Die negative Integration der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert

Warum fand die negative Integration der Arbeiter vorwiegend in den Großstädten statt?


Essay, 2012

8 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Wenn man an die Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert denkt, dann ist meist ein klares Bild vom hart arbeitenden Arbeiter in engen und stickigen Industrieanlagen präsent. Der Arbeiter hatte meist viele Kinder und eine geringe Bildung, lebte in der Großstadt in einer engen Mietskaserne und hat aus Hoffnung auf ein besseres Leben Landflucht begangen, um dann von der harten Realität eingeholt zu werden. Doch die soziale Lage in der Industrie war hart und durch mangelnde Arbeitsschutzgesetze war Jeder zum Arbeiten für einen Hungerlohn gezwungen. Mit dem aufkeimenden Sozialismus jedoch und der Gründung einer Arbeiterpartei schien sich die Lage für die Arbeiterschaft zu verändern. Durch die Bismarckschen Sozialgesetze wurden die Lebensbedingungen für die Arbeiter nachhaltig verändert, doch die politische Integration in die deutsche Gesellschaft wurde damit nicht erreicht. Außerdem gewährleistete Bismarck den Arbeitern zwar die Fürsorge, aber nicht den Schutz in ihrer Rolle als Arbeiter. An dieser Stelle versucht der Essay anzuknüpfen und sich mit der Frage zu beschäftigen, warum die negative Integration, also die Integration in die Arbeitersubkultur, nur für ein Bruchteil der Arbeiter möglich war. Mooser, welcher neben Lepsius und Groh für den Essay herangezogen wird, spricht von Zahlen, die den Mythos widerlegen, dass die Arbeiter nach einer gescheiterten positiven Integration sich in die Subkultur etablierten1. Die Zahlen zeigen, dass lediglich ein Achtel der SPD- Wähler in einem Freizeitverein organisiert waren. Der oben genannte Mythos ist einer der Gründe dafür, nämlich die Definition eines Arbeiters.

Die Arbeiterschaft als solche ist, entgegen des Klischees, vielschichtiger und keineswegs homogen. Natürlich hat sich die Industrie in den großen Zentren wie Hamburg, dem Ruhrgebiet oder Berlin angesiedelt, allerdings wird damit die Dimension der ländlichen Industrie verkannt. Ein ebenso wichtiger Anteil besteht aus Nicht-Deutschen, hauptsächlich Polen, und Katholiken, doch diese Gruppen konnten nicht von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands eingefangen werden, weil sich diese Gruppe zu sehr auf ihr Milieu konzentriert. Dieser Essay jedoch legt seinen Fokus mehr auf den Gegensatz zwischen Stadt- und Landarbeiterschaft, welcher in vielerlei Hinsicht auseinanderklafft. Wie bereits erwähnt, findet der Prozess der Isolierung statt. Dieser wird von Lepsius in zwei Ebenen unterteilt: „politisch, indem ihr die nationale Loyalität bestritten wird, sozial, indem sie auf ein spezifisches sozialkulturelles Milieu beschränkt bleibt.“2

Diese beiden Prozesse bedingen sich gegenseitig sehr stark, denn die SPD versuchte, die Arbeiter in die deutsche Gesellschaft einzugliedern. Das Bürgertum allerdings sah in den Arbeitern und deren sozialistischen Bestrebungen eine Gefahr für die bürgerliche Ordnung und wehrte die Assimilation ab, indem sie den Arbeitern ihre Loyalität Deutschlands abstritten, obwohl diese, ohne jede Frage, vorhanden war. Aufgrund dessen intensiviert sich der Rückzug in das sozial- demokratische Milieu und koppelt die Arbeiter stärker an ihresgleichen. Durch diese Entsagung an den Versuch, sich an das Bürgertum anzunähern, wurden deren Vorbehalte den Arbeitern gegenüber, welche nun ausschließlich in ihrem Milieu tätig waren, noch verstärkt.

Dieser Prozess der negativen Integration, welcher ursprünglich von Gunther Roth skizziert wurde, also der Integration in die Subkultur anstatt in die Gesellschaft, war jedoch nicht für jeden Arbeiter möglich, wie es dieser Essay zu belegen versucht. Nach der gescheiterten politischen Integration der Arbeiter wurde nun in der Subkultur eine Ersatzbefriedigung geschaffen. Lepsius nennt „Partei, Gewerkschaften, Bildungs-, Wohlfahrts-, Sport- und Geselligkeitsvereine“3, wobei das Spektrum, welches sich im Kaiserreich herausbildete, wesentlich größer ist. Diese Vielzahl an Vereinen ermöglichte es den Arbeitern, sich nach der Arbeit den Freizeitaktivitäten hinzugeben. Das große Problem für die SPD, welches sich jedoch erst später als solches herausstellt, ist die reine Fixierung der Arbeiter auf ihr Milieu. Die Arbeiter- organisationen konnten sich durch die wachsende Mitgliederzahl stabilisieren, doch diese Verhärtung führt auch zu einer Bewegungsunfähigkeit. Die Masse der Arbeiter wuchs, aber nicht deren politischer Einfluss, weil sich durch den Rückzug in das Milieu eine gewisse Entpolitisierung bemerkbar machte. Groh, welcher sich in seinem Werk „Negative Integration und revolutionärer Attentismus“4 auf Roths Terminus stützt, jedoch den Begriff der negativen Integration noch weiter ausbaut, spricht von einer Umleitung der revolutionären Kräfte in die Organisationen5.

Dieser Prozess lässt sich anhand des großen Revisionismusstreits in der SPD Ende des 19. Jahrhunderts erklären. Dieser wurde durch SPD- Mitglieder entfacht, welche meinten, dass sich die Forderungen nach der Abschaffung des Kapitalismus und des Klassenkampfes zu Sozialreformen gewandelt haben. Auch wenn die Parteispitze diese Richtung ablehnte, so ist durch die Sozialgesetze und die Gewerkschaftspolitik eine starke Tendenz zum Revisionismus zu bemerken. Auch die Subkultur tat ihr Übriges dazu bei, indem sie die Arbeiter in ihrer Freizeit mit Kultur und Sozialem beschäftigte, anstatt diese weiterhin für ihre politischen Rechte kämpfen zu lassen. Groh fasst die Kautskysche Theorie so zusammen, „daß die deutsche Sozial- demokratie zwar eine revolutionäre, aber keine Revolutionen machende Partei sei“.6 Aufgrund der Fixierung auf das Arbeitermilieu wurden zwar nicht die Werte der Partei begraben, aber die Fähigkeit, eine Revolution zu gestalten, war durch Unterordnungen und anderweitiger Orientierung verloren gegangen. Der Revisionist Eduard Bernstein nannte dieses gut organisierte und stark anwachsenden Milieu einen „Staat im Staate“7. Dieser Terminus repräsentiert die Sichtweise, wie die sozial- demokratische Subkultur wahrgenommen wurde, nämlich als so gut organisiert, aber ohne Bezug zum übergeordneten 'Staat'.

Die oben genannten Vereine entstanden vor allem in den Arbeiterhochburgen und boten Arbeitern und deren Familien beispielsweise, sich in Bildungsvereinen weiterzubilden, einem Chor in Singvereinen beizuwohnen oder in Konsumvereinen vergünstigt einzukaufen. Die meisten Vereine jedoch, mit Ausnahme des Konsumvereins, kosteten Zeit und Geld, sodass sich die bessergestellten Arbeiter diesen Luxus erlauben konnten. Die damit einhergehenden Wirkungen der Subkultur beschränkten sich also nur auf qualifizierte und bessergestellte Arbeiter. Aus diesem Kreis entwickelte sich später die sog. Arbeiteraristokratie, welche im sozialdemokratischen Milieu sozialisiert wurde, gebildet war und die spätere Generation der SPD-Führung stellte. Die oben genannten bürgerlichen Züge der großstädtischen Arbeitersubkultur stehen im starken Kontrast zu den Landarbeitern jener Zeit, aber auch zu den polnischen Arbeitern. Diesen wurde der Zugang zu der Subkultur verwehrt, weil die Arbeiterbewegung versuchte, sich für das deutsche Reich einzusetzen und die Vorbehalte des Bürgertums gegen den Illoyalität zu verwerfen. Dabei bestand die Arbeiterschaft vorwiegend aus deutschstämmigen und der Versuch einer nationalen Gleichstellung schwächte die Ziele der SPD.

Der Arbeiter in der Großstadt war ein entwurzelter Mensch, welcher keinen starken Bezug zur Religion hat und sich ganz in das Gefüge des modernen Industriekapitalismus und der Lohnarbeit integriert. Der Landarbeiter hingegen entspricht nicht diesem Bild eines Arbeiters, da die Tradition eine tragende Rolle auf dem Land spielte. Des Weiteren ist durch Verwandtschaftsverhältnisse die Verbandelung mit der besitzenden Schicht tief verankert. Da es auf dem Land häufig der Fall war, dass auch Arbeiterfamilien ein Haus besaßen und in diesem Fall auch einen Hof, so war die Abhängigkeit von der Lohnarbeit geringer und eine Nebenerwerbsquelle vorhanden.

Die subkulturellen Vereine spielten bei den Landarbeitern eine geringere Rolle, da diese bereits in ländlichen, Schichtübergreifenden Vereinen organisiert wurden. So ist die Bindung an einen Gesangsverein üblich, jedoch nicht mit weiteren Arbeitern, sondern mit Menschen aus der Dorfgemeinschaft. Auch die Kirchenbindung ist auf dem Land noch ein wichtiger Faktor des Soziallebens und, im Gegensatz zur Großstadt, durch Tradition verstärkt worden. Mooser beschreibt dieses Phänomen durchaus treffend: „Während das die lokale Sozialintegration förderte, wurden umgekehrt die Arbeiter wegen dieser Bindungen von den städtischen Arbeitern oft als >>rückständig<< und als >>Bauern<< verachtet.“8 Wichtig dabei ist jedoch, dass die Landarbeiter sich nicht nur über ihre Tätigkeit definierten, sondern über ihr soziales Gefüge und so auf eine höhere Akzeptanz der besitzenden Gruppen stießen. Diese Grenze jedoch vermag das Milieu nicht zu überschreiten, denn es bleibt weiterhin auf die städtische Arbeiterschaft fixiert.

Diese entwickelte in ihrer homogenen Subkultur eine „Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung“9 und tolerierte nicht das ländliche Arbeitervolk, weil diese außerhalb der Grenze der Homogenität standen. Groh nennt dieses Phänomen einen „Organisationspatriotismus“10 Doch nicht nur aus sozialen Gründen erfolgte keine Akzeptanz, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Die Landarbeiter wurden in anderen Sektoren der Industrie tätig, welche sich vorwiegend aus der provinziellen Manufaktur entwickelten, z.B. die Textilindustrie oder die Holzindustrie. Für diese Tätigkeiten wurden geringere Qualifikationen benötigt, sodass sich die städtische Arbeiterschaft durch eine bessere Ausbildung von den Landarbeitern abhob, obwohl diese für dasselbe einstanden.

Diese Abgrenzung zeigt deutlich das Problem, welches die Arbeiterbewegung zu dieser Zeit hatte. Durch die mangelnde Einigkeit konnten die Arbeiter nur bedingt für ihre Rechte einstehen und, obwohl die SPD mehr als 4 Millionen Stimmen 1912 erzielte, repräsentierte sie nur einen geringen Anteil der Arbeiter. Des Weiteren wurden bei Wahlen weniger die daraus resultierende Macht, als vielmehr die Wahlerfolge beachtet, da diese, aufgeheizt durch Engels' Theorie, die Voraussage des kommenden Sozialismus' repräsentierten. Durch die Abgrenzung in viele Richtungen konnte die Arbeiterpartei nicht alle katholischen Arbeiter für sich gewinnen, da diese sich eher der Tradition zugehörig fühlten und nicht durch die Arbeiterschaft repräsentiert wurden. Die Gesamtheit der Arbeiter ist wesentlich vielschichtiger und heterogener, als sie dargestellt wird. Eine Differenzierung des Arbeitermilieus ist bei näherer Betrachtung essentiell, da die städtischen Industriearbeiter nicht den Rest der Bewegung widerspiegelten, sondern nur ihren homogenen Kreis im Rahmen der Subkultur.

Nun stellt sich die Frage nach den Gründen, welche dazu führten, dass die Landarbeiter nicht vollständig in die Subkultur integriert wurden. Auch hier ist eine Teilung zwischen den Arbeitern der 1. und denen der 2. Generation vorzunehmen. „Die angedeuteten Faktoren der Teilintegration trafen daher häufiger zu für Arbeiter, die aus der Bauernschaft stammten [...]“11. Die graduellen Unterschiede zwischen den 'neuen' Arbeitern und denen, die bereits aus einer Arbeiterfamilie stammen, sind essentiell, da erstere noch stärker in das kommunale Sozialgefüge integriert waren und sich eher über ihr Herkunft, als über ihren Beruf definierten. Bei den Arbeitern der 2. Generation vollzog sich ein Wandel der Selbstreflexion der Tätigkeit und der Stellung in der Dorfgemeinschaft. Mooser spricht von „Inseln >>proletarischer Provinz<<, die in spannungsvollem Kontrast zu ihrer agrarischen Umgebung standen“12. Die ländlichen Gebiete waren größtenteils präkapitalistisch geprägt und die Entwicklung einer Arbeiterschaft in einem traditionellem Gebiet führt dementsprechend zu Konflikten. Für das Arbeitermilieu in der Großstadt war dieser Konflikt ein ständiger Begleiter und vermutlich auch der Grund dafür, dass die Abgrenzung vom Bürgertum und den restlichen präkapitalistischen Ständen eine Notwendigkeit war, um sich zum Arbeitermilieu zu zählen. Da die Landarbeiter der 1. Generation jedoch noch in ihrer heterogenen, kommunal verwachsenen Gruppe agierten, wurden sie von den städtischen Arbeitern, wie bereits erwähnt, kaum akzeptiert und dementsprechend nicht integriert. Die Fixierung des Großstadtarbeitertums auf die eigene Subkultur führte dazu, dass das politische System, welches diesen Prozess gefördert hatte, bestehen blieb und nicht verändert wurde.

Literaturverzeichnis:

Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt 1973.

Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80.

Josef Mooser: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Klassenlagen,

[...]


1 „Die Freizeitvereine [...] zählten 1912/13 […] eine halbe Million Mitglieder […] und die SPD 1912 4,3 Mio. (männliche) Wähler gewann“. Josef Mooser: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Klassenlagen, Kultur und Politik. Frankfurt am Main 1984.

2 Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80. S. 73

3 Ders., S. 75.

4 Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt 1973.

5 Ders., S. 36.

6 Ders.

7 Mooser: Arbeiterleben, S. 185.

8 Ders., S. 168.

9 Ders., S. 184.

10 Groh: negative Integration. S. 59.

11 Ders., S. 169.

12 Ders., S. 169.

Ende der Leseprobe aus 8 Seiten

Details

Titel
Die negative Integration der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert
Untertitel
Warum fand die negative Integration der Arbeiter vorwiegend in den Großstädten statt?
Hochschule
Universität Münster
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
8
Katalognummer
V311369
ISBN (eBook)
9783668099517
ISBN (Buch)
9783668099524
Dateigröße
372 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
integration, arbeiterklasse, jahrhundert, warum, arbeiter, großstädten
Arbeit zitieren
Maximilian Wilms (Autor:in), 2012, Die negative Integration der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/311369

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