufolge sei die Erweiterung der Eingangsphase auf die ersten drei Jahrgangsstufen erforderlich, um den nötigen mentalen Wandel bei den Lehrpersonen hervorzurufen und den methodisch-didaktischen Herausforderungen gerecht zu werden. Lehrende, geprägt von den Rahmenpläne, Leistungserwartungen und Selektionsmechanismen im deutschen Schulsystem, tendieren generell zu einem „Homogenisierungsdenken“ (Lorenz 2012: 83), sodass die Unterschiedlichkeit oft unzureichend genutzt oder gar entgegengewirkt wird. Fehlende Fortbildungen verstärken dabei die Orientierung an traditionelle Unterrichtsformen und verhindern den produktiven Umgang mit Heterogenität im Unterrichtsalltag. Der darin resultierende Abteilungsunterricht nutzt jedoch weder die Potentiale der Heterogenisierung noch ist er lernförderlich (vgl. Schiller 2010: 38 und Kucharz/Baireuther 2010: 195). Die Tatsache, dass aufgrund mangelnder Ressourcen „auf zusätzliches Personal verzichtet“ (Hacker 2008: 98) wird, erschwert die erfolgreiche Einführung des FLEX-Konzepts zusätzlich (vgl. auch Faust 2006: 142).

2.3 Resümee des theoretischen Hintergrunds und Fragestellung der Untersuchung

Die eben erläuterten Forschungsergebnisse zum Gelingen in der neuen flexiblen Schuleingangsstufe geben einen Überblick über die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten pädagogischen Studien zum jahrgangsübergreifenden Anfangsunterricht. Sie können repräsentativ für den aktuellen Forschungsstand herangezogen werden, denn sie offenbaren allesamt recht ernüchternde Schlussfolgerungen. Weder eine klare Unter- noch Überlegenheit der FLEX gegenüber den Jahrgangsklassen ist bewiesen. Die Organisationsform beinhaltet zahlreiche didaktische-methodische Neuerungen, die empirisch unterschiedliche Folgen auslösen. Der Nutzen, welcher die Faktoren der Leistungsentwicklung, der sozio-emotionalen Entwicklung und der praktischen Ausführbarkeit umfasst, offenbart sich den Forschungsberichten zufolge weniger überzeugend, als die Theorie vermuten lässt. So können den FLEX-Klassen nur bedingt höhere Leistungen sowie verbesserte Sozialkompetenzen zugewiesen werden. Interessant erweisen sich positive Ergebnisse weniger Untersuchungen zum Wohlbefinden, welche klare Vorteile der Altersmischung gegenüber dem traditionellen Klassensystem ausdrücken. Eine zukunftsweisende Bewertung der FLEX wird dennoch nicht erkenntlich, da ihr Gelingen stark von der richtigen Umsetzung abhängig ist. Klare Kritik wird in Forschungsberichten zum Ausdruck gebracht, sobald die notwendigen Rahmenbedingungen thematisiert werden. Leistungen fallen folglich schnell negativ aus, sobald Lehrkräfte unzureichend fortgebildet sind und der Unterricht zu individualisiert gestaltet wird. Ebenso in Bezug auf die Förderung der sozialen und emotionalen Aspekte zeigt sich die Praxis oftmals weit entfernt von theoretischen Konzeptionen, da wichtige Voraussetzungen wie räumliche, materielle und personale Ressourcen von Schule zu Schule variieren. Unzureichende Finanzierung macht die FLEX und ihre Idee vom kindgerechten Schulanfang wenig effektiv.

Der aktuelle Forschungsstand verdeutlicht, dass die FLEX eine zukunftsweisende, gleichzeitig aber eine zahlreiche notwendige Veränderungen zu berücksichtigende Organisationsform darstellt. Auch wenn die bisherigen Studien keine einheitlichen Ergebnisse liefern, regen sie dennoch zum Nachdenken für zukünftige Forschungspraktiken an. So fällt auf, dass die Leistungsentwicklung sowie die sozialen Aspekte in bisherige Untersuchungen einen hohen Stellenwert aufweisen – weniger jedoch das persönliche Befinden der Schüler. Liebers (2008) nimmt die Meinungen der Schüler in den Fokus, jedoch geht sie methodisch sehr standardisiert vor, weshalb freie und ausführliche Erzählungen der Kinder ausbleiben.

Die Tatsache, dass bisherige Forschungspraktiken überwiegend die Perspektive der Erwachsenen fokussierten und die Sicht der Kinder zu der FLEX weitgehend unerforscht ist, begründet den Anspruch dieser Forschungsarbeit. Mein Anliegen besteht darin, die Einstellungen der Schüler einzuholen, um ihr Empfinden zur FLEX deuten und neue Antworten über die Praxis des altersgemischten Anfangsunterrichts geben zu können. Die Forschung mit Kindern ermöglicht es, wichtige Einblicke in die Wahrnehmung der Kinder der altersgemischten Unterrichtspraxis zu erhalten. Die für Schüler bedeutsamen Aspekte des Schulalltages können somit verstanden und in der Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt werden. Der Blick dieser Arbeit richtet sich folglich weniger auf einen präzise formulierten Forschungsinhalt als vielmehr auf die angewandte Methode. Mit der Wahl der qualitativ offen strukturierten Erhebungsweise der Gruppendiskussion wird versucht, die Eindrücke der Schüler zum Thema der flexiblen Schuleingangsstufe möglichst unbeeinflusst, detailliert und ehrlich darzulegen. Ihre Erfahrungen unterscheiden sich häufig von denen der Erwachsenen, sodass neue Aspekte zur Beurteilung der FLEX erhofft werden. In dieser Untersuchung sollen Schüler der dritten Jahrgangsstufe die Gelegenheit haben, ihre Erinnerungen zum altersgemischten Unterricht der FLEX darzulegen und dabei einen Vergleich zur jahrgangsbegrenzten dritten Klasse zu ziehen. Sie reflektieren ihr schulisches Leben und Lernen und geben in ihren Wahrnehmungen Hinweise über ihre Leistungsemotionen. Das Hauptbestreben dieser Arbeit lässt sich folglich mit folgender Untersuchungsfrage präzisieren:

Wie nehmen Schüler ihr schulisches Leben und Lernen in der flexiblen Schuleingangsstufe (im Vergleich zur jahrgangshomogenen dritten Klasse) wahr?

Von Interesse ist, neben den theoretischen und praktischen Erkenntnissen zum altersgemischten Schulbeginn die Sicht der Kinder hinzuzufügen. Dabei sind sowohl die Parallelen als auch die Kontraste der Schüler- und Erwachsenensicht hilfreich, um ein klareres Bild über die flexible Schuleingangsstufe zu erhalten. Ein wesentlicher Aspekt ist hierbei die Untersuchung der Kinderwünsche in Bezug auf die zukünftige Gestaltung des Anfangsunterrichts sowie der dritten und vierten Jahrgangsstufe. Dabei sollen die Probanden ihre jeweilige Argumentation auf die Zukunft übertragen und ihre Einstellungen verdeutlichen. Demzufolge lassen sich folglich zwei Unterfragen formulieren:

Inwiefern unterstreichen und/oder ergänzen die Aussagen der Schüler die bisherigen Forschungsergebnisse?

Wie begründen sie ihre Vorschläge für die weitere Schulentwicklung hinsichtlich der Gestaltung des Anfangsunterrichts und der der dritten und vierten Jahrgangsstufe?

Diese Studie soll dem lückenhaften Forschungsstand hinsichtlich der Einbeziehung der Schülerperspektiven entgegenwirken. Mit dieser Herangehensweise wird versucht, die substantiellen Unterschiede der Evaluationsergebnisse zu kompensieren und die Bedeutung der Forschung mit Schülern für die Erlangung zukunftsweisender Erkenntnisse herauszustellen. Diese Untersuchung unterstützt die Studie Liebers (2008), jedoch grenzt sie sich bewusst von ihrem methodischen Vorgehen ab. Die gewählte Methode wird im Folgenden erläutert.

3. Methodisches Vorgehen

Im Folgenden wird die Studie mit den Schülern der Grundschule vorgestellt. Es handelt sich hierbei um eine qualitative Feldstudie, welche vormittags durchgeführt wird. Sechs Schülerinnen nehmen an einer Gruppendiskussion unter meiner persönlichen Leitung teil, um über das Thema „Erfahrungen zu der flexiblen Schuleingangsstufe“ zu reden. Die anschließende Auswertung des Datenmaterials in Form eines Transkripts erfolgt im Sinne der Grounded Theory.

3.1 Stichprobe

Versucht man Aussagen über das Gelingen von Organisationsformen, wie es die flexible Schuleingangsstufe darstellt, zu erhalten, so ist vor allem die Einstellung der Schüler gefragt. Zwar können Erwachsene Aussagen über die Leistungsentwicklung geben, doch da sich die Wahrnehmung und das Handeln von Kindern oftmals von den Perspektiven der Erwachsenen unterscheiden, ist die Untersuchung der Kinderperspektiven notwendig. Hierfür werden die Erkenntnisse der 90er Jahre einbezogen. Damals rückte die Frage in den Vordergrund, inwieweit Kinderleben theoretisch und empirisch zu fassen ist. Daraufhin entwickelte sich Ende der 90er Jahre eine neue Sicht auf Kinder: Schüler wurden nun als Experten und daher als „zuverlässige Informanten“ (Bamler et al. 2010: 173) über ihr schulisches Leben und Lernen anerkannt. Es folgten vermehrt Forschungen mit Kindern, statt lediglich der Erfahrungen von Experten oder Lehrenden nachzugehen. Diese Studie soll diese Entwicklung fortführen, da die Position unterstützt wird, dass mit Schülerbeschreibungen wesentliche Erkenntnisse über Wünsche und Klagen der Schüler und somit wesentliche Aspekte des kindlichen Wohlbefindens gewonnen werden können, um die FLEX differenzierter beurteilen zu können (vgl. Zedler/Weishaupt 1997: 91f. und Heinzel 2012: 22).

Dazu werden Schüler10 der Grundschule 11 ausgewählt, um die maßgebenden Akteure dieser Forschung darzustellen. In einem persönlichen Besuch strebe ich an, die in Frage kommenden Schüler in ihren für die Studie relevanten Merkmalen einzuschätzen. Im Sinne des Theoretical Samplings erfolgt die Auswahl der Stichprobe daher nicht randomisiert, sondern anhand bewusster Vorstellungen (vgl. Glaser/Strauss 1967: 45ff.). Um wirkliches und natürliches Handeln zu verstehen, ist ein gezieltes Sampling von besonderer Bedeutung, sodass die Qualität der Studie, wie sie im Auswertungsverfahren der Grounded Theory hervorgehoben wird, garantiert werden kann (vgl. Kapitel 3.4. „Auswertung“ und Alheit 1999: 12). Die Generalisierung von Aussagen bezieht sich in qualitativen Studien eher auf Regeln theoriebezogener Repräsentativität. Im Hinblick auf die konkrete Fragestellung und die Vorgehensweise hat der Forscher für die Geeignetheit der Personen zu sorgen. Mein Ziel ist es folglich, mit der bewussten Stichprobenauswahl möglichst umfassende Ideen in die Untersuchung zu integrieren. Die Teilnehmerauswahl soll sowohl heterogene als auch homogene Eigenschaften aufweisen. Sich als Forscher einen persönlichen Überblick über die Schüler zu verschaffen, ist daher von großer Bedeutung (vgl. Seipel/Rieker 2003: 109f.).

Die Entscheidung fällt auf eine bewusst kleine Stichprobengröße, um auf die Merkmale qualitativer Studien zu verweisen. Lamnek nennt eine optimale Stichprobengröße von fünf bis zwölf Teilnehmern in qualitativen Studien, jedoch ist generell keine klare Aussage über eine ideale Probandengröße zu geben (vgl. Lamnek 2010: 396). Anfangs sind fünf Teilnehmer angedacht gewesen, um mit der ungeraden Anzahl Frontenbildungen, welche gerade in kleinen Gruppen befürchtet werden, zu vermeiden (vgl. ebd.). Da jedoch nach der Rekrutierung ein Mädchen aus der Klasse (SwN)12 darauf hinwies, dass es aufgrund eines Wohnortwechsels getrennten und gemeinsamen Unterricht erlebt habe, hielt ich es für sehr interessant, ihre Sicht in die Studie mit einfließen zu lassen. Diese Gruppengröße von sechs Personen scheint ideal, um das Meinungsspektrum möglichst breit zu halten und dennoch die Perspektive jedes Einzelnen ausführlich und differenziert dargestellt zu bekommen. Die Diskussion soll somit Intensität und Tiefgang in den Inhalten bewahren können (vgl. Morgan 1997: 42). Zudem hätte eine größere Gruppe den privaten Charakter verloren, der einer natürlichen Unterhaltung zukommt. Ziel ist es, die Situation möglichst alltagsnah zu gestalten, um die Schüler zu freien und spontanen Äußerungen zu animieren und schweigende beziehungsweise verängstigte Kinder, welche oft in größeren Gruppen auftreten, zu vermeiden (vgl. Lamnek 2010: 396).

Die Auswahl aus Schülern der Klassengemeinschaft unter der Leitung von Herrn G. lässt sich mit dem Bestreben einer positiven Untersuchungsatmosphäre begründen. Die Kinder waren mir zum Zeitpunkt der Studie bereits aus einzelnen Vertretungsstunden in den letzten Monate bekannt. Die Situation in der von mir geleiteten Diskussion wird demzufolge weniger distanziert und befremdlich wirken. Zu dem Zeitpunkt der Untersuchung befinden sich die Schüler am Ende des dritten Schuljahres. Zuvor verweilten sie zwei Schuljahre in der flexiblen Schuleingangsstufe, wobei Schülerin SwN erst seit Anfang des zweiten Schuljahres die Schule besucht. Die Probanden befanden sich damals in drei verschiedenen ´FLEX-Klassen´ und kamen im dritten Schuljahr in eine gemeinsame Klasse von insgesamt 25 Schülern. Damit stellt die Auswahl eine Realgruppe dar: die Teilnehmer kennen sich und sind aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit bereits Teil einer „Gruppe“ (Behrmann et al. 2008/2009: 64). Der große Vorteil dieser Stichprobe besteht darin, dass anfängliche Hemmungen im Erzählen aufgrund der Bekanntschaft vermieden, gleichzeitig aber Möglichkeiten unterschiedlicher Perspektiven zu der flexiblen Schuleingangsstufe eröffnet werden. Denkbare Probleme können sich allerdings auf die Inhalte der Beiträge beziehen, da aufgrund der Vertrautheit Meinungsführer schneller hervorstechen, Abschweifungen öfters auftreten oder „Anpassungsmechanismen“ (Heinzel 2012: 108) ehrliche Meinungen verhindern könnten. Dies ist in der Durchführung der Studie zu berücksichtigen. Dennoch präferiere ich die Wahl natürlicher Gruppen gegenüber den „Ad hoc ausgewählten Teilnehmer[n]“ (Lamnek 2010: 395), da künstlich zusammengeführte und eventuell einander fremde Diskussionsgruppenteilnehmer den Erkenntnisgrad insgesamt schmälern könnten. Weiter besteht der Vorteil dieser Stichprobe darin, dass die Schüler zu dem Zeitpunkt der Untersuchung bereits ein Schuljahr lang Erfahrungen in einem regulären Unterricht gesammelt, dennoch den Bezug zum jahrgangsübergreifenden Lernen nicht verloren haben. Schüler der vierten Jahrgangsstufe könnten bereits zu lange getrennt gelernt haben, sodass das Ausmaß positiver und negativer Erlebnisse der damaligen FLEX gering ausfiele.

Ausschlaggebend bei der Rekrutierung ist zudem eine gewisse Homogenität hinsichtlich ihrer Betroffenheit vom Themengegenstand, ihres Sprachvermögens und ihrer Machtverhältnisse (Alter). Die Schüler befinden sich in derselben Jahrgangsstufe, weshalb ein ähnliches Lebensalter (zwischen 8 und 9 Jahre) und ähnliche Verbalisierungsfähigkeiten, welche bei jüngeren Kindern zu methodologischen Problemen führen könnten, anzunehmen sind. Gleichzeitig weisen sie eine gewisse Heterogenität auf, indem darauf geachtet wird, dass das Leistungsniveau, das soziale Umfeld und die Interessen innerhalb der Auswahl variieren. Dadurch soll das Ausmaß der Orientierung der Äußerungen an dem

[...]


1 In dieser Arbeit werden die männlichen und weiblichen Geschlechter im Sinne der besseren Lesbarkeit zusammengefasst.

2 Fröbels Pädagogik ist geprägt von der Symbolik der Natur. Er sah den Umgang mit Pflanzen wie auch die natürlichen Lebensräume als unerlässlich an. So sollten die individuellen Eigenschaften und Begabungen der Kinder, die bereits von Natur aus angelegt sind, entfaltet werden. Fröbel ist bekannt als Begründer des Kindergartens und Erfinder der Spielgaben (vgl. Pfeiffer 2013).

3 Montessori setzte sich für die Rechte der Kinder ein und gründete die Montessori-Kinderhäuser, in denen der Schwerpunkt auf die Bedürfnisse der Kinder gelegt wird. Offene Lernangebote, -zeiten und -methoden sind hierbei grundlegende Prinzipien. Die Montessori-Pädagogik hat sich seit Jahren bewährt und wird heutzutage weltweit angeboten (vgl. Pfeiffer 2013).

4 Otto hatte die Grundüberzeugung, dass die Kinder von Natur aus Wissen erlangen wollen und in der Orientierung an Gleichaltrige dies auch können. Ihre Neugier ermöglicht es, neue Erkenntnisse zu erlangen und sie nachhaltig zu behalten. Die Fragen der Kinder, welche im Zusammenleben und -lernen mit anderen Kindern aufkommen, sollten demnach gezielt für den Unterricht genutzt werden (vgl. Pfeiffer 2013).

5 Petersen ist noch heute als bedeutender Professor und Reformpädagoge, der den Begriff ´Frontalunterricht´ prägte und gleichzeitig kritisierte, in Erinnerung. Seine Pädagogik ist durch Offenheit und Freiheit gekennzeichnet, dennoch richtete er mit der Errichtung der ersten pädagogischen Fakultät vor allem den Blick auf die Wichtigkeit kompetenter Lehrkräfte (vgl. Pfeiffer 2013).

6 Vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 1997.

7 Vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) (2013): Bildungsstandards. Überblick. In: http://www.kmk.org/bildung-schule/qualitaetssicherung-in-schulen/bildungsstandards/ (Zugriff: 20.10.2013)

8 Faust (2004) setzt sich ausführlich mit den hessischen Schulmodellen auseinander und gibt eine gute Übersicht in die Thematik (vgl. ebd.: 40-42).

9 BW=Baden-Württemberg, BE=Berlin, BB=Brandenburg, HB=Bremen, HH=Hamburg, HE=Hessen, NI=Niedersachsen, NW=Nordrhein-Westfalen, ST=Sachsen-Anhalt, SH=Schleswig-Holstein und TH=Thüringen.

10 Auch wenn in der Studie ausschließlich weibliche Probanden mitwirken, ist in diesem Kapitel bewusst die Bezeichnung „Schüler“ gewählt. Der Grund ist darin zu finden, dass die genannten Merkmale der Stichprobenauswahl für beide Geschlechter zutreffen. Auch das weitere Vorgehen in der Beschreibung der Durchführung sollen beide Geschlechter einbezogen werden, um das eigene Vorgehen für andere Forschungssituationen zu verallgemeinern.

11 Die Schule befindet sich im Zentrum der Stadt und hat im Schuljahr 2013/2014 351 Schüler. Sie ist bis zur vierten Klasse vier-zügig, wobei es acht Eingangsstufen gibt. Das rund 22-köpfige Kollegium aus Lehrkräften, Sozialpädagogen und Schwimmtrainerin unterrichten die 16 Klassen mit einer Klassengröße von 21 bis 25 Kindern. Neben dem Unterricht werden angeboten: Schulkindbetreuung, Hausaufgabenbetreuung, Förderunterricht (Sprache und Lesen) sowie zahlreiche Arbeitsgemeinschaften (Back-AG, Ballspiel-Kurs, Bastel-Kurs, Chor, Koch-Kurs, Französisch-Kurs, Fußball-Kurs, Judo-Kurs, Polnisch-Kurs, Zeitung-Kurs, Sportgymnastik-Kurs und Theater-Kurs). Das Schulkonzept betont die Jahrgangsmischung der ersten beiden Schuljahre sowie das Ganztagsangebot in Zusammenarbeit mit der X. e.V.

12 Die Abkürzung SwN wird im Transkript benutzt, um die Anonymität der Teilnehmenden zu wahren. Sie gibt nötige Informationen über die Person hinsichtlich des Status „ S chüler“, des Geschlechts „ w eiblich“ und des Namens „ N.“.

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Die Flexible Schuleingangstufe aus Sicht der Kinder
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Pädagogische Psychologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
111
Katalognummer
V310029
ISBN (eBook)
9783668084445
ISBN (Buch)
9783668084452
Dateigröße
1470 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
flexible, schuleingangstufe, sicht, kinder
Arbeit zitieren
Stefanie Kouba (Autor:in), 2009, Die Flexible Schuleingangstufe aus Sicht der Kinder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310029

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