Vom Nürnberger Tand ins moderne Gewand - die Entwicklung einer traditionellen Produktionsstätte zu einem Zentrum von Dienstleistungen und High-Tech


Praktikumsbericht / -arbeit, 2001

81 Seiten, Note: 1,0

Andreas Huber (Autor:in)


Leseprobe


Gliederung:

1. Unsere Heißluftballonfahrt

2. Datenlage und Methoden

3. Phase des industriellen Aufschwungs
3.1. Übergewicht an industrieller Fertigung
3.2. Unternehmenskonzentration
3.3. Räumliche Konzentration um den Bahnhof
3.4. Spezialindustrien prägen den Ruf
3.5. Verkehrswegeinvestitionen

4. Phase der Stagnation und Krisen
4.1. Wachsendes Arbeitslosenheer
4.2. Die Branchenstruktur: fast nur industrielle Verlierer
4.3. Betriebliche Wanderungen in die Peripherie und Industriebrache

5. Phase der Tertiärisierung
5.1. Der Dienstleistungssektor
5.2. Hightech statt traditioneller Industrien:
5.3. Die Kommunikationswirtschaft
5.4. Veränderte Standortwahl
5.5. Späte Wende durch Dienstleistung am Arbeitsmarkt
5.6. Flächenmangel, Parks und Recycling

6. Hauptlinien der Wirtschaftsentwicklung
6.1. Die Hauptlinien Nürnbergs
6.2. Nürnbergs Hauptlinien im Vergleich zu Forchheim, Bamberg und Erlangen
6.2.1. Von der produktionslastigen Industrie zur IT
6.2.2. Wachsende Qualifikationsanforderungen
6.2.3. Von der Zentrumsnähe zur Peripherie
6.2.4. Wachsende Bedeutung weicher Standortfaktoren

7. Nürnbergspezifische Ursachen
7.1. Vorgeschichte prägt Branchenstruktur
7.2. Randlage
7.3. Das Image Nürnbergs: eher ein Bremsklotz?
7.4. Die Nürnberger Mentalität – Vorteil und Nachteil zugleich?
7.5. Nürnbergs hohe aber unbekannte Lebensqualität
7.6. Das Problem der Flächenknappheit
7.7. Fehlen von Technischer Universität und Forschungsinstituten
7.8. Externe Kontrolle
7.9. Stadt als Dienstleister

8. Nürnbergunabhängige Ursachen
8.1. Konjunktur insbesondere der Wiedervereinigungsboom
8.2. Konkurrenz unter Städten
8.3. Flexibilisierung
8.4. Weltweite Ursachen

9. Landung des Heißluftballons

10. Anhang
10.1. Expertenliste
10.2. Leitfäden der Interviews
10.3. Literaturliste

11. Retro-Huldigung

1. Unsere Heißluftballonfahrt

„Der Endkampf um die Stadt der Reichsparteitage beginnt. Die Soldaten schlagen sich tapfer und die Bevölkerung ist stolz und standhaft. Ich werde in dieser deutschesten aller Städte bleiben, kämpfen und fallen. Die nationalsozialistische Idee wird siegen...“ (Sonderdruck der Nürnberger Nachrichten 1989, S. 6), schrieb am 15. April 1945 der stellvertretende Gauleiter Nürnbergs an Adolf Hitler. Fünf Tage später war die Stadt, die von über 40 Bombenangriffen so stark zerstört war wie kaum eine andere in Deutschland, von den Amerikanern befreit.

Besonders stark in Mitleidenschaft gezogen war die Altstadt, aber auch die Nürnberger Wirtschaft lag im Mai 1945 am Boden. Die Bedeutung Nürnbergs als Stadt der Reichsparteitage und der Rassengesetze hatten die Stadt zu einer ideologischen Zielscheibe der Alliierten gemacht. Erschwerend kam hinzu, dass Nürnberg ein wichtiger Standort der Rüstungsindustrie gewesen war. So war die Stadt ins Visier der Siegermächte gekommen und hatte unter den Bombardierungen stärker leiden müssen als andere.

Mehr als 50 Jahre später zählt Nürnberg zu den Großstädten im wiedervereinigten Deutschland, das zu den reichsten und demokratisch gefestigsten Ländern der Erde gehört. Die Stadt im Herzen Frankens wirbt als Kompetenzzentrum für moderne Technologien und Dienstleistungen. Die Kommunikationswirtschaft und eine Reihe von Business-Parks prägen das moderne Stadtbild.

Aus einer „toten Stadt“ ist wieder ein pulsierendes Zentrum mit hoher Lebensqualität geworden. Die Lebenswirklichkeit von heute ist mit der von 1945 nicht mehr vergleichbar, sie hat sich grundlegend verändert. Ein enormer Wandel hat in diesen gut 50 Jahren stattgefunden. Die Beschreibung und Erklärung dieses Wandelprozesses ist unsere übergeordnete Leitidee. Der Verständlichkeit wegen werden wir uns nicht mit einer erheblichen Menge von Momentaufnahmen beschäftigen, sondern stets Informationen und Ergebnisse verdichten. Ganz so wie der Blick aus einem Heißluftballon, der über einer Insel schwebt.

Grundsätzlich gilt, dass die Entwicklung, die es in Nürnberg gab, nicht singulär ist. In vielen deutschen, aber auch anderen europäischen Städten wurde 1945 ganz neu angefangen. Der Begriff des Wiederaufbaus steht für eine Phase, die auf das ganze Bundesgebiet der westdeutschen Republik zutrifft. Geschichts- und Wirtschaftswissenschaft beziehen sich in der Regel auf nationale, kontinentale oder sogar globale Verhältnisse und Veränderungen. Das Modell der Marktwirtschaft mit ihren weitreichenden Folgen von Wettbewerb und Konkurrenz verkörpert seit längerem das Konjunkturprogramm in den sogenannten Industrienationen. Der Kalte Krieg wirkte sich auf die Entwicklung nicht nur in Europa und Amerika aus.

Gegenüber dieser Blickrichtung gibt es aber auch die stadtspezifische Ebene bei der Beschreibung der kommunalen Entwicklung. Da sind Wandelprozesse, die sich individuell in Nürnberg ereignet haben. Eine Stadt existiert als eigene Einheit, die unabhängig und selbstständig mit Politik, Zielen und Anstrengungen ihre Entwicklung beeinflussen kann.

Diese Unterscheidung in stadtunabhängige und die stadtspezifische Wandelerklärung liefert uns die beiden Ursachentypen, mit denen wir am Ende der Arbeit die Entwicklungen in Nürnberg analysieren wollen.

Wir drei machen uns also auf und wollen unsere Insel aus der Luft betrachten. Vom Boden aus können wir uns keinen Überblick verschaffen. Deshalb steigen wir ein wenig auf und versuchen aus einer höheren Ebene Einzelaspekte im Zusammenhang zu sehen. Wir wollen untersuchen wie die einzelnen Plätze auf der Insel in Verbindung stehen, wo es natürliche Grenzen und Übergänge gibt, wo sich die Beschaffenheit oder die Vegetation verändert.

Wir sind bei unserer Fahrt nicht allein. Wir haben Fremdenführer ausfindig gemacht, die uns bei der geruhsamen Fahrt die Insel aus ihrer Sicht zeigen sollen. Es ist genaugenommen auch nicht eine Fahrt, die wir unternehmen. Es sind acht Fahrten mit jeweils einem anderen Fremdenführer. Diese Fahrten haben eines gemeinsam: die Flughöhe. Ansonsten unterscheiden sie sich und sind alle ganz individuell. Der Flug nimmt mit jedem Experten einen anderen Verlauf ein. Die Startpunkte der Rundflüge sind verschieden und an mehreren Stellen auf der Insel zu finden. Die Dauer der Flüge ist ebenso unterschiedlich wie die Art der Fahrt. Manche Fremdenführer bleiben mit uns über einer Ecke der Insel und zeigen sehr genau und ausführlich, was in dieser Gegend so passiert. Andere rasen mit uns in zwei Stunden fast über die ganze Insel. Insgesamt kommen wir mit allen Fahrten überall mal hin und lassen nichts aus.

Am Ende der Rundflüge haben wir über unsere Insel ziemlich viel erfahren. Es fehlt uns allerdings das Wissen, ob es sich bei unserem beobachteten Objekt um eine typisch Insel handelt, oder ob sie sich stark von anderen unterscheidet. Wir sind an dieser Frage Antwort interessiert, weil wir mit der Antwort unsere Beobachtungen erklären und verstehen können. Stelle sich heraus die benachbarten Inseln gleichten unserer in hohem Maße, dann sind die Ursachen für das Aussehen und die Ergebnisse auf unserer Insel nicht auf ihr speziell zu suchen. Vielmehr müssten wir dann davon ausgehen, dass überregionale Faktoren, die Begebenheiten auf unserer Insel so wie auf jeder anderen bestimmen. Um uns den Inselvergleich zu ermöglichen heben wir also ein weiters Mal in unserem Ballon ab. Diesmal steigen wir höher hinauf als zuvor, um den Blick über unsere Insel hinaus zu bekommen. Wir fliegen also hinauf und vergleichen aus der Perspektive über unserer Insel unsere Beobachtungen. Aus dieser Höhe erkennen wir nun, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten bestehen. Damit spannen wir den Bogen zu unserer vorherigen Unterscheidung zwischen stadtspezifischen und stadtunabhängigen Ursachen.

Fehlt noch die Bestimmung, was unsere Insel eigentlich ist.

In den ersten Absätzen ist deutlich geworden, dass sich unsere Arbeit mit Nürnberg beschäftigt. Auch den zeitliche Rahmen haben wir bereits genannt. Unser Thema ist allerdings nur ein Aspekt aus der Nürnberger Nachkriegsentwicklung. Wir interessieren uns für den Wandel der städtischen Wirtschaft. Ziel ist es, Hauptlinien der Veränderung herauszufinden, sie zu beschreiben und zu erklären. Hauptlinien bieten den Vorteil auf einer abstrakteren Ebene Einzelinformationen und Momentaufnahmen zu Entwicklungssträngen zusammenzufassen. Diese Verbindung von einzelnen Fakten verspricht einen hohen Informationsgehalt, da die Tatsachen in Relation und Veränderung miteinander gesetzt werden und nicht alleine für sich stehen bleiben. Abstrakt ist nun bei unserer Metapher die Vorstellung, dass unsere Insel den zeitlichen Aspekt, den Wandel über 50 Jahre, auch verkörpert. Die einzelnen Gegenden unserer Insel, zum Beispiel Küste, Gebirge, Wald, Felder, stellen für uns die verschiedenen Phasen dar. Ein kompletter Rundflug steht somit für die gesamte Entwicklung der Nürnberger Wirtschaft von 1945 bis heute.

Warum aber Wirtschaft?

In der soziologischen Theoriebildung stellt die Wirtschaft oft den Motor einer Gesellschaft dar. Die ökonomischen Verhältnisse wirken sich auf die Lebenswirklichkeiten der Menschen aus. Die Wirtschaft bietet die Arbeitsplätze an, die die Grundlage schaffen, Geld zu verdienen und sich seine Existenz zu sichern. Fortschritt und Innovation verändern Beschäftigung, Produkte und somit Lebensstil. Die Dynamik im wettbewerborientierten Wirtschaftskreislauf erzwingt Veränderungen sowohl in der Struktur der Wirtschaft, in der Politik, bei der räumlichen Verteilung, als auch in der Gesellschaft. Dieser Wandel verläuft permanent. Dabei findet er entweder auf einer überregionalen Ebene statt oder bezieht sich teilweise nur auf ein Stadtgebiet.

Die Beziehung von Wirtschaft und Stadt ist eng miteinander verbunden. Unternehmen entscheiden mit Blick auf städtische Standortfaktoren, wo sie ihren Betrieb aufbauen. Die Städte stehen in Konkurrenz um die Präsenz von Unternehmen und sind daran interessiert einen attraktiven Standort anzubieten. Gegenseitig identifizieren sich beide Akteure miteinander. Die Stadt schmückt sich mit einem Image und die Unternehmen erhoffen sich die Unterstützung der kommunalen Verwaltung.

Am Beispiel der Wirtschaft wird unsere Unterscheidung in stadtspezifisch und stadtübergeordnet sehr deutlich. Wirtschaft hört nicht an der Stadtgrenze auf, sondern verbindet Region, Land und Welt. Wirtschaftskrisen wirken sich beispielsweise auf nationalen oder kontinentalen Ebenen aus. Verschiedene Wirtschaftsstrukturen aber sorgen dafür, dass manch eine Stadt während einer Rezession in tiefe Depression verfällt, während andere diese Zeit dank ihrer wirtschaftlichen Kompetenzen relativ unbeschadet überstehen. Die Entwicklung einer städtischen Wirtschaft erklärt sich somit aus kommunalen und überregionalen Faktoren. Nur die Verbindung dieser beiden Perspektiven gibt ein vollständiges Bild der Analyse.

Die Rundflüge mit unseren Fremdenführern ergeben in unserer Arbeit die Beschreibung der Entwicklung der Nürnberger Wirtschaft in Kapitel 3, 4 und 5. Wir haben uns entschieden mit Phasen zu arbeiten. Dabei charakterisieren wir eine Phase aber nicht rein zeitlich mit Jahreszahlen. Eine Phase ist vielmehr durch eine inhaltliche Leitidee gekennzeichnet. So unterscheiden wir drei Phasen voneinander: den Aufschwung der industriellen Fertigung, Stagnation und Krisen, sowie Modernisierung durch Strukturwandel.

Die Fremdenführer sind in der Realität acht Experten, die wir zum Zwecke der Datenerhebung interviewt haben. Diese Gruppe setzt sich aus Vertretern wichtiger Institutionen in Nürnberg zusammen. Unsere Gesprächspartner rekrutierten wir sowohl aus Ämtern der Stadt, als auch aus Verbänden und Vereinen der Wirtschaft. Außerdem unterhielten wir uns mit Vertretern aus der Wissenschaft und von der Presse.

Am Ende dieser Ballonfahrt sollte ein besseres Verständnis der Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs in den letzten 50 Jahren stehen: Welche Entwicklung hat es gegeben? Was waren die Einflussfaktoren? Warum hat sich Nürnberg gerade so entwickelt hat und nicht anders?

Zunächst einmal aber: Heiße Luft und Abheben.

2. Datenlage und Methoden

Wichtige Informationen dieser Arbeit beruhen auf insgesamt acht nicht standardisierten „Experteninterviews“ und daneben auf Dokumenten des Nürnberger Amts für Statistik in tabellarischer und graphischer Form. Die Ergebnisse einer auf der Straße, sowie am Telefon durchgeführten standardisierten Befragung von Einwohnern der vier Städte Forchheim, Bamberg, Erlangen und Nürnberg, sind für unsere Arbeit von eher geringer Bedeutung.

Generell lässt sich sagen, dass unsere Informationen für die unmittelbare Nachkriegszeit bis etwa 1960 eher dünn gesäht sind. Kein Wunder, waren die Menschen zu dieser Zeit doch eher damit beschäftigt, sich allmählich wieder eine neue Existenz aufzubauen, anstatt Wirtschaftsdaten für nachfolgende Generationen festzuhalten. Ein Mitarbeiter des Amts für Statistik kommentierte folgerichtig unsere Bitte um nach Datenmaterial für den frühen Zeitraum der 50er und 60er Jahre folgendermaßen: „1950 stand hier nur ein zerbombtes Haus!“ Zur Erfassung der letzten 40 Jahre stand uns hingegen deutlich mehr Literatur zur Verfügung und auch um das Erinnerungsvermögen unserer befragten Experten war es naturgemäß besser bestellt.

Als ein wichtiges Instrument der Informationsbeschaffung dienten uns also nicht- standardisierte Befragungen mit Experten. Die ausgewählten Personen sollten dabei nicht die Interessen einer einzelnen Unternehmung, einer einzelnen Partei oder irgendeiner anderen singulären Gruppierung vertreten, sondern ein für das Wirtschaftsleben der Stadt Nürnberg bedeutsames Organ.

Bei der Auswahl unserer Gesprächspartner waren wir zudem darauf bedacht, dass die Experten in ihrer Gesamtheit unseren Zeitraum möglichst breit abdeckten und zudem aus verschiedenen städtischen Institutionen stammten, um eine einseitige Betrachtung der Dinge zu vermeiden. Wir wollten verhindern, dass sich unter den Experten in manchen Punkten ein Konsens herauskristallisiert, der nicht auf der Eindeutigkeit der Wirklichkeit, sondern auf der Homogenität der Gesprächspartner beruht. So stellte Wilhelm Doni als ehemaliger Wirtschaftsreferent die Geschehnisse des früheren Zeitraums aus kommunalpolitischer Sicht dar, während Walter Schatz, seines Zeichens langjähriger Leiter der Lokalredaktion der Nürnberger Nachrichten, die wieder erstarkende Stadt aus einem journalistischen Blickwinkel beobachtete. Steven Zahlaus wiederum untersucht die Zeit des Wirtschaftswunders unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zum Zwecke seiner Dissertation.

Für den Zeitraum der letzten zwei bis drei Jahrzehnte hatten wir ebenfalls das Glück, Gespräche mit Repräsentanten unterschiedlicher Couleur führen zu können. Georg Schöttner vom Nürnberger Amt für Wirtschaft und Günther Kreuch als enger Mitarbeiter des aktuellen Wirtschaftsreferenten vertraten die Stadtverwaltung, Udo Raab von der IHK Nürnberg für Mittelfranken die Wirtschaftsseite. Jörg Hahn vom Verein Region Nürnberg e.V. sowie Michael Nordschild von der Nürnberger Initiative für Kommunikationswirtschaft liegt schließlich in erster Linie die Außenrepräsentation der Nürnberger Ökonomie und die Stärkung der Region am Herzen.

Inhaltlich drehten sich unsere Gespräche demnach um ein ähnlich breites Spektrum an Themen. Je nach Gesprächspartner setzten wir unterschiedliche Schwerpunkte, was natürlich auch verschiedene Leitfäden (siehe Anhang!) für den Gesprächsverlauf voraussetzte. Die Leitfäden indes, waren keine strengen Instrumente, sondern sollten eine grobe Orientierung für die Gestaltung und den Ablauf unserer Unterhaltungen sein, damit interessante Aspekte nicht unter den Tisch fielen.

Nach den Gesprächen wurden die Tonbandaufzeichnungen verschriftlicht und am Ende der Auswertungskette wurden die bedeutendsten Aspekte in einer Übersichtstabelle für alle Befragten zusammengefasst. Auf diese Art und Weise konnten wir die Ergebnisse der Gespräche nach wichtigen Dimensionen unseres Forschungsprojektes vergleichen: In den Spalten wurden die Experten, in den Zeilen ihre Aussagen festgehalten.

Als weiteres Hilfsmittel haben wir auf Basis von Äußerungen der Gesprächspartner mehrere Karten erstellt, die wesentliche räumliche Entwicklungen veranschaulichen.

3. Phase des industriellen Aufschwungs

Nach Angaben des Wirtschaftsredakteurs, Herrn Schatz, war Nürnberg nach dem zweiten Weltkrieg zu 85% zerstört, die Altstadt nahezu ganz. Die Menge an Schutt pro Kopf überstieg nach seinen Angaben sogar die von Dresden (Schatz 1989, S.6). Das Eisenbahn- und Straßenverkehrsnetz war zerstört; die Versorgungsanlagen für Strom- und Wasser stark beschädigt, rund 50% der Industriebauten kaputt. Doch diese Schäden waren noch nicht alles. Die Alliierten stellten noch dazu eine Demontageliste auf. Fünf Betriebe wurden schließlich total demontiert; fast alle der fünf Firmen gingen aufgrund von Kapitalmangel in den Konkurs (Geer 1971, S.505).

Bundesweit folgte nach der Stunde Null eine Phase, die mit Wiederaufbau bis hin zum Wirtschaftswunder bezeichnet wird. Man könnte erwarten, dass dies durch die große Zerstörung in Nürnberg verhindert wurde. Dagegen läßt sich in Nürnberg ein relativ rascher Wiederaufbau feststellen. Für diese Phase scheinen uns folgende Gesichtspunkte wichtig, die wir beschreiben wollen: das Übergewicht an industrieller Fertigung, die Unternehmenskonzentration, die räumliche Ballung um den Bahnhof, die rufprägenden Spezialindustrien und schließlich die Verkehrswegeinvestitionen.

Am Ende dieser Phase hat sich für Deutschland die Wirtschaft mehr als konsolidiert. Dies wird vor allem durch ein Ereignis verdeutlicht: die massive Anwerbung von Gastarbeitern, wobei im Jahre 1964 um die 20.000 Gastarbeiter in Nürnberg ankommen (Schultheiss 1966, S.162), die vor allem bei Siemens und Grundig beschäftigt wurden (Interview Schatz, Nürnberger Nachrichten).

3.1. Übergewicht an industrieller Fertigung

Unser Ziel ist es im Folgenden, den Charakter der Wirtschaft Nürnbergs näher zu beschreiben. Auf den ersten Blick scheint eine vollständige Auflistung aller Betriebe zu jedem Zeitpunkt erstrebenswert - auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch ein zu geringer Informationsgewinn. Der Leser hat keine Chance, den Sinn zwischen dieser bloßen Aufzählung zu verstehen. Dagegen scheint die Angabe von Branchenschwerpunkten und Sektorenkonzentrationen hilfreicher zu sein. Branchen fassen gleichartige Unternehmen zusammen, so dass die Ergebnisse verstehbar werden, auch wenn einzelne Unternehmen vielleicht nicht klar zugeordnet werden können. Schließlich lassen sich diese Branchenschwerpunkte auch nicht direkt angeben, sondern müssen mit dem Indikator der Beschäftigtenzahlen ermittelt werden.

Schultheiss (1966, S.159) schreibt, dass das Rückgrat der Nürnberger Wirtschaft unumstritten die Industrie gewesen sei. 1965 seien von 320.000 Beschäftigten 113.000 Industriearbeiter gewesen. Ein ähnliches Bild zeigt die hier folgende Arbeitsstättenzählung (Amt für Statistik und Stadtforschung 1971, S.86), die jedoch mit sozialversicherten Beschäftigten arbeiten und sich so die Zahlen von den oben genannten unterscheiden. Daraus geht hervor, dass 1961 über die Hälfte im produzierenden Gewerbe tätig waren und die Dienstleistung weniger als die Hälfte der Beschäftigten besitzt.

Tabelle 1: Aufteilung der Beschäftigten auf Sektoren 1961/ %

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: 1) Amt für Stadtforschung und Statistik Nürnberg: Arbeitsstättenzählung 1970, S. 86
2) Industrie, Baugewerbe und Bergbau
3) Handel, Gaststätten, Verkehr und Nachrichten, Öffentlicher Dienst und Dienstleistungen i.e.S.

In dieser Phase lag der Schwerpunkt der Nürnberger Wirtschaft also im produzierenden Gewerbe oder auch der Industrie. Der Historiker Zahlaus meinte, dass Nürnberg in der Zeit des Wiederaufbaus eigentlich das typische Beispiel einer deutschen Industriestadt gewesen sei.

Detailliertere Informationen können wir durch die Aufschlüsselung in spezielle Industriebranchen erhalten. Dabei stellen wir nur wichtige, ausgewählte Branchen dar.

Tabelle 2: Verteilung der Industriebeschäftigten auf ausgewählte Branchen 1951/ %

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: 1) eigene Berechnungen aus Karbach 1990, S.130 bzw. 132
2) eigene Berechnungen aus: Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch für die
Bundesrepublik Deutschland 1952, S. 149f.
3) aus der Sicht Nürnbergs

Tabelle 2 sowie alle anderen vorliegenden Quellen bestätigen die zwei Spitzenreiter dieser Zeit: die Elektroindustrie sowie den Maschinenbau. So wurden v.a. Motoren, Telefone, Fernseh- Küchen-, und Messgeräte gefertigt. Die großen Unternehmen der Elektroindustrie Nürnbergs bekamen Weltgeltung und ihre Namen sind auch heute noch bekannt: Grundig, Siemens, AEG, Bosch und weniger bekannt aber nicht minder in der Bedeutung: Triumph-Adler und Standard Elektrik Lorenz (SEL). Der Maschinenbau wurde beispielsweise durch die Namen Leistritz, Diehl und Cebal vertreten.

Zum Maschinenbau zählt weiterhin die Zweiradindustrie. Auch auf diesem Gebiet hatte Nürnberg vor allem mit den Nürnberger Hercules-Werken Weltruf. Mit der Motorisierung nach dem Krieg wurden Fahrräder und Motorräder nachgefragt, ein Drittel der deutschen Fahrradproduktion kam aus Nürnberg (Otembra 1950, S.58 in: Karbach 1990, S.149). Aber auch Schienenfahrzeuge wie U-Bahn-Züge wurden in Nürnberg produziert.

Zusammenfassend können wir sagen, dass der Schwerpunkt der Nürnberger Wirtschaft in der industriellen Fertigung in der Elektroindustrie und Maschinenbau lag. Er liegt eben nicht in der Verwaltung oder in der Forschung. So stellt Ritter fest, dass trotz der ausgeweiteten Fertigung von Elektroartikel forschungsintensive Bereiche des Apparatebaus und der Elektronik fehlten (Ritter 1986, S.15). Nürnberg war die Stadt der Arbeiter und eben nicht die der Verwaltungsbeamten oder Forscher und Entwickler. Auf diese einseitige Konzentration wird in der Literatur häufig bedauernd hingewiesen.

3.2. Unternehmenskonzentration

Noch eine Konzentration ist für Nürnberg charakteristisch. Bisher war immer von großen Betrieben, meist mit über 1000 Beschäftigten die Rede. Die drei größten Arbeitgeber waren 1988 Siemens (fünf Werke mit insgesamt 8.600 Beschäftigten), Grundig (6.000 Beschäftigte) und Diehl (5.000 Beschäftigte in drei Werken)(Karbach 1990, S.140). Dabei könnte sehr leicht der Eindruck entstehen, dass in Nürnberg nur solche Großbetriebe existierten. Dieser Eindruck ist gar nicht so falsch. Viele Beschäftigte (Zwei Drittel) arbeiteten in Großbetrieben mit über 500 Mitarbeiter. Dies entsprach aber nur 12% aller Betriebe in der Stadt. Auf der anderen Seite standen Kleinbetriebe mit weniger als 100 Beschäftigten. Über die Hälfte aller Nürnberger Unternehmen waren solche Kleinbetriebe. Dennoch wiesen sie nur einen Beschäftigtenanteil von 12% auf (Assmy 1983, S.41). Was fehlte, ist ein sog. Mittelbau, d.h. Unternehmen mit einer Beschäftigtenanzahl zwischen 100 und 500.

3.3. Räumliche Konzentration um den Bahnhof

Ein weiterer interessanter Aspekt ist die räumliche Verteilung der Nürnberger Großindustrie. Wir haben uns dabei die Frage gestellt, ob sich die Betriebe gleichmäßig über das gesamte Stadtgebiet angesiedelt hatten oder eine Konzentration an bestimmten Stellen zu erkennen ist.

Zuvor aber eine knappe Einführung in das Stadtgebiet von Nürnberg. Die Stadt wird im Westen von der Stadt Fürth begrenzt, weiter nördlich durch die Stadt Erlangen. Im Osten befindet sich der Reichswald, der dem Freistaat Bayern gehört. Im Untersuchungszeitraum gibt es eine Eingemeindungswelle 1972, die das Stadtgelände um ein paar Dörfer, vor allem im Norden, erweiterte. An die Innenstadt schließen sich eine innere und eine äußere Ringstraße an. Der Passagierbahnhof befindet sich im Süden an der ersten Ringstraße, der Güterbahnhof, der viel Fläche in Anspruch nimmt, noch weiter im Süden außerhalb der zweiten Ringstraße. Ihm schließt sich noch weiter südlich der Hafen an. Der Flughafen befindet sich dagegen im Norden.

Die Unternehmen sollen, wie der Historiker Herr Zahlaus anmerkte, vor allem an den Standorten vor dem zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut worden sein und nennt als Beispiel die Firma MAN. Auf diese Weise entstand erneut die größte Agglomeration der Industriebetriebe im Süden der Stadt. Es fällt auf, dass sich hier gegenüber anderen Orten besonders die Industrieunternehmen häufen. Ein Mitarbeiter des Wirtschaftsreferats, Herr Kreuch, spricht in diesem Zusammenhang von einem Industrieband, andere Quellen von einem Gürtel. Dieser Gürtel besteht aus einem Arsenal um die Fürther Straße im Westen der Stadt, das sich an den Gibitzenhof, ein Gebiet auf der Höhe des zweiten Ringes im Norden, anschließt. Vor allem die schon erwähnten Großbetriebe der Elektro- und Maschinenbauindustrie siedelten sich dort an: die MAN, die Maschinenfabrik Leistritz, die Alcan-Aluminium, das Herculeswerk, die AEG, SEL Bosch, und die Triumpfh-Adler. Es ist anzunehmen, dass sich diese Industrien vor allem wegen des häufig vorhandenen Gleisanschlusses hier niederließen.

3.4. Spezialindustrien prägen den Ruf

Neben den oben erwähnten mitarbeiterstarken Branchen gibt es Industriezweige, die für die Stadt wichtig waren, weil sie deren Ruf oder das Image prägten und auch heute noch prägen. Vor allem der "Verein Region Nürnberg" betont die Wichtigkeit dieser Traditionsbranchen sogar für das heutige Image. Der Geschäftsführer des Vereins unterstrich den Nutzen eines traditionellen Images mit dem Satz „Zukunft braucht Herkunft“. An dieser Stelle sollen deshalb die Spielwaren-, die Bleistift- und Lebkuchenindustrie als typische und bekannte Branchen Erwähnung finden.

Die Spielwarenindustrie ist vor allem durch Eisenbahnhersteller wie die Firma Fleischmann bekannt. Auch das Handelsunternehmen VEDES, eine Einkausgenossenschaft, hat ihren Sitz in Nürnberg. Am Beispiel der Spielwarenindustrie läßt sich nochmals die Bedeutung der Spezialindustrien hervorheben. Sie sind von der Beschäftigtenanzahl kaum erwähnenswert, denn in der Region Mittelfranken machte die Spielwarenindustrie 1987 nur 1,5 Prozent der Industrieplätze aus (Karbach 1990, S.146). Mit dem Spielzeugmuseum, dem weltberühmten ‚Christkindelmarkt‘ und einer internationalen Spielzeugmesse hat diese Industrie aber eine ungeheure Außenwirkung. Auch eine historische Richtungsentscheidung ging von ihr aus. 1949 wollte man wieder die "deutsche Spielwarenmesse" veranstalten. Der traditionelle Messestandort Leipzig kam wegen des neu entstandenen „Eiseren Vorhangs“ nicht mehr in Frage und die Entscheidungsträger wählten daher Nürnberg. Anfangs fand die jährliche Spielwarenmesse in einer Berufsschule statt, bis man sich 1970 entschloss, ein eigenes Messezentrum auszubauen. Dies ermutigte viele Unternehmen, ihre Standorte in Nürnberg wieder aufzubauen und nicht aufzugeben.

Die zweite Spezialindustrie ist die Bleistiftindustrie, die in Nürnberg weit zurück reichende Wurzeln besitzt. Vor dem zweiten Weltkrieg sollen 95% der Hersteller der gesamten deutschen Bleistiftindustrie in Nürnberg ansässig gewesen sein (Ottemba 1950, S.55 in: Karbach 1990, S.148). Der erste offizieller Bleistiftmacher überhaupt war Friedrich Staedler in Nürnberg. Er gründete das Unternehmen Staedler, das auch heute noch in Nürnberg existiert, jedoch das Sortiment auf Zeichengeräte ausgeweitet hat. Weiterhin sollte man neben Staedler noch die Marktführer Schwan-Stabilo und Faber-Castell nennen. Um die Außenwirkung dieser Spezialindustrie zu verdeutlichen, sei als Beispiel erwähnt, dass der Image-"Verein Region Nürnberg" heute mit der Qualität von Faber-Castell wirbt.

Die Lebkuchen schließlich werden wohl am häufigsten mit Nürnberg in Verbindung gebracht. Hier ist vor allem der Hersteller E. Otto Schmidt zu nennen, der seine Lebkuchen in die ganze Welt verschickt. Daneben ist jedem Kind Schoeller bekannt, ein Nürnberger Unternehmen, das heute in erster Linie Speiseeis produziert, ursprünglich aber aus dem Lebkuchengeschäft stammte.

Räumlich betrachtet häufen sich die Spezialindustrien im Norden zwischen der inneren und äußeren Ringstraße. So finden sich hier beispielsweise Schwan-Stabilo oder Schoeller. Dass hier speziell die Bleistiftindustrie saß, bestätigte auch der Vertreter des Amts für Wirtschaft.

Fazit: Das bisherige Bild von Nürnberg als Arbeiterstadt mit rauchenden Industrieschloten wird ergänzt um einen imageträchtigen Aspekt: die Welt der Lebkuchen und Spielzeugeisenbahnen.

3.5. Verkehrswegeinvestitionen

Die Investition in Verkehrswege ist sehr auffällig. In manchen Büchern erschöpft sich die Darstellung der Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs in diesem einen Thema. Dabei ist die innerstädtische Verkehrsinfrastruktur weniger von Interesse. Vielmehr werden die überregionalen Verkehrsanbindungen beschrieben.

Schon relativ früh baute die Deutsche Bahn an ihren Strecken, wie z.B. die Elektrifizierung der Strecke nach Frankfurt 1952. Damit wurde Nürnberg wieder zu einer Stadt mit Eisenbahnknotenpunkt (Interview ehemaliger Wirtschaftsreferent Doni).

Ein weiterer Schritt wurde mit der Neugründung des Flughafens Marienberg 1954 im Norden Nürnbergs getan. Zu diesem Großprojekt wurden Eingemeindungen vorgenommen. Herr Schöttner aus dem Amt für Wirtschaft bewertete den Flughafenbau und die Messe als die richtungsweisenden Investitionen für Nürnberg zu dieser Zeit.

Eine Stadtautobahn, die die umliegenden Städte Erlangen, Fürth, Nürnberg und Schwabach verbindet, wurde über das Flussbett des alten Kanals gebaut. In den 60ger Jahren folgte die Anbindung an das Autobahnnetz. Hier hat auf Drängen der Stadt Nürnberg 1964 der Bau der Autobahn nach Frankfurt begonnen - 1968 erfolgte die Erweiterung nach Hamburg, Köln bis hin nach Rotterdam. Somit war der Nordwesten für die Nürnberger erschlossen. Doch auch in Südwestlicher Richtung bestand für die Nürnberger Industrie bald ein schneller Anschluss. Durch eine Autobahn wurde Nürnberg mit Karlsruhe, der Schweiz und Frankreich verbunden.

Somit war Nürnberg über Autobahnen und per Flugzeug ausreichend gut erreichbar. Es fehlte eine wirtschaftlich nutzbare Wasseranbindung. 1968 begann mit dem Rhein-Main-Donau-Kanal wieder ein Großprojekt, der West und Ost bis hin zum Schwarzen Meer verband. Viele bayrische Städte erhielten durch den Kanal Anschluß, darunter Würzburg und Bamberg, Forchheim, Erlangen. Nach einer erneuten Eingemeindung und einer Dorfumsiedlung wurde ein Hafen an einem völlig neuen Ort ausgehoben. Ein Dorf wurde dafür umgesiedelt (Interview Doni, ehemaliger Wirtschaftsreferent). Der Hafen wurde 1972 fertiggestellt und an den Rhein-Main-Donau-Kanal oder auch Europakanal angeschlossen. Die Idee der "multimodalen Verkehrsanlage" oder des "Güterverkehrszentrums" wurde verwirklicht. Dabei geht es um den Umschlag von Gütern zwischen Wasser, Straße und Luft. Dieser Umschlag von Gütern mit einer Zwischenlagerungsfunktion sollte einen wirtschaftlichen Vorteil bringen (Interview ehemaliger Wirtschaftsreferent Doni).

4. Phase der Stagnation und Krisen

Ab etwa 1961, dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders, ist in Nürnberg ein jahrzehntelanger, langsamer Abstieg und Bedeutungsschwund der Industrie zu konstatieren. Das Steckenpferd der Stadt, das im Verbund mit dem Handwerk auf eine lange Tradition zurückblickt („Nürnberger? Tand geht durch alle Land.“ Quelle), stolperte von einer Krise in die nächste. Im wesentlichen weist die Statistik vier schwere Krisen in Nürnberg aus. Der erste konjunkturelle Einbruch ist für die Jahre 1966 und 1967 zu verzeichnen. Mitte der 70er und während der ersten Hälfte der 80er Jahre wirkten sich auch in Nürnberg weltweite Verschärfungen der Ölpreise stark aus. Ab 1992, als der zwischenzeitliche Wiedervereinigungsboom abebbte, machte der Industrie für einige Jahre eine weitere, v.a. durch den niedrigen Dollarkurs bedingte Krise zu schaffen.

Parallel zur oben skizzierten Entwicklung wuchs der Dienstleistungssektor noch langsam und war zudem in beträchtlichem Maße selbst an die Industrie gekoppelt, so dass er die Schwierigkeiten des produzierenden Gewerbes bis in die 90er Jahre hinein nicht annähernd ausgleichen konnte (siehe dazu Punkt 3.3). Sträter (1991, S. 8) spricht von im wesentlichen „(...) produktionsnahen, konsumbezogenen und distributiven, also in der Regel privaten Dienstleistungen (...)“, die für Nürnberg kennzeichnend sind.

Am deutlichsten sind wirtschaftliche Problemjahre immer auf dem Arbeitsmarkt wiederzuerkennen (aber das abnehmende Gewicht des sekundären Sektors lässt sich auch anhand des schwindenden Anteils des produzierenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung feststellen). Wir wollen bei unserer Analyse außerdem zwischen verschiedenen Branchen der Nürnberger Industrie unterscheiden und einen Blick auf Veränderungen im Stadtbild werfen.

4.1. Wachsendes Arbeitslosenheer

Die wachsende Arbeitslosigkeit als gravierendste Konsequenz wirtschaftlicher Krisenjahre wollen wir in erster Linie anhand von Zahlen betrachten. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich hinter diesen nackten Zahlen der Statistik weit mehr verbirgt als nur Boom und Rezession in der Wirtschaft. Neben der zunehmenden Belastung der Finanzhaushalte, die die Handlungsfähigkeit einer Stadt (Sozialhilfezahlungen!) und eines Landes einschränken, wird Arbeitslosigkeit zu einem sozialen Problem, ganz zu schweigen von den zahlreichen Einzelschicksalen. Eine hohe Arbeitslosenquote zieht die Steigerung der Kriminalitätsrate (in Nürnberg +72 % seit 1979, aus Amt für Statistik 2000, S. 37) oder die Verelendung einzelner Viertel nach sich und Unzufriedenheit, Selbstzweifel und Sozialneid schlagen sich auf das Klima in einer Stadt nieder. Die Anschläge auf Asylbewerberheime und eine wachsende Ausländerfeindlichkeit seit Beginn der 90er Jahre insgesamt fallen nicht von ungefähr mit einer langgezogenen wirtschaftlichen Krise in Deutschland zusammen.

Den Arbeitsmarkt wollen wir nun hinsichtlich drei verschiedener Merkmale unter die Lupe nehmen: Die Anzahl der (zumeist) sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, sodann die Arbeitslosenquote Nürnbergs, die am aussagestärksten im bayern- und bundesweiten Vergleich ist, sowie schließlich die Problemgruppen auf dem Nürnberger Arbeitsmarkt.

Der Höhepunkt der Industriestadt Nürnberg war, was die Zahl der Beschäftigten angeht, Anfang der 60er Jahre erreicht. 1961 wurde die Höchstzahl an Beschäftigten in der Geschichte der Nürnberger Industrie registriert. In Zahlen der damaligen statistischen Erfassung: Etwa 160000 Personen verdienten sich ihren Lohn im sekundären Sektor, zu dem neben der Industrie auch das ebenfalls angeschlagene Baugewerbe gehört (Arbeitsstättenzählung 1961). Ab diesem Zeitpunkt weist die Beschäftigtenstatistik für das produzierende Gewerbe einen bis weit in die 90er Jahre hinein reichenden, relativ kontinuierlichen Absturz aus, der nur von wenigen Jahren der Erholung unterbrochen wurde. Ende der 90er Jahre waren nur noch etwa halb so viele Personen im sekundären Sektor beschäftigt wie 1961 (Anm. d. Verfasser: Wegen der Umstellung der „Klassifikation der Wirtschaftszweige“ in den Jahren 1979 und 1993 sind diese Zahlen nur in der Tendenz, nicht jedoch für den einzelnen Prozentpunkt vergleichbar!). Viele Betriebe starben oder bauten zumindest kräftig Beschäftigte ab.

Natürlich trat der Stellenabbau in besonderem Maße während der Krisenzeiten auf. Gutowski (1993, S. 9) hielt für die Krisenjahre 1966/1967 einen Verlust von etwa 9000 Arbeitsplätzen in der Industrie fest. Während der Zeit der ersten Ölkrise (1974-1976) war ein Abbau von ca. 11 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu beklagen und von 1981 bis 1984 fielen der nächsten Ölknappheit noch einmal etwa dieselbe Anzahl an Stellen in der Industrie zum Opfer. Die (vorerst) letzte und hartnäckigste Krise folgte schließlich ab 1991 bis beinahe zum Ende des letzten Jahrzehnts, als etwa 30 000 industrielle Arbeitsplätze „wegrationalisiert“ werden mussten. (www.statistik.nuernberg.de). Eine traurige Zahl, die wohl nur in wenigen anderen vergleichbaren Städten zu beklagen war.

Dies alles war der Arbeitslosenzahl und der daraus ermittelten Arbeitslosenquote natürlich nicht zuträglich. Auch hier sprechen die Zahlen des Arbeitsamtsbezirks Nürnberg die deutlichste Sprache:

[...]

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Vom Nürnberger Tand ins moderne Gewand - die Entwicklung einer traditionellen Produktionsstätte zu einem Zentrum von Dienstleistungen und High-Tech
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Veranstaltung
Einjähriges Soziologisches Forschungspraktikum
Note
1,0
Autoren
Jahr
2001
Seiten
81
Katalognummer
V31282
ISBN (eBook)
9783638323352
ISBN (Buch)
9783638761147
Dateigröße
686 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ein 80-seitiger Forschungsbericht, der auf insgesamt 8 nicht-standardisierten Interviews mit wichtigen Repräsentanten aus Wirtschaft, Politik und Journalismus basiert. Die Arbeit identifiziert zunächst 3 Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung Nürnbergs (industrieller Aufschwung, Stagnation und Krisen, Tertiärisierung), um dann aus einem Vergleich mit den Städten Bamberg, Erlangen und Forchheim Nürnberg-spezifische und städte-übergreifende Gründe für die Entwicklung herauszuarbeiten.
Schlagworte
Nürnberger, Tand, Gewand, Entwicklung, Produktionsstätte, Zentrum, Dienstleistungen, High-Tech, Einjähriges, Soziologisches, Forschungspraktikum
Arbeit zitieren
Andreas Huber (Autor:in)S. Schwieren (Autor:in)D. Hess (Autor:in), 2001, Vom Nürnberger Tand ins moderne Gewand - die Entwicklung einer traditionellen Produktionsstätte zu einem Zentrum von Dienstleistungen und High-Tech, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31282

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