Nicht-Verstehen als Verstehen. Eine Einführung in die Philosophie von Emmanuel Lévinas


Essay, 2014

21 Seiten


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

A. Theo-Logik statt Theologie

B. Das Andere bei Lévinas: „Begehren ohne Befriedigung“

C. Von der „Frage nach dem Anderen“ zur „Infragestellung des Selben“

D. Antlitz bei Lévinas: „Bedeutung ohne Kontext“

E. Gedicht als ‚Gesicht‘

Primärliteratur

Sekundärliteratur

“ To understand, I destroyed myself. To understand is to forget about loving. I know nothing more simultaneously false and telling than the statement by Leonardo Da Vinci that we cannot love or hate something until we ´ ve understood it. ”

Fernando Pessoa (The Book of Disquiet)

Nach dem WW II wurde die Frage nach der Definition, Funktion und Erkenntniswert der Literatur wieder zum Thema gemacht und wurde von verschiedenen Perspektiven zur Debatte gestellt. Theodor W. Adorno schrieb in seinem Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“, dass es barbarisch sei, nach Ausschwitz Gedichte zu schreiben. Diese ethische Wende innerhalb der Literatur führte zur Entgrenzung ästhetischer, ethischer und philosophischer Kompetenz des Menschen. Diese Wende hatte auch einen Einfluss auf die Subjekt-Objekt Beziehung innerhalb der Philosophie und Literaturwissenschaft zugleich. In diesem Aufsatz werde ich argumentieren, dass die ethische Wende innerhalb der abendländischen Philosophie, wofür wir Emmanuel Levinas dankbar sind, auch zur Bereicherung des Begriffs „Verstehen (eines literarischen Textes)“ führt.

A. Theo-Logik statt Theologie:

Worüber wird heute diskutiert, wenn man heute Lévinas in Deutschland liest? Gibt es manche Aspekte seiner Philosophie, die einen Vorrang in der Diskussion haben? „Zwischenpunkt“, „Spagat“, „Verbindung“. Diese sind einige Wörter, mit Hilfe derer Lévinas’ philosophischer Standpunkt artikuliert wird. Manche Artikeln nennen es eine Verbindung zwischen Philosophie und Religion, manche sprechen über einen Spagat zwischen der Moderne und der Tradition. Für Lévinas war die Ethik die Erste Philosophie, die auf der Intersubjektivität - auf der ethischen Beziehung mit dem Anderen - beruht. Der Grund, warum er zu dieser Position gelang, kann in seiner Lebensgeschichte gefunden werden. Seine Kindheit in Litauen, Jugend mit Studium an Universitäten in Frankreich und Deutschland formen die erste Hälfte seines Lebens. Mit WWII und der Kriegsgefangenschaft in Deutschland beginnt die zweite Hälfte. Wolfgang Matz fasst eine kurze Biographie Lévinas’ in seinem Artikel zusammen:

„ Emmanuel Levinas wurde am 12. Januar 1906 im litauischen Kaunas geboren, in einer jüdischen Familie, die großen Wert auf eine religiöse Unterweisung legte. Mit sechs Jahren erhielt der Junge Hebräischunterricht, daneben stand das Studium der heiligen Schriften, Bibel und Talmud. Dann aber begann der andere große Einflußzu wirken: Levinas ging zum Studium nach Frankreich, ‚ denn das ist Europa ‘ . Doch anders als die meisten wählte er nicht Paris, sondern Straßburg, also diejenige französische Stadt, die Deutschland am nächsten liegt. Von allen Begegnungen wirkten die mit Edmund Husserl und Martin Heidegger am nachhaltigsten auf den jungen Philosophen. “ 1

Wolfgang Matz deutet genau so viel auf die deutschen Einflüsse auf Lévinas wie auf die jüdische Erziehung in Litauen hin. Es stimmt, denn sowohl sein jüdischer Hintergrund als auch sein Studium der abendländischen Philosophie haben in seiner Philosophie einen Widerhall gefunden. Die Verantwortung, die einer der wichtigsten Aspekte seiner Ethik bildet, stammt von der heiligen Schrift des Judentums - Thora. Obwohl seine Schriften den Hintergrund von heiliger Schrift haben, schreibt er keine reine Theologie.

Christian Jürgens nennt es „Theo-logik statt Theologie“. Wegen dieser Eigenschaft seines Schreibens wird er mit Walter Benjamin verglichen: „ ‚ Mein Denken ‘ , schrieb Walter Benjamin, ‚ verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. ‘ Zwar sei das Löschblatt ganz von Tinte vollgesogen, vom Geschriebenen jedoch bleibe nichtsübrig. Wie Benjamin schöpft der in Litauen geborene Emmanuel Levinas seine Philosophie aus dem Fundus jüdischer Theologie. Und wie Benjamin geht es ihm um eine Säkularisierung dieser Motive, um Theo-Logik statt um Theologie. “ 2

Bei den Texten von Lévinas gehen die sogenannten Gegenteile in einander auf. Sie werden nicht endgültig definiert, sondern werden einfach in einem Spannungsfeld zusammengebracht. Die Ethik, die bei ihm die erste Philosophie wird, schließt die Ontologie nicht aus. Diese Ethik ist die Ontologie für ihn. Und die Frage des Seienden ist eben die Frage des Seins.

B. Das Andere bei Levinas: „Begehren ohne Befriedigung“

In dem ersten Teil von „Totalität und Unendlichkeit“ definiert Levinas das „Andere“. Es geht hier um den Unterschied zwischen dem endlichen und dem unendlichen Begehren. (finite and infinite alterity)

„ Das Andere des metaphysischen Begehrens ist nicht ‚ anders ’ wie das Brot, das ich esse, das Land, das ich bewohne, die Landschaft, die ich betrachte; es ist nicht anders, wie ich mir selbst manchmal anders bin... “ (TU 35)

So ein Andere ist nicht-metaphysisch. Diese „Andersheit“ nimmt jedoch ein Ende. Was Begehren in diesem Kontext bedeutet, kann man sättigen. Was hier fehlt, kann besessen werden. Nach Lévinas kommt es mehr als ein Bedürfnis und nicht als ein Begehren vor. Aber die metaphysische Anderheit begehrt nach einem „fremden Auβenreich.“ Als Beispiel dieses Begehrens kann man „weder Nostalgie noch Heimweh“3 nennen. Nostalgie ist eine Art Rückkehr. Heimweh ist das Begehren nach dem Heim - dem bekanntesten Ort - mit dem man eine Verwandtschaft hat. Der Höhepunkt dieses Begehrens ist, dass man dieses Begehren nicht befriedigt sehen möchte. Jill Robbins schreibt über den Unterschied zwischen diesen zwei Arten von Begehren.

“ A relation to this ( … ) finite alterity characterizes what Levinas calls the work of identification, that is, my ability to absorb otherness ‘ into my identity as thinker as possessor ’ (TI 33)4. But the alterity of the other is infinite. Encountered neither as a phenomenon nor as a being (something to be mastered or possessed), the other is encountered as a face. ” 5

Da es ein Begehren ist, das gedacht oder besessen werden kann, ist es ein Begehren nach Andersheit und nicht nach Anderheit. Eine Anmerkung im Adriano Fabris’ Aufsatz erklärt den Unterschied zwischen den beiden. Das originelle Wort „alterité“ wird nicht als „Andersheit“ sondern als „Anderheit“ übersetzt, „ um dem Leser darauf aufmerksam zu machen, daßes nicht um ein bloßes Anders-sein, sondern um ‚ ein Anderer sein ’ geht.6 Was anders ist, kann in meiner Identität als Denkende oder Besitzende aufgehen. Aber wenn wir Adriano Fabris’ Übersetzung des Wortes „alterité“ annehmen, ist die Alterität bei Lévinas eine metaphysische Anderheit.

Es ergibt sich aber dann eine Frage: Wie kann es ein Begehren ohne Befriedigungswunsch geben? Es kann keine Beziehung geben, wenn die Ferne zwischen dem Metaphysiker und dem Anderen unendlich und ewig bleibt. Die Antwort verteidigt die unendliche Ferne:

„ Sie ist eine Beziehung, deren Positivität darin liegt, daßdie Ferne wächst, daßeine Trennung stattfindet; denn die Freigebigkeit, könnte man sagen, nährt sich von ihrem Hunger. “ (TU 37)

Zweitens kann über die Unsichtbarkeit der absoluten Anderheit gesprochen werden. Das Begehren ist absolut. Das Begehrende ist sterblich. Und das Begehrte ist unsichtbar.

Sowohl die absolute Ferne zwischen dem Metaphysiker und dem Anderen, als auch die Unsichbarkeit des Begehrten kann nicht als eine Schwäche der Alterität bezeichnet werden. Sie sind die Werkzeuge, womit der Metaphysiker arbeiten würde. Die Annahme dieser zwei Faktoren führt zu der dritten Eigenschaft: der Unumkehrbarkeit der Beziehung.

„ Der Metaphysiker und der Andere stehen nicht in einer beliebigen Korrelation, die umkehrbar wäre.(...) Die radikale Trennung zwischen dem Selben und dem Anderem bedeutet gerade, daßes unmöglich ist, außerhalb der Korrelation von Selbem und Anderem zu stehen, um von hier aus die Entsprechung oder Nicht- Entsprechung dieses Hin und Her zu registrieren. “ (TU 39)

Wenn es bei der Beziehung Selbe-Andere eine umkehrbare Korrelation gäbe, wäre es der Tod der Alterität. Sobald es eine umkehrbare Korrelation zwischen dem Selben und dem Anderen gibt, wird aus denen ein System gemacht. Die Beziehung steht nicht in Gefahr wegen der Transzendenz. Sondern Umgekehrt. Die Transzendenz könnte wegen der umkehrbaren Beziehung als Opfer in dem System eingehen.

„Die Transzendenz ist nicht die Negativität“ heißt der dritte Punkt des ersten Teils von Totalität und Unendlichkeit. Das transzendentale Denken bei Levinas ist keine Schwäche sondern ein Werkzeug, womit der Metaphysiker arbeitet.

„ By abandoning the closure of “ being-at-home-with-oneself ” (Beisichselbstsein), one enters a dangerous kind of existence. Unrest but also passion are the consequences of a desire that precedes all choices and decisions. ” 7

Adriaan T. Peperzak spricht von „unrest“ (Unruhe) aber auch von „passion“ (Leidenschaft). Die Leidenschaft des Metaphysikers ist genau so wichtig, wie die Unruhe. Das Aufgeben des „Beisichselbstsein“, wovon Peperzaks Zitat spricht, verlangt diese Leidenschaft. Ausserdem geht diese Leidenschaft der Tat des Denkens voraus.8

[...]


1 Matz, Wolfgang: „Das Wort Gottes“. In: Die Zeit. URL: http://www.zeit.de/1997/11/Das_Wort_Gottes Stand: 16.09.2014.

2 Jürgens, Christian: „Verantwortung für die Verantwortung“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: http://www.faz.net/s/RubF3CE08B362D244869BE7984590CB6AC1/Doc~E777E99F2048443139997707F21C80 CB7~ATpl~Ecommon~Scontent.html . Stand: 16.09.2014. (Meine Hervorhebung)

3 TU 36.

4 Als ein Beispiel dieser Art der Andersheit kann eine Stelle in dem Interview von dem türkischen Autor Orkan Pamuk zitiert werden: “His (Orhan Pamuk’s) books reflect a keen sense of otherness that he admits to feeling all along. ‘I don’t belong, I always felt the sense of otherness. I don’t think I feel at home in the West or in a non-Western world,’ he says. He said if he felt at home he would lose the energy and the anger to write. ‘I have the anxiety of belonging wherever I go and most of the writers I admire are like that.’ Quelle: http://www.thehindu.com/todays-paper/tp-national/tp-otherstates/i-always-felt-the-sense-of- otherness/article326036.ece Stand: 23.09.2014 Pamuk hat sein ganzes Leben in Istanbul verbracht, und wenn er in diesem Interview von “Otherness” spricht, spricht er von dem Fehlen des Zugehörigkeitsgefühls sowohl im Osten als auch im Westen. So ein “Otherness” geht nicht nur in seiner Identität ein, sondern ist die Quelle der Kraft und des Ärgers, die zum Schreiben führt. Dass er sich im Westen und im Osten wie einen Aussenseiter fühlt, definiert zu einem groβen Teil seine Identität und seine Literatur. So eine Andersheit, wo der Autor Orhan Pamuk die Quelle seiner Literatur findet, ist von der Anderheit bei Levinas zu unterscheiden.

5 Robbins, Jill: „Visage, Figure: Reading Levinas’s Totality and Infinity”. In: Yale French Studies, Literature and Ethical Question 79.1991. (Seite 136)

6 Adriano, Fabris: „Emmanuel Levinas zwischen Ethik und Hermeneutik. In: Philosophischer Literaturanzeiger 41, 1988. (Seite 288).

7 Adriaan T. Peperzak: „Transcendence“In: Peperzak Adriaan (Hg.) Ethics as First Philosophy. The Significance of Emmanuel Levinas for Philosophy, Literature and Religion. New York: Routledge 1995. (Seite187).

8 Im Zusammenhang mit dieser Kritik an „Beisichselbstsein“ kann hier kurz den Namen von „Außer Sich“ (übersetzt. Outside the Subject) erwähnt werden.

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Details

Titel
Nicht-Verstehen als Verstehen. Eine Einführung in die Philosophie von Emmanuel Lévinas
Hochschule
Jawaharlal Nehru University
Autor
Jahr
2014
Seiten
21
Katalognummer
V312060
ISBN (eBook)
9783668108585
ISBN (Buch)
9783668108592
Dateigröße
1064 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
nicht-verstehen, vertstehen, eine, einführung, philosophie, emmanuel, lévinas
Arbeit zitieren
Maithilee Gatne (Autor:in), 2014, Nicht-Verstehen als Verstehen. Eine Einführung in die Philosophie von Emmanuel Lévinas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/312060

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