Sinn und Ziel dieser Arbeit soll eine Darstellung der mimetischen Theorie in René Girards „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz“ (Kap. 1), mit besonderer Berücksichtigung auf den Unterschied, den er dabei zwischen den heidnischen Mythen (Kap. 2) und dem Christentum macht (Kap. 3). Dabei wird sich herausstellen, wie entscheidend ein richtiges Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit für die Überwindung der Gewalt und die Stiftung wahren Friedens ist. Am Ende (Fazit) soll beurteilt werden, inwiefern der anthropologische Ansatz Girards mit der katholischen Lehre vereinbar bzw. unvereinbar ist und inwiefern er von Bedeutung und Nutzen ist.
„Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.“ (Lk 10,18) – Diese bekannten Worte aus dem Lukasevangelium beziehen sich gemäß kirchlicher Tradition auf den Sturz des abtrünnigen Engels „Luzifers“ aus dem Himmel. Sie drücken seine Niederlage und den Verlust seiner Macht aus und sind damit zum Inbegriff des Sieges Gottes über das Böse geworden.
Dieses Thema greift René Girard (geb. 1923) in seinem gleichnamigen Buch wieder auf und gibt uns eine völlig neue Interpretation dieser Textstelle. Da er selber kein Theologe, sondern Literaturwissenschaftler, Kulturanthropologe und Religionsphilosoph ist, geht er nicht theologisch an das Thema heran, sondern anthropologisch. Er verteidigt das Christentum als programmatische Überwindung der Gewalt und des Bösen in der Welt, indem er mithilfe seiner mimetischen Theorie versucht, den Ursprung des Bösen im Menschen selbst zu lokalisieren und seine Überwindung in der christlichen „Lehre vom Kreuz“ (vgl. 1 Kor 1,18f) zu sehen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Grundlagen
1.1. Der anthropologische Ansatz René Girards
1.2. Die mimetische Theorie
1.3. Ausbruch aus der Spirale der Gewalt
2. Die heidnischen Mythen
2.1. Das Wunder von Ephesus als mythisches Paradigma
2.1.1. Text
2.1.2. Interpretaion
2.2. Die gemeinsame Struktur der Mythen
2.3. Mimetik als „Satan“ und Prinzip des Bösen
3. Das Christentum
3.1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Mythen
3.1.1. Jesus und die Ehebrecherin
3.1.2. Josef und seine Brüder
3.1.3. Kain und Abel
3.2. Der Triumph des Kreuzes
3.3. Die göttliche Macht des Hl. Geistes
Fazit: „Noch ein Jahr!“
Literaturliste
Primärquellen
Sekundärliteratur
Einleitung
„Ich sah den Satan wie einen Blitzvom Himmel fallen.“ (Lk 10,18) – Diese bekannten Worte aus dem Lukasevangelium beziehen sich gemäß kirchlicher Tradition auf den Sturz des abtrünnigen Engels „Luzifers“ aus dem Himmel. Sie drückenseine Niederlage und den Verlust seiner Macht aus und sind damit zum Inbegriff des Sieges Gottes über das Bösegeworden.
Dieses Thema greift René Girard(geb. 1923) in seinem gleichnamigen Buch wieder auf und gibt uns eine völlig neue Interpretation dieser Textstelle. Da er selber kein Theologe, sondern Literaturwissenschaftler, Kulturanthropologe und Religionsphilosoph ist, geht er nicht theologisch an das Thema heran, sondern anthropologisch. Er verteidigt das Christentum als programmatische Überwindung der Gewalt und des Bösen in der Welt, indem er mithilfe seiner mimetischen Theorie versucht, den Ursprung des Bösen im Menschen selbst zu lokalisieren und seine Überwindung in der christlichen „Lehre vom Kreuz“ (vgl. 1 Kor 1,18f) zu sehen.
Sinn und Ziel dieser Arbeit soll daher eine DarstellungGirards mimetischer Theorie sein (Kap. 1), mit besonderer Berücksichtigung auf den Unterschied, den er dabei zwischen den heidnischen Mythen (Kap. 2) und dem Christentum macht (Kap. 3). Dabei wird sich herausstellen, wie entscheidend ein richtiges Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fürdie Überwindung der Gewaltund die Stiftung wahren Friedensist. Am Ende (Fazit) soll beurteilt werden, inwiefern der anthropologische Ansatz Girards mit der katholischen Lehre vereinbar bzw. unvereinbar ist und inwiefern er von Bedeutung und Nutzen ist.
Als Primärquelle dientvor allem oben genanntes Buch.[1] Weitere Quellen und Sekundärliteratur dienen der Vertiefung. Vollständige Angaben siehe im Literaturverzeichnis.
1. Grundlagen
1.1. Der anthropologische Ansatz René Girards
Wie bereits in der Einleitung gesagt, interpretiert Girard die biblischen Aussagen über Gut und Böse, Gott und Teufel, Gewalt und Opfer, Krieg und Frieden, usw., nicht auf theologische, sondern auf anthropologische Weise. Er will der Bibel damit aber nicht ihren theologischen Gehalt entziehen, sondern er verfolgt ein anderes Ziel, nämlich, will er primär, wie er in der Einleitung sagt, einer zeitgenössischen Tendenz widersprechen, die nur noch „Wissen“ bzw. „Wissenschaft“ respektiert und auf eine „Gleichsetzung von Christentum und Mythos“ zielt. „Die Gleichsetzung von biblisch-christlichen Texten mit Mythen“, sagt er aber, „ist ein leicht zu widerlegender Irrtum.“ Dies zu beweisen, ist sein Hauptanliegen. (12/13) Für den Beweis aber, dass das Christentum kein Mythos ist, braucht er nämlich keine Theologie, sondern nur „gesunden Menschenverstand“:
„Aber wer spricht denn hier von religiösem Glauben? Der Gegenstand meiner Beweisführung hat, zumindest unmittelbar, mit den christlichen Glaubensgrundsätzen nichts zu tun. Meine Argumentation befaßt sich mit rein menschlichen Gegebenheiten, gehört in die Anthropologie des Religiösen und nicht in die Theologie. Sie beruht ganz einfach auf dem gesunden Menschenverstand und zieht bloß manifeste Evidenzen heran.“ (13)
Girard kritisiert die undifferenzierte, „komparatistische Methode“ früherer (antichristlicher) Ethnologen und Soziologen, die aufgrund der „Handlungsparallelität“ zwischen Mythen und Evangelien (z.B. Lynchmorde und Kreuzigung) das Christentum vorschnell als „mythische Konzeption“ abstempeln. Weder sie, „noch paradoxerweise die Theologen“ selbst, die einseitig von einem „philosophisch geprägten Menschenbild“ ausgehen, haben bis heute die „anthropologische Bedeutsamkeit der Evangelien“ erkannt. (14/15) Dahersieht Girard diesen Ansatz, der die Unterschiede zwischen den „alt- und neutestamentlichen Berichtenund den mythischen Erzählungen so radikal und entschieden wie nur möglich “ aufdeckt (16), sogar als „Apologie des Christentums“(18), die in dieser Form bis dato nicht geleistet worden ist. Girard – so könnte man zusammenfassen – leistet hier sozusagen interdisziplinäre Hilfe, Bereicherung und Ergänzung für die Theologie. Ob und inwiefern das Girard gelingt, soll nun ausgeführt werden.
1.2. Die mimetische Theorie
„Der Mensch unterscheidet sich von anderen Lebewesen darin, daß er am nachahmungsfähigsten ist.“ (Aristoteles, Poetik, 4)[2]
Die Begründung, Rechtfertigung und Etablierung der sog. „mimetischen Theorie“ ist ohne Zweifel ein, wenn nicht das Hauptanliegen im Lebenswerk Girards. Diese Theorie bildet die Basis und Grundannahme all seiner Werke. Worin besteht sie also und wie sieht sie aus?
Deutlich wird sie, wenn man sich „den Sündenfall“ (Gen 3)[3] undden zweiten Teil der „Zehn Gebote Gottes“ anschaut, nämlich dort, wo vom menschlichen „Begehren“ (bzw. Wünschen, Wollen, Verlangen) die Rede ist:
„Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.“ (13)
Das letzte Gebot, so Girard, unterscheidet sich von den anderen Geboten nicht dadurch, dass es „eine Handlung verbietet, sondern ein Begehren “ (21), da ja offensichtlich ist, dass es damit nicht um Einzelnes, sondern „um das Begehren sämtlicher Menschen, um das Begehren schlechthin“ geht. (22) Die mimetische Theorie gründet also im menschlichen Begehren selbst. Dass der Mensch von Natur aus begehrt und vieler Dinge bedürftig ist, ist völlig normal und zunächst etwas Positives und Lebensnotwendiges. Ohne Begehren würde der Mensch gar nicht seine Bedürfnisse stillen, seine Ziele verwirklichen und sein Leben vollenden können.[4] Damit es aber aufgrund des autonomen Begehrens in der Gesellschaft nicht zum „rivalisierenden Begehren“ und „Kampf aller gegen alle“ (Hobbes) kommt, muss das Gesetz das Begehren nach dem Besitz des anderen verbieten:
„Soll der Friede zwischen den Menschen aufrechterhalten werden, ist das Verbot in Funktion der nachstehenden folgenschweren Feststellung zu definieren: Der Nächste ist das Vorbild unserer Begehren. Das nenne ich das mimetische Begehren.“ (13)
Es ist also nicht das Begehren an sich, sondern das mimetische [5] Begehren, das Probleme bereitet. Mimetisches Begehren ist die Nachahmung und Imitation des Begehrens des Nächsten. Das Begehren des Nächsten wird zum „Vorbild“ und Anreiz für das eigene Begehren dessen, was dem Nächsten gehört. So führt das mimetische Begehren zu Rivalität und die Rivalität wiederum zum mimetischen Begehren. „Die Reziprozität ist Tatsache.“ (25) In dieser „mimetischen Rivalität“ sieht Girard „die Hauptquelle der menschlichen Gewalt“. (26)
Auch wenn das mimetische Begehren an sich „nicht schlecht“ ist, sondern „Freiheit und Menschlichkeit“ ermöglicht, uns über die „Vorherbestimmung und den Instinkt der Tiere“ hinaushebt,[6] uns die freie „Erwählung und Nachahmung unserer Vorbilder“ und letztlich „Sprache und Kultur“ ermöglicht, ist es quasi ein ungeschriebenes Gesetz, dass es dadurch dennoch bei den Menschen ununterbrochen zu mimetischen Begehren und Rivalitäten kommen muss. (31-32) Es wird immer wieder „stolz, habgierig und egoistisch“ nach dem Besitz des Nächsten begehrt. Das ist die Ursache für Streit, Gewalt, Krieg, Hass und Unfrieden auf Erden. Deswegen sagt Jesus: „Es muss ja Ärgerniss kommen.“ (Mt 18,7) „Die Ärgernisse und mimetische Rivalitäten“, fügt Girard hinzu, „sind ein und dasselbe.“ (33)Das gemeinschaftliche Zusammenleben der Menschen führt also unvermeidbar zu mimetischem Begehren, mimetisches Begehren zu mimetischen Rivalitäten und mimetische Rivalitäten letzlich zu den großen „politischen, wirtschaftlichen, sportlichen, sexuellen, künstlerischen, intellektuellen... und sogar religiösen“ (34) Rivalitäten und Krisen, die Girard folglich „mimetische Krisen“ nennt:
„Der Satz ‚Es muß ja Ärgernis kommen‘ hat weder etwas mit antikem Fatalismus noch mit ‚wissenschaftlichem Determinismus‘ zu tun. Als einzelner ist der Mensch nicht unbedingt zu mimetischen Rivalitäten verurteilt. Doch Gemeinschaften bestehen aus einer Vielzahl von Individuen, und darum entgehen sie ihnen nicht. Sobald das erste Ärgernis da ist, schafft es weitere, und das Ergebnis sind jene mimetische Krisen, die sich unablässig ausweiten und verschlimmern.“ (34)
Das ist also die „mimetische Theorie“ René Girards, durch die er die Spiralen der Gewalt auf Erden, die gesellschaftlichen Krisen und Teufelskreise (= „mimetische Zyklen“ und „Opfer- und Sündenbock-mechanismen“), in denen die Menschenheit verstrickt ist, zu erklären versucht. (35-49) Anerkennung für diese Theorie bekommt er unter anderem von Arnold Angenendt:
„Girards These unterstellt eine ungestillte Gewalt, die sich ihr Ersatzopfer suche, nämlich den in Reichweite greifbaren ‚Sündenbock‘; hier geschehe eine kollektive Übertragung, die dem ausersehenen Opfer das Leben nehme und dadurch interne Spannung wie Groll, Rivalitäten und Aggression innerhalb der Gesellschaft abbaue. In dem Maße nun, wie im Zuge historischer Akkulturation ein verbindliches Gerichtswesen mit staatlichem Gewaltmonopol aufgebaut werde, erübrige sich das Opfer des Sündenbocks. Es verschwindet immer dort, ‚wo sich das Gerichtswesen entwickelt‘; daraus folge dann notwendig eine ‚Krise des Opferkults‘.[7] Eine solche Interpretation ist beste französische Religionsschule, wie sie seit Emile Durkheim († 1917) betrieben wird, nämlich Religion in und mit Gesellschafts-entwicklung.“[8]
1.3. Ausbruch aus der Spirale der Gewalt
Das Interessante an der mimetischen Theorie ist, dass es von Zeit zu Zeit zur Entladung mimetisch aufgestauter Gewalt und zu neuen „mimetischen Zyklen“ kommen muss. Und das geschieht nur durch irgendeine Form des „Opfers“:
„Die Häufung der Ärgernisse führt früher oder später zu einer akuten Krise, auf deren Höhepunkt die einmütige Gewalt gegen das einzige und alleinige Opfer, das endlich von der gesamten Gemeinschaft auserwählte Opfer, ausgelöst wird. Dieses Ereignis stellt entweder die alte Ordnung wieder her oder errichtet eine neue, die ebenfalls dazu bestimmt ist, eines Tages in die Krise zu geraten, und so weiter. (...) Es heißt, auf das anzuspielen, was ich einen neuen mimetischen Zyklus nenne, einen neuen Ausbruch des Chaos, der in der einmütigen Gewalt des mimetischen Alle-gegen-Einen endet.“ (48-49)
Genau diese „Beendigung der (mimetischen) Gewalt“ und die „Wiederherstellung der alten Ordnung und des Friedens“durch das „Opfer“ ist der Hauptgegenstand dieser Arbeit. Das Opfer bzw. das Kreuz ist nämlich der einzige Weg, den Teufelskreis des Bösen und die Spirale der Gewalt zu besiegen, daran zweifelt keiner, aber – und das ist der alles entscheidende Unterschied! – es gibt letztendlich nur zwei Arten von Opfer-Begriffen, nämlich einerseits, wie ihn die heidnischen Mythen darstellen und andererseits, wie ihn das Christentum darstellt. Diesen Unterschied zwischen dem mythischen und christlichem Opferbegriff und die jeweils daraus resultierende moralische Lehregilt es nun in den nächsten beiden Kapiteln herauszuarbeiten.
2. Die heidnischen Mythen
Was sind Mythen eigentlich und wozu sind sie da? Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass Mythen alte, legendarische und fabelhafte Erzählungen sind, die – im Gegensatz zu den Wissenschaften – versuchen, dem Menschen auf nicht empirischeWeise die Welt und das Leben zu erklären. Daher handeln sie meist von der Welt der Götter (Theologie), von der Entstehung der Welt (Kosmologie) und vom Menschen an sich (Anthropologie). Sie erheben den Anspruch auf Wahrheit und bergen oft einen historischen Kern in sich. Ihre Themen und Motive sind unsterblich, wie z.B. Liebe und Hass, Krieg und Frieden, Freude und Leid, Glück und Unglück, usw.. Sie geben meistens eine geistig-moralische Weltanschauung wieder und haben damit die philosophische, religiöse, ethische und pädagogische Funktion der Welt- und Lebensdeutung. Sie haben teilweise große Autorität und Wirksamkeit und prägten den Geist von Generationen und Generationen, so dass sie große Ähnlichkeit mit den „heiligen Schriften“ der Religionen haben.
Ziel dieses Kapitels ist es, klarzumachen, wie die heidnischen Mythen mit dem Thema Gewalt, Opfer, Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden umgehen, um es anschließend mit der christlichen Interpretation zu vergleichen. Innerhalb des kleinen Rahmens dieser Arbeit kann natürlich nicht umfassend auf alle Mythen eingegangen werden. Aber da Girard gerade davon ausgeht, dass allen Mythen eine „gemeinsame Struktur“ haben, soll hier „das schreckliche Wunder von Ephesos“ exemplarisch für die Mythen stehen.
2.1. Das Wunder von Ephesus als mythisches Paradigma
Das Wunder von Ephesus beschreibt ein Ereignis aus dem Leben des Apollonius von Tyana, einem heidnischen Lehrer (Guru) aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Es beschreibt, wie Apollonius die Stadt Ephesus von einer Pestepidemie befreit. Der Bericht darüber wurde von dem griechischen und „militant heidnischen“ Schriftsteller Philostratos aus dem 2. und 3. Jahrundert verfasst,[9] der damit versuchte, „die Religion seiner Vorväter zu verteidigen“ und „Widerstand gegen das Christentum“ zu leisten. Als die Epheser nämlich nach zahlreichen Versuchen die Epidemie nicht aufhalten konnten und nicht Herr der Lage wurden, riefen sie Apollonius, der sie dann „auf übernatürliche Weise“ befreite. (69-70)
Um diesen Mythos beurteilen zu können, soll zunächst sein Text und Inhalt wiedergegeben werden (2.1.1) und danach seine Deutung und Interpretation (2.1.2).
2.1.1. Text
„‚Seid zuversichtlich! Noch heute werde ich der Seuche ein Ende machen.‘ Auf diese Worte hin führte er (sc. Apollonius)die ganze Jugend vor das Theater, wo das Standbild des Apotrpaios erichtet war. Hier sahen sie einen alten Mann, der zu betteln schien und kunstfertig mit den Augen zu blinzeln verstand. Er trug einen Ränzel mit einem Stück Brot darin, war in Lumpen gehüllt und hatte ein schmutziges Antlitz. Apollonius ließ diesen Mann von den Ephesern umringen und rief: ‚Hebt Steine in großer Menge auf und bewerft damit den Feind der Götter!‘ Die Epheser wunderten sich über diesen Befehl und hielten es für grausam, einen so armseligen Fremdling zu steinigen, der jammerte und um Erbarmen flehte. Apollonius aber ließ nicht locker und feuerte sie an, auf den Mann einzudringen und ihn nicht fliehen zu lassen. Daraufhin begangen ihn einige aus der Ferne zu beschießen, und als nun der Fremdling, der zunächst nur zu blinzeln schien, auf einmal aufblickte und Augen voll Feuer zeigte, erkannten die Epheser in ihm den bösen Geist und steinigten ihn jetzt so, daß ihn bald ein Hügel von Steinen begrub. Nach einer kleinen Weile ließ Apollonius die Steine wegräumen, um das Wesen, das sie getötet hatten, zu betrachten. Als nun die Steine zur Seite geschafft waren, schien der Mann, den sie zu steinigen geglaubt hatten, verschwunden zu sein. An seiner Stelle fand sich ein Hund vor, der in der Form und im Aussehen dem Molosser glich und an Größe einem Löwen gleichkam. Er war von den Steinen ganz zerschmettert und schäumte wie die tollwütigen Tiere. Die Statue des Apotropaios – es war ein Herakles – steht an der Stelle, wo das Gespenst gesteinigt worden ist.“ (69-70)
2.1.2. Interpretaion
Auch wenn Girard den Schluss dieser Erzählung für „phantastisch“ hält, enthält seiner Meinung nach der Bericht dennoch „zu viele konrete Details, um von vorne bis hinten erfunden zu sein“. Mit dieser gewissermaßen „medienwirksamen“ Erzählung hatte Philostratos durchaus Erfolg, so dass Julian Apostata im 4. Jhd. sein Werk „nochmals in Umlauf brachte, um das Heidentum zu retten“. (70) Sowohl der Inhalt, als auch das Anliegen des Textes ist dem Christentum entgegengesetzt:
„Die ganze Stadt sieht in der Steinigung ein übernatürliches Zeichen und interpretiert sie als Wunder. Um diese Interpretation zu bestätigen und sie zu offizialisieren, wird ein Eingreifen des Herakles vermutet; dieser Gott scheint für die Rolle am geeignetsten, ist er doch bereits da, vertreten durch seine Statue, im Theater, wo die Steinigung stattgefunden hat. Nicht etwa verurteilen die Stadtbehörden die schändliche Aggression gegen den Bettler, sondern sie beglaubigen das Wunder, und Apollonios steht als großer Mann da.“ (84)
Das Anliegen ist also die Verteidigung und Verherrlichung der heidnischen Götter und ihrer „Apostel“. Hier geht es nicht darum, dass dem armen Bettler Barmherzigkeit und Gnade widerfährt, wie es beimBettler vor dem Tempel Salomos und dem Apostel Petrus der Fall war (vgl. Apg 3,1-10), sondern hier geht esum Gerechtigkeit und die Verurteilung und Bestrafungdes Bösen.Das wird für Girard auch und erst rechtdurch die mimetische Strukturdeutlich:
„Das Wunder besteht darin, eine derart mächtige mimetische Ansteckung auszulösen, daß schließlich die gesamte Stadtbevölkerung gegen den unglücklichen Bettler eingenommen ist. Einziger Lichtblick in diesem düsteren Text ist die anfängliche Weigerung der Epheser; doch Apollonios setzt alles daran, ihn zum Verschwinden zu bringen, was ihm auch gelingt. Die Epheser beginnen das Opfer mit einer derartigen Wut zu steinigen, daß sie in ihm schließlich das sehen, was Apollonios zu sehen sie auffordert: den Urheber all ihrer Übel, den ‚Pestdämon‘, dessen es sich zu entledigen gilt, um die Stadt zu heilen.“ (70)
Die Steinigung des Bettlers wird damit gerechtfertigt, dass er „der Urheber all ihrer Übel, der Pestdämon selbst“ ist. Einen unschuldigen Bettler zu steinigen ist Unrecht, nicht aber einen Dämon. Das ist die Pointe am Ende: das Opfer ist in Wahrheit schuldig ! Die Verfolger tun also etwas Gutes, sie üben Gerechtigkeit aus, indem sie einen bösen Dämon töten. Sie haben keinen Unschuldigen getötet, sondern das Böse verurteilt und besiegt.So will es derText. – Aber, was Girard sehr gut bemerkt, ist, dass sie erstmal von Apollonios zur Wut und zum Hass gegen das Opfer angestachelt werden, bevor sie überhaupt sehen, dass das Opfer schuldig ist. Das heißt, dass sie anfangs sehr wohl Steine auf jemandenwerfen, dessen Schuld gar nicht bewiesen ist, um sich an ihm „abzureagieren“ und ihre mimetische Wut zu entladen! Obwohl das Opfer sogar ausdrücklich „nach Erbarmen und Barmherzigkeit schreit“, hören sie mit der grausamen Steinigung nicht auf. Sie richten, verurteilen und bestrafen gewaltsam, ungerecht und unbarmherzig. Darin kommt die „mimetische Ansteckung“ zur Wirkung. Sie rechtfertigt Gewalt und Kollektivmorde an (unschuldigen) Individuen zum Wohle der Gemeinschaft. (71-71) Ein „Sündenbock“ wird also geopfert, damit es den anderen gut geht.Die Moral, die sich in dieser Geschichte (und damit in allen Mythen) verbirgt, könnte man mit einem Satz ausdrücken: Der Zweck heiligt die Mittel.
Das ist eine Interpretation. Aber Girard schlägt eine andere Richtung ein, er will auf etwas anderes hinaus. Er fragt sich nämlich zurecht: „Wie kann der Mord an einem Bettler eine Pestepidemie beenden?“ (72) Um die Antwort klar zu machen, erklärt er, dass man das Wort „Pest“ nicht nur in einem „strikt medizinischen Sinn“ verwendet, sondern dass das Wort „fast immer eine soziale Dimension hat“:
„Bis in die Renaissance hinein führten die ‚wahren‘ Epidemien, wo immer sie ausbrachen, zu einer Störung der sozialen Beziehungen. Und wo diese Beziehungen gestört sind, kann der Gedanke der Epidemie aufkommen. Die Verwechslung bietet sich um so mehr an, weil beide Arten der ‚Pest‘ gleichermaßen ansteckend sind.“ (72)
Girard deutet diese Geschichte also im geistigen Sinn: die „bakterielle Pest“, die lediglich nur ein Symptom, eineFolge und Reaktion war, hatte ihren eigentlichen Ursprung und Grund in der „sozialen Pest“! Die ganze Stadt litt unter sozialen, „inneren Spannungen“. (72) Das war die wahre Ursache für die Pestepidemie! Wollte man also die äußere, sichtbare und körperliche Pest beseitigen, musste man sich von der inneren, unsichtbaren und geistigen Pest der sozialen Spannungen befreien. Und wie konnte diese Befreiung und Erlösung geschehen? Nur durch ein Opfer und einen Sündenbock, an dem die sozialen Spannungen und mimetischen Rivalitäten abreagiert werden können. Genau in diesem Sinn schließt Girard die Interpretation ab:
„Ich habe bereits angedeutet, die Pest von Ephesos könne nicht bakteriellen Ursprungs sein. Tatsächlich handelt es sich um eine Epidemie mimetischer Rivalitäten, ein Geflecht von Ärgernissen, einen Kampf Aller-gegen-Alle, der sich dank des von Apollonius mit diabolischem Geschick ausgewählten Opfers ‚wundersamerweise‘ in ein versöhnendes Alle-gegen-Einen verwandelt.“ (72)
Damit ist die Frage, wie der Mord eines Bettlers eine Epidemie beendet kann, beantwortet. Auf ihn wurde – wie auf einen Sündenbock – der ganze Zorn, die Wut und alle Spannungen der Stadt geladen. Er spiegelte als Dämon das Böse der Stadt wieder, das folglich mit ihm und in ihm getötet wurde. Das Ende der sozialen Epidemie bewirkte auch das Ende der bakteriellen Epidemie. So konnte das Opfer eines „unschuldigen“ Bettlers die ganze Stadt retten. – Die bemerkenswerte moralische Aussage, die sich in dieser Interpretation verbirgt, könnte also lauten: Wenn Friede in den Menschen herrscht, wird auch Friede unter den Menschen herrschen. Oder anders: Wenn Frieden in den Menschen ist, wird auch Frieden in der Welt sein.
Nun könnte jemand sagen, dass das nur eine Geschichte unter vielen verschiedenen Mythen ist und dass man nicht von einem Mythos auf alle schließen darf. Doch, sagt Girard, genau das kann man und darf man, denn – so seine These – alle Mythen haben dieselbe Struktur.
2.2. Die gemeinsame Struktur der Mythen
Worauf kommt es Girard an? Was haben alle Mythen gemeinsam? Was verbindet die Mythen von „Osiris, Attis, Adonis, Ormuzd, Dionysos und weiterer Helden und Heldinnen“? (10) Was liegt Homers Odyssee, Ovids Metamorphosen, Philostratos Wunder von Ephesus und allen anderen Mythen gemeinsam zugrunde? Seine Antwort ist die „kollektive Gewalt“ bzw. das „kollektive Opfer“ als „Lösung von Krisen“:
„Viele Mythen haben ein ähnliches Profil (...) Die Mythen heben praktisch immer mit einem extremen chaotischen Zustand an. (...) Nicht selten steckt dahinter eine Art Störung oder Unvollendetheit in der Gesellschaft, in der Natur oder im Kosmos. (...) Manchmal spielt sich der Konflikt zwischen zahllosen weiteren, mehr oder weniger unwirklichen Fabelwesen ab (...) Immer und überall läßt sich die Ausgangslage in Begriffen einer Krise zusammenfassen, die auf der Gemeinschaft und ihrem Kultursystem als Drohung der totalen Vernichtung lastet. Diese Krise wird praktisch immer durch Gewalt gelöst, und selbst wenn die Gewalt nicht kollektiv ist, hat sie doch kollektive Ankläge. (...) Auf dem Höhepunkt der Krise wird die gewalttätige Einmütigkeit ausgelöst (...) manifest wird es dann in den Ritualen. Diese reproduzieren (...) offensichtlich die einmütige und versöhnende Gewalt des Opfermechanismus.“ (84-86)
In jedem Mythos gibt es demnach einen wesentlichen und notwendigen „Opfermechanismus“, d.h. ein Problem, eine Krise, die nur durch (kollektive) Gewalt und durch ein Opfer gelöst wird (in das die Ursache der Krise projiziert wird). Das Opfer bringt Versöhnung und den ersehnten „Frieden“, dem „eine religiöse, göttliche Bedeutung“ verliehen wird. Daher wird in der Regel auch das Opfer später „vergöttlicht“ bzw. „divinisiert“.[10] (86-87)
„Das Opfer wird demnach zweimal verklärt, ein erstes Mal ins Negative, Bösartige, ein zweites Mal ins Positive, Wohltätige.“ (88)
Das ist eine ganz wichtige Definition für den mythischen Opferbegriff! Zunächst ist das Opfer nämlich böse, schlecht und schuldig, die „Ursache des Übels“, es muss getötet, beseitigt und vernichtet werden. Erst dann, wenn es geopfert wurde, bringt es Versöhnung und Frieden und wird dadurch wiederum gut und göttlich, zur „ Ursache des Heils“. Und das ist – nach Girards Analyse – die „traurige, aber wahre “moralische Aussage, die allen Mythen gemeinsam ist: es kann Frieden auf der Welt nur durch Gewalt und Opfer geben – der Weg zum Frieden führt notgedrungen durch Gewalt – ohne Gewalt keinen Frieden – Gewalt ist die Ursache des Friedens – Gewalt ist eine bzw. die Lösung![11] Mit anderen Worten: Der Zweck des Friedens heiligt die Gewalt und rechtfertigt das (unschuldige) Opfer! Genau diese Gewaltverherrlichung und Gewaltrechtfertigung in den Mythen will die Wissenschaft nicht wahr haben und zugeben, sie wird geleugnet, übersehen, verdrängt und romantisiert, indem sie für nicht historisch bzw. „ nicht real“ erklärt wurde. Genau das ist, was Girard an der Forschung und heutigen Wissenschaft kritisiert:
„Die Völker erfinden nicht ihre Götter, sondern sie divinisieren ihre Opfer. Was die Forscher daran hindert, diese Wahrheit zu entdecken, ist ihre Weigerung, die reale Gewalt hinter den diese Gewalt darstellenden Texten wahrzunehmen. Der Widerstand gegen das Reale ist das oberste Dogma unserer Zeit. Es geht um die Verlängerung und Perpetuierung der ursprünglichen mythischen Illusion.“ (94)
Girard sagt, dass die Gewalt in den Mythen „real“ ist, d.h. dass sie einen historisch wahren Kern hat. Denn zur heidnischen Götterverherung kam es nicht bloß durch „Erfindung oder Erdichtung“, sondern durch reale Opfer, die Frieden gestiftet haben und daher vergöttlicht wurden. Die versöhnende und friedensstiftende Erfahrung eines gewaltsam dargebrachten Opfers hat auf die Heiden also dermaßen übernatürlich gewirkt, dass sie im Opfer nur ein göttliches Wirken sehen konnten. Die heidnische Götterverehrung ist also nicht Ursache und Grund für religiöse Gewalt und Opferung, sondern vielmehr ihre Folge und Wirkung. Erst durch ein reales, historisches Ereignis, das die Völker dermaßen in „Furcht und Staunen“ (tremendum et fascinosum)versetzte, konnten die Völker wahrhaft religiös, gottesfürchtig und fromm werden. Bloße Geschichten wären dafür zu schwach. Da man also die Religiösität und Frömmigkeit der Heiden historisch nicht leugnen kann, kann man auch die reale Gewalt hinter den Mythen nicht leugnen, da die Gewalt der Grund und die Ursache für ihre Entstehung war. Das ist das anthropologische Argument und die Logik, mit der Girard die heutige Wissenschaft kritisiert. Die Mythen erzeugen wundersamerweise in den Menschen durch alle Zeiten hindurch eine Illusion, nämlich die Illusion der Gerechtigkeit und Unschuld, die die ihr zugrundeliegende reale Gewalt romantisiert, relativiert und damit letztlich rechtfertigt und gutheißt. Dieser (unwiderstehlichen) „mythischen Illusionskraft“ sind – so der Vorwurf Girards – (neben den alten Heiden) sogar die modernen und aufgeklärten Forscher verfallen. Auch sie leben in der Illusion, dass die Mythen unschuldig und friedlich sind, sehen sie doch nicht ihr gewaltrechtfertigendes und gewaltverherrlichendes Wesen. Darin „verlängern und perpetuieren sie die mythische Illusion“, wie es schon Generationen von Völkern und Heiden vor ihnen getan haben und wie es – so schließt Girard am Ende des Werkes ab – auch im heutigen „Neopaganismus“ geschieht:
„Was die Radikalisierung der gegenwärtigen „Viktimologie“ in Wirklichkeit leistet, ist die effektive Rückkehr zu heidnischen Gewohnheiten aller Art: Abtreibung, Euthanasie, sexuelle Entdifferenzierung, Zirkusspiele[12] ohne Ende (aber dank elektronischer Simulation ohne reale Opfer).“ (225-226)
Damit ist Girard dem Bösen in den Mythen auf den Grund gegangen. Während die Mythen nämlich von sich aus behaupten, dass durch kollektive Gewalt die „Erlösung von dem Bösen“ geschieht, stellt Girard heraus, dass gerade die kollektive, mimetische Gewalt in Wahrheit der Ursprung des Bösen ist.
2.3. Mimetik als „Satan“ und Prinzip des Bösen
Girard geht soweit, „die (nicht-personale) Mimetik selbst“ (93) als „Satan“ und teuflisches Prinzip des Bösen zu bezeichnen:
„Da das Auslösen des Opfermechanismus und der Höhepunkt des Chaos eins sind, ist der Satan, der austreibt und die Ordnung wiederherstellt, sehr wohl identisch mit dem Satan, der das Chaos schürt. Jesu Formulierung ‚Satan treibt den Satan aus‘ ist unersätzlich. Das wirksamste Rezept des Herrschers dieser Welt, sein Taschenspielertrick Nummer eins, sein einziges Hilfsmittel vielleicht, ist das mimetische Alle-gegen-Einen oder der Opfermechanismus, ist die mimetische Einmütigkeit, die auf dem Höhepunkt des Chaos in menschlichen Gemeinschaften die Ordnung wiederherstellt.“ (64) „Die Interpretation, die in Satan die konfliktuelle Mimetik erkennt, erlaubt es erstmals, den Herrscher dieser Welt zugleich nicht herunterzuspielen und ihm doch kein personales Sein zuzugestehen, was ihm die traditionelle Theologie zu Recht verweigert.“ (65)
Die Formulierung „Satan treibt den Satan aus“ besagt nach Girard also den Anfang und das Ende desselben Opfermechanismus bzw. mimetischen Zykluses. Der „erste“ Satan, der ausgetrieben werden muss, ist das mimetische Alle-gegen-Alle, d.h. das Aufkommen von mimetischen Rivalitäten und Spannungen, von Neid, Eifersucht, Hass, usw.. Der „zweite“ Satan, der den ersten austreibt, ist das mimetische Alle-gegen-Einen, d.h. die einmütige Konzentrierung der kollektiven Gewalt auf ein Opfer und Sündenbock, durch dessen Opferung die Ordnung und der Frieden (scheinbar) wiederhergestellt wird. Die „mythische Illusion“ und der „teuflische Trick Nummer eins“ besteht darin, glauben zu machen, dass dieser „zweite“ Satan ein guter Satan, eigentlich gar kein Satan ist, sondern, ganzim Gegenteil, eine rettende Gottheit, die den wahren Satan und das Böse austreibt. Die Pointe, die Girard jedoch aufdeckt, ist, dass es keinen ersten und zweiten Satan gibt, sondern dass die Entstehung der Krise und die Beendigung der Krise von ein und demselben „Satan“, d.h. teuflischen Prinzip verursacht wird, das er „mimetischen Opfermechanismus“ oder „Mimetik“ selbst nennt. Das Alle-gegen-Alle („erster Satan“) und das Alle-gegen-Einen („zweiter Satan“) ist also ein und derselbe satanische bzw. mimetische Konflikt und Mechanismus. Das moralisch Böse und Falsche an den heidnischen Mythen ist also, dass sie uns glauben machen wollen, dass das Alle-gegen-Einen etwas Gutes ist, das Erlösung und Frieden bringt. Nein, sagt Girard, eben nicht, denn genau darin besteht die „mythische Illusion“, „der Trick und die Lüge des Teufels“! Er will uns glauben machen, dass die Steinigung des Bettlers oder die Anwendung von Gewalt oder die Opferung eines Sündenbocks oder das „Sich-Abreagieren“und die gewaltsame „Wut-Entladung“ das Problem löst und die Krise beendet! Nein, dadurch wird nur scheinbar die Krise gelöst und ein oberflächiger Frieden hergestellt, der nicht lange andauern kann. Dadurch wird nur ein mimetischer Zyklus beendet, dem sofort ein neuer folgt. Hier ist also der wahre Ursprung des Bösen zu finden, nämlich im Prinzip und Versuch, „den Satan durch den Satan auszutreiben“, d.h. zu versuchen, mimetische Rivalitäten durch weitere mimetische Gewalt und Opferung zu lösen! Wer so etwas versucht, der muss von vornherein scheitern, da er im Kreis des mimetischen Opfermechanismus gefangen bleibt und den Teufelskreis der mimetischen Gewalt nicht durchbricht, sondern ihn gerade bestärkt und festigt ! Er gleicht nämlich jemandem, der versucht, das Böse durch das Böse auszutreiben, Finsternis durch Finsternis zu besiegen, Gewalt mit Gewalt zu beenden und Ungerechtigkeit mit Ungerechtigkeit zu bekämpfen! Philosophisch gesehen ist das ein perfomativer Selbstwiderspruch, der praktisch das affimiert, was er theoretisch negiert. So deckt Girard die absurde Kontradiktion der mythischen Moral auf, die durch die Affirmierung von mimetischer Gewalt die Spirale derGewalt nicht durchbricht, sondern sie gerade bestätigt und bestärkt.[13]
Wenn also der Teufelskreis des Bösen auf Erden nicht durch den mimetischen Opfermechanismus durchbrochen werden kann, wie es bei den Mythen der Fall ist, stellt sich die logische Frage, ob und wie es dann im Christentum möglich ist? Die Hauptaussage Girards besteht darin, aufzuzeigen, dass das Christentum kein Mythos ist, sondern sich in einem Punkt wesentlich von den Mythen unterscheidet.Der neue und revolutionäre Unterschied des Christentums besteht nämlich darin, dass esdie mimetische Spirale der Gewalt tatsächlich durchbricht und so wahren Frieden und Erlösung vom Bösen schenkt. Dies zu begründen, ist Aufgabe des dritten und letzten Kapitels.
3. Das Christentum
Im Laufe der Kirchengeschichte wurde oft gefragt, warum denn ein „neues“ Testament überhaupt notwendig war. Gott hatte den Menschen doch das Gesetz gegeben. Er hatte es ihnen „ins Herz geschrieben“ (Röm 2,15) und durch Mose am Sinai offenbart. Sie mussten also nur nach dem Gesetz leben, seine Gebote befolgen und würden so „Gerechtigkeit und ewiges Leben“ erlangen (vgl. Weish 15,3; Mt 19,16). Warum war also noch ein „neuer“ Bund in Christus notwendig? Paulus hat diese Frage mit einem einzigen Satz beantwortet: „Würde die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommen, so wäre Christus vergeblich gestorben.“ (Gal 2,21) Das Neue und Revolutionäre am Christentum war, dass es die Gerechtigkeit brachte, die das Gesetz zwar geben wollte, aber nicht geben konnte (vgl. Röm 8,3).[14] So strebten auch die heidnischen Mythen nach Gerechtigkeit, Heil und Frieden, konnten dieses Ziel aber nicht erlangen. Daher gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen den Mythen und dem Christentum, aber auch entscheidende Unterschiede, die nun herausgearbeitet werden sollen.
3.1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Mythen
Girard leugnet nicht die großen Gemeinsamkeiten zwischen den heidnischen Mythen und biblischen Geschichten, im Gegenteil, er behauptet sogar, dass sie die gleiche Struktur haben:
„Es gibt diese Gemeinsamkeit von Mythen und Evangelien, wir wissen es: Es ist der mimetische oder ‚satanische‘ Zyklus, die dreistufige Sequenz von Krise, Kollektivgewalt und schließlich religiöser Epiphanie.“ (136)„Da der mimetische Zyklus in den Evangelien die drei Momente der mythischen Zyklen enthält, nämlich Krise, Kollektivgewalt und göttliche Epiphanie, unterscheidet sie, ich betone es, objektiv nichts von einem Mythos. Sind sie also nicht vielleicht doch ganz schlicht ein Todes- und Auferstehungsmythos, raffinierter vielleicht, aber grundsätzlich vergleichbar?“ (139)
„Unter der Sonne nichts Neues!“ heißt es schon in Buch Kohelet (Koh 1,9). „Todes- und Auferstehungsmythen“ sind beileibe kein neues Thema, sondern sie finden sich in verschiedenen Varianten schon in vielen alten Mythen. Genau diese gemeinsame Struktur lässt also vermuten, dass die Evangelien im Prinzip nichts anderes als ein weiterer, eventuell „raffinierter“ Mythos sind. Aber, so die These Girards, gerade durch ihre gemeinsamen Struktur, lässt sich„eine irreduzible Differenz“ und „ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen dem Mythischen und dem Biblischen“ festmachen. (142)
Daher sollen im Folgenden drei biblische Geschichten mit den Mythen verglichen werden, um den entscheidenden Unterschied klar zu machen, der das Christentum zur revolutionären und einzigartigen „Religion des Friedens“ macht.
3.1.1. Jesus und die Ehebrecherin
Durch einen Vergleich der beiden „Steinigungs“-Geschichten, d.h. der „Steinigung des Bettlers“nach dem Apollonius-Mythos und der versuchten „Steinigung der Ehebrecherin“ nach dem Johannes-Evangelium (Joh 8,3-11), stellt Girard sehr schön den wesentlichen Unterschied zwischen ihnen heraus, nämlich „tut Jesus alles, um die Steinigung zu verhindern, anstatt sie wie Apollonios hervorzurufen “. (75) Beide haben auf ihre Weise „Erfolg“: Apollonius, indem er die „anfangs friedliche“ Menge zur aggressiven Steinigung überredet, und Jesus, indem er die „anfangs gereizte“ Menge überzeugt, friedlich von der Steinigung abzulassen. Während Apollonius seine Kraft für die Gewalt einsetzt, läßt Jesus „seinen Einfluß gegen die Gewalt spielen“. (76) Entscheidendes Moment beider Geschichten ist, wie Girard es sagt, „das Problem des ersten Steins“, das Jesus direkt ausspricht: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie.“ (Joh 8,7) Schafft es Apollonius, die Menge zum Wurf des ersten Steins zu überreden, hat er gewonnen, denn „ist dieser einmal geschleudert, kann Apollonius ruhig schlafen, die Partie ist gewonnen – für Gewalt und Lüge“. (77) Genauso umgekehrt: Jesus hat gewonnen, wenn er es schafft, die Menge vom Wurf des ersten Steines abzuhalten. Warum? Was ist denn am ersten Stein so besonders?
„Weit davon entfernt, eine bloß rhetorische Figur zu sein, ist der erste Stein entscheidend – ist es doch am schwierigsten, ihn zu schleudern. Aber weshalb ist es so schwierig? Weil der erste Stein der einzige ist, der kein Vorbild hat.“ (78)
Sehr scharfsinnig erkennt Girard also im ersten Stein die mimetische Vorbildfunktion, sowohl im positiven, wie auch negativen Sinn, denn:
„ist der erste Stein dank Apollonius´ anfeuernden Worten einmal geworfen, folgt der zweite dem Beispiel des ersten schnell; der dritte kommt noch schneller, hat er doch zwei Vorbilder statt nur eines und so fort. Je mehr sich die Vorbilder mehren, um so mehr beschleunigt sich der Rhythmus der Steinigung. (...)Sobald [aber] ein erstes Individuum darauf verzichtet, die Ehebrecherin zu steinigen, folgt ein zweites und so fort. Schließlich läßt die ganze Gruppe, von Jesus geleitet, von ihrem Steinigungsvorhaben ab.“ (78)
Es geht also hier nicht bloß um reine Gewalt und Gewaltlosigkeit, sondern um mimetische Gewalt und Gewaltlosigkeit, die jeweils von einem „mimetischen Furor“ (78) ausgelöst wird, der entweder zur Gewalt führt (Apollonius) oder Gewalt verhindert (Jesus). Was Girard herausarbeitet, ist die Tatsache, dass Gewalt bzw. Gewaltlosigkeit kein isolierter und statischer Zustand einzelner Individuen ist, der grund- und bedingungslos einfach soist oder nicht so ist, sondern dass er vielmehr ein Resultat, eine Frucht und Konsequenz eines dynamischen Prozesses interpersoneller Interaktion einer Individuen- Gemeinschaft ist, der durch „mimetische Nachahmung“ maßgebend beeinflußt wird. Einfach ausgedrückt bedeutet das, dass es kein Zufall ist, ob eine Situation friedlich oder gewaltsam verläuft, sondern primär und hauptsächlich das Verdienst bzw. die Schuld von guten bzw. schlechten Vorbildern ist, die die ganze Masse durch ihr Vorbild maßgebend beeinflussen, entweder zum Frieden oder zur Gewalt. Das ist die entscheidende Rolle der Mimetik!
„Die beiden Texte stehen sich ihrer Intention nach diametral entgegen, und dennoch sind sie sich seltsam ähnlich. Ihre Unabhängigkeit voneinander verleiht dieser Ähnlichkeit größte Bedeutung. Sie vermitteln uns ein tieferes Verständnis für die Dynamik von Menschenmengen, die nicht durch Gewalt oder Gewaltlosigkeit allein zu definieren sind, sondern auch durch Nachahmung, durch Mimetik.“ (79)
Darin besteht also das revolutionäre Verdienst der biblischen Moral, dass sie den mimetischen Furor der mythischen Moral, die auf eine gewaltsame Lösung abzielt, umkehrt und in einen „Furor in gegenteiliger Richtung, einen gewaltlosen Furor“umwandelt. (78) Diese Umwandlung und Umkehrung der mimetischen Gewalt ist das Herzstück des Christentums, denn genau hierin geschieht der Durchbruch und Ausbruch aus der mimetischen Spirale der Gewalt.
Dies versucht Girard durch ein zusätzliches Detail des biblischen Textes noch deutlicher zu machen. Als Jesus nämlich von der gereizten Menge gefragt wurde, wie er zum mosaischen Gesetz stehe, das die Steinigung von Ehebrechern befiehlt, gibt Jesus zunächst keine Antwort, sondern bückt sich, um – nach Girards Meinung – „dem Blick dieser Männer mit ihren blutrünstigen Augen“ zu entweichen. Warum? Weil sich sonst ihre Wut in den Augen Jesu spiegeln würde, Jesus würde sich „in den Spiegel ihrer eigenen Wut verwandeln“. Dies würden sie aber sofort als „Konfrontation, Herausforderung und Provokation“ ansehen, was die Steinigung umso mehr herbeiführen würde. (82) Jesus bleibt aber nicht auf ihrem zornigen, wütigem und gewaltvollen Niveau stehen, sondern bückt sich, er geht eine Ebene tiefer und macht sich in großer Demut kleiner und geringer als sie. Dadurch verwirklicht er zwei Funktionen: 1. unterbricht und beendet er ihren mimetischen gewaltsamen Furor, in den sie ihn durch ihre Provokation mithineinziehen wollen und 2. beginntund startet er einen eigenen, gewaltlosen mimetischen Furor, in den er sie am Ende erfolgreich hineinzieht. Zuerst, als sie die Frau noch richten und bestrafen wollten,erhoben sie nämlichihr stolzes Haupt auf die höchste und oberste Ebene Gottes, des„gerechten Richters“ (vgl. Ps 82,1), doch nachdem sie Jesus auf ihre Sünden aufmerksam gemacht hat („ Wer unter euch ohne Sünde ist...“) und sie Angst vor ihrem eigenen Strafgericht bekamen, beugten sie ihr Haupt demütig wie Jesus und bückten sich – geistig gesehen – auf die unterste Ebene derarmen und ungerechten Sünder. Sie wurden vom mimetischen Furor Jesu dermaßen angesteckt, dass sie sich von „selbstgerechten Pharisäern“ in „gerechte Zöllner“ verwandelten (vgl. Lk 18,9-14), sie sahen nicht mehr „den Splitter im Auge ihrer Schwester, sondern den Balken im eigenen Auge“ (vgl. Mt 7,3) und „vergaben ihr ihre Schuld, wie auch Gott ihre Schulden vergeben hat“ (vgl. Mt 6,14). Das demütige und gewaltlose Vorbild Jesu lehrte sie also einerseits, vom Richten und gerechten Strafen abzulassen und andererseits, mit dem barmherzigen Vergeben anzufangen. Jesus hat es so geschafft, den mimetischen Furor der Gerechtigkeit, der zur gewaltsamen Todesstrafe führte, in den mimetischen Furor der Bamherzigkeit, der zur friedvollen Vergebung und Rettung führte, zu verwandeln. Damit hat er die Spirale der Gewalt und den mimetischen Opfermechanismus durchbrochen. Und genau darin besteht, wie gesagt, das soteriologische Herzstück des Christentums, das Revolutionäre und Neue, das den Mythen diametral entgegengesetzt ist. Durch das „Sich-bücken Jesu“wird – auf sinnbildliche und symbolische Weise – geradezu das ganze Evangeliumausgedrückt: zuerst „bückte“ sich Gott vom Himmel auf die Erde und wurde Mensch (vgl. Phil 2,7), dann „bückte“ sich Jesus von der Erde zurUnterwelt und wurde – um unseres Heiles willen – gekreuzigt (vgl. 1 Petr 3,18-19; Phil 2,8). Durch die Menschwerdung und Kreuzigung Christi lässt sich Gott also von der göttlichen Ebene des gerechten Richters herab und wird zum barmherzigen Erlöser der Menschen . Das gerade Aufrechtstehen Jesu drückt nämlich durch seine Geradlinigkeitsymbolisch die Unbeugsamkeit und Strenge des göttlichenGesetzesund seinerGerechtigkeit aus. Das Sich-bücken Jesu drückt aber durch sein Beugen und Krümmen symbolisch die Beugsamkeit und das Entgegenkommen der göttlichen Barmherzigkeit und Gnade aus. Dadurch, dass Jesus also nicht aufrecht stehen bleibt, sondern sich bückt, drückt er auf zutiefst symbolische Weisedas gnadenhafte Wesen des Christentums aus, nämlich dass er „nicht gekommen ist, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten “ (vgl. Joh 12,47). Moralisch gesehen heißt das Sich-bücken also: „Richte nicht, sondern vergebe!Nicht Auge um Auge und Zahn um Zahn, sondern rechte Wange, linke Wange !Nicht hassen, sondern lieben !“ (vgl. Lk 6,37; Mt 5,38-44) Im Prinzip ist das Bild des Sich-bückens kein anderes Bild als das Bild des Kreuzes Christi, denn das Kreuz fasst das alles in sich zusammen: Demut, Gnade, Liebe, Barmherzigkeit, Vergebung, Erlösung, Heil und Frieden. Und genau hierin geschieht der Ausbruch aus der Spirale der Gewalt, nämlich, indem man die Spirale der Gerechtigkeit in die Spirale der Barmherzigkeit verwandelt. Dazu bedarf es aber großer Demut und Liebe, denn dafür muss man von seinem eigenen Recht loslassen, Ungerechtigkeit ertragenund „sich bücken“, d.h. man muss aufhören, zu richten und anfangen,zu vergeben (selbst wenn man im Recht ist). Genau in diesem Geist ist nämlich Jesus für alle Sünder am Kreuz gestorben, nicht, weil er es musste, sondern aus purer und unverdienter Gnade ! Anstelle zu sagen: „Vater, räche mich und bestrafe die Ungerechtigkeit, die mir angetan wurde!“, sagte er: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34) Das ist der Sieg und Triumph des Kreuzes! Das ist der Sieg und Triumph der Gnade und Barmherzigkeit! Das ist der Sieg und Triumph des Christentums über das Böse! Das ist der „Sturz Satans vom Himmel“!
3.1.2. Josef und seine Brüder
Diesen Tiumph der Vergebungarbeitet Girard auch sehr gut durch einen Vergleich der Josefsgeschichte (Gen 37-50) und des Ödipus-Mythos heraus. Auch hier gilt wieder die gemeinsame mimetische Struktur von „Krise, Kollektivgewalt und religiöser Epiphanie“. Der Ausgangspunkt (Krise und Kollektivgewalt)der beiden Geschichten ist derselbe: sowohl Josef, als auch Ödipus werden von ihrer Familie gewaltsam von zu Hause verstoßen. Josef von seinen „eifersüchtigen Brüdern“, die sich durch ihn der Liebe ihres Vaters beraubt sehen („die mimetische Rivalität ist die wahre Ursache der Verstoßung“ (145)); undÖdipus von seinen „ängstlichen Eltern“, denen verheißen wurde, dass ihr Sohn „eines Tages seinen Vater töten und seine Mutter heiraten würde“. (140) Später „löst Ödipus das Rätsel der Sphinx, rettet sich aus den Klauen des Ungeheuers und rettet zugleich die ganze Stadt.“ Als Belohnung wird er König von Theben. Ebenso löst Josef durch seine „Hellsichtigkeit“ die Rätsel und Träume des Pharao: „Sein großes Talent katapultiert Joseph auf die oberste Stufe der sozialen Leiter, genau wie Ödipus.“ (141)Da Ödipus jedoch später seinen Vater tatsächlich ermordert und seine Mutter heiratet (wenn auch unbewusst), schickt Apollon der Stadt die Pest, woraufhin er aus ihr getrieben wird (erneute Kollektivgewalt). – Und genau hier arbeitet Girard die „irrudezible Differenz“ zwischen Bibel und Mythos heraus:
„Mythos und biblische Geschichte treten bei der entscheidenden, mit der kollektiven Gewalt aufgeworfenen Frage in eine Opposition: der Frage nach der Berechtigung, nach der Legitimität dieser Gewalt. Im Mythos werden die Ausstoßungen des Helden jedesmal gerechtfertigt, in der biblischen Erzählung niemals. Die Kollektivgewalt ist nicht zu rechtfertigen.“ (142)
In der Tat, alles, was Josef angetan wird, von seinen Brüdern, von den Ägyptern, von der fremden, lüsternen Ehefrau, die ihn der Vergewaltigung beschuldigt, wird von der Bibel als Unrecht und Ungerechtigkeit offenbart und verurteilt. Bei Ödipus ist es anders: „er hat die vom Orakel prophezeiten Schandtaten tatsächlich begangen, und, schlimmer noch, er hat der ganzen Stadt die Pest gebracht!“ (142) Die „radikale Divergenz“, die Girard hierin sieht, ist die mythische Legitimierung der Kollektivgewalt:
„Im Mythos hat das Opfer immer unrecht und seine Verfolger immer recht. (...) Die mythischen Welten und die sie fortführende moderne Welt (etwa die Psychoanalyse) halten die mythischen Anschuldigungen für legitim. (...) Überall stellt sich dieselbe Frage. Verdient es der Held, vertrieben zu werden? Der Mythos antwortet stets mit ‚Ja‘, die biblische Geschichte mit ‚Nein‘, ‚Nein‘ und abermals ‚Nein‘. Ödipus Laufbahn endet in einer Vertreibung, deren Endgültigkeit seine Schuld bekräftigt. Josephs Laufbahn endet in einem Triumph, dessen Endgültigkeit seine Unschuld bekräftigt.“ (142-143)
Wenn die Bibel die Kollektivgewalt an unschuldigen Opfern nicht legitimiert und folglich als Ungerechtigkeit qualifiziert, stellt sich die große Frage, was die biblische Antwort auf die Frage nach „ungerechter Gewalt“ bzw. „Gewalt gegen Unschuldige“ ist. Geht es der Bibel dann um Rache und Vergeltung? Ist die Gerechtigkeit die letzte Stufe der göttlichen Offenbarung (religiöse Epiphanie)? Nein, sagt Girard, gerade nicht! Würde der Höhepunkt der biblischen Offenbarung in der ausgleichenden Gerechtigkeit bestehen, würde sie sich in nichts von der mythischen Moral unterscheiden, sie würde nicht den mimetischen Furor durchbrechen und den gewaltsamen Opfermechanismus beenden. Die Pointe der göttlichen Epiphanie der Bibel ist anders als die mythische!In diesem letzten Punkt unterscheiden sie sich radikal:
„Josephs schließlicher Triumph ist kein belangloses ‚Happy-End‘, sondern das Mittel, um das Problem der gewalttätigen ausdrücklich anzugehen. Ohne je aus dem narrativen Rahmen zu fallen, philosophiert der biblische Text über die Gewalt; die Radikalität dieses Nachdenkens zeigt sich an der Tatsache, daß an die Stelle der zwangsläufigen Rache das Vergeben tritt. Die Vergebung allein ist fähig, die – zwar gelegentlich, aber nur temporär – durch einmütige Ausstoßungen unterbrochene Spirale der Vergeltungen ein für allemal zu beenden. Um der Menge seiner ihm feindlich gesinnten Brüder zu vergeben, verlangt Joseph nur ein einziges Sühnezeichen, das, welches Juda gibt.“ (142-143)
Hier spricht es Girard in voller Deutlichkeit und Klarheit aus: „Die Vergebung allein ist fähig, die Spirale der Vergeltungen ein für allemal zu beenden.“ Das ist die biblische Pointe, ihre moralische Revolution! Das ist der Sieg des Guten über das Böse, der Sieg der Barmherzigkeit über die Gerechtigkeit! Der Sieg des Friedens über die Gewalt!In der Vergebung und Versöhnung besteht also die religiöse Epipahnie der biblischen Erzählung, nicht nur der Josefsgeschichte, sondern der ganzen Heilsgeschichte, die letztendlich eine Geschichte der Versöhnung Gottes und der Menschen in Christus ist: „Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.“ (Kol 1,19-20) Die alttestamentliche Geschichte von Josef und seinen Brüdern spiegelt also sinnbildlich die Geschichte von Jesus und „seinen Brüdern“[15] wieder, der ihnen vergeben hat, „am Kreuz durch sein Blut“. So hat auch Josefdurch seine barmherzige und vergebende Liebe seine Rache- und Vergeltungsgefühle zu seinen Brüdern „gekreuzigt“, den mimetischen Furor und Opfermechanismus besiegt und wahren Frieden gestiftet. Das „Wort“ und die christliche „Lehre vom Kreuz“ (1 Kor 1,18) ist hier schon auf geheimisvolle Weise verborgen.
Der Schluss, den Girard aus diesem Vergleich zieht, ist eine irreduzible, endgültige und absolute Unterscheidnung „zwischen dem, was wohl die biblische Wahrheit genannt werden muß, und der Lüge der Mythologie “. (147) Die biblische „Wahrheit“, womit Girard eine höhere als rein historische Wahrheit meint, besteht in ihrer Kritik gegen die mythische Gewaltrechtfertigung. Letztendlich gibt es nur zwei moralische Systeme und Möglichkeiten, sagt Girard, nämlich „die richtige und die falsche“ (228): entweder man bleibt im ungerechten und gewaltvollen mimetischen Furor und Opfermechanismus gefangen, wie es die Mythen taten, oder man bricht aus ihm heraus, wie es die Bibel tut. Entweder ist man in der Wahrheit der Barmherzigkeit, die Vergebung und Frieden schenkt oder in der Lüge der Gerechtigkeit [16],die zur Verurteilung undGewalt führt! Darin sieht er das entscheidende, absolute und letzte Argument, umendgültig zu beweisen, dass die Bibel kein Mythos, sondern die Wahrheit ist:
„Die Divergenz zwischen biblischer Erzählung und Ödipusmythos oder irgendeinem anderen Mythos ist nicht klein, sondern vielmehr so groß, daß sie größer nicht sein könnte. Es ist die Differenz zwischen einer Welt, in der die willkürliche Gewalt unerkannt triumphiert, und einer Welt, in der eben diese Gewalt aufgespürt, angeprangert und schließlich vergeben wird. Es ist die Differenz zwischen einer Wahrheit und Lüge, die beide absolut sind. Entweder verfällt man der Ansteckung des mimetischen Furors und steht mit den Mythen in der Lüge, oder man widersteht eben dieser Ansteckung und steht mit der Bibel in der Wahrheit.“ (148)
3.1.3. Kain und Abel
Als letztes biblisches Beispiel soll noch die Geschichte des Brudermordes von Kain und Abel (Gen 4,1-16) genannt werden, da sie das wichtige Motiv des „Gründungsmordes“ in sich trägt, das in vielen „archaischen Gründungsmythen und Ursprungserzählungen“ (109) eine große Rolle spielt:
„Die Doktrin des Gründungsmordes ist nicht nur mythisch, sondern auch biblisch. In der Genesis fällt sie mit der Ermordung Abels durch Kain in eins. Die Erzählung dieser Tötung ist kein Gründungsmythos, vielmehr die biblische Interpretation sämtlicher Gründungsmythen. Sie berichtet uns über die blutige Stiftung der ersten Kultur und über deren Folgen; sie bilden den ersten mimetischen Zyklus in der Bibel.“ (110)
Es geht also auch in dieser Geschichte um das hier behandelte Thema: Rivalität, Neid, Eifersucht, Opfer, Religion, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Quelle von gesellschaftlicher Ordnung, Gemeinschaft, Zivilisation und Frieden. Die springende Frage ist: wie und mit welchen legitimen Mittelnschafft und sichert man kulturellen Frieden in der Menschheit? Erlaubt das Christentum die Opferung eines Unschuldigen (z.B. Abtreibung, Euthanasie, Stammzellenforschung, Genmanipulation, usw.) zum Wohle aller? Heiligt der Zweck manchmal doch die Mittel, wie esauch Nietzsche sagt:
„Um der eigenen Entdeckung auszuweichen und um die mythologische Gewalt zu verteidigen, muß Nietzsche das Menschenopfer rechtfertigen, was er, sich ungeheuerlicher Argumente bedienend, ohne Zögern tut. Er überbietet noch den schlimmsten Sozialdarwinismus. Um der drohenden Degenerierung zu entgehen, gibt er zu bedenken, müssen sich die Gesellschaften ihres wertlosen Menschenballasts entledigen: ‚Der Einzelne wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern konnte; aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer... Die ächte (sc. echte) Menschenliebe verlangt das Menschenopfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christenthum heißt, will gerade durchsetzen, daß Niemand geopfert wird...‘“ (217-218)
Nietzsche ist ein hervorragendes Beispiel für „satanische“ bzw. mimetische Verblendung. Indem er Menschenopfer rechtfertigt, wird er selbst zum Opfer seiner eigenen „Selbsttäuschung und Blindheit“. Er glaubt nämlich, im Verfolgerwahn des mimetischen Furors, „das Richtige zu tun“, „sich für Wahrheit und Gerechtigkeit einzusetzen“ und „seine Gemeinschaft zu retten“, doch fällt er dadurch genau in gegenteilige „Gewalt und Lüge“:
„Selbsttäuschung ist für den satanischen Prozeß insgesamt charakteristisch, und deshalb, ich hab bereits darauf hingewiesen, heißt einer der Namen für den Teufel ‚Fürst der Finsternis‘. Indem das Neue Testament die Selbsttäuschung der Gewalttätigen offenlegt, vertreibt es die Lüge ihrer Gewalt.“ (162-163)
Das Neue Testament rechtfertigt also niemals die Opferung Unschuldiger, sondern deckt vielmehr die „Lüge der Gewalttätigen“ auf, die keine andere als die „Lüge des Teufels“ ist, der der „Vater der Lüge“ und „ein Mörder von Anfang an“ ist (Joh 8,44). Die erste Lüge auf Erden sprach der Teufel aus, als er Adam und Eva sagte, dass sie „ nicht sterben werden“, wenn sie von der verbotenen Frucht essen (Gen 3,4). Doch als sie davon aßen, wurden nicht nur sie sterblich, sondern mit ihnen das ganze Menschengeschlecht (vgl. Weish 1,13; 2,23-24; Röm 5,12; 6,23; DS 1511; GS 18; KKK 1008)[17]. So wurde der Teufel zum „Vater der Lüge“ und „Mörder von Anfang an“. Doch bezieht Girard dieses Wort auf KainsGründungsmord an Abel, der ersten (bekannten) Sünde nach dem Sündenfall:
„Das stimmt völlig überein mit dem, was wir oben über Satan oder den Teufel gehört haben, nämlich, daß er eine Art Personifizierung der ‚bösartigen Mimetik‘ ist, und zwar in seinem konfliktuellen und zersetzenden wie in seinen versöhnenden und einigenden Aspekten. Satan oder Teufel ist nacheinander immer derjenige, der das Chaos anzettelt, der die Ärgernisse sät, und derjenige, der auf dem Höhepunkt der von ihm selbst hervorgerufenen Krisen diese unvermittelt beendet, indem er das Chaos austreibt. Satan treibt den Satan mittels unschuldiger Opfer aus, deren Verurteilung er stets zu bewerkstelligen weiß. Weil Satan der Herr des Opfermechanismus ist, ist er auch der Herr der menschlichen Kultur, die keinen anderen Ursprung hat als diese Mordtat. Letztlich ist es der Teufel, das heißt die bösartige Mimetik, die am Ursprung nicht bloß der kenitischen Kultur, sondern aller menschlichen Kulturen steht.“ (114-115)
Wieder einmal findet Girard in der teuflischen Mimetik die Ursache alles Bösen, auch und erst recht bei Kain. Die Bibel gibt uns nämlich einen sehr aufschlussreichen Einblick in das Innenleben Kains, in seine Gedankenwelt, noch bevor er die Sünde begeht, so dass wir verstehen können, warum und wie es überhaupt zur Sünde kam. Beide nämlich, Kain und Abel, brachten dem Herrn ein Opfer dar, aber der Herr schaute nur auf Abels Opfer. Das machte Kain „sehr zornig“, weil er neidisch und eifersüchtig war. Hier beginnt also die mimetische Begierde Kains und die mimetische Rivalität mit seinem Bruder. Sie verursacht sogleich Zorn, Wut, Hass, Neid und Eifersucht in Kain. Das ist der oben erwähnte „erste Satan“, der ausgetrieben werden muss, denn im Zorn Kains hat die teuflische Spirale der Gewalt und des Unfriedens schon begonnen. Allerdings ist sie noch nicht übergeschwappt auf Abel. Sie ist noch im Herzen Kains. Kain ist quasi mit der Begierde und Sünde „schwanger“, hat aber „den Tod noch nicht geboren“ (vgl. Jak 1,15). Und genau an dieser Stelle deckt die Bibel auf, was in Wirklichkeit passiert ist:
„Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!“ (Gen 4,4-7)
Es besteht ein innerer Kampf in Kain, ein Widerstreit seiner Begierde und seiner Vernunft, ein Ringen zwischen seinem Geist und seinem Fleisch (vgl. Mt 26,41; Röm 7,23; Gal 5,17). Seine Vernunft sagt ihm, dass es böse und falsch ist, zu töten, doch seine Begierde und Wut, reizt ihn, es doch zu tun, um sich so abzureagieren und Frieden zu finden. Genau hier kommt der „zweite Satan“ ins Spiel, nämlich die Sünde des gewaltvollen Mordes. Die Versuchung, die jetzt in Kain besteht, ist es, den „Satan durch den Satan“ auszutreiben, d.h. seinen teuflischen Zorn durch den teuflischen Mord an seinem Bruder zu befriedigen. Das ist die teuflische Illusion und Versuchung der Mimetik, nämlich die Illusion, durch Gewalt Erlösung, Freiheit und Frieden zu finden. Daher glaubt Kain, dass er seinen Neid und seine Eifersucht durch den Brudermordbefriedigen kann. Der Mord verheißt ihm Genugtuung und Frieden. Genau hierin bestand die erste satanische bzw. mimetische Lüge, nämlich dass er durch Mord, Gewalt und Ungerechtigkeit Frieden und Erlösung erreichen könnte. Als Gott diese teuflische Versuchung bzw. mimetische Dynamik im Herzen Kains erkennt, fragt er ihn, „warum er zornig ist und sein Blick sich senkt“. Das Senken des Blickes ist dem oben erwähnten „Sich-bücken“ Jesu sehr ähnlich. Kain weiß nämlich in seinem Inneren, dass das, was er tun will, falsch und ungerecht ist. Die Erkenntnis der eigenen Schuld und Ungerechtigkeit lässt ihn nicht mehr nach oben blicken, wo die Gerechtigkeit und Unschuld herrscht („wenn du recht tust, darfst du aufblicken“), er schämt sich seiner Sünde und kann als Sünder seinem Gegenüber nicht mehr in die Augen blicken. Er senkt seinen Blick auf den Boden und beugt sich innerlich als Sünder, wie sich Jesus auf den Boden zu den Sündern gebückt hat. Und dann sagt Gott: „Wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!“ Hier offenbart die Bibel also die „Lüge des Dämons“, die Lüge des Teufels, die mimetische Illusion, die den Menschen in die Versuchung zieht. Noch bevor es zur Sünde kommt und Gewalt und Tod geboren werden, klopfen Gott und der Teufel gleichzeitig an die „Tür“ des Gewissens und der innere Kampf beginnt. Diese Szene zeigt sehr gut, dass der mimetische Furor und Opfermechanismus nicht vorherbestimmt und unüberwindbar ist, sondern dass der Mensch sich ihm in seiner Freiheit widersetzen kann und muss. Ärgernisse und Versuchungen sind unvermeidbar, aber nicht die Einwilligung in sie. Kain konnte also den Dämon besiegen, „den Satan zum fallen bringen“ und den mimetischen Furor umkehren und beenden, doch er tat es nicht. Im Gegenteil, er wurde selbst vom Satan zu Fall gebracht und tötete seinen Bruder. So schloss er den ersten mimetischen Zyklusund Opermechanismus ab und löste die Spirale der Gewalt aus.
Doch war er jetzt zufrieden? Nein, denn schon „schrie das Blut Abels in den Himmel“, d.h. schon wurde der nächste mimetische Zyklus vom alten eröffnet, nämlich die Forderung nach der gerechten Strafe Kains. Die teuflische Lüge und Gewalt ist perfekt: anstatt, dass Kain Frieden und Ruhe hat, plagen ihn unerträgliche Gewissensbisse und Todesängste, die er selbst ausspricht: „Rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und wer mich findet, wird mich erschlagen.“ (Gen 4,14) Das unschuldige Opfer Abels schreit nach Gerechtigkeit und Vergeltung! Genau das wird der Teufel allen Menschen ins Ohr flüstern und sie dazu bewegen, durch erneuete Gewalt und Opferung, Abel zu rächen undausgleichende Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen. So erzeugt Gewalt Gegengewalt und lässt die Spirale der Gewalt immer mehr wachsen. Aber auch hier durchbricht die Bibel wieder den mimetischen Opfermechanismus: Kain, der alle Strafe verdient hätte, wird von Gott selbst in Schutz genommen: jeder, der Kain erschlägt, soll „siebenfacher Rache“ verfallen (Gen 1,14). Das erste Gesetz Gottes an die Menschen besteht im Verbot, Gottes Strafgericht in die eigenen Hände zu nehmen. Gott stiftet somit am Anfang der Menschheit ein mimetisches Beispiel für die ganze Zukunft. Gott ist und bleibt damit der einziger Richter, der über Leben und Tod der Menschen entscheidet, nicht die Menschen.
Ist Gott damit aber ungerecht? Warum lässt er Kain mit seiner Ungerechtigkeit davon kommen? Sagt er nicht selber über sich, dass er „den Sünder nicht ungestraft lässt“ (Num 14,18)? Was ist mit Abel? Lässt ihn Gott ungerächt? Hat er einfach Pech gehabt? Ist das Leben ungerecht? Können die Bösen tun und lassen, was sie wollen, ohne bestraft zu werden? Sind Gott die unschuldigen Opfer auf Erden egal? Wo ist Gott, der „seine Knechte rächt“? (vgl. Ps 79,10) – Wer so etwas fragt, der hat weder den Text aufmerksam gelesen, noch Girard verstanden, denn Gott antwortet sofort mit der Frage: „Wo ist dein Bruder Abel?“ (Gen 4,9)
„Der Umstand, daß der erste Mord die erste kulturelle Entwicklung der Menschheit auslöst, rechtfertigt in der Sicht des biblischen Textes den Mörder keineswegs. Der Gründungscharakter des Mythos wird ebenso klar, ja noch klarer als in den nichtbiblischen Mythen angedeutet, aber es gibt noch etwas anderes: das moralische Urteil. Die Verurteilung des Mordes steht über jeder anderen Erwähnung. ‚Wo ist dein Bruder Abel?‘“[18]
Die Antwort ist also, dass Gott zum einen sehr wohl ein gerechter Richter ist, der nach Gerechtigkeit sucht und fragt und die Ungerechtigkeit und Schuld der Menschen sofort aufdeckt und verurteilt, aber dass er zum anderen auch ein barmherziger Richter ist! Er ist nicht nur gerecht, sondern auch und erst recht barmherzig, langmütig und geduldig (Num 14,18). Gott hat nämlich „nicht Gefallen am Tod der Sünder, sondern dass sie umkehren und leben“ (vgl. Hes 33,11). Genau deswegen hat er Kain nicht bestraft, damit er nicht verloren geht und stirbt, sondern umkehrt, gerettet wird und lebt! „Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden.“ (Weish 1,13) Gott liebt alle Menschen und will nicht, dass sie verloren gehen und sterben. Selbst wenn es also gerecht und gut wäre, Kain zu bestrafen, wäre es besser und vollkommen, dass Kain seine Sünde bereut und am Leben bleibt. Das will Gott! Und deswegen „machte er ihm ein Zeichen“ (Gen 4,15). Was war das für ein Zeichen?
„Wie James Williams treffend bemerkt, ist das ‚Kainszeichen das Zeichen der Zivilisation [...]. Es ist das Zeichen des von Gott geschützten Mörders.‘[19] “ (112)
Das Kainszeichen ist das „Zeichen der Zivilisation“, d.h. das Zeichen, das Zivilisation ermöglicht und erhält. Worin besteht es? Es besteht in der Barmherzigkeit, denn ein Mörder verdient gerechte Strafe. Wenn Gott also Kain ein Zeichen gibt, das ihn vor Strafe und Gerechtigkeit beschützt, dann kann das nur Gottes unverdiente Gnade, Barmherzigkeit und Vergebung sein. Das Kainszeichen ist also kein anderes Zeichen als das „Zeichen des Kreuzes“, durch das allen Menschen und Sündern Gottes unverdiente Gnade zuteil geworden ist. Also spricht auch diese Geschichte in höchstem Maße vom „Kreuz Christi“, von Gottes vergebender und rettender Liebe. Sie trägt den Imperativ der Barmherzigkeit in sich, die Aussage, dass eine Zivilisation nur auf Barmherzigkeit und vergebender Liebe beruhen kann. Würden sich alle Menschen nur auf Gerechtigkeit berufen, würden sie niemals aus den mimetischen Zyklen und Opfermechanismen ausbrechen können. Sie würden sich selbst zerstören! Das, was die Gesellschaft trägt und ihren Frieden sichert, ist die Barmherzigkeit: die Barmherzigkeit Gottes und die Barmherzigkeit der Menschen. Ohne Barmherzigkeit und Vergebung würde es schon bald zu einem „Kampf aller gegen alle“ (Hobbes) kommen. Das ist die große moralische Pointe des Kainszeichens und – insofern es Sinnbild des Kreuzes ist – auch der ganzen Bibel.[20]
3.2. Der Triumph des Kreuzes
Durch die vorausgegangenen biblischen Beispiele wurde zur Genüge gezeigt, dass sich das Christentum wesentlich dadurch auszeichnet, dass es die mimetischen Opfermechanismen und Gewaltzyklennicht legitimiert und an ihnen (unbewusst) partizipiert, wie die Mythen, sondern sie durch das Kreuz aufdeckt, durchbricht und überwindet. Daher versteht Girard das Kreuz bzw. „die Passion Christi“ als hermeneutischen Schlüssel der mimetischen Theorie:
„Ja, es gibt eine paradoxe Einheit aller Religionen[21], das kann man sagen, auch wenn es nicht ungefährlich ist – und ich sage es auch nur im kleinen Kreis. Die mimetische Theorie will alle Formen der Religion erklären, eben weil sie alle vom wahren Monotheismus abhängen, der durch die endgültige Lösung des Sündenbock-Rätsels vollendet wurde: durch die Passion Christi.“[22]
Das „Wort vom Kreuz“(1 Kor 1,18) macht somit das Wesen, das Spezifikum und den „Triumph“ des Christentums aus:
„Er hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagten, aufgehoben. Er hat ihn dadurch getilgt, dass er ihn an das Kreuz geheftet hat.Die Fürsten und Gewalten hat er entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt; durch Christus hat er über sie triumphiert.“ (Kol 2,14-15)
Der Triumph des Kreuzes Christi besteht darin, dass er alle Menschen von ihren Sünden erlöst und von ihrer Schuld befreit hat. Ähnlich wie das Blut Abels „zum Himmel schrie“ und gegen Kain Anklage hielt, so „sprachen“ auch unsere Sünden „gegen uns“ und „klagten uns an“. Aber so wie das Kainszeichen das Blut Abels zum Schweigen brachte, so zeriss das Kreuz Christi auch unseren Schuldschein. Die Forderung nach Gerechtigkeit und Vergeltung, nach Strafe und Tod (vgl. Röm 1,32) wurde durch das Blut Christi am Kreuz aufgehoben und entkräftet, weil Christus „die Gerechtigkeit (die Gott fordert) ganz erfüllt“ hat (vgl. Mt 3,15). „Gestürzt wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie bei Tag und bei Nacht vor unserem Gott verklagte.“ (Offb 12,10) Der Satan, der Teufel, die alte Schlange wurde vom Himmel gestoßen und verlor seine Macht, da er nicht mehr die anklagen konnte, die durch das Blut des geopferten Lammes von aller Schuld gereinigt wurden (vgl. Offb 7,14). Durch das Sühneopfer Christi wurde also das mimetische Begehren nach einem Sündenbock und Opfer „ein für alle Male“ durchbrochen und beendet (vgl. Hebr 10,10).
„Die Weisheit Gottes wußte, daß dank dieses Todes der Opfermechanismus neutralisiert wird.“ (191)
Darin besteht die christliche Revolution und Neuheit. Weder die Mythen, noch das Gesetz vermochten „die Sünde der Welt hinwegzunehmen“ (Joh 1,29) und „alles im Himmel und auf Erden wieder zu versöhnen“ (Kol 1,20). Dies konnte nur das „fleischgewordene Wort Gottes“ vollbringen (vgl. Joh 1,14), am Kreuz durch sein Blut, „kraft ewigen Geistes“ (vgl. Hebr. 9,14).
3.3. Die göttliche Macht des Hl. Geistes
Es gibt nur eine Macht auf dieser Welt, die vermag, die Macht der teuflischen Mimetik zu durchbrechen, die Spirale der Gewalt zu beenden und Frieden zu stiften. Und das ist die göttliche Macht des Hl. Geistes:
„Die Auferstehung ist nicht bloß Wunder, Zauber, Überschreitung der Naturgesetze; vielmehr ist sie das spektakuläre Zeichen dafür, daß in der Welt eine dem mimetischen Furor überlegene Macht die Bühne betritt.“ (235) „Welche Macht ist es, die über die gewalttätige Mimetik triumphiert? Die Evangelien antworten, es sei der Geist Gottes, die dritte Person der christlichen Trinität, der Heilige Geist. Offensichtlich übernimmt er Regie. Es wäre beispielsweise falsch, von den Jüngern zu sagen, sie würden sich wieder ‚fassen‘: Es ist der Geist Gottes, der sie erfaßt und nicht mehr losläßt.“ (236)
Der Hl. Geist ist die göttliche Kraft des Christentums. Er ist das Prinzip der Hoffnung auf Erlösung, Heil und Frieden, denn er ist nicht von dieser Welt.Er ist eine übernatürliche, göttliche Kraft, die vermag, selbst den Tod zu überwinden (vgl. Joh 11,43-44). Er ist das Feuer der Apostel und Jünger Christi, der „das Angesicht der Erde erneuert“ (vgl. Ps 104,30) und dem sich keine Macht der Welt entgegenstellen kann:
„Am dritten Tag der Passion jedoch versammeln sich die verstreuten Jünger wieder um Jesus, den sie für auferstanden halten. In extremis geschieht hier etwas, was sich in den Mythen nie ereignet. Eine protestierende Minderheit tritt entschlossen gegen die Einmütigkeit der Verfolger auf. (...)Woraus schöpfte sie plötzlich Kraft, sich der Menge und den Behörden von Jerusalem zu widersetzen? Wie sich diesen Umschlag erklären, der allem zuwiderläuft, was wir über die unwiderstehliche Wirkung des mimetischen Furors erfahren haben? (...) Um die mimetische Einheit zu brechen, muß eine der gewalttätigen Ansteckung überlegene Macht angenommen werden; wenn wir aber im vorliegenden Essay nur etwas gelernt haben, dann das, daß auf dieser Erde keine solche Macht existiert.“ (234-235)
Der Hl. Geist ist also die einzige überirdische „Macht“ auf Erden, die wirklich vermag, die Macht des Bösen und den Bann der mimetischen Einheit zu brechen. Der Hl. Geist ist die übernatürliche „Sprache“ des Christentums, in dem, wie Giuseppe Fornari sagt, „die einzig wahre spirituelle Metasprache liegt, die allein fähig ist, die Sprache der Gewalt zu beschreiben und zu übersteigen“[23]. (233) Aber nicht nur durch Wunder, Zeichen und Heilungen (vgl. Lk 11,20), sondern vielmehr, wie gesagt, durch die Kraft der vergebenden Liebe und Barmherzigkeit, durch die die Macht des Satans gestürtzt wird. Dies sieht Girard auch und vor allem bestätigt in einem „vortrefflichen“ Namen des Hl. Geistes, nämlich im Namen „Paraklet“, was „Anwalt am Gericht, Verteidiger der Angeklagten“ bedeutet. Und mit diesem Namen und Dienst trifft er die zentrale Sendung und Mission des Geistes und der Kirche in der Welt mitten auf den Kopf:
„Die Entstehung des Christentums ist der Sieg des Parakleten über sein Gegenüber, Satan, dessen Name ursprünglich der Ankläger vor Gericht bedeutet, denjenigen, der mit der Aufgabe beauftragt ist, die Schuld der Angeklagten zu beweisen.“ (236)
Es gibt also zwei Anwälte: den Satan und den Hl. Geist. Der Satan ist der Anwalt der Gerechtigkeit. Der Hl. Geist ist der Anwalt der Barmherzigkeit. Die Aufgabe Satans ist es, die Schuld und Ungerechtigkeit der Menschen „Tag und Nacht“ bei Gott anzuklagen, damit ihnen Gericht, Strafe und Verdammnis zuteil werde. Die Aufgabe des Hl. Geistes ist es aber, die Gnade und Vergebung Gottes auf die Menschen herabzurufen, damit sie nicht gerichtet, sondern gerettet werden. Beide Anwälte kämpfen seit Anbeginn der Menschheit um die Seelen der Menschen: der Teufel für ihre Verurteilung und ewige Verdammnis, der Hl. Geist für ihre Rechtfertigung und Erlösung. Das ist der geistige Kampf, der sich auf Erden zwischen dem Satan und dem Hl. Geist, der in, mit und durch die Kirche wirkt, abspielt. Daher besteht zwischen dem Teufel und der Kirche eine geistige und immerwährende „Feindschaft“, die Gott selbst gesetzt hat (vgl. Gen 3,15). Bis zum Jüngsten Tag wird diese Feindschaft und dieser Kampf um die Rettung der Seelen andauern. Und darin besteht, wie gesagt, der zentrale Sinn der Sendung und Mission der Kirche in dieser Welt. Es ist ein ungeheuerlicher und atemberaubender Gedanke, dass Gott uns Menschen und Sünder beruft, um am „Sturz des Satans“ und der Rettung der Welt teilzuhaben und mitzuwirken:
„Wenn wir, wie hier gesehen, in Satan die gewalttätige Mimetik erkennen, können wir anfangen, den Herrscher dieser Welt endgültig zu diskreditieren, können die Entmystifizierungsdynamik der Evangelien vollenden und zu jenem ‚Sturz des Satan‘ beitragen, den Jesus den Menschen vor seiner Kreuzigung ankündigt. Die Offenbarungskraft des Kreuzes vertreibt die Finsternis, deren der Fürst der Welt bedarf, um seine Macht zu erhalten.“ (228)
Fazit: „Noch ein Jahr!“
Girard ist es tatsächlich gelungen, durch seine mimetische Theorie und seinen anthropologischen Ansatz, eine ausgezeichnete Apologie des Christentums zu leisten, wie es seine Absicht war. Er hat das Wesen, den Kern und das Spezifische am Christentum im Kontrast zu den heidnischen Mythen detailreich herausgearbeitet und die revolutionäre und einzigartige Bedeutung des Kreuzes für die Welt und Menschheit enorm deutlich gemacht. Durch seine Spitzenaussage, dass allein die „Religion des Kreuzes“ das Böse in der Welt besiegen und wahren Frieden stiften kann, verleiht er dem Christentum und seiner Moral neue Kraft und Frische – und unschätzbarenund bleibenden Wert. Darin besteht seine außerordentliche und hervorragende anthropologische Leistung.
Doch, auch wenn seine Theorie wahr ist, ist sie auch realistisch ? Kann das Christentum die Welt wirklich und praktisch verändern? Dazu äußert Gianni Vattimo seine ambivalente Meinung:
„Ich weiß zwar nicht, ob es die Erbsünde gibt, aber ich glaube, dass wir alle die Gewalt nicht nur erkennen, sie vielmehr vermindern müssen. Hierin ist der Anthropologe Girard dem politisch-christlichen Girard überlegen. In dem Sinn, dass wir seiner Ansicht nach, wenn diese Erkenntnis der anthropologischen Wahrheit Allgemeingut würde wie die der Wissenschaft, in einer gerechteren und weniger gewalttätigen Welt leben würden. Was die Wissenschaft betrifft, melde ich scharfe Kritik an, denn für mich verbindet sich Wissenschaft mit Technologie, was nichts anderes heißt, als der Welt eine rationale Ordnung aufzuzwingen (...), weshalb ich bei dieser Frage weiterhin von ihm abweichen werde. Ich habe mich nicht bekehren lassen und fürchte, Girard nicht bekehrt zu haben.“[24]
Zudem gelingt Girard durch seine „Sündenbock“-Theorie eine wunderbare Verteidigung gegen alle „pseudo-wissenschaftlichen“ Vorwürfe und Tendenzen, das Christentum als Mythos oder Gewaltreligion zu diskreditieren, wie esAngenendtschreibt:
„Was in solch negativen Deutungen und Polemiken deutlich wird, steht in nicht wenigen Punkten jenseits der wissenschaftlichen Daten und Fakten, rechnet wohl eher zur Psychologie des Abschieds vom Christentum. Tatsächlich möchte der französische Religionsphilosoph René Girard die Richtung der heute gängigen Argumentation direkt umkehren, und zwar anhand der von ihm vielbehandelten Sündenbock-Theorie, der zufolge die eigenen Vergehen immer einem anderen aufgeladen werden, eben dem Sündenbock. Wir seien nun dabei, erklärte Girard im März 2005 in einem Interview mit der Zeit,‚alle Übel dieser Welt den biblischen Religionen aufzubürden, und das tun wir ziemlich gut... So entlasten wir uns selbst ... Wenn das Christentum an allem schuld ist, dann müssen wir uns unsere heimliche Komplizenschaft mit der Gewalt nicht mehr eingestehen.‘[25] “[26]
Seinem Anspruch jedoch, der christlichen Theologie durch seinen anthropologischen Ansatz nicht zu widersprechen, wird er nicht vollkommen gerecht, da er den Satan und Teufel der Bibel ausschließlich auf das nicht-personale Prinzip der Mimetik reduziert, was natürlich nicht mit dem katholischen Glauben vereinbar ist, der im Satan und den Teufeln „gefallene und personale Geister“sieht (vgl. KKK 391). Aber solch eine exklusive Reduzierung ist auch gar nicht nötig, denn es spricht ja nichts dagegen, hinter der non-personalen Mimetik, das personale Böse zu sehen, dass sich die mimetischen Naturgesetze zu eigen macht und sie für seine Anliegen ausnützt. Nichts spricht also dagegen hinter der mimetischen Versuchung, der Mimetik selbst, einen personalen Versucher zu sehen, der zur Versuchung reizt und anstiftet. So verstanden können christliche Dämonologie und anthropologische Mimetik problemlos vereint werden.
Am Schluss soll noch einmal das Wort vom Geist als Parakleten, als „Anwalt“ wiederholt und vertieft werden. Es gibt „zwei Lager“ auf dieser Welt, das „Lager Satans“ und das „Lager Christi“ (Ignatius von Loyola).[27] Daher gibt es letztlich nur zwei Herren und zwei Dienste auf der Welt: entweder man dient Gott oder dem Teufel, Christus oder dem Satan (vgl. Mt 6,24;12,30). Gott will das Heil der Seelen, der Teufel will ihr Verderben. Da aber alle Menschen Sünder sind (vgl. Ps 51,7; 130,3; Mt 7,11; Joh 8,7; Röm 3,23), kann sich kein Mensch selbst, d.h. durch eigene Werke und eigene Gerechtigkeit retten (vgl. Mt 19,26; Gal 2,16). Daher klagt der Teufel die Menschen „bei Tag und bei Nacht“ vor Gott an (vgl. Offb 12,19), damit sie von Gott gerecht bestraft und verurteilt werden, denn, wenn Gott die Menschen gerecht richten würde, „wer könnte dann bestehen?“ (Ps 130,3) Daher steht der Teufel im Dienst der Gerechtigkeit, d.h. er ist der Anwalt der Gerechtigkeit. Das ist seine Aufgabe und sein Dienst, nämlich bei Gott Tag und Nacht um Gerechtigkeit zu flehen, d.h. die gerechte Strafe auf die Menschen herabzurufen, damit sie gerichtet und für ewig verdammt werden. Anders ist der Dienst Gottes. Da die Menschen nur durch die Gnade und das Erbarmen Gottes gerettet werden können (vgl. Gal 2,16.21), besteht der Dienst Christi darin, bei Gott Tag und Nacht um Barmherzigkeit zu flehen, d.h. die Gnade und Vergebung Gottes auf die Menschen herabzurufen, damit sie nicht verdammt, sondern gerettet werden. Daher ist Christus der Anwalt der Barmherzigkeit. Daher besteht der teuflische Dienst darin, Anwalt der Gerechtigkeit zu seinund der göttliche Dienst darin, Anwalt der Barmherzigkeit zu sein.
Ein hervorragendes Beispiel für einen Anwalt der Barmherzigkeit ist Mose am Sinai (Ex 32). Als sich nämlich das Volk gegen Gott versündigte und das „goldene Kalb“ anbetete, entbrannte der Zorn Gottes und Gott „bat“ Mose förmlich, ihm zu erlauben, das Volk zu bestrafen: „Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt!“ (Ex 32,10) Gott, der Herr, bittet Mose, den Knechten, ihn zu lassen, damit er strafen könne. Unglaublich! Hier kommt die Gerechtigkeit Gottes zum Vorschein, der „keinen Spott mit sich treiben lässt“ (Gal 6,7) und „den Sünder nicht ungestraft lässt“ (Ex 34,7). Doch noch viel unglaublicher ist die Antwort von Mose: „Lass ab von deinem glühenden Zorn und lass dich das Böse reuen, das du deinem Volk antun wolltest!“ (Ex 32,12) Mose setzt sich für das Volk ein! Er bittet und fleht um Barmherzigkeit, Gnade und Vergebung für die Sünder! Er wird zum Anwalt der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit. Warum? Weil er sein Volk liebt und es retten will. Doch was wird der allmächtige und ewige Gott schon auf das Betteln und Winseln eines winzigen Geschöpfes geben? Er ist Gott – Mose ist nur ein Geschöpf! Er ist der HERR, der Allmächtige, der, der ist (Ex 3,14) – aber Mose ist nur „Staub“ (Gen 3,19). Sollte Mose tatsächlich von Gott erhoffen, dass er auf ihn hört, dass er sich seinetwegen „bückt“ und „den Stein fallen lässt“, mit dem er auf das störrige Volk zielt? Siehe da! Tatsächlich! Gott lässt ab von seiner Strafe: „Da ließ sich der Herr das Böse reuen, das er seinem Volk angedroht hatte.“ Auf die Worte, Bitten und Flehen von Mose hin wurde der Allmächtige zur Umkehr bewegt! Ein kleiner Mensch und Mann hat es geschafft, die Hand und das Herz des Allerhöchsten zu bewegen! Wie das? Durch die Kraft des Hl. Geistes! Welches ist seine Kraft? Es ist die Kraft der Barmherzigkeit und Vergebung! Das ist die göttliche Kraft des Hl. Geistes, durch die Mose das größte aller Wunder vollbracht hat! Welches? Er hat seinen Brüdern das Leben gerettet! Seine Fürsprache hat ihnen die Gnade und Vergebung Gottes erlangt! Das ist ein wahrer Anwalt Gottes, der vor dem Tod bewahrt und Leben schenkt!Natürlich war es die göttliche Gnade und Vorsehung selbst, die in Mose bewirkte, dass er um sie flehte, so dass sich Gott in Wahrheit schon, bevor Mose um sie flehte, über sein Volk erbarmen wollte (vgl. Röm 9,15; Phil 2,13), aber die Pointe ist, dass er sich durch Mose, auf seine Fürsprache und Bitten hin erbarmen wollte! Warum? Um uns klar zu machen, dass er die Welt nur durch uns und mit uns retten will, damit wir an der Rettung der Seelen teilhaben und für sie aktiv mitwirken ! Ja, man könnte sagen, damit wir zu „Mitarbeitern Gottes“ (1 Kor 3,9; 3 Joh 8) und zu Miterlösern werden! Das bedeutet es, Anwalt der Gnade und Barmherzigkeit Gottes zu sein!
Und Genau das hat Jesus am Anfang seiner Sendung und Mission programmatisch ausgerufen: „Der Geist des Herrn ruht auf mir… er hat mich gesandt, ein Jahr der Gnade auszurufen!“ (Lk 4,18-19) Das ist es, was mit dem Sieg und Triumph Christi begonnen hat: das „Jahr der Gnade“, „die Zeit der Gnade“! Deswegen ruft Paulus aus: „Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung!“ Was meint er damit? Was ist das für ein Tag und für eine Zeit? Das ist die Zeit, die den Menschen noch bleibt, bis zur Wiederkunft Christi! Die Zeit der Gnade, in der die Menschen noch Zeit haben, sich zu bekehren und gerettet zu werden! Denn der Tag des Herrn, der „Tag des Zorns und Gerichts“ kommt, das ist sicher (vgl. Jes 13,9). Das ist der Tag und die Zeit der Gerechtigkeit. Dann wird Gott mit der Welt Strafgericht halten (Mt 25,31f). Aber bevor es zu diesem Tag kommt, ist den Menschen „ein Jahr der Gnade“ zur Bekehrung und Rettung geschenkt. Deswegen sagt der hl. Petrus: „Das eine aber, liebe Brüder, dürft ihr nicht übersehen: dass beim Herrn ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind.Der Herr zögert nicht mit der Erfüllung der Verheißung (seiner Wiederkunft), wie einige meinen, die von Verzögerung reden; er ist nur geduldig mit euch, weil er nicht will, dass jemand zugrunde geht, sondern dass alle sich bekehren.“ (2 Petr 3,8-9) Gott ist, wie wir oben gesehen haben, ein gerechter Richter, ohne Zweifel, aber, weil er auch und erst recht ein barmherziger Erlöser ist und „will, dass alle Menschen gerettet werden“ (1 Tim 2,4), lässt er den Menschen in seiner unendlichen Gnade und Barmherzigkeit noch Zeit zur Umkehr. Daher ist diese Zeit, in der wir leben, so unschätzbar kostbar und wertvoll! Das ist die Zeit der Gnade und Umkehr!Sehr schön bringt dies Jesus im Gleichnis vom Feigenbaum zu Ausdruck:
„Und er erzählte ihnen dieses Gleichnis: Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum; und als er kam und nachsah, ob er Früchte trug, fand er keine. Da sagte er zu seinem Weingärtner: Jetzt komme ich schon drei Jahre und sehe nach, ob dieser Feigenbaum Früchte trägt, und finde nichts. Hau ihn um! Was soll er weiter dem Boden seine Kraft nehmen? Der Weingärtner erwiderte: Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen. Vielleicht trägt er doch noch Früchte; wenn nicht, dann lass ihn umhauen.“ (Lk 13,6-9)
Fast in keinem anderen Gleichnis kommt das Verhältnis der göttlichen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit besser zu Ausdruck als hier. Der Feigenbaum sind wir. Er bringt keine Früchte. Das erregt den Zorn des Besitzers. Das ist Gott, der Vater. Er befiehlt seinem Weingärtner, sc. Jesus, seinem Sohn, ihn umzuhauen, also uns für unsere Sünden gerecht zu bestrafen. Hierin kommt die Gerechtigkeit Gottes zu Ausdruck (vgl. Mt 3,10). Doch der Weingärtner bittet den Besitzer, „noch ein Jahr“ zu warten. Er will dem Baum helfen und den Boden um ihn herum düngen. Das ist Christus. Er weiß, dass wir schwach und erlösungsbedürftig sind und uns selbst nicht retten können (vgl. Mt 26,41; Röm 7,24). Daher ist er auf diese Welt gekommen, um uns seine Gnade, seinen Geist und sein „Feuer“ zu bringen (vgl. Lk 12,49), damit die Liebe des Hl. Geistes unsere Herzen wieder lebendig, kraftvoll und fruchtbar macht (vgl. Röm 5,5). Der Dünger des Weingärtners ist der Hl. Geist, der den Baum, uns, retten soll. Darin besteht die Gnade und Barmherzigkeit Christi. Anstatt uns zu verurteilen und richten („Hau ihn um!“), erbarmt er sich unser und „düngt den Boden unseres Herzens“ mit seinem Geist. Er will uns von unserer geistigen Krankheit und Unfruchtbarkeit erlösen, damit wir anfangen, nach dem Willen Gottes zu leben und entsprechende Früchte zu bringen. Und dann kommen die wunderbar-schrecklichen Worte: „Lass ihn noch ein Jahr! Vielleicht bringt er noch Früchte!“ Das ist die Zeit der Gnade. „Aber wenn nicht, dann lass ihn umhauen.“ Das ist die Zeit der Gerechtigkeit. Die Pointe an der ganzen Geschichte ist: die Gerechtigkeit kommt so oder so! Früher oder später ist sie da! Mit uns oder ohne uns! Sie ist unumgänglich und niemand kann dem gerechten Gericht Gottes entkommen. Das bedeutet, dass wir für die ausgleichende Gerechtigkeit und Strafe nicht beten müssen, sie kommt von alleine. Für sie betet nur der Teufel, der will, dass die Zeit der Gnade so schnell wie möglich aufhört. Die Gerechtigkeit braucht keine Anwälte. Sie hat schon genügend Teufel, die sie täglich anrufen. Aber, und das ist das große Aber!, die Barmherzigkeit braucht umso mehr Anwälte! Denn ihrer sind auf der Welt nur wenige! Heilige und demütige Seelen, die durch ihre Gebete und Opfer die Barmherzigkeit und Gnade Gottes Tag und Nacht auf die armen Sünder herabflehen! Sie sind es, die diese Welt noch tragen und das Gericht Gottes von uns abhalten! Sie sind es, die dem Satan „Ketten anlegen“ und ihn „für tausend Jahre binden“ (vgl. Offb 20,1-2)! Sie sind es, die zu seinem Sturz beitragen – die Macht des Bösen brechen – die Spirale der Gewalt beenden und den Frieden auf Erden sichern!
„Noch ein Jahr!“– Noch ein Jahr ist uns vom Herrn gegeben! Noch ein Jahr, in der wir die Gnade und Barmherzigkeit des Herrn in ihrer ganzen Fülle und Weite erflehen und auf die Welt herabrufen können! Der Tag des Herrn wird kommen, der Tag der Gerechtigkeit und des Zorns, ob wir wollen oder nicht! Aber es liegt an uns, an unseren Gebeten, an unserem Glauben, an unserer Hoffnung, an unserer Liebe, an unseren Opfern und an unserer Mitwirkung und Teilhabe am Erlösungswerk Gottes, ob das Jahr der Gnade „vielleicht doch noch Früchte bringt“ ! – Noch ein Jahr ist uns gegeben, damit wir das dritte Jahrtausend, das vor uns liegt, in ein Jahr der Gnade verwandeln, in ein Jahr der Barmherzigkeit, in ein Millenium des Friedens.
Literaturliste
Primärquellen
- Girard, René, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, München 2002.
- FranzösischeOriginalausgabe: „Je vois Satan tomber comme l’éclair“, Éditions Grasset &Fasquelle, Paris 1999.
- Ders., Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Aus dem Französischen übersetzt von August Berz, Freiburg im Breisgau 1983.
- FranzösischeOriginalausgabe: „Des choses cachées depuis la fondation du monde“, Éditions Grasset &Fasquelle, 1978.
- Ders., Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1992.
- FranzösischeOriginalausgabe: „La violence et le sacré“, Bernard Grasset, Paris 1972.
Sekundärliteratur
- Angenendt, Arnold, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 22007.
- Aristoteles, Poetik.
- Assheuer, Thomas, Jesus, unser Sündenbock. Was das Christentum über menschliche Gewalt lehrt: Ein Gespräch mit dem Religionsphilosophen René Girard, im Internet: http://zeus.zeit.de/text/2005/13/Interview_Girard (12.05.2005, 11:32).
- Denzinger-Schönmetzer (DS) bzw. Denzinger-Hünermann (DH), Enchiridion Symbolorum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen.
- Fornari, Giuseppe, Labyrinthine Strategies of Sacrifice: The Cretans by Euripides, in: Contagion (1997).
- Girard, René, Gewalt und Religion. Ursache oder Wirkung?, Wolfgang Palaver (Hrsg.), Berlin 2010.
- Ders., Mimetische Theorie und Theologie, in: Józef Niewiadomski/ Wolfgang Palaver (Hrsg.), Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag, Thaur: Kulturverlag, 1995.
- Ders. –Vattimo, Gianni, Christentum und Relativismus, eigl. und hrsg. von Pierpaolo Antonello, üb. von Christine Boesten-Stengel, Freiburg im Breisgau 2008.
- Ignatius von Loyola, Exercitiaspiritualia.
- Johannes Paul II., Papst, Katechismus der Katholischen Kirche, 1994.
- Philostratos, Das Leben des Apollonios von Tyana, Griechisch-Deutsch, Hg., üb. und erl. von Vroni Mumprecht, München – Zürich 1983, 4. Buch, Kap. X, S. 364, 365-366, 367.
- Williams, James, The Bible, Violence and the Sacred,San Francisco 1991.
- II. Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution: Gaudium et Spes.
[...]
[1] René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh, München 2002. – Künftig wird dieses Werk nur durch Seitenzahlen in Klammern, z.B. (12), zitiert.
[2] Mit diesem Zitat beginnt Girard die anthropologische Grundlegung seiner mimetischen Theorie in: René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Aus dem Französischen übersetzt von August Berz, Freiburg im Breisgau 1983, S. 13.
[3] Adam und Eva „begehrten“ nach der verbotenen Frucht. Das war der Anfang und Ursprung ihres Falls.
[4] Man denke hier z.B. an die Maslow´sche Bedürfnispyramide, die von den allgemeinen, natürlichen und lebensnotwendigen Bedürfnissen des Menschen spricht, die im Menschen vielfältige leibliche, seelische und geistige Begehren verursachen.
[5] „Mimesis“ (altgr. μίμησις) = Nachahmung.
[6] Girard geht sogar so weit, zu behaupten, dass die Menschen „kein eigenes Begehren (haben). Das Eigentümliche des Begehrens ist es, daß es dem Menschen nicht eigen ist. Um wahrhaft zu begehren, müssen wir auf die uns umgebenden Menschen zurückgreifen, wir müssen ihnen ihre Begehren entleihen.“ (31)
[7] René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1992, S. 11.18.33.62.
[8] Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 22007, S. 52.
[9] Philostratos, Das Leben des Apollonios von Tyana, Griechisch-Deutsch, Hg., üb. und erl. von VroniMumprecht, München – Zürich 1983, 4. Buch, Kap. X, S. 364, 365-366, 367.
[10] Allerdings nennt Girard das Wunder von Ephesus nur einen „Teilmythos“ (92), da hier das Opfer nicht divinisiert, sondern „dämonisiert“ wird, weil die „verklärende (= divinisierende) Macht in Apollonios` Wundertat nicht stark genug“ war. (91)
[11] Vgl. Heraklit: „Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Auch wenn dieses Zitat in seinem philosophischen Kontext gesehen werden muss, wird darin die mythische Moral deutlich, für die es ohne Gewalt keine Lösung und keine Entstehung von Frieden gibt. Krieg und Gewalt sind demnach auch der Vater des Friedens.
[12] Den heidnischen „Zirkusspielen“ entsprechen die heutigen Hollywood-Kinofilme, die voller Gewaltverherrlichung sind. Das stört die Zuschauer aber nicht, da die Gewalt 1. nicht real ist und 2. inhaltlich durch ihren Zweck gerechtfertigt wird. Die mythische Moral „Der Zweck heiligt die Mittel“ bzw. „Der Frieden rechtfertigt die Gewalt und das Opfer“ wird also auch heute noch in den Kinofilmen „verlängert und perpetuiert“ – und das mit der Begeisterung und dem Beifall der Zuschauer, die sich der unmoralischen Illusion nicht bewusst sind, der sie bewusst oder unbewusst zustimmen.
[13] So leugnete z.B. Hans Küng die Unfehlbarkeit des Papstes, indem er die Unfehlbarkeit seiner eigenen Kritik voraussetzte. Er negierte also theoretisch das, was er selber praktisch affirmierte. So hat er sich selbst widerlegt und das Prinzip der Unfehlbarkeit dadurch umso mehr bestätigt und bekräftigt. Vgl.: „Si nulla veritas est, verum est nullamveritatem esse.“ (Hl. Bonaventura)
[14] Daher konnte Mose, der symbolisch für das Gesetz steht, das gelobte Land nur „ sehen “, aber „nichthineinkommen“ (Dtn 32,52), damit klar wird, dass Gerechtigkeit und Heil „nicht durch das Gesetz und Menschenwerke“ kommen, sondern allein durch die göttliche „Gnade und den Glauben an Christus“ (vgl. Gal 2,16.21).
[15] Gemeint sind keine leiblichen Brüder oder Verwandte Jesu, sondern seine Jünger (vgl. Mt 28,10; Joh 20,17). Die rhetorische Parallelität soll lediglich die moralische Parallelität und Ähnlichkeit unterstreichen.
[16] Hiermit ist die obige „Lüge und der Trick des Teufels“ gemeint, der im Namen der Gerechtigkeit Gewalt legitimiert und dadurch in Wahrheit zur Ungerechtigkeit wird.
[17] DS = Denzinger-Schönmetzer bzw.Denzinger-Hünermann (DH), Enchiridion Symbolorum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen; GS = Pastorale Konstitution: Gaudium et Spes (II. Vat.); KKK = Katechismus der Katholischen Kirche.
[18] René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, S. 150.
[19] James Williams, The Bible, Violence and the Sacred,San Francisco 1991, S. 185.
[20] Es gibt die Theorie, dass Kain von Gott ein Kreuz bzw. „Tau“ auf die Stirn bekam als sinnbildliches Zeichen der christlichen (Tauf-)Gnade. Man könnte also sagen, dass der ungerechte Kain der erste getaufte Mensch war, denn durch das Zeichen an seiner Stirn wurde ihm – wie bei der Taufe – seine Ungerechtigkeit nicht angerechnet, seine Schuld vergeben und sein Leben in die unverdiente Gnade Gottes gestellt.
[21] Zitiert in: René Girard, Mimetische Theorie und Theologie, in: JózefNiewiadomski/ Wolfgang Palaver (Hrsg.), Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag, Thaur: Kulturverlag, 1995, 15-29,27.
[22] René Girard, Gewalt und Religion. Ursache oder Wirkung?, Wolfgang Palaver (Hrsg.), Berlin 2010.
[23] Giuseppe Fornari, Labyrinthine Strategies of Sacrifice: The Cretans by Euripides, in: Contagion (1997), S. 187.
[24] René Girard – Gianni Vattimo, Christentum und Relativismus, eigl. und hrsg. von Pierpaolo Antonello, üb. von Christine Boesten-Stengel, Freiburg im Breisgau 2008., S. 45.
[25] Thomas Assheuer, Jesus, unser Sündenbock. Was das Christentum über menschliche Gewalt lehrt: Ein Gespräch mit dem Religionsphilosophen René Girard, im Internet: http://zeus.zeit.de/text/2005/13/ Interview_Girard (12.05.2005, 11:32).
[26] Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, S. 80-81.
[27] Das ist die Grundannahme der Unterscheidung der Geister in den „exercitiaspiritualia“ (geistlichen Übungen) des Hl. Ignatius.
- Arbeit zitieren
- Diplom-Theologe Petar Komljenovic (Autor:in), 2015, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in den Mythen und im Christentum bei René Girard, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310665