Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit. Zur Sozialstaatlichkeit zwischen Freiheit und Solidarität


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

1 Zur Präzisierung des Gerechtigkeitsbegriffes
1.1 Gerechtigkeit und Verfassung
1.2 Soziale Gerechtigkeit
1.2.1 Neid und Gerechtigkeit
1.2.2 Bedeutung sozialer Gerechtigkeit
1.2.3 Systematisierung sozialer Gerechtigkeit

2 Zur Legitimation des Sozialstaats
2.1 Rationalität
2.2 Daseinsfürsorge
2.3 Reale Freiheit

3 Zur Modalität der Sozialstaatlichkeit
3.1 Verteilungsgerechtigkeit
3.1.1 Zwischen Freiheit und Gleichheit
3.1.2 Zwischen Vergleich und Begehrlichkeit
3.2 Solidarität
3.3 Moralische Intuition
3.4 Demokratie und politische Kultur

Schlussbetrachtung

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

„Solange es für alle aufwärts ging,

war das Wohlstandsgefälle für die Deutschen kein Problem.

Doch nun fehlt ein gemeinsames Verständnis von Gerechtigkeit.“1

Einleitung

Spätestens seit dem Ölpreisschock 1973 zeigte sich, dass es mit der sozialstaatlichen Herrlichkeit irgendwann zu Ende sein würde. Hernach bestimmte „The fiscal crisis of the state“2 nachhaltig die Geschicke der wohlfahrtsstaatlichen Vergesellschaftungsform. Der „automobile Wohlfahrtsstaat“3 war nun konfrontiert mit Wachstumskrisen, Finanzmarktkapitalismus, Massenarbeitslosigkeit und einer fortschreitenden Alterung der Gesellschaft. Doch bis hinein in die zweite Legislaturperiode der Regierung Schröder/Fischer taten alle bundesdeutschen Regierungen so, als könne man ohne größere Anstrengungen, wenn man nur wollte, wieder zurück zur intakten Sozialstaatlichkeit. Stets war man sich dabei der Staatsgläubigkeit bewusst, einer tiefsitzenden Erinnerung in den deutschen Gemütern an staatlich gewährte Sicherheit. Genau dieses Momentes bedient sich der linke Populismus, wenn er die staatspolitisch notwendigen Sozialreformen als „Vertreibung aus dem Sozialstaatsparadies“4 umschreibt. Seine Macht – die sich nicht der Gestaltung, sondern eher der Verformung widmet – schöpft er aus Zukunftsängsten, Sehnsüchten und Übertreibungen. Dabei erscheint es als ein unsterbliches deutsches Trauma und Faszinosum zugleich, dass Politik unmittelbar zum Volk gemacht wird, vorbei an der schützenden Institutionenordnung.

Die Tatsache, dass diese Politik, die eine zweifelsohne prekäre Situation diagnostiziert, jedoch einer nostalgisch surrealen Therapie der wohlfahrtsstaatlichen Totalverantwortung hinterher hechelt, die Volksparteien in eine große Koalition führte, zeugt von der Brisanz, welche der Semantik des Sozialstaats innewohnt. Mittlerweile möchten zwei Drittel der Deutschen, dass es sozial gerechter zugehe und aus der Rhetorik der politisch Verantwortlichen lässt sich des Öfteren kaum noch unterscheiden zwischen Sozialdemokraten und Konservativen.5 Der wirtschaftsliberale Reformdruck flaut angesichts dieser Entwicklung ab und lässt an die „Wählerbewirtschaftung“6 vergangener Jahre erinnern: „Politische Führung vor allem in ökonomischen und sozialen Fragen, notfalls auch gegen die Mehrheitsstimmungen, ist in der Innenpolitik nirgends mehr zu erkennen.“7

Doch wie aussagekräftig sind Stellungnahmen auf die Frage, ob die Regierung zu viel oder zu wenig für soziale Gerechtigkeit tue, wie dies in der Emnid-Umfrage der Fall war? Das Problem liegt in der Schwammigkeit des Begriffes soziale Gerechtigkeit selbst. Kaum eine politische Rede oder ein Parteiprogramm kommt heute noch ohne einen Appell an diese aus, mit der Absicht, damit beliebig konträre politische Inhalte moralisch unangreifbar zu machen, was in einem Sammelsurium von Bedeutungen ohne konkrete Aussage mündet. Ungeachtet dieser im Wesentlichen rhetorischen Verwendungsweise gibt es aber einen gehaltvollen Kern, den es aus verschiedenen Konzeptionen der politischen Sozialphilosophie herauszufiltern gilt.

Bei der Betrachtung philosophischer Theorien der Gerechtigkeit muss zunächst unterschieden werden zwischen klassischen Theorien von Hobbes bis Hegel und daran anknüpfenden modernen, die ebenfalls Freiheit und Gleichheit als zentrale politische Ideen verstehen, sich aber in der Art, wie sie diese Ideen in ein spezifisches Verhältnis zueinander setzen unterscheiden. Grob könnte man die modernen Theorien in drei Fraktionen einteilen, einerseits in solche, die der Gleichheit den Vorrang geben, andererseits in zum einen radikal-libertäre, die bei den Egalitaristen nur üble Motive wie Neid und Gleichmacherei erkennen und zum anderen gemäßigt-libertäre, die das Interesse an der Verhinderung bestehenden sozialen Unrechts anerkennen, ihrerseits aber nur Wege akzeptieren, die mit dem Vorrang der Freiheit in Einklang zu bringen sind.8 Angesichts dieser gegensätzlicher Positionen konstatiert Rawls, dass das Verhältnis beider Ideen an einem „toten Punkt“ angelangt sei, wo „[…] keine Übereinstimmung darüber besteht, wie die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen gestaltet werden müssen […]“9 und erhob daher die Artikulation und Begriffsbestimmung dieser Grundsätze zur Aufgabe der politischen Philosophie.10

Im Rahmen dieser Arbeit gilt es folglich, dem Begriff soziale Gerechtigkeit Kontur und Inhalt zu verleihen sowie nach der konkreten Umsetzbarkeit zu fragen. Nach Roland Eisen erfordere eine nachhaltige Reform des Sozialstaats „regulative Ideen der sozialen Gerechtigkeit“11, die unabhängig von kurzfristiger Effizienz und Demoskopie Wege zeichnen sollen für einen erfolgreichen Umbau auf einer konsistenten Basis zwischen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Gesucht sind also nicht nur rein philosophische Verhältnisse zwischen begrifflichen Ideen, sondern auch exemplarische Modelle die auf einem solchen begründet sind. Es geht nicht mehr nur darum, was wir wollen sollen, sondern ob unser Sollen auch Können impliziert.12 Diesbezügliche Leitfragen widmen sich also der Ergiebigkeit politisch-philosophischer Theorien, den daraus ableitbaren Handlungspräferenzen und der Beständigkeit der Varianten vor den Ideen und Präferenzen.

Diese Fragestellung soll hier anhand folgender erkenntnisleitender These analysiert werden: Damit Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit Eckpfeiler des demokratischen Sozialstaats bilden können, bedarf es einer Symbiose von Freiheit und Solidarität, welche das Wirkungskonzept der Gleichheit auf die Verhinderung von Chancenlosigkeit richtet, um so mit der Zielorientierung an einer selbstbestimmt-eigenverantwortlichen, staatsbürgerlichen Lebensführung aller, im Kontext einer postsäkularen Gesellschaft, unter Versöhnung von Volkssouveränität und Menschenrechten, dem sozialen Sicherungssystem im Staatsgebilde eine normative Legitimationsgrundlage zu verleihen.

Wenn also im Zusammenhang von sozialer Gerechtigkeit und Marktwirtschaft Rekurs auf Verteilungsgerechtigkeit genommen wird, so sollen vor allem zwei Dinge Beachtung finden, nämlich das Fundament distributiver Gerechtigkeit und die politische Kultur, in der diese zur Entfaltung kommen sollte.

Die vorliegende Arbeit soll nun in dreifacher Hinsicht für Klarheit im Spannungsfeld zwischen Marktwirtschaft und Sozialstaatlichkeit sowie den Begrifflichkeiten Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit sorgen. Zunächst soll im ersten Kapitel eine sowohl empirische wie theoretische Explikation des Gerechtigkeitsbegriffes erfolgen. Nach dieser semantischen Begriffsbestimmung widmet sich Kapitel 2 der Legitimierung des Sozialstaates. Es wird gezeigt, ob sich ein soziales Sicherungssystem aus der Vernunft selbst rechtfertigt und überdies einer normativen Festigung aus der Perspektive der Freiheit bedarf. Schließlich soll in Kapitel 3 die Art der Sozialstaatlichkeit bestimmt werden durch eine Analyse der für den Sozialstaat richtungsweisenden Paradigmen distributive Gerechtigkeit und Solidarität und letztlich muss gefragt werden, ob diese Prämissen eine tiefe Verankerung in der Moral der Menschen erfahren und welche Rolle der öffentliche Diskurs und die politische Kultur zu spielen haben.

1 Zur Präzisierung des Gerechtigkeitsbegriffes

Gerechtigkeit ist in der okzidentalen Philosophie eine anerkannte moralische Leitidee für Recht, Staat und Politik sowie eine Kardinalstugend für Individuen. Doch die detaillierteren Prinzipien sind insbesondere seit der Neuzeit derart kontrovers, dass sich verschiedene Varianten der gerechtigkeitstheoretischen Skepsis entwickelten. Die wissenschaftstheoretische erkennt in ihr keine objektive Aussage, nach dem Rechtspositivismus ist sie keine Geltungsbedingung positiven Rechts, der normativen Variante, dem Utilitarismus, zufolge ist sie statt einer moralischen Leitidee nur das Wohlergehen aller Betroffenen und in der Luhmann’schen Systemtheorie ist sie eine funktionsunspezifische Normativität, da die autopoietischen Teilsysteme moderner Gesellschaften von jeweils anderen funktionsspezifischen Normativitäten bestimmt sind. Eine Renaissance erlebte sie erst mit Rawls’ „A Theory of Justice“ (1971), in der sich freie und gleiche Bürger über ihre Gesellschaftsprinzipien einigen, was über die dadurch inspirierte neue Gerechtigkeitstheorie zu einer reichhaltigen Diskussion führte.13

1.1 Gerechtigkeit und Verfassung

Zunächst soll aufgezeigt werden inwiefern und ob überhaupt das empirisch-kodifizierte Gerechtigkeitskonzept des Grundgesetzes (GG) zur Klärung des Gerechtigkeitsbegriffes beitragen kann. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Artikel 20 Absatz 1 GG) und nach Art. 28 Abs. 1 GG müssen die Länderverfassungen „[…] den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen.“ Mit Art. 79 Abs. 3 GG wird dieses Sozialstaatsprinzip schließlich allen Verfassungsänderungen des Gesetzgebers entzogen und erhält eine quasi naturrechtliche Ewigkeitsgültigkeit: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche […] die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Obwohl also das GG keine sozialen Grundrechte gewährleistet, im Gegensatz zu einigen Länderverfassungen, können diese nicht der Minderwertigkeit verdächtigt werden.

In Kombination mit Art. 72 Abs. 2 („Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“) vertreten daher Boeckh/Huster die These, es bedürfe „[ü]ber die liberalen Grund- und freiheitsrechte hinaus […] sozialer Grundrechte, zu denen die angemessene Gewährung von Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung, Arbeit, Versorgung im Alter und im Krankheits-/Pflegefall gehören.“14 Doch übergeht eine derartige Forderung den wesentlichen Unterschied, der zwischen Menschen- und Bürgerrechten und sozialen Grundrechten besteht. Erstere sind erkenntnistheoretisch transparent, d.h. sie begründen einen kategorischen Anspruch auf die Abwesenheit von äußerem Zwang – konform der Definition negativer Freiheit15 – der allgemein ersichtlich ist. Letztere hingegen sind undurchsichtig, sie unterliegen einer situativen Geltungsabhängigkeit in Form eines Finanzierungsvorbehaltes, da sie zwar zu Versorgungsleistungen verpflichten, aber nicht deren genaue Leistung zu definieren vermögen. Es handelt sich somit nicht um allgemeine, zu jedem Zeitpunkt für alle gültigen Grundrechte, sondern um „[…] hypothetische, doppelt-konditionale Grundrechte.“16

Aus dieser Geltungseinschränkung kann zwar wie erwähnt keine Nachrangigkeit des Sozialstaatlichen aufgrund geringerer Wertigkeit hergeleitet werden, denn „[o]hne minimale materielle Grundlagen verliert ein [politisch-liberales] Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Eigentum, Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit seinen Wert […]“17 und ist nicht weiter auszuüben. Doch daraus lässt sich eben schließen, dass soziale Rechte ein Mittel, eine Notwendigkeit zur Beförderung der Freiheit und demokratischen Teilhabe sind, was wiederum einen epistemologischen Vorrang der Freiheit impliziert, wie er liberaldemokratischen Konzeptionen zugrunde liegt. Diese Akzentuierung findet sich in lexikalischer Form sogar bei Rawls, indem er bei der Formulierung seiner beiden Gerechtigkeitsprinzipien zuerst das „System gleicher Grundfreiheiten“ und danach erst „faire Chancengleichheit“ setzt.18

Mit Dahrendorfs „Freiheit zuerst, Gerechtigkeit sodann“19 stellt sich nun also die Frage, wie das GG die Gerechtigkeit darlegt. Es nennt sie explizit in den Artikeln 1 Abs. 2, Art. 14 Abs. 3, Art. 56 und Art. 64 Abs. 2 GG, fasst sie aber in keinem dieser Artikel im Sinne sozialer oder Verteilungsgerechtigkeit, sondern überlässt die nähere Konkretisierung Gesetzen, Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGe), welches seinerseits lediglich auf die Wahrung der Menschenwürde durch Schutz des Existenzminimums verweist und den Gestaltungsauftrag dem Gesetzgeber überantwortet:

„Angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit läßt sich daraus jedoch regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend ist lediglich, daß der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft.“20

Der Gerechtigkeitsbegriff wird also in den bundesdeutschen Rechtstexten nicht hinreichend präzise gefasst und macht daher eine normativ-theoretische Definition unausweichlich, vor allem hinsichtlich seiner sozialen Komponente.

1.2 Soziale Gerechtigkeit

Nach Thomas Jefferson versteht es sich von selbst, dass „[…] all men are created equal […]“21 und dass sie mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind. Jedoch sorgt diese Formulierung leicht für Verwirrung; denn wenn Gleichheit vor dem Recht zugleich als ein Attribut faktischer Gleichheit verstanden wird, sprich deren Herstellung implizieren sollte, so geht man von der falschen Vorstellung aus, dass wir in einer Gesellschaft von Gleichen und nicht von gleichberechtigten Individuen leben.22 „Gerechtigkeit zeichnet sich [somit] durch irgendeine Form der Gleichbehandlung oder Gleichberechtigung aus.“23 Schoeck bietet analog dazu die Definition der Gleichheit (equality) als juristischen Begriff der Rechtsgleichheit, damit im Verbund die Billigkeit (equity) als Unparteilichkeit und schließlich Gerechtigkeit (justice) als Erreichen bzw. Aufrechterhalten der Billigkeit.24

1.2.1 Neid und Gerechtigkeit

Dieser Exkurs soll, unter Berufung auf Fritz Fleiner, die Warnungen vieler Autoren vor einem blinden Egalitarismus aufzeigen, die den gefährlichen Übergang von Rechtsgleichheit zum Neid beschrieben:

„Ist die Rechtsgleichheit das Lebenselement der Demokratie, so ist sie aber auch ihre Klippe. Denn sie fördert jenen Fanatismus und Neid, der die Menschen auf allen Gebieten des Lebens gleich behandeln will und die Unterschiede […] als undemokratisch verwirft.“25

Schoeck, der in seiner antiegalitären Kritik den Neid als Kernfrage der sozialen Existenz des Menschen als neidisches Lebewesen beschreibt, vertritt die These, je mehr es einer Gesellschaft möglich sei, so zu tun als ob es keinen Neid gäbe, desto größer werde das wirtschaftliche Wachstum und der gesellschaftliche Fortschritt.26 Er bezieht sich dabei auf die bereits von Alexis de Tocqueville beschrieben Spirale, dass im Maß der Gleichheitsannäherung der Neid steige, demgemäß führe egalitäre Politik zur Steigerung einer Gleichheit, die wiederum nur mehr Neid erzeugen würde.27 Nozick greift in seiner antisozialstaatlichen Konzeption diesen Gedanken auf und stellt die Frage, warum es dem Neidischen, der lieber möchte, dass keiner etwas Bestimmtes habe, als dass der andere es habe und er nicht, nicht zumindest gleichgültig sei. Diese allgemeine Indifferenz sei letztlich aber nur durch eine Dezentralisierung des Vergleichens möglich, d.h. durch eine nicht zentral vom Staat zu bewältigende Pluralisierung der als wichtig erachteten Kriterien, welche eine Ungleichverteilung ausdrücken.28

Einem vernunftgeleiteten Menschen sei es laut Rawls nicht unerträglich, dass andere ein größeres Maß an gesellschaftlichen Grundgütern hätten, Neid sei aber deshalb ein Problem, weil die „[…] nach dem Unterschiedsprinzip zulässigen Ungleichheiten“ so groß sein könnten, „dass Neid in einem gesellschaftlich gefährlichen Ausmaß entsteht.“29 Er geht soweit, von einem entschuldbaren Neid zu sprechen, wenn jemand objektiv so schlecht gestellt sei,

„[…] daß seine Selbstachtung verletzt wird; dann kann man Verständnis dafür haben, daß er sich zu kurz gekommen fühlt. Man kann es geradezu moralisch übel nehmen, daß man neidisch gemacht wird […].“30 Diesem Gefühl der Ohnmacht, resultierend aus einer (zumindest als solche wahrgenommenen) sozialen Unterordnung pflichtet Walzer bei und entgegnet radikal-libertäre Interpretationen, welche darin bloß Neid und Hass erkennen möchten, dass der Egalitarismus dieses Gefühl nicht ausleben möchte, sondern eben bewusst versuche, Neid hervorbringende Umstände zu marginalisieren.31 Eine gemäßigt liberale Position, die tatsächlichbestehende soziale Unrechts-, also nicht schon reine Ungleichssituationen anerkennt und auf dieser Grundlage nach Lösungen sucht, scheint für weitere Überlegungen zielführender, ja überhaupt angemessen zu sein.

1.2.2 Bedeutung sozialer Gerechtigkeit

„Ich muß gestehen […], daß ich nicht sozial denken kann, denn ich weiß nicht was das heißt. Ich sehe nur mit Besorgnis, daß dieser sprachliche Kollektivfetisch das Denken zerstört, und ich muß an den Ausspruch von Konfuzius denken, […] daß, wenn Worte ihre Bedeutung verlieren, die Menschen ihre Freiheit verlieren werden.“32

Die semantische Offenheit des Sozialstaatsprinzips für sich wandelnde Gerechtigkeitsauffassungen, in juristischer wie philosophischer Hinsicht, stellt, auch von einem nicht-libertären Standpunkt aus, eine Gefahr für die individuelle Freiheit dar, da es jedweder Politik Maßnahmen ermöglicht, die dem Gemeinwohl entgegen wirken könnten, ohne dass der common sense sich im Stande befände, dies zu erkennen und gegenzusteuern. Daher darf soziale Gerechtigkeit nicht unisono als Unwort verabscheut werden oder das Attribut sozial als „weasel-word par excellence“33, als Worthülse zur Seite geschoben werden, sondern man muss versuchen die begriffliche Bedeutung so präzise wie möglich in einem normativen Konzept zu fassen.

Seinen Ideengeschichtlichen Ursprung hat soziale Gerechtigkeit im Rahmen der christlichen Soziallehre, die auf die Gerechtigkeitstheorie von Aristoteles zurückgeht. Ihm nach ist Gerechtigkeit eine Kategorie mit zwei Bedeutungen: (1) iustitia directiva, ausgleichende Gerechtigkeit als moralische Pflicht, wonach der rechtschaffene und vertragstreue Bürger gerecht ist, weil er seine Schuldigkeit gegenüber geltendem Recht erfüllt; (2) Gerecht im Sinne der iustitia distributiva, der aus- bzw. verteilenden Gerechtigkeit, ist die Macht habende Obrigkeit, die sich bei der Verteilung sozialer Güter an Verdienst- und Würdigkeitsvorstellungen der geltenden Sittlichkeitsauffassung orientiert.34 Thomas von Aquin erweiterte Aristoteles’ Tugendlehre um die Idee der Gemeinwohlgerechtigkeit. Er verdeutlichte damit, dass nicht nur Individuen gerecht zu sein hätten, sondern auch Gesetze, die dazu unbedingt dem Gemeinwohl (bonum commune) dienen müssten. Mit dieser Orientierung bereitete er neuzeitlichen Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit den Weg.35

Die erste dokumentierte Quelle, in der soziale Gerechtigkeit explizit als Begriff auftaucht, ist das durchaus einflussreiche Werk des sizilianischen Jesuiten Luigi Taparelli (1840):

„Ich kann […] folgern, daß die Socialgerechtigkeit faktisch alle Menschen gleichstellen muß in dem, was die Rechte der Menschheit im Allgemeinen betrifft; […] der Mensch, welcher nach der Norm dieser Gerechtigkeit handelt, erfüllt also die Absichten seines Schöpfers.36

[...]


1 Lau, Jörg: Das Maß aller Dinge, in: Die Zeit, Nr. 14 vom 30.03.2006.

2 O’Connor, James: Die Finanzkrise des Staates. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974.

3 Luhmann, Niklas: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. Olzog: München/Wien 1981, S. 15.

4 Schmidt, Thomas E.: Paria und Volksversteher, in: Die Zeit, Nr. 33 vom 09.08.2007.

5 Dies geht aus einer Emnid-Umfrage für die Zeit hervor, präsentiert in Geis, Matthias: Parteien, hört die Signale!, in: Die Zeit, Nr. 34 vom 16.08.2007. Der ZDF Politbarometer liefert dazu ein ähnliches Ergebnis: 60 Prozent der SPD- und 54 Prozent der CDU-Anhänger wünschen sich demnach, dass der Kurs mehr in Richtung soziale Absicherung gehe; mehr in Richtung Markt erhoffen sich lediglich 18 Prozent von der SPD und 19 Prozent von der CDU; keine Kursänderung wünschen sich 12 bzw. 16 Prozent (ZDF Politbarometer vom 14.09.2007. Online: [http://www.zdf.de/ZDFmediathek/content/ Das_Politbarometer_vom_14.09./270944?inPopup=true], Stand: 15.09.2007.). Siehe zu der großen Zustimmung zu Forderungen der Linkspartei: Jeder dritte Deutsche fühlt „links“, in: Zeit online, 32/2007. Diese Umfragen korrelieren im Kern mit den empirischen Ergebnissen von Liebig/Wegener zur split-consciousness Theorie nach Kluegel, die besagt, dass Individuen mehrere und zugleich sich widersprechende Gerechtigkeitsvorstellungen nebeneinander präferieren. Der Vorzug primärer Gerechtigkeitsideologien (in Deutschland sei dies Etatismus) sei demnach unabhängig von der Beurteilung des eigenen Haushaltseinkommens. Siehe dazu Kluegel, James R./Smith, Eliot R.: Beliefs about inequality: Americans’ views of what is and what ought to be. de gruyter: New York 1986 sowie Liebig, Stefan/Wegener, Bernd: Primäre und sekundäre Ideologien. Ein Vergleich von Gerechtigkeitsvorstellungen in Deutschland und den USA, in: dies. (Hg.): Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit. Leske+Budrich: Opladen 1995, S. 265-293, hier S. 268, 286.

6 Kersting, Wolfgang: Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit? Eine Kritik egalitaristischer Sozialstaatsbegründung, in: ders. (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats. Velbrück: Weilerwist 2000, S. 202-256, hier S. 249.

7 Geis 2007.

8 Vgl. zu dieser Typologie Steinvorth, Ulrich: Moderne philosophische Theorien der Gerechtigkeit, in: Koller, Peter (Hg.): Gerechtigkeit: im politischen Diskurs der Gegenwart. Passagen-Verlag: Wien 2001, S. 47-64.

9 Rawls, John: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1992, S. 83.

10 Vgl. Rawls, John: Political Liberalism. Columbia University Press: New York 1993, S. 5.

11 Eisen, Roland: Vorwort, in: Eichler, Daniel: Armut, Gerechtigkeit und soziale Grundsicherung. Einführung in eine komplexe Problematik. Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 2001. S. 9f, hier S. 9.

12 Siehe zum Verhältnis zwischen älteren und neuen Ordnungstheorien Zintl, Reinhard: Individualistische Theorien und die Ordnung der Gesellschaft. Duncker & Humblot: Berlin 1983.

13 Vgl. Höffe, Otfried: Gerechtigkeit, in: Nohlen, Dieter/Schulze, Rainer-Olaf: Lexikon der Politikwissenschaft. Beck: München 32005, Bd. 1, S. 289-295.

14 Boeckh, Jürgen/Huster, Ernst-Ulrich: Wachsende Armut – zunehmender Reichtum. Zur sozialen Spaltung der Bundesrepublik Deutschland, in: Rohrmann, Eckhard (Hg.): Mehr Ungleichheit für alle. Fakten, Analysen und Berichte zur sozialen Lage der Republik am Anfang des 21. Jahrhunderts. Winter: Heidelberg 2001, S. 19-42, hier S. 42. Derzeit findet sich eine derartige Forderung nur im Programm der Linkspartei. Siehe dazu Online: [http://archiv2007.sozialisten.de/partei/strukturen/agigs/netzwerk_reformlinke/dokumente/view_html?zid=32142&bs=1&n=0], Stand: 24.08.2007.

15 Dieses Konzept orientiert sich an der Grundbedeutung des Begriffs, nämlich stets der Freiheit von etwas. Politische Freiheit ist demnach die Abwesenheit von Herrschaft, von Zwang, von Ketten. Sich für die Freiheit einsetzen heißt Hindernisse beseitigen, Einmischung, Ausbeutung und Versklavung abwenden. Alles Weitere sei nur Erweiterung des Begriffs der Freiheit. Vgl. Berlin, Isaiah: Freiheit. Vier Versuche1969. S. Fischer Verlag: Frankfurt a. M. 1995. S. 58.

16 Kersting, Wolfgang: Suffizienz, Ermöglichung, Kompensation. Ziele der Verteilungsgerechtigkeit, in: Koller, Peter (Hg.): Gerechtigkeit: im politischen Diskurs der Gegenwart. Passagen-Verlag: Wien 2001, S. 89-121, hier S. 92.

17 Nullmeier, Frank: Politische Theorie des Sozialstaats. Campus Verlag: Frankfurt a. M. 2000, S. 369.

18 Siehe Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2003, S. 78. Ferner bietet er eine Begründung dieser Rangfolge in Rawls 1992, S. 244.

19 Zitiert aus Dahrendorfs Beitrag zum Tode von Willy Brandt in Dahrendorf, Ralf: Freiheit zuerst, in: FAZ vom 10.10.1992.

20 Nullmeier 2000, S. 362, zitiert nach BVerfGe 82: 60, 80.

21 „The Declaration of Independence in Congress, July 4, 1776“ ist abgedruckt in Hamilton, Alexander/Madison, James/Jay, John: The Federalist Papers. Ed. by Clinton Rossiter. Signet Classic: New York 2003, S. 528-532.

22 Vgl. dazu Buchanan, James M.: The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan. The University of Chicago Press: Chicago/London 1975, S. 12. Er deutet an, um Missverständnissen zu entgehen, dass es besser gewesen wäre es als „to their creator, all men are equal“ zu formulieren.

23 Lohmann, Karl Reinhard: Sozial versichert!? Das Modell der Sozialversicherung zwischen Effizienz, Legitimität und Gerechtigkeit, in: Kersting, Wolfgang (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats. Velbrück: Weilerwist 2000, S. 404-427, hier S. 412.

24 Vgl. Schoeck, Helmut: Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft. Alber: Freiburg i. Br. 1966, S. 260.

25 Zitiert nach Kägi, Werner: Falsche und wahre Gleichheit im Staat der Gegenwart, in: Universitas, 8. Jg., 1953, S. 735f. Abgedruckt in Schoeck 1966, S. 256.

26 Ebd., S. 7, 17.

27 Vgl. ebd., S. 206f.

28 Vgl. Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopia. Moderne Verlagsgesellschaft: München [o. J. 1976] S. 219-225.

29 Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1979, S. 167 und S. 576.

30 Ebd., S. 579.

31 Auf das mangelnde Selbstwertgefühl geht er im Vorwort ein. Siehe Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Campus Verlag: Frankfurt a. M 1992. Neuauflage 2006, S. 18.

32 Hayek, Friedrich A. von: Wissenschaft und Sozialismus, in: ders.: Wissenschaft und Sozialismus. Aufsätze zur Sozialismuskritik. Mohr Siebeck: Tübingen 2004, S. 52-62, hier S. 62.

33 Ebd.

34 Vgl. Kersting, Wolfgang: Einleitung. Probleme der politischen Philosophie des Sozialstaats, in: ders. (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats. Velbrück: Weilerwist 2000, S. 17-92, hier S. 17-22, zudem Kersting, Wolfgang: Theorien der sozialen Gerechtigkeit. Metzler: Stuttgart/Weimar 2000, S. 42ff. und Löffler, Winfried: Soziale Gerechtigkeit. Wurzeln und Gegenwart eines Konzepts in der Christlichen Soziallehre, in: Koller, Peter (Hg.): Gerechtigkeit: im politischen Diskurs der Gegenwart. Passagen-Verlag: Wien 2001, S. 65-88.

35 Vgl. Löffler 2001, S. 71.

36 Die deutsche Ausgabe verwendet einen anderen Vornamen: Taparelli, Aloys: Versuch eines auf Erfahrung begründeten Naturrechts. Manz: Regensburg 1845, S. 143.

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Details

Titel
Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit. Zur Sozialstaatlichkeit zwischen Freiheit und Solidarität
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Politisches Seminar)
Veranstaltung
Politisch-theoretische Analysen zu Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
37
Katalognummer
V310546
ISBN (eBook)
9783668092266
ISBN (Buch)
9783668092273
Dateigröße
557 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Andreas Weiß studierte Politikwissenschaft, Englische Philologie und Sportwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau sowie der University of Birmingham.
Schlagworte
Marktwirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität, politische Theorie, Liberalismus
Arbeit zitieren
Andreas Weiß (Autor:in), 2007, Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit. Zur Sozialstaatlichkeit zwischen Freiheit und Solidarität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310546

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