Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Theoretische Konzepte
2.1 Interkulturalität
2.2 Hybridität/ 3. Raum
2.3 Mimikry
3. Analyse: Zurückkehren von Tahar Ben Jelloun
4. Vergleich mit anderen Romanfiguren
4.1 Nadia und ihr Vater in Die Früchte der Wut von Tahar Ben Jelloun
4.2 „Der Rechtsanwalt“ und Amir Lahav in Zweite Person Singular von Sayed Kashua
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mohammed lebt seit 40 Jahren in Frankreich. Seit er 1962 sein Dorf in Marokko verließ, stand er jeden Tag bei Renault in Paris am Fließband. Mit der Rente wird ihm bewusst, wie sehr sich seine fünf Kinder – alle in Frankreich geboren und aufgewachsen – vom Elternhaus entfremdet haben, von ihren muslimischen Wurzeln. Sie lassen sich einbürgern, heiraten christliche Partner und hören nicht auf ihren Vater. Ein alter Traum gibt Mohammed Halt: Er möchte nach Marokko zurückkehren und dort seine ganze Familie im „Haus des Glücks und des Friedens“ versammeln – ein utopischer Traum, wie sich am Ende herausstellt.
Mohammed ist die Hauptfigur im 2009 erschienenen Roman von Tahar Ben Jelloun.[1] Geschildert wird das Schicksal eines marokkanischen Migranten und Familienvaters in Frankreich, der fern der Heimat alt wird. Der Autor Tahar Ben Jelloun wurde 1944 in Marokko, in Fès geboren und lebt heute in Paris und Tanger. Das Buch wird der interkulturellen Literatur zugeordnet. Doch was genau versteht man unter interkultureller Literatur? Inwiefern ist dieser Roman ein interkultureller Roman?
In der vorliegenden Arbeit werden zunächst die theoretischen Konzepte erläutert, welche als Grundlage für die anschließende Analyse des Romans von Jelloun herangezogen werden. Zentral ist dabei die Frage nach der Bedeutung von Interkulturalität, um den Roman als solchen einzuordnen. Hier spielt die Begegnung mit dem „Fremden“, das Bild vom „Anderen“ eine wichtige Rolle. Bei der Untersuchung steht die Romanfigur Mohammed im Vordergrund: Wie wird die Identität des Protagonisten dargestellt? Welche Strategien entwickelt der Protagonist, um zu überleben? Kommt es zu interkulturellen Begegnungen? Im Vergleich mit anderen ausgesuchten Figuren interkultureller Romane, soll verdeutlicht werden, dass die Protagonisten im Kontakt mit fremden Kulturen bzw. in der Auseinandersetzung mit Kultur(en) verschiedene Strategien verfolgen, was sich wiederum auf ihre Identität auswirkt.
2. Theoretische Konzepte
2.1 Interkulturalität
Um das Konzept Interkulturalität zu verstehen, hilft es, das Wort in seine Bestandteile zu zerlegen: „inter-“ (lat. inter = unter, zwischen) und „Kultur“ (<at. cultura = Landbau, Pflege). Interkulturalität entsteht also zwischen den Kulturen, genauer gesagt dort, wo Angehörige verschiedener Kulturen untereinander in Kontakt treten und interagieren bzw. sich austauschen. Im Gegensatz zum Konzept Multikulturalität, welches die Ko existenz, das (friedliche) Nebeneinader von Kulturen beschreibt – als eine gesellschaftliche Tatsache bzw. ein soziokulturelles Charakteristikum – wird Interkulturalität erst durch bestimmte Handlungsweisen erzeugt.[2] Interkulturalität ist das Resultat von Interaktion und Kommunikation zwischen den Kulturen, zwischen Eigen- und Fremdkultur. In diesem Zusammenhang spielt die individuelle Identität eine wichtige Rolle. Es ist die Identität, die Individuen erst interaktionsfähig macht; diese wird jedoch zugleich in Interaktionen immer wieder neu ausgehandelt, verändert sich also permanent. Das Bild des Anderen – auch Alterität genannt – spielt hier eine entscheidende Rolle, da wir erst in Abgrenzung von anderen unser Selbstbild bzw. unsere Identität als das Bild vom Eigenen entwickeln.[3] Dabei stellt das Andere bzw. das Fremde das uns nicht Vertraute bzw. Unbekannte dar, im Gegensatz zu dem uns Vertrauten, dem Eigenen.[4] Die kulturelle Identität eines Individuums, aber auch einer Gemeinschaft wird damit zum Ergebnis eines nicht abschließbaren Prozesses.[5]
Den Begriff „Kultur“ in diesem Zusammenhang zu bestimmen, erweist sich als äußerst schwierig, weil eine Vielzahl von Kulturbegriffen und Kulturperspektiven existieren. Für das vorliegende Konzept ist jedoch entscheidend, dass Kultur nicht als homogenes Gebilde definiert wird – in dem Sinn, dass Kultur A auf Kultur B trifft – sondern „intrakulturelle Differenzen und Alteritäten“[6] betont werden.[7] Demnach ist die Kultur einer Gemeinschaft bzw. einer Nation nicht homogen, sondern es lassen sich unterschiedliche kulturelle Orientierungen – z.B. ideologisch, geschlechtsspezifisch oder berufsbezogen – ihrer einzelnen Mitglieder erkennen.[8] Unter Interkulturalität wird also nicht die Interaktion zwischen Kulturen im Sinne eines Austausches von jeweils kulturell Eigenem verstanden, sondern es handelt sich um Interaktionsprozesse, bei denen kulturelle Differenz verhandelt wird. Erst in diesem Prozess der Begegnung und Verhandlung zwischen zwei (oder mehreren) Individuen wird eine „wechselseitige Differenzidentifikation“[9] möglich, kann eine Fremdheitserfahrung entstehen.[10] Differenzen werden somit erst in der interkulturellen Begegnung erzeugt. Dieser prozesshafte, dialogische Kulturbegriff stellt das Oszillieren zwischen unterschiedlichen Bedeutungen und Handlungsorientierungen in den Vordergrund, bei dem es im Prozess des „Verhandelns“ zur Auflösung von festen Grenzen und zur Schaffung neuer Grenzen kommt.[11]
„Wenn wir im Kontext der Interkulturalität von Kultur oder Kulturen reden, so haben wir ein Verständnis vor Augen, das den Kulturbegriff als ein dynamisch veränderbares Sinn- und Orientierungssystem mit offenen Grenzen versteht. Dies schließt […] auch ihre inneren Differenzierungen ein.“[12]
2.2 Hybridität / 3. Raum
Es wird oft betont, dass in Situationen interkultureller Interaktion ein „Drittes“ entsteht.[13] Diese Vorstellung ist für Homi K. Bhabha zentral, der mit seiner Theorie des „third space“ bzw. „3. Raumes“ bekannt wurde. Der in Indien geborene und an der Harvard University lehrende Literaturwissenschaftler schreibt aus postkolonialer Perspektive – das heißt, dass Prozesse von Migration, also von interkulturellen Begegnungen in der globalisierten Welt, unter dem Blickwinkel von Interaktionen zwischen Angehörigen und Nachfahren ehemals kolonisierter Völker und ehemaligen Kolonialherren betrachtet werden. Damit wird herausgestellt, dass es sich in den meisten Fällen von interkulturellen Begegnungen um von Herrschaft geprägte Begegnungen bzw. Beziehungen handelt. Bhabha fragt nach den kulturellen Gegebenheiten der postkolonialen Weltgesellschaft und kommt zu dem Schluss, dass die schematischen Kategorien von Unterdrückern und Unterdrückten nicht aussagekräftig sind und stattdessen „Hybridität“ zur Grundbedingung postkolonialer Existenz wird.[14]
Der Begriff Hybridität ist hier nicht aus seiner ursprünglichen Bedeutung aus der Biologie heraus – nämlich als Kreuzung von Pflanzensorten verschiedener Arten, bei der eine neue Art entsteht – zu verstehen, sondern bekommt eine andere Definition: „Hybridisierung heißt für mich nicht einfach Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet sind.“[15] Bhabha meint damit, dass es nicht zu einer Vermischung von Kultur A und B[16] kommt im Sinne einer einfachen Kombination bzw. Synthese, sondern, dass etwas Neues entsteht, etwas Unvorhersehbares, etwas Synergetisches.[17] Dieses durch Kulturkontakt entstehende „Dritte“ bezeichnet Bhabha als „3. Raum“, in dem Machtverhältnisse verschwinden: „Bei "Third Space" geht es um Transformationen in gesellschaftliche Verhandlungen. Das heißt Menschen kommen mit unterschiedlichen Einstellungen zusammen und streiten miteinander um Bedeutungen. Dabei entstehen neue Freiräume.“[18] Der „3. Raum“ kann nur erschlossen werden, wenn es zu Austauschprozessen zwischen Fremdem und Eigenem kommt. Der dafür notwendige Perspektivwechsel – um die eigene Position reflektieren zu können – wird als Übersetzungsprozess betrachtet. Übersetzung wird somit zu einer Grundoperation kulturellen Handelns.[19]
Zusammengefasst sind moderne Gesellschaften Bhabha zufolge „hybrid“ – Angehörige der Mehrheit befinden sich im stetigen Konflikt mit Migranten und anderen Vertretern von Minderheiten. Es kommt zu „Verhandlungen“, bei denen ständig neue Bedeutungen entstehen, bei der sich jedoch niemand vollständig durchsetzt. Im „3. Raum“ werden herrschende Diskurse zerstört, wird alles in Frage gestellt und neu konzipiert, werden kulturelle Symbole neu verhandelt. Das Ergebnis dieses „Aushandelns“ sind hybride Identitäten, die sich eindeutigen Zuschreibungen verweigern.[20] Es entsteht eine neue, flüssige Form von Identität – ein Subjekt in Bewegung, ein „Knoten- und Kreuzungspunkt der Sprachen, Ordnungen, Diskurse und Systeme, die es [das Subjekt] durchziehen, mit allen damit verbundenen Wahrnehmungen, Emotionen und Bewusstseinsprozessen“[21].[22]
[...]
[1] Jelloun, Tahar Ben: Zurückkehren. Berlin: Berlin Verlag 2011.
[2] Vgl. Erll, Astrid/ Gymnich, Mario: Interkulturelle Kompetenzen. Erfolgreich kommunizieren zwischen den Kulturen. Stuttgart: Klett 2010, S. 32 f.
[3] Vgl. ebd., S. 61.
[4] Vgl. Jousefi, Hamid Reza/ Braun, Ina: Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011, S. 46.; Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 19.
[5] Vgl. Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 11.
[6] Ebd., S. 10.
[7] Die Vorstellung, dass man eine Kultur einer Gemeinschaft fest definieren könne, indem bestimmte Werte, Sitten oder Gebräuche für eine Nation oder Gruppe als konstitutiv bzw. charakteristisch betrachtet werden, ist für den essentialistischen Kulturbegriff entscheidend (vgl. ebd., S. 10).
[8] Vgl. Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 10.
[9] Ebd., S. 11.
[10] Vgl. ebd., S. 10 f.; Erll/ Gymnich, Interkulturelle Kompetenzen, S. 35.
[11] Vgl. Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 12.
[12] Jousefi/Braun, Interkulturalität, S. 29.
[13] Vgl. Erll/ Gymnich, Interkulturelle Kompetenzen, S. 35.
[14] Vgl. Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 27.
[15] Wieselberg, Lukas: Migration führt zu "hybrider" Gesellschaft. Interview mit Homi K. Bhabha. In: science.ORF.at vom 9.11.2007 (http://sciencev1.orf.at/science/news/149988.html am 15.05.2014).
[16] Grundlage für Bhabhas Theorie ist ein dynamischer Kulturbegriff, wie er schon in 2.1 beschrieben wurde. Er wendet sich dezidiert gegen die Vorstellung von Interkulturalität als ein Aufeinandertreffen homogener, einzelner Kulturen und gegen das Selbstverständnis kultureller Einheit, das sich durch den Bezug auf die Nation ergibt. (vgl. Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 28 f.)
[17] Vgl. Erll/ Gymnich, Interkulturelle Kompetenzen, S. 36.
[18] Wieselberg, Migration führt zu "hybrider" Gesellschaft (http://sciencev1.orf.at/science/news/149988.html).
[19] Vgl. Engel, Christine/ Lewicki, Roman: Vorwort. Konzepte von Interkulturalität. In: Interkulturalität: Slawistische Fall-studien/ Interkulturowość: Studia Slawistyczne. Hrsg. von Christine Engel und Roman Lewicki. Innsbruck 2005 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft: Slavica Aenipontana; Bd. 12)., S. 2.
[20] Das hybride Subjekt der postkolonialen Welt kann seine Identität nicht auf Konzepte wie „die Türken“ oder „die Deutschen“ fixieren.
[21] Engel/ Lewicki, Konzepte von Interkulturalität, S. 2.
[22] Vgl. Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 13.