Nietzsches genealogische Metaphysikkritik in "Von den ersten und letzten Dingen"


Hausarbeit, 2015

19 Seiten


Leseprobe


Martin Scheidegger

Nietzsches genealogische Metaphysikkritik in Von den ersten und letzten Dingen

„Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische“1

Im ersten Hauptstück des Werkes Menschliches, Allzumenschliches (MA), welches Nietz- sche Von den ersten und letzten Dingen betitelt, finden wir seine grundlegende Unter- scheidung d e r metaphysischen Philosophie von d e r historischen Philosophie.2 Beide Philo- sophietypen würden, sofern man denn den bestimmten Artikel ernst nehmen würde, nicht als Pluralitäten auftreten. Es liegt aber nahe, Nietzsches Äußerungen so zu deu- ten, dass er in einer Vielzahl philosophischer Theorien einen gemeinsamen Kern glaubt ausmachen zu können, den er dann im Singular ansprechen kann. Der Kern der metaphysischen und der historischen Philosophie unterscheidet sich Nietzsche zufolge in ihrem jeweiligen Verhältnis zu der Grundfrage: Å[W]ie kann Etwas aus sei- nem Gegensatz entstehen […]?“3. Nietzsche gibt dafür folgende Beispiele: ÅVernünf- tiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesselo- ses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern“4. An die ‚Grundfrage‘ selbst mag man sogleich die Frage richten, ob sie denn schon eine positive Antwort auf die Frage ‚Kann Etwas aus seinem Gegen- satz entstehen?‘ (also ohne vorangestelltes Wie) impliziert. Wie sich zeigen wird, ver- bleiben diese Gegenfrage und die Grundfrage noch im dualistisch-metaphysischen Denkschema, das Nietzsche zu transzendieren gedenkt.

Die Entstehungsfrage wird hierbei nicht ohne Grund nur in einer Richtung formuliert, denn für die ‚metaphysische Philosophie‘, die Ziel seiner Kritik ist, wird damit nicht ein bloß neutraler Gegensatz angesprochen, sondern ein asymmetrisches Verhältnis eines Niederen zu einem positiv konnotierten, höher Gewerteten (Ver- nunft, Logik, Wahrheit etc.), dessen mögliche Abkunft von seinem Gegenpol ketzeri- scherweise erfragt wird. Vor dem Hintergrund dieser Prämisse entwickelte die meta- physische Philosophie laut Nietzsche deshalb zwei Strategien, um die Würde des Höherwertigen zu retten: Erstens leugnete sie die Entstehung des einen Teils eines Gegensatzes aus dem anderen und zweitens verhalf sie dem höher Gewerteten zu einem Ursprung besonderer Art (man denke bspw. an Spinozas causa sui).5 (Welche konkreten Autoren Nietzsche genau im Blick hat, lässt sich abgesehen von der Nen- nung einiger weniger Theoreme und seltener noch Namen nur vermuten. Von daher sind seine Verallgemeinerungen, wie die Rede von ‚der‘ Metaphysik, mit Vorsicht zu genießen, auch wenn sie seine Behauptungen natürlich interessanter wirken lassen.)

Die historische Philosophie hebt Nietzsche hingegen von dieser Position ab, indem er sie als neueste philosophische Methode darstellt, die Ågar nicht mehr ge- trennt von der Naturwissenschaft zu denken ist“6 und die die angeführten Gegensät- ze als scheinbare auszuweisen bestrebt ist, indem sie zeigt, Ådass ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt“7. Das Vorgehen der histori- schen Philosophie wird dabei in Analogie zur Chemie beschrieben, was wohl auch die behauptete Untrennbarkeit mit den Naturwissenschaften demonstrieren soll. So wie die Chemie aufdeckt, dass auch Ådie herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verach- teten Stoffen gewonnen sind“8, so soll auch die historische Philosophie als ÅChemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“9 die Spuren analysieren, die zu den dunklen Ursprüngen metaphysischer Konzeptionen zurückführen, sowie die unreinen Zustände, Mischungen und Synthesen der abstra- hierten Gegenstücke ans Licht bringen. Die ‚Auflösung‘ des Gegensatzes geschieht also letztlich nur durch eine Umkehrung des asymmetrischen Verhältnisses, die in eine Reduktion des vormals positiv konnotierten Teils des Gegensatzes auf dessen als negativ gesetzten Teil mündet. (Endet also alles in einem monistischen Denken?) Was Nietzsche jedoch immer wieder betont, ist die praktische lebensweltliche Rele- vanz, die diese Gegensätze in der Geschichte der Menschheit hatten und haben. Sie haben eine normative Funktion und dienen der Orientierung im Handeln. Der Schein ihrer Stabilität und Unabhängigkeit vermittelt Sicherheit.10 Anhand der Beschreibung der von Nietzsche vertretenen ‚historischen Philo-sophie‘ kann sie als genealogische Metaphysikkritik bezeichnet werden, sofern man der Einteilung, wie sie sich in luzider Form bei Guderian findet, folgt:

ÅNeben metaphysikkritischen Ansätzen, deren Vertreter gegen die Möglich- keit, den Sinn oder die Berechtigung von metaphysischen Fragen und Theo- rien argumentieren, gibt es eine Gruppe von metaphysikkritischen Untersu- chungen, die sich mit Fragen der Entstehung von metaphysischen Konzeptio- nen beschäftigen. […] In genealogischen Ansätzen bemüht man sich um eine Klärung von Entstehungsfragen: Unter welchen historischen, soziologischen und/oder psychologischen Bedingungen sind metaphysische Fragen und Lö- sungsvorschläge entstanden?“11

Wie man sich denken kann, weist diese Vorgehensweise wie alle ätiologischen Unter- suchungen gewisse Tücken auf, da die Rekonstruktion des Vergangenen aus dem Gegenwärtigen immer eine Einschränkung eines Raums von Möglichkeiten voraus- setzt, weshalb man sich fragen muss, ob Nietzsche in der Präsentation der Resultate seiner genealogischen Analysen nicht etwas zu sicher auftritt und Eindeutigkeit nur durch eine gewisse reduktionistische Betrachtungsweise schafft. Kann es denn nicht eine Vielfalt genealogischer Rekonstruktionen geben? Hängen sie etwa nicht von sich wandelnden Faktoren ab?

Nietzsche stellt die genealogische Unternehmung als geradezu unmenschlich dar, insofern er der Menschheit eine anti-genealogische Grundeinstellung zuspricht: ÅDie Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinn zu schlagen“12. Kritisch mag man hier einwenden, dass Nietzsche hier entweder ernsthaft das Vorliegen einer anthropologischen Konstante behauptet und damit selbst eine metaphysische These aufstellt (zumindest geht die psychologische Genea- logie von einer gewissen Stabilität aus) oder er sich selbst durch die Inszenierung der Widrigkeiten und der Unwahrscheinlichkeit seines Unternehmens emporzuheben gedenkt. Möglich ist auch, dass er nur seine Zeitgenossen anspricht. Die These scheint empirisch aber falsch, wenn nicht gar absurd zu sein. Mit ihr soll der ‚natürliche‘ Hang zur Metaphysik begründet werden, indem die Ignoranz gegenüber dem genealogischen Fragen herausgestellt wird. Dabei wird gerade ein wesentliches Charakteristikum metaphysischer Untersuchungen vernachlässigt: Die Suche nach Prinzipien (‚Herkunft‘ im onto-logischen Sinne).

Gegen ein gleichbleibendes Wesen des Menschen aber scheint Nietzsche di- rekt darauf in dem folgenden Aphorismus Erbfehler der Philosophen zu polemisieren. Denn Å[a]lle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich“13, dass sie vom gegenwärtigen Zustand der Menschheit auf zurückliegende oder zukünftige Zustände derselben schließen (Extrapolationsfehler und Teleologiekritik). An dieser Stelle kann man sich natürlich schon fragen: ÅAber macht Nietzsche das nicht auch?“. Wichtig ist jedoch nicht das Dass, sondern das Wie! Er schreibt weiter: ÅUnwillkürlich schwebt ihnen ‚der Mensch‘ als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor.“14 Die Metaphysiker vergessen und verdrängen also schlichtweg die Historizität des Daseins und projizieren Gegenwärti- ges ohne Veränderung in Vergangenheit und Zukunft: ÅSie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnisvermögen geworden ist“15 ; es mangelt ihnen an Åhistorischem Sinn“16. Nietzsche stellt durch diese Äußerungen die Dringlichkeit der genealogischen Betrachtung heraus. Zur Abgrenzung ihrer Metho- de muss eben die ‚metaphysische‘ Art des Schließens von der Gegenwart aus aufge- deckt und aufgehoben werden. Die Abstraktion der Zeitlichkeit und des prozessua- len Charakters des Seienden diagnostiziert Nietzsche damit als eine der problema- tischsten Grundgesten metaphysischen Denkens, die es abzulegen gilt: ÅAlles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt.“17 Viele haben in dieser Äußerung und ähnlichen Sätzen Nietzsches — so sie denn ernstgenommen werden — einen performativen Selbstwiderspruch bzw. ein Selbstanwendungsproblem gesehen. Nietzsches Wahrheitsanspruch in diesen Fällen nicht selbst als absolut und ebenso metaphysisch zu verstehen fällt daher zunächst schwer. Man kann dem eventuell begegnen, indem dieser Anspruch auf eine be- stimmte Perspektive (im Rahmen eines anderen Wahrheitsverständnisses) eingeschränkt und somit in gewisser Weise zurückgenommen wird. Andererseits könnte man den Selbstwiderspruch, wie Philipp Stoellger es tut, auch als gewollt auslegen; nämlich als Demonstration der (verschleierten) Konsequenzen des verabsolutierenden Vorgehens der Metaphysik:

ÅIm scheinbaren Selbstwiderspruch würde zum Ausdruck kommen und ge- zeigt, dass eine solch generelle These nur um den Preis eines Selbstwider- spruchs zu formulieren wäre. Generalisierung (wie Metaphysik) würde darin vorgeführt.“18

Die Möglichkeit einer von der jeweiligen Perspektive unabhängigen Welt wird in Aphorismus 9 von MA aber nicht per se abgelehnt. Ähnlich wie in der negativen Theologie bliebe diese Welt-an-sich aber (wenn überhaupt) allein durch ihre Unbe- stimmbarkeit durch uns bestimmt: ÅDenn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches An- derssein“19. Die ‚Welt an sich‘ gleicht einem deus absconditus. Aufgrund der Einsicht in diese Unmöglichkeit der Differenzierung wiederum (das erinnert an die Problematik des ‚Einen‘ bei Plotin) müsste die perspektivenunabhängige Realität laut Nietzsche eigentlich zur praktisch irrelevantesten Sache unseres Lebens werden: ÅDies ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen“20. Daher benennt Nietzsche Aphorismus 10 auch ÅHarmlosigkeit der Me- taphysik in der Zukunft“ und kündigt darin die Ablösung metaphysischer Erklä- rungsstategien durch naturwissenschaftliche, linguistische (diachrone) und andere genealogische Disziplinen an. Durch diese anderen Erklärungsansätze soll das Inte- resse an metaphysischen Scheinproblemen — wie das Åan dem rein theoretischen Problem vom ‚Ding an sich‘ und der ‚Erscheinung‘“21 — nahezu von allein schwin- den. Dass die Menschen sich aber seit Jahrtausenden Sorgen gemacht haben, ent- springt Nietzsche zufolge einem metaphysischen Bedürfnis, einer irrationalen Wurzel im Menschen, die metaphysischen Theorien in der Vergangenheit so viel Kraft und Bedeutung verliehen hat:

ÅAlles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren.“22

Im Anschluss an diese Stelle folgt ein hoch bedeutsamer Satz, in dem Nietzsche von der Aufdeckung dieses Ursprungs metaphysischer Konzeptionen — als dem Resultat der genealogischen Methode der von ihm propagierten historischen Philosophie — auf die Widerlegung ebenjener metaphysischer Gedankenschemata schließt: ÅWenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Meta- physiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt.“23 (Liegen diese ‚Methoden‘ der his- torischen Philosophie nicht zugrunde? Was würde eine Genealogie der genealogischen Perspektive zu Tage fördern?) Dieser Übergang von der Freilegung der Genese zur Kritik der Geltung metaphysischer Ideen wird in dem Aphorismus 9 nicht weiter erläutert (die Geltungskritik beansprucht also unbegründet selbst Geltung). Man muss sich daher fragen, wie diese Widerlegung von Statten gehen soll. Ein möglicher Weg besteht sicher darin, den Widerspruch der unbewussten Quellen metaphysi- schen Denkens zum Selbstverständnis der metaphysischen Diskurse deutlich zu ma- chen. Der Großteil der von Nietzsche infragegestellten philosophischen Tradition gibt sich klassischerweise als durch und durch von Rationalität bestimmt. Wenn die- sem Denken jedoch Bedürfnisse, Affekte und sogar der Wille zur Täuschung zu- grunde liegen sollten, wären damit dessen beworbene Grundwerte erschüttert. Nietz- sche entlarvt demnach quasi-psychoanalytisch die Selbstverblendung in Bezug auf die Genese der metaphysischen Begründungen und diskreditiert infolgedessen die Me- thoden der Metaphysiker, die die Wahrheit24 bzw. objektive Gültigkeit ihrer Thesen zumindest wahrscheinlich machen sollten. Die Genealogie selbst widerlegt also im strengen Sinne nicht, sondern legt nur die Widersprüche frei, die auf dem Boden der Metaphysik für diese selbst fatal sind und gemäß ihrer eigenen Logik zu einer Selbst- widerlegung und folglich Selbstdestruktion führen. (Diese Intention macht Nietzsche selbst jedoch nicht explizit und kann daher nur einer wohlwollenden Lesart entsprin- gen.)

Man könnte aber auch behaupten, dass Nietzsche Geltungsfragen durch die Angaben von Genesen beantwortet. (Ist Argumentieren etwa eine metaphysische Tätigkeit?) Dies ergibt sich als Gegenstrategie zum ‚metaphysischen‘ Diskurs, der die scharfe Trennung von Genese und Geltung propagiert — auch wenn er sie womöglich nicht realisiert. Um zwischen ungerechtfertigtem Aberglauben und begründeten wis- senschaftlichen Erkenntnissen unterscheiden zu können, und sie nicht gleichermaßen nur in der Hinsicht zu betrachten, dass es Ursachen für ihr Zustandekommen gibt, die eruiert werden können, bedarf es eben der Differenzierung zwischen Gründen des ‚Wahrseins‘ und Ursachen des ‚Fürwahrhaltens‘.25 Das schließt aber nicht aus, dass genetischen Untersuchungen eine ebenso eigenständige Bedeutung zukommen kann wie der Diskussion von Fragen der Geltung. Resümierend lässt sich sagen: Nietz- sches genealogische Dekonstruktion hat zwar einen Effekt, sie stellt deswegen aber noch kein Argument dar.26 Das will sie vielleicht auch nicht sein, da sie sonst Gefahr läuft, dem zu überwindenden metaphysischen Schema verhaftet zu bleiben.

Die Bedürfnisse, die das metaphysische Philosophieren befriedigen soll und die zuvor von der Religion bedient wurden, sind laut Nietzsche nicht nur wandelbar (Ådenn es sind angelernte, zeitlich begränzte Bedürfnisse“27 ), sondern können sogar abgeschafft werden. Die Einsicht in das Werden der Bedürfnisstrukturen eröffnet somit also die Möglichkeit des Eingreifens in diese: ÅAber endlich sollte man doch auch lernen, dass die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese selbst kann man schwächen und ausrotten.“28 Einerseits besteht also die Option, dass die Philosophie bloß einen Ersatz der Religion29 darstellt (das wäre dann ‚metaphysische Philosophie‘) und ande- rerseits kann sie auf die Beseitigung der in die Irre leitenden Bedürfnisse hinarbeiten (das könnte eventuell die ‚historische Philosophie‘ vollbringen, indem sie uns allererst mit diesen Bedürfnissen konfrontiert). Die Philosophie ist für Nietzsche (neben der Kunst) jedoch nur eine Brücke, ein Åüberleitender Gedankenkreis“30, der das Ziel hat, von dort aus leichter in das wissenschaftliche Denken überzuleiten. Diese Rei- henfolge erinnert stark an Comtes Drei-Stadien-Gesetz. Merkwürdigerweise spricht Nietzsche den Wissenschaften aber eine Leistung zu, die man auch als ‚metaphysisch‘ bezeichnen könnte. So schreibt er in Aphorismus 29 von MA, dass der Mensch durch die Wissenschaft dem ‚Wesen der Welt‘ näher komme, weshalb es fraglich ist, ob Nietzsches Wissenschaftsbild sich von den von ihm kritisierten metaphysischen Annahmen lösen kann: Å[…] um so näher werde er [der Mensch] dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen: diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint diess noch mehr durch seine Religionen und Künste zu tun.“31 Demnach herrscht unter den Menschen nur ein Irrtum in Bezug auf die Mittel zur Welterkenntnis, das Ziel und die Möglichkeit, sich ihm zu nähern, werden an dieser Stelle aber nicht bezweifelt. Damit widerspricht Nietzsche seiner eigenen Kritik an feststehenden Wesenheiten und der korrespondenztheoretischen Konzep- tion von Wahrheit.

Nietzsche belegt und illustriert die Wirksamkeit seiner genealogischen Tech- nik an einigen Problemfeldern metaphysischen Gedankenguts. Eine wichtige Rolle spielt insbesondere die Täuschung über Ursprung, Stellung und Wert der Sprache sowie anderer künstlicher Zeichensysteme. Die Sprache lediglich synchron und als vermeintlich direkte Quelle des Wissens zu betrachten stellt demnach einen gravie- renden Grundirrtum dar: Der Mensch Åmeinte wirklich in der Sprache die Erkennt- niss der Welt zu haben“32. Nietzsche kritisiert, dass vergessen wurde, dass die Be- zeichnungen, die wir den Dingen geben, arbiträr sind, die Begriffe fälschlicherweise hypostasiert wurden,33 und man sich nicht darüber im Klaren war, dass die Sprache im Werden begriffen ist und dadurch die Manifestation ewiger Wahrheiten in ihr ausgeschlossen wird (ÅInsofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken geglaubt hat“34 ). (Das setzt natürlich schon voraus, dass man Wahrheit als sprachabhängig begreift.) Er meint, das Motiv zur Schöpfung der Zeichen und zugleich zu deren Vergessen darin zu entdecken, dass mit ihnen eine welterzeugende Kraft einhergeht, die es den Menschen durch Individuation und Klassifikation des Seienden möglich macht, sich und ihre Umwelt aufgrund der angenommenen Stabilität des Verhältnisses von Welt und Sprache (Korrespondenz) beherrschbar zu machen:

ÅDie Bedeutung der Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen.“35

Die Umkehrung dieser Entwicklung hält Nietzsche weder für möglich noch für le- bensdienlich, da die mannigfaltigen Fiktionen, aber auch Fallen der Sprache, letztlich doch ihr Gutes tun, indem sie durch ein geteiltes Medium Orientierung stiften und so ein gemeinschaftliches Leben ermöglichen: ÅGlücklicherweise ist es zu spät, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rück- gängig machen könnte.“36 Trotz radikaler Kritik findet sich bei Nietzsche immer wieder dieses Moment der Schätzung des Tradierten und Gewohnten, insofern es nicht als völlig nutzlos erscheint. Nietzsche rekonstruiert das Zustandekommen me- taphysischer Vorstellungen, würdigt ihren Nutzen und ihre Berechtigung (in der Ver- gangenheit), fordert jedoch zugleich zu deren Überwindung auf. Ganz deutlich wird dies in Aphorismus 20 von MA:

Å[I]st er [der Mensch] auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss die historische Berech- tigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther ge- kommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde.“37

Die eigene Welt, die der Mensch mit den Zeichen erschafft, enthält aber auch äußerst abstrakte Gefilde, wie die Logik und Mathematik, die gemäß Nietzsche auf den me- taphysischen Annahmen der Identität von Dingen (auch über die Zeit hinweg bzw. zeitlos) und — einer bestimmten ontologischen Interpretation zufolge — der Exis- tenz idealer Gegenstände basieren, denen jedoch keine konkrete empirische Realität zukommt.38 Die Auseinandersetzung mit dem Identitätsdenken und der Substanzon- tologie nimmt in den darauffolgenden Abschnitten von MA dann auch eine heraus- ragende Stellung ein.

Zum einen wird dies im Aphorismus 16 von MA deutlich, in dem Nietzsche den Dualismus von ‚Ding an sich‘ und Erscheinung auf die Annahme zurückführt, dass die Struktur der Erfahrung Åunveränderlich fest“39 sei. Ob man nun die Position vertritt, dass man von der Erscheinung auf das ihr zugrundeliegende, sie erzeugende Ding an sich schließen könne oder nicht, ist hierbei nicht von Belang. Nietzsche un- terstellt, dass die Denker dieser Richtung nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen haben, dass das,

Åwas jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst — allmählich geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und desshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte“40.

Statt die Art und Weise unserer Erfahrung als überzeitlich Gegebenes zu nehmen, setzt Nietzsche ein eher konstruktivistisches — vielleicht mag man hier lieber von ‚Konstitution‘ sprechen — und dynamisches Bild des epistemischen Verhältnisses von Mensch und Welt an: Å[D]er menschliche Intellect hat die Erscheinungen er- scheinen lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineinge- tragen“41. (Interessant ist, dass er hier den Dualismus übernimmt und sich damit wei- terhin im überkommenen metaphysischen Vokabular bewegt, das er aber durch sei- nen ironischen Gebrauch bricht.) Nietzsche denkt also nicht nur die übersehene Möglichkeit als Möglichkeit, sondern behauptet gleichsam im selben Atemzug deren Geltung als Wirklichkeit. Somit verbleibt er nicht bloß in kritischer Distanz zu den von ihm bemängelten metaphysischen Konzeptionen, sondern liefert erneut eigene metaphysische Thesen, die oft als Umkehrungen daherkommen — getreu der Sen- tenz Heideggers: Å[D]ie Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein metaphy- sischer Satz.“42 Die Konsequenz für die Charakterisierung der Metaphysikkritik Nietzsches ist, dass man sie nicht als externe, sondern als interne Kritik klassifizieren müsste43 — sofern diese Unterscheidung überhaupt sinnvoll ist —, da sich seine Kri- tik nur Ågegen eine bestimmte Art von Metaphysik“44 richtet. Wolfgang Röd behaup- tet hingegen: ÅDie Metaphysik würde erst dann vollkommen überwunden, wenn nicht nur bestimmte ihrer Antworten, sondern schon ihre Fragestellungen zurückge- wiesen würden.“45 Die Macht der Umkehrung sollte man vielleicht aber auch nicht unterschätzen, da sie die Dichotomien und Entgegensetzungen, in denen sie sich bewegt, selbst fraglich machen kann. Gerade das Faktum einander widersprechender Positionen hat in der pyrrhonischen Skepsis bekanntlich zur Aufforderung geführt, sich in seinem Urteil zu enthalten. So schreibt denn auch Nietzsche: ÅVielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte“46. Nietzsche hebt diese Mög- lichkeit aber angesichts der Realität der Lebenspraxis sogleich auf und betont, dass man sich nicht im ganzen Leben enthalten kann. Leben heißt Werten!47 Auch wenn alle unsere Urteile aufgrund begrenzter Erkenntnisfähigkeiten (ÅEndlich ist das Maass, womit wir messen“48 ) in Nietzsche Terminologie als ‚unlogisch‘ und ‚unge- recht‘ bezeichnet werden müssen, so sind sie doch in ihrer Unvollkommenheit le- bensnotwendig.49 Nietzsches Terminologie (‚unlogisch‘ und ‚ungerecht‘) macht nur Sinn, wenn man berücksichtigt, dass Nietzsche hier den absoluten (unerfüllbaren) Seite | 12

Anspruch, die Strenge, die den eigentlichen Maßstab der Metaphysiker ausmacht, gegen sie selbst wendet. Angesichts der unausweichlichen Imperfektion des Menschen gilt es, eine Haltung zu gewinnen, mit der man im Bewusstsein dessen und unter Vermeidung transzendenter Urteile50 ein Leben ohne die Qualen eines unbefriedigten metaphysischen Bedürfnisses führen kann.

‚Die Welt‘ wird in der genealogischen Perspektive Nietzsches als Schöpfung der Menschheit präsentiert, die von Generation zu Generation tradiert und modifi- ziert wird. Die dadurch tief verankerten kollektiven Erfahrungsgewohnheiten haben jedoch ihre Berechtigung und einen unschätzbaren Wert für das geordnete gesell- schaftliche Zusammenleben. Jedoch kann die ÅGeschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung […] uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hin- ausheben“51 und das vermeintlich Notwendige als kontingent offenbaren: Es kann anders sein, weil es anders war! Nietzsche bleibt somit nicht wie Hume dabei stehen, die Erkennbarkeit von Notwendigkeiten anzuzweifeln, sondern will diese selbst als Illusionen demaskieren. Die historische Metaperspektive befreit.

Es bietet sich an, an diesem Punkt Nietzsches Ausführungen zur Stellung von Philosophie und Wissenschaft in Bezug auf die Frage nach der Lebensdienlich- keit der Erkenntnis näher zu beleuchten. In Aphorismus 6 von MA entlarvt Nietz- sche ein seiner Ansicht nach unwillkürliches Ziel jeder Philosophie: Sie Åhat unbe- wusst die Absicht, ihr [der Erkenntnis] den höchsten Nutzen zuzuschreiben“52. An- statt wie die Einzelwissenschaften ÅErkenntniss und Nichts weiter“53 zu suchen, strebe jede Philosophie danach, Ådie Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben [..] so gross als möglich erscheinen“54 zu lassen. Statt sich also möglichst wertneutral in einen Erkenntnisprozess hineinzubegeben, unterstellt und fordert das von Nietz- sche kritisierte philosophische Denken von vornherein die Lebensdienlichkeit der Erkenntnis — es soll demnach auch keine Theorie ohne Bezug zur Praxis geben.

In Aphorismus 17 wird dann eine individualpsychologische Geschichte eines Übergangs von einer metaphysischen zu einer wissenschaftlichen Denkphase im Le- ben des Menschen erzählt, wonach die metaphysischen Erklärungen zunächst die Funktion übernehmen, auf die Bedürfnisse unzufriedener junger Menschen zu ant- worten und es ihnen ermöglichen, Verantwortung abzugeben und sich die Welt inte- ressanter zu machen: ÅSich unverantwortlicher fühlen und die Dinge zugleich inte- ressanter finden — das gilt ihm als die doppelte Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt.“55 Die gleichen Effekte sollen Nietzsche zufolge aber auch die wissen- schaftlichen Erklärungen haben und dabei Åjenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr entflamm[en]“56. Das scheint der in Aphorismus 6 behaupteten kühlen Bezugslosigkeit der Wissenschaft zum Leben zu widersprechen. Nietzsche intendiert zudem anscheinend, diesen individuellen Übergang zum wissen- schaftlichen Denkmodus in doppelter Hinsicht zu verallgemeinern. Zum einen kann ÅDer junge Mensch“57 verstanden werden als ‚jeder junge Mensch‘. Zum anderen kann die individuelle Genealogie aber auch metaphorisch als Entwicklung der Menschheit oder ganzer Gesellschaften begriffen werden. Die Legitimität dieser Ver- allgemeinerungen wäre jedoch höchst fragwürdig und die Selbstverständlichkeit, mit der die Notwendigkeit dieser Entwicklung dargestellt wird, rückt Nietzsches Gedan- ken in gefährliche Nähe zu den teleologischen Denkschemata, die er selbst in Apho- rismus 2 als Erbfehler der Metaphysiker anprangerte. Die phylogenetische Perspekti- ve auf die Ursprünge der Metaphysik bietet Nietzsche in Aphorismus 17 an, der die Grundfragen der Metaphysik behandelt. Dort rekonstruiert er auf recht spekulative und anthropomorphe Weise die Erfahrungswelt von Pflanzen und anderen nichtmensch- lichen Lebewesen und spricht diesen mangelnde Fähigkeiten zur Registrierung von Veränderungen in ihrer Umwelt zu, was Nietzsche als evolutionäre Vorstufe zum Substanzdenken deutet:

ÅFür die Pflanze sind gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist.“58

Abgesehen davon, dass Nietzsches Methode hier höchst problematisch ist, sind seine Ergebnisse ziemlich sicher als empirisch falsch nachweisbar, da sie im Widerspruch zur offensichtlichen Lebensfähigkeit der Organismen angesichts sich wandelnder Umweltfaktoren stehen. Die Vererbung des Glaubens ist natürlich auch nur meta- phorisch zu nehmen. Nietzsche expliziert jedoch auch nicht, was er unter ‚Gleichheit‘ versteht. Man ist geneigt, bei seiner Begriffsverwendung darunter eine ‚absolute Iden- tität‘ (numerisch und qualitativ) zu verstehen, um seiner Kritik etwas abgewinnen zu können. Erneut sollen zudem erst die Wissenschaften uns über die anderen Lebewe- sen hinausheben. Ob diese jedoch ohne die Annahme ‚gleicher Dinge‘ auskommt, müsste noch genauer hinterfragt werden. Zwar interpretiert Nietzsche die For- schungsergebnisse auf dem Gebiete der Mikrophysik so, dass sie eine substanzlose Ontologie einforderten, jedoch bekommt diese revisionäre Metaphysik möglicher- weise nur vor dem Hintergrund der primären lebensweltlichen Denkweise ihren Sinn und erweist sich überdies — sofern sie denn universalisiert wird — auch nicht als unbeschränkt lebensdienlich.

Im Anschluss an die dargebotene Einbettung des metaphysischen Denkens in die Naturgeschichte des Menschengeschlechts liefert Nietzsche eine Art Definition der Metaphysik:

ÅAlso: der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existieren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgege- ben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahr- heiten.“59

In Aphorismus 19 von MA verfolgt Nietzsche diese kritischen Gedanken rund um die Begriffe ‚Einheit‘, ‚Gleichheit‘ und ‚Ding‘ weiter, indem er auf ein Thema zurück- kommt, dass in ähnlicher Weise bereits in Aphorismus 11 kurz Aufmerksamkeit er- fuhr: Die Zahl. Nietzsche geht dabei noch über die Kritik nominalistischer bzw. fikti- onalistischer Ansätze in der Philosophie der Mathematik60 hinaus, und zwar dadurch, dass das Sein der Zahlen im Rahmen einer viel allgemeineren ontologischen Kritik infragegestellt wird. Dabei verfährt Nietzsche wie oft nicht klar argumentativ und liefert vielmehr Setzungen, wenn er schreibt: Åthatsächlich giebt es nichts Gleiches“ und Åes giebt kein ‚Ding‘“61. Diese Thesen wendet er dann auf den Zahlbegriff an, da die Arithmetik identische Einheiten voraussetzt, mit denen sie operieren kann. Zwar wird die heutige Mathematik üblicherweise durch die Mengenlehre fundiert, die Kri- tik ließe sich aus Nietzsches Sicht aber auf diese übertragen. Das fortwährende Den- ken in Dingen folgt nach Nietzsche aus einem Åconstanten Fehler“62 unserer Raum- und Zeitwahrnehmung. (An dieser Stelle scheint sich — zumindest oberflächlich betrachtet — ein Selbstwiderspruch aufzutun, wenn man Konstanz als Gleichheit versteht oder wenigstens den Fehler für identifizierbar hält: Dass es keine Gleichheit gibt, würde sich dann aus einer Gleichheit erklären.) Unsere beschränkten Wahr- nehmungs- und Vorstellungsweisen zwingen uns demnach dazu, Veränderndes und Verändertes zu isolieren und nicht alles als untrennbares Fließen zu erfassen. Das Fatale daran ist nun, dass diese ‚Fehler‘ oder Mängel in der Regel nicht auffallen, weil sie eben permanent bestehen. Daher spricht Nietzsche den Zahlen auch keine objek- tive Realität zu, was wiederum aber nicht bedeutet, dass ihnen innerhalb bestimmter Bereiche der Lebenswelt nicht eine nützliche Funktion zukommt: ÅAuf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwend- bar: diese gelten allein in der Menschen-Welt.“63

Im Anschluss an die Kritik spezieller metaphysischer Theoreme hinterfragt Nietzsche im Aphorismus 21 generell die zukünftigen Chancen metaphysischen Denkens. Seine These ist, dass dieses nicht einmal der Widerlegung bedürfte, um in der Irrelevanz zu versinken. Ähnlich einer pessimistischen Metainduktion genügte schon das Misstrauen in den Erfolg metaphysischer Einsicht angesichts der Schwie- rigkeit des Unternehmens und der unzähligen sich widersprechenden Entwürfe in der Geschichte der Philosophie, um praktisch gesehen zum selben Resultat zu gelan- gen:

ÅVielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgend einer metaphysischen Welt schon so schwierig, dass die Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben dürfte.“64

Es ist jedoch fraglich, ob metaphysisches Denken aufgrund des Fehlens ein für alle Mal gültiger und allseits anerkannter Thesen aussterben wird. Schon Kant stellte fest:

ÅDaß der Geist des Menschen metaphysische Untersuchungen einmal gänzlich aufgeben werde, ist ebensowenig zu erwarten, als daß wir, um nicht immer unreine Luft zu schöpfen, das Atemholen einmal lieber ganz und gar einstellen würden.“65

Das Misstrauen, von dem Nietzsche spricht, ist daher wohl weniger der Menschheit als ganzer zuzusprechen als vielmehr vereinzelten Denkern wie ihm selbst. Seine Prognosen, mit denen er den Schritt über die Genealogie hinaus in die Zukunft macht, haben aber ähnlich wenig Gewicht in Bezug auf die Frage nach der Geltung metaphysischer Urteile wie seine Rekonstruktionen ihrer Ursprünge. Alle Äußerun- gen in dieser Hinsicht verbleiben hierbei im Modus der Vermutung und des Gedan- kenexperiments, wenn nicht gar schlimmer und zwar im Modus des Verdachts. An- schließend an Paul Ricœur wird daher Nietzsche des Öfteren neben Freud und Marx als einer der drei Åmaîtres du soupçon“66 einer Verdachtshermeneutik zugeordnet. Gadamer sieht diese als unvereinbar mit der klassischen Form der Hermeneutik an, die bestrebt ist, die Intentionen des Autors zu erfassen, ohne deren Geltung anzu- zweifeln:

ÅThis radical suspicion was inaugurated by Nietzsche […] [T]his radical form of interpretation, which is almost at the opposite end of the spectrum of in- terpretation — because it challenges the claims of validity of ideas and ideo- logies.“67

ÅThis dichotomy is too sharp to allow us to rest content with a mere classifi- cation of the two forms of interpretation, either as simply interpreting state- ments following the intentions of the author or as revealing the meaningful- ness of statements in a completely unexpected sense and against the meaning of the author. I see no way in reconciling the two. […] [W]e have here a basic difference involving the whole philosophical role of hermeneutics.“68

Man könnte demnach Nietzsches genealogische Metaphysikkritik als eine Hermeneu- tik des Verdachts charakterisieren. Vielleicht ist aber auch nur eine neue Hermeneutik (ohne die negativen Konnotationen, die das Wort ‚Verdacht‘ mit sich bringen mag), die die Identität und Permanenz der Sinns sowie die vermeintliche Souveränität über die eigenen Intentionen infragestellt. Diese Art der Hermeneutik wirkt nicht nur de- struktiv, wie Gadamer es beschreibt, sondern sie weist auch eine konstruktive Di- mension auf: Sie vermag die Quellen des Denkens explizit und damit bewusst zu machen. Dadurch wird es möglich, die metaphysische Philosophie und die histori- sche Philosophie zusammenzuführen zu einem selbstkritischen Philosophieren, das seine Bedingungen immer wieder neu reflektiert und sich nicht gegenüber der Dy- namik des Lebens verschließt (ähnlich Whiteheads Konzept einer revidierbaren Me- taphysik69 ). Nietzsches Archäologie der Metaphysik kann uns zwar keinen Ausweg aus ihr weisen, jedoch kann sie uns zu mehr Achtsamkeit und Redlichkeit im Denken auffordern. Eben Philosophie nach Menschenmaß und nicht nach Gottesmaß.70

Literaturverzeichnis

Abel, Günter. 2008. Technik und Lebenswelt. Wechselseitige Herausforderung?. In: Poser, Hans (Hrsg.): Herausforderung Technik. Philosophische und technikgeschichtliche Analysen. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 77-96.

Field, Hartry. 1980. Science without Numbers. A Defense of Nominalism. Oxford: Basil Blackwell.

Gabriel, Gottfried. 2015. Erkenntnis. Berlin/Boston: De Gruyter.

Gadamer, Hans-Georg. 1984. The Hermeneutics of Suspicion. In: Shapiro, Gary/Sica, Alan (Hrsg.): Hermeneutics. Questions and Prospects. Amherst: The University of Massachusetts Press, S. 54-65.

Guderian, Myung Hee. 2009. Perspektiven der Metaphysikkritik. Typologie und Analyse metaphysikkritischer Argumente. Paderborn: mentis.

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Röd, Wolfgang. 2002. Friedrich Nietzsche. In: Thurnher, Rainer/Röd, Wolf- gang/Schmidinger, Heinrich: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3. Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (Geschichte der Philosophie, Band XIII). München: C. H. Beck, S. 59-112.

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Stoellger, Philipp. 2014. Genesis der Geltung und Geltung der Genesis. Eine Frage der Deutungsmacht. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 8 (1), S. 21-33.

[...]


1 MA 15.

2 Im Nietzsche-Lexikon behauptet Marc Rölli, dass Nietzsche in diesem Text Åerstmals die Grundlinien seiner M[etaphysik]-Kritik“ präsentiert. (Rölli 2011, S. 245).

3 MA 1.

4 MA 1.

5 Vgl. MA 1.

6 MA 1.

7 MA 1.

8 MA 1.

9 MA 1.

10 Vgl. Röd 2002, S. 74.

11 Guderian 2009, S. 223.

12 MA 1.

13 MA 2.

14 MA 2.

15 MA 2.

16 MA 2.

17 MA 2.

18 Stoellger 2014, S. 32.

19 MA 9.

20 MA 9.

21 MA 10.

22 MA 9.

23 MA 9.

24 In Aphorismus 30 von MA kritisiert Nietzsche den angeblich weit verbreiteten impliziten und un- bewussten Fehlschluss, dem gemäß von der psychologischen Wirkung (Lust oder Unlust) einer Mei- nung auf deren Wahrheitswert geschlossen wird: Åeine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr“. Wäre dies das eigentliche Vorgehen der Metaphysi- ker, widerspräche dies deren objektiver (insbesondere von Affekten unabhängiger) Wahrheitskonzep- tion.

25 Vgl. Gabriel 2015, S. 20f. Gabriel bezieht sich hier insbesondere auf Frege.

26 ÅMan darf aber nicht meinen, daß die Aufdeckung des Ursprungs der metaphysischen Vorstellungen ihrer Widerlegung gleichkomme.“ (Röd 2002, S. 73).

27 MA 27.

28 MA 27.

29 So der Titel des Aphorismus 27 von MA.

30 MA 27.

31 MA 29.

32 MA 11.

33 Man denke hierbei an die grammatische Subjekt-Prädikat-Struktur unserer Sprache und die Substanz-Akzidenz-Ontologie sowie an die Ideenlehre.

34 MA 11.

35 MA 11.

36 MA 11.

37 MA 20.

38 Vgl. MA 11.

39 MA 16.

40 MA 16.

41 MA 16.

42 Heidegger 2010[1949], S. 20.

43 Vgl. Guderian 2009, S. 231.

44 Röd 2002, S. 74.

45 Röd 2002, S. 74.

46 MA 32.

47 Vgl. MA 32.

48 MA 32.

49 Daher auch die Titel von Aphorismus 31 (Das Unlogische nothwendig) und 32 (Ungerechtsein nothwendig).

50 Vgl. Kant 2001[1783], S. 144 (AA IV, 356).

51 MA 16.

52 MA 6.

53 MA 6.

54 MA 6.

55 MA 17.

56 MA 17.

57 MA 17.

58 MA 18.

59 MA 18. Für eine Verteidigung der Willensfreiheit von libertarischer Warte aus s. Keil 2013.

60 Zum Beispiel Field 1980.

61 MA 19.

62 MA 19.

63 MA 19.

64 MA 21.

65 Kant 2001[1783], S. 159f. (AA IV, 367).

66 Ricœur 1965, S. 43 und 46. Dt.: Meister des Verdachts.

67 Gadamer 1984, S. 54.

68 Gadamer 1984, S. 58.

69 Vgl. Poser 1986.

70 Vgl. Abel 2008, S. 96.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Nietzsches genealogische Metaphysikkritik in "Von den ersten und letzten Dingen"
Autor
Jahr
2015
Seiten
19
Katalognummer
V312105
ISBN (eBook)
9783668114753
ISBN (Buch)
9783668114760
Dateigröße
551 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
nietzsches, metaphysikkritik, dingen
Arbeit zitieren
Martin Scheidegger (Autor:in), 2015, Nietzsches genealogische Metaphysikkritik in "Von den ersten und letzten Dingen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/312105

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