Gegenstand der Untersuchung sind literarische Darstellungen des Todes und Sterbens am Beispiel von dreißig ausgewählten mittelhochdeutschen Mären im Stichprobenvergleich mit motivisch verwandten altfranzösischen Fabliaux und Novellen Boccaccios. Im Anschluss an die Einzeluntersuchungen wird ein Gesamtbild des literarischen Umgangs mit diesem Thema, dessen Funktionalisierung und Entwicklung skizziert.
Im ersten Schritt wird konstatierend und kommentierend das zusammengetragen, was sich an Reflexen von Todesdenken und Sterbebrauchtum im Korpus der dreißig ausgewählten Mären findet – auch anhand eines Stichprobenvergleichs mit drei Fabliaux und neun Novellen Boccaccios. Dazu ist noch zu sagen, dass mit diesen dreißig auch schon nahezu alle Mären aufgezählt sind, die für eine solche Untersuchung fruchtbar gemacht werden können (vielleicht ausgenommen einiger weiterer wie z.B. Der Richter und der Teufel).
Diese Mären stellen immerhin einen Anteil von etwa 14% des gesamten Märenkorpus. Zusammenfassend soll dann im zweiten Schritt aus dem Mosaik der Einzelergebnisse ein Gesamtbild des literarischen Umgangs mit diesem Thema skizziert werden, auch wenn dieses notwendigerweise eher einem aus den Befunden zu den jeweiligen drei Märentypen zusammengesetzten Triptychon ähneln muss.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort und Danksagung
2. Einleitung
3. Bestandsaufnahme / Interpretationen
3.1. Bis der Tod sie zusammenführt: Sentimentale Geschichten von Liebe über den Tod hinaus
3.1.1 Konrad von Würzburg: Herzmäre
3.1.2 Die Frauentreue
3.1.3 Der Schüler von Paris A
3.1.4 Der Schüler von Paris B
3.1.5 Der Schüler von Paris C
3.1.6 Hero und Leander
3.1.7 Pyramus und Thisbe
3.2 Bis der Tod sie scheidet: exemplarische Geschichten vom ernsten Spaß des ehelichen Zusammenlebens
3.2.1 Das Schneekind (A/B)
3.2.2 Der Stricker: Die drei Wünsche
3.2.3 Der Stricker: Das erzwungene Gelübde
3.2.4 Der Stricker: Der Gevatterin Rat
3.2.5 Der Stricker: Der begrabene Ehemann
3.2.6 Drei listige Frauen (A)
3.2.7 Heinrich Kaufringer: Drei listige Frauen (B)
3.2.8 Hans Folz: Drei listige Frauen (C)
3.2.9 Heinrich Kaufringer: Die Rache des Ehemannes
3.2.10 Die böse Adelheid
3.2.11 Des Weingärtners Frau und der Pfaffe
3.3. Bekehrung oder Tod: Von den Wegen zur „Heilung“ widerspenstiger Frauen und der Rettung der Ehe
3.3.1 Der Stricker: Die eingemauerte Frau
3.3.2 Der Herr mit den vier Frauen
3.3.3 Heinrich Kaufringer: Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar
3.4 Wernher der Gärtner: Meier Helmbrecht
3.5. Kurioses, Dreistes, Komisches: der Tod als unerhörte Begebenheit
3.5.1 Der Zwickauer: Des Mönches Not
3.5.2 Der Freudenleere: Der Wiener Meerfahrt
3.5.3 Heinrich Kaufringer: Die unschuldige Mörderin
3.5.4 Niemand: Drei Mönche zu Kolmar
3.5.5 Rosenplüt: Der fünfmal getötete Pfarrer
3.5.6 Hans Schneider: Dieb und Henker
3.6. Zwei Wiedergängergeschichten
3.6.1 Die undankbare Wiedererweckte
3.6.2 Rittertreue
4. Zusammenfassung / Schlussfolgerungen
5. Literaturverzeichnis
1. Vorwort und Danksagung
Die vorliegende Arbeit ist im gewissen Sinn ein Gegenstück zu meiner Diplomarbeit über die Heidenbekehrung- und Taufe in der mittelhochdeutschen Dichtung (Universität Wien, 2006), und zwar deshalb, weil im christlich-mittelalterlichen Verständnis nicht die Geburt den Beginn eines Lebens markiert, sondern erst der Empfang der Taufe, also die Bekehrung. Trefflich demonstriert diese Denkweise etwa ein Paradoxon aus dem Legendenroman Barlaam und Josaphat: als Josaphat seinen mehr als siebzig Jahre alten Lehrer nach seinem Alter fragt, antwortet dieser: [...] vür wâr, / ich habe vünf und vierzig jâr (v. 6251f.); davor sei er in den sünden tôt gewesen (v. 6281). Diese Arbeit befasst sich nun nicht mit den ersten, sondern mit den letzten Dingen des Menschen, mit der Thematisierung des Todes und Sterbens, und zwar in der Märendichtung.
Im ersten Schritt wird konstatierend und kommentierend das zusammengetragen, was sich an Reflexen von Todesdenken und Sterbebrauchtum im Korpus der dreißig ausgewählten Mären findet – auch anhand eines Stichprobenvergleichs mit drei Fabliaux und neun Novellen Boccaccios. Dazu ist noch zu sagen, dass mit diesen dreißig auch schon nahezu alle Mären aufgezählt sind, die für eine solche Untersuchung fruchtbar gemacht werden können (vielleicht ausgenommen einiger weiterer wie z.B. Der Richter und der Teufel). Diese Mären stellen immerhin einen Anteil von etwa 14% des gesamten Märenkorpus. Zusammenfassend soll dann im zweiten Schritt aus dem Mosaik der Einzelergebnisse ein Gesamtbild des literarischen Umgangs mit diesem Thema skizziert werden, auch wenn dieses notwendigerweise eher einem aus den Befunden zu den jeweiligen drei Märentypen zusammengesetzten Triptychon ähneln muss.
Mein Dank gilt sowohl Prof. Matthias Meyer von der Universität Wien für seine Unterstützung und Geduld bei der Betreuung dieser Arbeit, Prof. Pavol Koprda, der dieses Vorhaben freundlicherweise ermöglichte und unterstützte, meiner Familie als auch allen, die mir in dieser oder jener Form damit geholfen haben.
2. Einleitung
Mären bilden in der Tat eine durchaus heterogene, schwer definierbare Gruppe kürzerer Verserzählungen, die beginnend mit dem Stricker in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und endend mit Hans Folz im 15. Jahrhundert unter sich wandelnden Bedingungen entstanden. Nach der nicht unproblematischen, aber bislang immer noch besten Definition Fischers ist das Märe “eine in paarweise gereimten Viertaktern versifizierte, selbständige und eigenzweckliche Erzählung mittleren (d.h. durch die Verszahlen 150 und 2000 ungefähr umgrenzten) Umfangs, deren Gegenstand fiktive, diesseitig-profane und unter weltlichem Aspekt betrachtete, mit ausschließlich (oder vorwiegend) menschlichem Personal vorgestellte Vorgänge sind” (Studien zur deutschen Märendichtung, S. 62f.). Fischer unterteilt a.a.O., S. 101, die Mären in drei Untergruppen, für die teilweise andere bis gegensätzliche Grundhaltungen charakteristisch sind, was sich in der Regel auch an unterschiedlichen Funktionalisierungen der jeweiligen Darstellungen von Tod und Sterben offenbart. Es sind das didaktisch angelegte moralisch-exemplarische Märe in der Tradition des Strickers, das sich an vergleichbaren oder gleichen Stoffen wie das altfranzösische Fabliaux inspirierende derb-komische Schwankmäre und das höfisch-galante Märe, im Folgenden auch Minnemäre oder sentimentales Märe vom Minnetod genannt sowie Mischformen und Grenzfälle; die Grenzen dieser Typen sind fließend, es gibt zahlreiche, später auch evident experimentelle, Durchdringungen.
Sentimentale Mären vom Minnetod stellen eine spezifische und relativ eigenständige Gruppe von Erzählungen dar, die sich durch Haltung, Funktion und Sprache nicht unwesentlich von exemplarischen und schwankhaften Mären abheben. Der noblen Erhabenheit der zum Liebestod führenden Gefühle will oft ein höherer, geblümterer Sprachstil gerecht werden, den man sonst innerhalb der Märendichtung nur sporadisch und dann als Parodie antrifft. Das betrifft, wie Grubmüller korrekt herausstellt, im Besonderen die (zahlreichen und zentralen) Totenklagen.[1] Die formalen Unterschiede sind freilich Ausdruck grundsätzlicherer inhaltlicher Spezifika. Das Anliegen der Mären dieser Gruppe ist die positiv aufgefasste Sensibilisierung des Lesers für das Irrationale und Fatale einer aussichtslosen und daher zwangsläufig im Tod des Liebespaares endenden Liebe. Sie bauen im strengen Gegensatz zu den anderen beiden Märentypen auf der Nähe, der Identifikation des Publikums mit dem tragischen Schicksal der Liebenden, also auf Empathie. Die larmoyante Atmosphäre unterscheidet sich wesentlich von der pragmatischen Nüchternheit, zu der exemplarische Mären explizit oder implizit aufrufen, indem sie u. A. gerade auch die empfindsamen Geschichten vom Minnetod aufgreifen und parodierend verkehren, um das Gefühlsmäßig-Irrationale – im bäurischen oder klerikalen Milieu! – als Dummheit aufzuzeigen und zu verspotten. Weniger oder gar nicht auf didaktische Ziele als primär auf unbeschwertes Lachen sind Schwankmären ausgerichtet, die ihrer Grundhaltung nach einen Gegenpol zu den traurigen Geschichten vom Minnetod darstellen.
Im Folgenden soll auch ermittelt werden, inwiefern in den Schwankmären dieses Lachen, bei dem auch der Tod aller Erhabenheit entblößt lediglich zur Karrikatur seiner selbst wird und verlacht werden kann, die Funktion eines heilenden und befreienden profanen Dem-Tod-ins-Geschicht-Lachens erfüllen könnte.
Grubmüller will das Herzmäre, den Schüler von Paris, die Frauentreue oder Pyramus und Thisbe – alles Mären von Minnetod – einem weiteren Typ der sog. demonstrativen Mären zugeordnet wissen.[2] Sie sollen auf eine Pointe, einen schlagartig den Sinn enthüllenden Moment zulaufen. Sie „argumentieren nicht, wie die exemplarischen Mären der Stricker-Tradition, sie führen vor, und in diesem Sinne sind sie demonstrativ. Sie zeigen das auch darin, dass sie nicht mit Handlungen enden, aus deren Gelingen oder Fehlschlagen Schlüsse über richtiges oder falsches Verhalten gezogen werden könnten, sondern mit einer Epiphanie der Liebe in Bildern, die das Geschehene in prägnanter Verdichtung oder, besonders bei den Mären vom Minnetod, in auratisierender Schau zusammenfassen“ (a.a.O., S. 161). Das Problem einer solchen Abgrenzung eines Typs der demonstrativen Mären liegt zunächst darin, dass viele Verfasser direkt oder indirekt auch in diesen Mären durchaus Wertungen darüber mit einbeziehen, ob ein solches Verhalten richtig oder falsch ist. Der eine sieht in der Bereitschaft, sich großen Gefühlen zu öffnen, ein ideales, positives, nachahmenswertes Beispiel, der andere stellt sich gegen eine Bereitschaft zum Übermaß, hält sie nicht für nachahmenswert, da sie eben in den Tod führt, ein anderer wiederum verspottet diese Gesinnung, aber hier sind wir schon beim exemplarischen und schwankhaften Märe angelangt.
Die (angestrebte) Erzeugung von Mitleid erfordert andererseits sukzessive Einstimmung in die düstere Atmosphäre samt eindeutig interpretierbaren Signalen, die auf eine tragische Weiterführung der Handlung vorausweisen (wenn nicht gar gleich anfangs direkt gesagt wird, dass es sich um eine Geschichte vom Liebestod handelt). So mag sich der Sinn schlagartig nur der betreffenden literarischen Gestalt enthüllen, das Publikum ist bereits auf Tragisches gefasst. Überraschen tut dann meistens nur die konkrete, meist stark symbolisch gefärbte Ausführung der Tode, die die natürliche Klimax der Handlung bilden: es ist hier, wo die Verfasser besonders bemüht sind, etwas Neues beizusteuern und gerade ihrer Version der klassischen Dreiecksgeschichte individuelle, einzigartige Züge zu verleihen. Einige Beschreibungen des Sterbens wirken deshalb viel zu überspannt und artifiziell. Dem Problem der geradezu offensichtlichen Vorhersehbarkeit des vielfach kursierenden Handlungsschemas und der Antizipationen des Publikums begegnet der Verfasser eines der Texte dadurch, dass er die Frau eben keinen physischen Folgetod aus Liebe zum gestorbenen Geliebten sterben lässt. Dieser Verfasser heißt Boccaccio und der Text ist eine Novelle.
Entgegen der chronologischen Konvention werden aufgrund der stärkeren Verwurzelung in höfischer Tradition die Mären vom Minnetod an den Anfang der Betrachtungen gestellt, obzwar dieser Typus erst mehrere Jahrzehnte nach der Gründung der Gattung durch den Stricker und seinen exemplarischen Mären aufkam. Einzelne Märentypen werden thematisch und nach ihrer Auffassung von den letzten Dingen auf einer Skala aufgereiht, auf deren einer Seite das Erhabene der höfisch-galanten Mären und auf der anderen das Derbe der schwankhaften Mären zu positionieren sind. Den Raum zwischen diesen zwei Ausprägungen nehmen exemplarische Mären ein.
Einer der wichtigen Aspekte, die hier untersucht werden, ist die narrative Ausbeute der zuweilen minutiösen Beschreibungen des Sterbebrauchtums. Eine vergleichbare Detailfreude ist auch in früherer profaner Erzähldichtung nicht anzutreffen, über die Alois M. Haas in seiner ausgezeichneten Studie Todesbilder im Mittelalter. Fakten und Hinweise in der deutschen Literatur, S. 87, Folgendes berichtet: „Die Dominanz theologischer, kirchlicher, kurz religiöser Begründungen des Todes im Mittelalter bezeugt sich in der mittelalterlichen Dichtung nachhaltiger als etwa die Spiegelung konkreter, brauchtümlicher Thanatopraxis oder Sterbevorgänge. Mindestens im frühen Mittelalter. Mit dem Aufkommen eigentlich fiktionaler Literatur – Erzähldichtung im umfassendsten Sinn, genauer: Heldendichtung und höfischer Roman! – dagegen werden mindestens die zeitgenössisch allbekannten Möglichkeiten des Sterbens und des Todes als Momente des Erzählten relevant, d.h. vor allem der heldische (in der Aristie der Heldendichtung gefeierte) oder der scheinbar zufällige, dann als schicksalhaft gedeutete Tod im Kontext von Krieg und Waffenhandwerk oder der exemplarische im Zusammenhang mit der das Normalmaß übersteigenden Liebe (religiös oder profan).“ In Mären als im Sinne der Fischerscher Definition diesseitig-profanen und unter weltlichem Aspekt betrachteten Dichtungen, die ihre Blüte im Spätmittelalter erleben, hat Phantastisches und empirisch Ungreifbares – Entitäten aus der christlichen Vorstellungswelt mit eingeschlossen – bis auf wenige Ausnahmen so gut wie keinen Platz. Es sei denn, es wird als Trug im Rahmen von list handungen zur Betörung Leichtgläubiger entlarvt und die Torheit des Überlisteten anschließend verlacht. Generell kommen Eingriffe höherer Mächte bei Darstellungen richtigen oder falschen Verhaltens in exemplarischen Mären zum Tragen. Diese Welthaltigkeit von Mären manifestiert sich im größeren Interesse am Physischen denn am Metaphysischen des Sterbevorgangs, in einer generellen Indifferenz gegenüber Fragen betreffend das Leben nach dem Tod – sofern wiederum nicht Teil einer List und vielleicht mit einigen Ausnahmen bei den Mären vom Minnetod, wo stellenweise die Hoffnung auf ein künftiges Zusammensein der Geliebten nach ihrem Tod durchscheint.
3. Bestandsaufnahme / Interpretationen
3.1. Bis der Tod sie zusammenführt: Sentimentale Geschichten von Liebe über den Tod hinaus
3.1.1 Konrad von Würzburg: Herzmäre
Konrads Lebenszeit fällt in die Jahre 1230-1287[3]. Er dichtete Minnelyrik, Legendenepen, genealogische Erzählungen, höfische Romane und Geschichtsepen wie auch das Märe vom gegessenen Herzen – das erste seiner Art in der deutschsprachigen Literatur.
Das vielleicht um 1260[4] entstandene Märe beginnt mit einer Zeitklage, reine Liebe sei der Welt fremd geworden (v. 1-3), und beruft sich auf das große Vorbild, den Dichter des Tristan-und-Isolde-Romans Gotfrid von Straßburg (v. 9). Es handelt von einem Ritter und einer verheirateten Dame, die an der Minnekrankheit leiden und schließlich beide zugrunde gehen. Ihre Liebe ist eine Urgewalt, vor der es kein Entrinnen gibt; eines Minnetranks bedarf es nicht. Als der Ehemann von der (platonischen) Beziehung erfährt, fasst er den Entschluss, mit seiner Frau über Meer als Pilger ins Heilige Land zu fahren, um so die Liebenden voneinander zu isolieren. Er hat nämlich gehört, dass Liebe nachlassen soll, wenn ihr Objekt lange außer Reich- und Sichtweite ist (v. 104-12); die Liebe indessen ist unzerstörbar (v. 113-17). Und da der Liebeskummer lebensbedrohliche Ausmaße annimmt,[5] entscheidet sich der Ritter auf Anraten der Geliebten, statt ihrer über See zu fahren, bis sich die Lage beruhigt. Jedoch bedeutet gerade die „sichere“ Entfernung von ihr ein indirektes Todesurteil für den durch Minnenot geplagten Ritter. Die handlungslogisch gegebene zeitweise Unwissenheit vom Tod des Anderen erfordert ein konsekutives Sterben in größeren Zeitabständen. Dies führt freilich zu einer – wenn auch wenig störenden – Inkonsequenz in der bildlichen Zeichnung der Einheit der Liebenden. Konrad, mit dem Minnesang und anderen Formen höfischer Dichtung einschließlich des zum Vorbild genommenen Tristan-Romans gut vertraut, spricht schon zu Anfang des Märe von einer geistigen wie auch körperlichen Verschmelzung der Liebenden zu einer Person, zu einer unteilbaren Einheit. Ein Bild, das sich in dem höfisch-galanten Märe mehrfach findet: Ein ritter unde ein frouwe guot / diu hæten leben unde muot / in einander sô verweben, / daz beide ir muot unde ir leben / ein dinc was worden alsô gar: / swaz der frouwen arges war, / daz war ouch deme ritter (v. 29-35). Folge dieser Einheit zu Lebzeiten ist zwar das Absterben der einen „Körperhälfte“ nach der erzwungenen Trennung von der anderen (er), ein autonomes Überleben der anderen Hälfte bleibt aber – zumindest für eine geraume Zeit und begründet durch die Unkenntnis der Sachlage – zunächst möglich, bis schließlich das Gleichgewicht durch Erkenntnis und Folgetod hergestellt wird. Darüber hinaus erfordert der Gang dieser Erzählung zunächst auch eine ungleich ausgeprägte Schmerzgrenze oder Lebensstärke, wenn man so will. Zum Tod des Geliebten führt die bloße Abgeschiedenheit von seiner Dame, während die Dame erst infolge der Kunde vom Tod des Geliebten und des sadistischen Strafakts seitens ihres Ehemanns stirbt.
Die Handlung folgt dem klassischen Schema der tragischen Dreiecksbeziehung mit dem Tod des außerehelichen Geliebten – in diesem Fall –als Peripetie und dem Folgetod der Geliebten als Katastrophe. Der Geliebte stirbt einen durch physische Trennung in Verbindung mit einem Übermaß an Gefühlen verursachten Minnetod. Damit reiht sich die Geschichte zu denjenigen, in denen die Dame dem treu ergebenen Minnediener[6] eine Aufgabe stellt, bei deren Erfüllung er das Leben verliert, wenn sich auch die Ursache sseine Todes von der etwa des Schianatulander in Wolframs Parzival grundlegend unterscheidet.
Neu im Märe ist der höfische Gestus. Konrad spart nicht mit Komplimenten an die Frau (139, 141 u.A.). Die Protagonisten des Beziehungsdreiecks werden gleichermaßen respektvoll beschrieben. Nicht einmal in den Gedanken des Hahnreis über den Nebenbuhler (v. 95, 162) ist mehr als Trauer über den Stand der Dinge zu spüren. Die Frau einigt sich unter den gegebenen Umständen – Vorbereitung des Ehepaares auf die als Flucht gedachte Fahrt ins Heilige Land – mit ihrem Geliebten, dass er ihnen die Reise erspart, indem er selbst reist. Wenn sich die Gerüchte gelegt haben werden, solle er zurückkommen; der Ritter fürchtet, seine Qual würde so groß sein, dass diese ihn tötet, bevor er seine Geliebte wieder sehen kann (206-12). Durch ihre Trennung an wertlicher wünne / lag ir beider herze tôt (v. 222f.). Grubmüller übersetzt diese Stelle mit einem Plural: “Für weltliche Freuden waren / ihre beiden Herzen gestorben“ – hier wäre vielleicht eine wörtliche Übersetzung besser, da sie das dahinter sicherlich beabsichtigte Bild der bis ins Körperliche gehenden Einheit der Liebenden, die ein Herz teilen, nicht reflektiert. Mit dem bildhaften Tod des Herzens als lebenswichtigen Organs stirbt die ebenso lebenswichtige Aussicht auf eine erfüllte Liebe, was zwangsläufig in den Tod führen muss.
Während und wegen der Trennung von der Geliebten verfällt der Ritter in Übersee in schwere Minnekrankheit (sende siecheit [7] ), die zu einem langsamen, qualvollen Tod führt. Die Tatsache, dass ein Mann am Liebestod stirbt, ist sonst eher die Ausnahme, denn für Männer sind weitaus häufiger andere Todesursachen – etwa Mord durch den Ehemann, tragisches Unglück etc. – vorbestimmt. Der zweite Tod, derjenige der Frau, wird schon dem Usus entsprechend gezeichnet werden. Auch die Länge des berichteten Sterbens ist von einigem Interesse, denn öfter kommt es zum Liebestod des Partners gleich oder innerhalb kurzer Zeit, höchsten innerhalb von einigen Tagen; in diesen Fällen ist allerdings die oder der Sterbende über den bereits erfolgten Tod des oder der Geliebten informiert oder war noch wahrscheinlicher dessen Augenzeuge, was den schnellen Verlauf auslöst und begründet.
Den Symptomen der Minnekrankheit und dem Sterben des minnedienenden Ritters wird als einem der zentralen Ereignisse eine für Märenverhältnisse breite Beschreibung gewidmet: das Leid des Ritters ist so stark, dass ihm der Jammer durchs Mark geht und bis an den Grund der Seele dringt; der sende marterære [8] leidet an innerer Schwere (v. 254-260), sieht seinen Tod kommen (v. 272f., 284ff., 289f., 295f.) und sein Zustand äußert sich auch an seinem Äußeren, wobei aber die äußeren Symptome nicht näher spezifiziert werden.[9] Sich des nahenden Todes bewusst bereitet sich der Ritter auf diesen vor, trifft Vorkehrungen: einem Knecht trägt er auf, seinen Körper aufzuschneiden und das Herz herauszunehmen (v. 298-300). Als Grund für sein Sterben gibt er selbst seine auserwählte Dame an: wan si mich hât verhouwen / biz ûf den tôt mit sender clage (293f.). Das entnommene Herz soll einbalsamiert werden, damit es frisch bleibe (v. 300ff.). In einem Kästchen soll es dann zusammen mit einem Ring der Geliebten übergeben werden. Dieser symbolische Akt ist ein Beweis seiner Aufopferung und der ihr daraus hervorgehenden Befreiung aus der Zerrissenheit zwischen Pflicht und Gefühl. Der sterbende Ritter ist sich zwar auch dessen bewusst, dass diese Geste als eine Art Gefühlsanschlag wirken kann,[10] rächen will er sich aber nicht. Gott möge sich erbarmen (331-33) und müeze der vil lieben geben, / fröud unde ein wünneclichez leben, / von der [er, ...] hie muoz ligen tôt. Mit diesen letzten Worten stirbt er. Darüber rang der Knappe seine Hände unter großen Klagen (336f.). Überhaupt ist in den sentimentalen Mären vom Minnetod die sonst gerne in der „heutigen“ Zeit vermisste Treue und eine bis hin zum Tod nachempfundene Fähigkeit der Empathie Kern der Aussage. Dieses Schema kann besser oder schlechter motiviert erscheinen, ist allerdings für den vorhersehbaren Gang der Handlung eine conditio sine qua non und hat mit einer Übertragbarkeit auf die reale Welt nicht viel zu tun. Wie seitens der Forschung bereits festgestellt, liegt die primäre Funktion dieses Märentyps in der Erweckung larmoyanter Melancholie und nicht in irgendeiner Sinnvermittlung. Aus den Mären vom Minnetod geht keine ableitbare Lehre hervor, was ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal dieses Märentyps gegenüber dem auf die Lehre hin ausgelegten mehr oder minder ernsten Strickerschen Märe und dem gänzlich unernsten schwankhaften Märe, das zwar auch keine Lehre vermittelt, allerdings auf eine gegenteilige Wirkung beim Publikum – auf das Lachen – ausgerichtet ist. Aus diesem Unterschied ergibt sich eine grundlegend andere Darstellung und Funktionalisierung des Sterbens in diesem Märentyp gegenüber den anderen beiden.
Im Herzmäre ist wie auch in den meisten anderen Mären dieser Gruppe und der Gattung Märe überhaupt die Person des Ehemanns typisiert. Er wird hier im Sinne des zugrunde gelegten Handlungsschemas als ein Gegenpol zum tugendhaften und höfischen Amant als der Grausame, Unhöfische, der Böse – bisweilen als Meuchelmörder – dargestellt. Dieser stellt den mittlerweile zurückgekehrten Knecht zur Rede, nimmt ihm gewaltsam das Kästchen ab und ersinnt einen äußert grausamen Racheplan: er lässt aus dem Herzen des Liebhabers die vorzüglichste, edelste Speise zubereiten (v. 408ff.) und setzt sie der nichts ahnenden Frau vor (v. 421-29). Die gesteht nach der Mahlzeit bis dahin nichts Feineres gegessen zu haben (v. 435). Nun eröffnet der Mann der Frau auf ihre Frage hin, ob das Fleisch wilde oder zam (v. 458) sei, welche Bewandtnis es mit der Speise auf sich hat: es sei zam und wilde beide. Diese bewegende Szene wirkt auf mehreren Ebenen. Vor allem ist es die diesem Motiv eigene einzigartige Transponierung eines wohlbekannten Sinnbildes aus seiner metaphorischen Ebene in die fiktive Wirklichkeit der Handlung: sie trägt nun nicht nur bildlich / platonisch in sich das Herz ihres Geliebten, sondern inkorporiert als drastischste Konsequenz der Eifersucht des Mannes unwissendlich das Organ selbst. Wenn auch die bloße Nachricht vom Tod des Ritters sicherlich auch zu ihrem Tod reichen würde, so wird dessen Unausweichlichkeit durch diesen Akt der Bosheit vollkommen besiegelt und durch die Nahrungsverweigerung (s.u.) der Frau sozusagen als „Plan B“ auch doppelt gesichert, sodass ein Überleben als Möglichkeit vollkommen ausgeschieden wird.[11]
Die Sterbende ist im Nachhinein geehrt, eine solche wörtlich „edle“ letzte Mahlzeit vorgesetzt bekommen zu haben – der Ritter war nicht nur edler Gesinnung sondern auch Abstammung. Die Vereinigung der Liebenden, der Lebenden und des Toten ist unter diesen Umständen vollkommen, der Tod gewinnt Oberhand und reißt – da nicht rückgängig zu machen – die Lebende mit sich: ist keine Vereinigung im Leben möglich, bleibt nur diejenige im Tod als Hoffnungsschimmer. Diese Hoffnung auf ein gemeinsames Leben nach dem Tod scheint, wie sich später zeigen wird, bedeutender und vielleicht auch realer aufgefasst worden zu sein, als bislang vermutet. Um die Zusammenführung der Liebenden nach ihrem Tod entstand ein ganzes Gepräge von symbolischen Handlungen und Gesten, zu deren beliebtesten etwa der gemeinsame Tod in Umarmung, die wirkungsstarke Geste des gemeinsamen Begräbnisses oder die Fürsprache gehören, die Liebenden mögen im Jenseits vereint werden. Angesichts der allgemein anzunehmenden Frömmigkeit des spätmittelalterlichen Publikums kann in Betracht gezogen werden, dass diese nicht nur auf der Ebene des literarischen Bildes bleiben, sondern wohl auch real als möglich angesehen wurden. Indirekt wird durch die Tugendhaftigkeit und oft auch Reinheit der „Minnemärtyrer“ ein impliziter Anspruch auf eine auch verklärte Zweisamkeit begründet. Es entfaltet sich hier eine noch zu erörternde Minnetheologie und -thanatologie. Dieses Bild hat aber nicht nur seine melancholische, düster-schöne Symbolik, sondern auch einen schockierenden, sachlichen Hintergedanken: die Frau wird ohne es zu wissen zur Kannibalin.
Die Offenbarung der Umstände durch den Ehemann leitet nun bei der Frau den Liebestod ein, dem realphysische Symptome des Syndroms des gebrochenen Herzens[12] vorausgehen: die Frau sieht aus, als sei sie bereits gestorben (v. 479), das Herz wird ihr kalt im Leib (v. 480), ihre weißen Hände fallen ihr in den Schoß (v. 481) und aus dem Mund strömt ihr Blut (v. 482). Sie erklärt, nach dieser Speise nichts Anderes, Gewöhnliches mehr essen zu wollen (487-515); interessant ist das Bild vom „Todessen“ in v. 498-501: enbîzen sol ich niemer mê / dekeiner slahte dinges, / wan des ungelinges / daz geheizen ist der tôt. Und den Tod sei sie dem Ritter schuldig (v. 485), da sie es auch als Pflicht einer Minnedame gegenüber dem um sie werbenden Ritter ansieht, das Opfer, das ihr dieser im Minnedienst brachte, mit entsprechendem Lohn – einer bis über den Tod hinaus reichenden Treue – zu vergelten. Die Frau soll nach eigenen Worten reziprok ihr Leben lassen durch denjenigen, der das seine durch sie verlor, sieht dies als Pflicht der Treue, mit der das höchste Opfer im Minnedienst – das eigene Leben – entlohnt werden soll. Dieses Tod-für-Tod-Denken ist ein anderes, als das alttestamentliche der irdischen Gerichtsbarkeit oder einer einfachen Rachemechanik. So steht der Ehemann auch gewissermaßen abseits.[13] Bezeichnender Weise geht es hier – wie sonst auch – nicht um eheliche Treue,[14] sondern die Treue in einem Minnedienstverhältnis, in dem gute Sitten die Entlohnung des Dienstes zur Pflicht machen und die grenzlose, über den Tod hinaus reichende – auch das sollen wohl die nach dem letzten Willen des Sterbenden veranlassten Handlungen ausdrücken, mit denen er sozusagen aus dem Jenseits noch die Schicksale der Lebenden beeinflusst – Standhaftigkeit fast wie selbstverständlich zu einem Folgetod der Geliebten führt;[15] vielmehr ist es ihr Leid, dass sie überhaupt einen Tag noch weiterlebte (v. 510f.) und er in deme tôde swebe (v. 514).
Vor herzeleide verschränkt sie ihre blanken Hände (v. 516-19). Weiße Hände werden speziell in den Minnemären als Zeichen der Schönheit genannt und scheinen auch in diesem Fall nicht oder nicht nur ein Symptom der Minnekrankheit und Zeichen des nahenden Todes zu sein. Allerdings faltet sie die Hände mit grimme (v. 519). Den Zeitpunkt des Todes markiert der Augenblick, in dem ihr vor Trauer das Herz zerbricht (v. 520f.); damit gibt sie ihrem Freund zurück, was er ihr geborgt hat, und zwar mit stæte und triuwe. Nichts deutet in die Richtung, ihr Tod sei ihrerseits ein Mittel, sich am Ehemann für seine Gräueltat zu rächen, sich ihm als Ehefrau durch ihren Tod zu entziehen, obzwar auch dies dadurch unweigerlich geschieht. Rachegelüste sind Ursache für ihren Tod und keineswegs ehrbar – sie stehen nicht der (höfisch handelnden) Frau zu, sondern dem dadurch als ihr Gegensatz ausgezeichneten (unhöfisch und unehrbar aus Eifersucht handelnden) Ehemann.
Das Märe beschließt eine topische Zeitklage über den kläglichen Stand der Bindungen zwischen Mann und Frau, die nicht so stark seien, dass man für einander sterben wolle; es wird auf die guten alten Zeiten der hohen Gefühle verwiesen, der Liebestod als Gewinn, als guoter kouf (v. 553) gepriesen. Minne sei nicht mehr ein hohes Gefühl, sondern käuflich geworden, devaluiert, sodass sie nicht mehr des Todes für würdig erachtet wird (v. 534-88).
3.1.1.1 Im Vergleich: Boccaccios Novelle IV,1 des Dekameron
Bezeichnend an dieser sich desselben Stoffes[16] wie schon Konrad von Würzburg annehmenden Novelle ist der – wie auch in der Novelle IV,9 – im Vergleich zum Märe etwas anders dargestellte Liebestod. Auch hier wird übermäßige Liebe als der Grund angegeben, weshalb der Geliebte sterben muss, es ist aber die übermäßige Liebe des Vaters, die diesen zum Mord am Freund seiner Tochter anstiftet. Der übliche Plot ist um ihre Heirat mit dem Sohn des Herzogs von Capua erweitert, der allerdings bald stirbt; die junge Witwe kehrt ins väterliche Haus zurück. Der seine Tochter viel zu sehr liebende aber zugleich auf den Stand ihrer Freier achtende Vater – hier an die Stelle des eifersüchtigen Ehemanns tretend – will sie nicht wieder vermählen. So beschließt sie, seinen Willen akzeptierend, sich im Stillen zumindest einen Liebhaber zu suchen und verliebt sich in Guiscardo, einen Diener „von bescheidener Herkunft, doch von adligem Wesen und edelstem Anstand“ (S. 434). Der Vater wird indessen aus nächster Nähe Augenzeuge ihrer Liebesspiele und will zunächst gleich seinen Zorn am Jüngling auslassen, entscheidet sich dann aber, sich nicht zu verraten, „damit er desto ungestörter und mit möglichst wenig eigener Schande das mit ihnen beginnen könnte, was er im Grunde seiner Seele bereits beschlossen hatte“ (S. 438); der Affekt wird gezähmt zugunsten eines wohldurchdachten, doch vermessenen Bestrafungsplans. Die Selbstjustiz des Vaters wird letztlich beide Liebenden das Leben kosten. Der Tochter eröffnet er, das Urteil über den inzwischen gefangen gesetzten Guiscardo sei bereits gefällt, er wisse aber noch nicht, wie er sie bestrafen solle: angeklagt wird sie des außerehelichen Verkehrs mit einem Mann niedrigsten Standes. Ghismonda gibt aber ihrer Trauer im Angesicht ihres Vaters nicht nach; sie beherrscht „mit bewundernswerter Fassung ihre Gesichtszüge“ (S. 440) und beschließt im Glauben, Guiscardo sei nicht mehr am Leben, selber den Tod zu sterben, den ihr Vater ihrem Geliebten bereitet haben soll. Die üblichen Symptome des zum Minnetod führenden Leids bzw. Klagegebärden werden durch die stolz-erhabene Haltung der Frau unterdrückt: ihr Blick ist starr, tränenlos. Sie spricht eine Selbstmorddrohung aus: sie fordert vom Vater, ihr solle dasselbe widerfahren, was Guiscardo widerfahren sei, oder sie wolle es mit eigener Hand tun, doch er glaubt ihr nicht. Da er die Liebe aber weiterhin bezwungen sehen will, lässt er Guiscardo erdrosseln und sein Herz herausschneiden (S. 444). Im Gegensatz zu den anderen hier erwähnten stofflich verwandten Geschichten wird das Herz nicht als Speise zubereitet und der Unwissenden vorgesetzt, sondern als Ganzes in einem goldenen Pokal geschickt. Sie schüttet nun über das Herz das vorbereitete Gift, trink es und begeht so Selbstmord aus Trauer: das unbewusste Essen wird durch bewusste Aufnahme des Giftes ersetzt, der unvermeidbare Liebestod durch den ebenso unvermeidbaren Selbstmord. Der goldene Pokal wird, bildlich gesprochen, zum Grab des Geliebten, zu dessen restlichen sterblichen Überresten Ghismonda keinen Zugang hat und braucht: pars pro toto tritt das Herz an Stelle des Geliebten, verkörpert ihn, es kommt jedoch nicht zu dessen Einverleibung wie bei Konrad. Erörtert wird kurz auch die Scheidung der Seele vom Körper, und zwar vermutet Ghismonda, die Seele Guiscardos weile noch im Diesseits. Sie will ihre Seele mit der seinen vereinen, sodass diese – hier das Motiv der Vereinigung im Tod – die „unbekannten Welten“ des Jenseits zusammen durchwandern können. Die Vorstellung von einer Wanderung durch jenseitige Orte ist hier möglicherweise der Commedia Dantes nachempfunden. Boccaccio berührt hier – wie auch später in der Novelle IV,9 – die heikle Frage des Schicksals der Seelen von Selbstmördern nach ihrem Tod, die der christlichen Doktrin zufolge verdammt sind und daher von drei Möglichkeiten, die die christliche Eschatologie bietet, nur die Hölle in Betracht kommen dürfte. Obwohl der Dichter hier nicht so prägnant wie etwa derjenige des Märe von Pyramus und Thisbe die Erwartungen und Hoffnungen auf eine Verklärung richtet, schließt Boccaccio mit seiner allgemeinen Formulierung von den „unbekannten Welten“ zumindest eine solche Möglichkeit nicht aus. Auch hier sind trotz Selbstmord mildernde Umstände zumindest als Möglichkeit angedeutet: wenn die Tat der Sympathieträgerin auch nicht im Affekt geschieht, so machen die Umstände sie verständlich, menschlich. Nach einer längeren monologischen Rede und den Liebkosungen mit dem Herzen des Toten arrangiert Ghismonda – die Haltung und die Größe des Aktes bewahrend – ihren eigenen Tod bzw. ihre künftige Leiche, indem sie sich nach dem Trunk auf das Bett schön ausstreckt, das Herz auf das ihre legt und auf den Tod wartet:[17] das Sterben ist kontrolliert, stilisiert, verläuft genau nach Plan. Die Selbststilisierung auf dem Bett, eine theatralische Geste, wie etwa andernorts das beliebte Zusammenbrechen über der Leiche des verstorbenen Geliebten, fehlt auch hier nicht. Der herbeigeeilte Vater kann noch mit der Sterbenden sprechen; diese bittet ihn, ihre Leiche in aller Öffentlichkeit mit der Guiscardos ruhen zu lassen, wo immer er sie auch hinwerfen ließ. Voll Pathos auch die letzten Worte: „So lebe denn weiter mit Gott, ich sterbe!“ Die Liebenden werden gemeinsam bestattet und von ganz Salerno betrauert. Eine nahezu gleiche Geschichte wird am selben Tag noch einmal erzählt: IV,9.
3.1.1.2 Im Vergleich: Boccaccios Novelle IV,9 des Dekameron
Die Erzählung von der grausamen Rache eines[18] eifersüchtigen Ehemanns basiert mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Vida von Guilhem de Cabestanh [19] und gehört zum Umkreis der Geschichten vom gegessenen Herzen. Guilhem de Roussillon und Guilhem de Cabestanh sind benachbarte, sich gegenseitig hoch schätzende Ritter, Cabestanh aber verliebt sich in die Frau Roussillons. Er trifft bei ihr auf Gegenliebe, doch als der Ehemann von dieser Beziehung erfährt, wandelt sich seine Freundschaft zu Cabestanh in tödlichen Hass. Er stellt dem Nebenbuhler eine Falle, überfällt ihn im Wald aus einem Hinterhalt, und zwar durchbohrt er ihn grausam und hinterrücks mit einer Lanze und ruft dabei die Worte aus: „Verräter, du bist des Todes!“ (S. 518). Auch hier ein höchst unehrenhafter Meuchelmord eines Ritters aus Eifersucht. Das Sterben Cabestanhs wird als ein schnelles beschrieben, der verwundete Ritter ist entgegen üblichen Darstellungen pathetischen Sterbens nicht mehr im Stande, etwas zu sagen, bevor er wenige Augenblicke nach dem Attentat stirbt. Nun führt der Ehemann die Sektion durch: mit einem Messer öffnet er Cabestanhs Brustkorb und reißt ihm mit eigener Hand das Herz aus dem Körper.
Daheim angekommen lässt er das vermeintliche Eberherz köstlich zubereiten und seiner Frau in einer silbernen Schüssel vorsetzen. Nun offenbart ihr der Mann, was sie eigentlich gegessen hat, und versichert dies nachdrücklich (S. 520; anstatt des vorgesetzten Kopfes aus der Vorlage. Diesen Handlungszug hatte Boccaccio vielleicht deshalb ausgelassen, weil eine andere, am selben Tag erzählte Novelle bereits vom abgetrennten Kopf eines umgebrachten Geliebten handelte: IV,5, s.u.). Jedenfalls bezichtigt die Frau ihren Mann der Ehrlosigkeit, er hätte nur sie bestrafen sollen, nicht Cabestanh. Sie verweigert – motivgetreu – jede weitere Nahrungsaufnahme, stirbt aber eines anderen Todes als in der Novelle IV,1 oder im Herzmäre: sie stürzt sich – und damit ist es ein Selbstmord aus Liebesschmerz –, ohne zu zögern, rücklings aus einem Fenster, ihr Körper wird vollkommen zerschmettert. Der Mann kann die Tat in diesem Fall nicht vertuschen und ist auch nicht unantastbar: vor der Gerechtigkeit flieht er außer Landes. Die beiden Leichen werden in der Kapelle der Damen unter lauten Wehklagen zusammen beigesetzt: ein explizit christliches Begräbnis einer Selbstmörderin. Wir erfahren auch, dass auf einer Grabtafel in Versen die Daten zu den Verstorbenen gestanden haben: wer sie waren, wie und warum sie umgekommen sind.
3.1.1.3 Im Vergleich: Boccaccios Novelle IV,5 des Dekameron
Stofflich korrespondiert die 5. Erzählung des IV.[20] Tages mit keiner der Mären, allerdings sei auch sie erwähnt als Beispiel der Verwendung der in Mären dieser Auswahl öfters vorkommenden Einzelmotive. Die düsteren Erzählungen des Dekameron handeln nicht selten von besonderer Grausamkeit auch unter Blutsverwandten; so wird auch hier ein Mord aus familiären Gründen thematisiert. An die Stelle des eifersüchtigen Mannes bzw. Vaters treten hier gleich drei Männer, die durch Erbe reich gewordenen Brüder der schönen Lisabetta, denen ihr Umgang mit einem Angestellten, Lorenzo, so zuwider ist, dass sie ihn umbringen, und zwar um die Ehre der Familie zu bewahren und Schande zu vermeiden. Ihr Plan lautet Lorenzo nichts merken zu lassen und ihn unter einem Vorwand außerhalb der Stadt zu locken, wo er dann von ihnen auch erschlagen und vor Ort in einem seichten Grab verscharrt wird. Um den Verdacht von sich abzulenken geben die Brüder vor, Lorenzo sei auf Geschäftsreise. Der Tote aber erscheint Lisabetta einige Zeit später im Traum in balladesker Manier in seinem schon leicht verwesten Zustand: leichenblass, mit zerzaustem Haar und in schmutziger Kleidung bedeutet er ihr die Stelle, wo er verscharrt liegt. Das Traumgesicht ist nicht etwa ein strahlender Engel, sondern zeigt ihn ganz naturalistisch und realistisch im aktuellen Zustand der Verwesung, die noch nicht soweit fortgeschritten ist, als dass sie ihn nicht mehr erkennen würde, als sie ihn ausgräbt. Wenig zimperlich geht die Gruselgeschichte mit der Darstellung einer krankhaft erscheinenden Fixierung auf den Toten weiter, den Grad der Nekrophilie im Märe von der Undankbaren Wiedererwecken nicht übertreffend. Es fehlt hier die anstößige, auch das Sexuelle mitimplizierende Zweideutigkeit. Überhaupt greifen die Toten in den Novellen Boccaccios viel selbstverständlicher und im Verhältnis weitaus öfter in die Welt der Lebenden ein, als es in den Mären der Fall ist. Diese Erzählung ist eines der beiden hier behandelten Beispiele aus Boccaccios Dekameron, in denen Träume als Vorahnungen des Todes fungieren. Lisabetta hätte die Leiche des Geliebten gerne mitgenommen, um ihm ein würdiges Begräbnis auszurichten, da das aber nicht geht, trennt sie mit einem Messer den Kopf vom Rumpf ab, deckt den Rest der Leiche wieder zu und nimmt den im Tuch eingewickelten Kopf mit. Schaudernd und makaber auch die Vorstellung, dass sie, zu Hause angekommen, den Kopf über und über mit Küssen bedeckt und ihn in einen Blumentopf stellt, in den sie Basilikum pflanzt, wobei das Basilikum dank der Fruchtbarkeit der Erde durch den darin verwesenden Kopf gedeiht. An Lisabetta machen sich langsam die Anzeichen des kommenden Todes sichtbar: ihre Schönheit welkt dahin, die Augen verlieren ihren Glanz und als die Brüder ihr auch den Topf wegnehmen, erkrankt sie. Die Brüder gehen der Sache auf den Grund und „exhumieren“ den Kopf, den sie an den Locken – die Verwesung ist noch nicht soweit vorangekommen, dass der Kopf nicht identifizierbar sei – als den von Lorenzo erkennen. Sie begraben den Kopf abermals und siedeln aus Furcht, die Tat könnte aufgedeckt werden in aller Stille nach Neapel um. Das Mädchen aber härmt sich in kurzer Zeit zu Tode – stirbt den Minnetod – und das Verbrechen wird bekannt.
3.1.2 Die Frauentreue
Das nur 390 Verse zählende Märe ist den[21] pathetisch gestalteten Erzählungen vom Minnetod zuzuordnen. Auch hier wird bereits am Anfang der tragische Ausgang (Tod und reziproker Folgetod) vorausgedeutet.[22]
Ein Frauengunst suchender Ritter verliebt sich in einer fremden Stadt in die Frau eines Bürgers. Ihre Schönheit brâht den helt in nœte (v. 84). Der Ritter stellt seiner Auserwählten nach, sie liebt aber – bemerkenswerter Weise – nur ihren Mann, der in diesem Fall nicht unhöfisch oder negativ gezeichnet ist. Die klassische Dreieckssituation ist hier außer Kraft gesetzt, der aufdringliche Ritter stößt auf keine Gegenliebe. Verzweifelt lässt er in der Stadt ausrufen, er wolle ohne Rüstung im seidenen Hemd gegen jeden im Kampf antreten, der ihn dazu auffordert, was ihn fast auch das Leben kostet. Das Minnemärtyrertum findet hier einen sehr fragwürdigen Höhepunkt: einerseits ist der Ritter bereit, für die Liebe einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen, er opfert sich sozusagen am Altar der Göttin Minne, will so eigentlich nichts anderes, als einen öffentlich zur Schau gestellten Selbstmord dadurch begehen, dass er sich ohne Rüstung erschlagen lässt, andererseits ist die auserwählte Dame weder an dieser Art von Publizität, noch an seiner Liebe oder irgendeinem Liebesnachweis interessiert. Der nicht aufgegangene Plan des Ritters also rechnet mit einem ostentativen Selbstmord, wenn auch dieser Akt per definitionem nicht wirklich als ein Selbstmordversuch zu klassifizieren ist. Die Frage der Heilaussichten in einem solchen Fall der freiwilligen und provozierten Aufgabe des eigenen Lebens böte Anlass zu einer interessanten Diskussion, wird aber nicht erörtert. Aufgrund der Verwundung, die sich der Ritter beim ungleichen Kampf zuzieht, wird ihm der nahe Tod vorausgesagt; dies aufgrund entsprechender Symptome: man sach in bleich, der ê was rôt, / man huop den werden ûf vür tôt, / man brâht in in sîn herberge sân (v. 157-59). Entschlossen zu sterben, verweigert der Ritter jede ärztliche Hilfe (v. 160-64); er würde nur durch diejenige gesund werden können, die ihn so verwundet hat (v. 165-68). Viele kommen, doch seine Auserwählte nicht. Erst ihr Mann – der über die einseitige Liebe Bescheid weiß – kann sie dazu überreden, was der Dichter einen Fehler nennt (175ff.). Ihr Erscheinen macht den Ritter über alle Maßen froh, als ob er ân alle swære / in dem paradîse wære (v. 203f.). Das Bild vom mit der Herzensdame gleichgesetzten Paradies kann und muss nicht mit dem Begriff des Minnemärtyrertums verbunden werden. Ein Zusammenhang ist natürlich gegeben, es ist aber nicht klar, inwiefern der Verfasser des Märes diesen Diskurs direkt ansteuert und inwiefern das Bild an dieser Stelle bloß als passende Redewendung eingebracht wird. Der Ritter macht die Dame wortwörtlich zur Gebieterin über sein Leben und stellt sie so vor eine äußerst schwere Wahl: ihm soll es ergehen, wie sie entscheidet; sie könne ihm entweder aus der Not helfen, oder er sei des Todes (v. 219f.), worauf sie erwidert, dass sie sich wünsche, dass er gesund werde, doch bei seinen Verletzungen würden ihm Ärzte besser helfen können (v. 221-24), auch sei sie nicht Gottes Sohn, dass sie Tote auferstehen lassen könne.[23] Sie solle ihm, wolle sie ihm helfen, mit ihrer wîzen hant das Eisen herausziehen, das ihm in der Seite steckt (v. 230-35).[24] Schließlich kommen auch die Ärzte zu Wort: als sie das Eisen nach längerem Hin und Her herauszieht, bleibt der Rest ihnen überlassen. Der Ritter überlebt, frisch zugenäht steigt er aber nachts bei dem Ehepaar ins Fenster ein. Er berührt die Frau und gibt sich ihr erkennen, worauf diese in Ohnmacht fällt.[25] Als sie nach dem Schock wieder zu sich kommt, befürchtet sie, sie müssten beide das Leben verlieren. Der Ritter meint, er würde lieber sterben, als ohne sie zu leben (v. 279-83). Die Frau steigt aus dem Bett, um ihn abzulenken, er umarmt sie aber, die Wunde platzt auf und er fällt tot zu Boden, alles farbig dargestellt und durch die sonst nicht benutzte Anapher intensiviert:
daz bluot mit düzzen von im schôz,
daz er vor unmeht nider viel.
daz bluot im ûz der wunden wiel,
daz er der sêle wart ein gast.
daz herze im in dem lîbe brast.
der vrouwen der wart leide,
daz sprich ich bî dem eide;
ir wart sô wê von jâmers nôt,
si wær gerne mit im tôt. (v. 294-302)
Die Todesursache ist wie im Schüler von Paris A Verbluten und zugleich gebrochenes Herz. Aus dem dargestellten Hergang folgt, dass die Frau ihn im Endeffekt doch nicht zu heilen vermag. Sein Tod ist wie überhaupt seine aus Liebeswahn begangenen Taten ein Akt der Verzweiflung, doch ist dem Ritter sehr viel daran gelegen, die Frau, die nicht gewillt ist, ihre Ehe zu gefährden, wie nur möglich mit in sein Leid einzubeziehen. Stellenweise mutet der unglaubliche Drang zu sterben an, als müsse sich das Märe zu einer Parodie der üblichen Liebestodgeschichten, zu einem Exempel der Narrung durch übermäßige Gefühle oder zur Kritik der kulturellen Divergenzen zwischen Ritter- und Bürgertum entwickeln, der Ausgang aber birgt keine Überraschungen und bleibt – wenig überzeugend wie alles davor – dem üblichen Handlungsschema treu. Das Folgende verdirbt nun das ohnehin artifizielle Pathos: die Frau vermag fast Übermenschliches, und zwar trägt sie, ohne den im selben Raum schlafenden Ehemann zu wecken, den Körper des Ritters aus dem Fenster über ein Brett wieder in sein Bett, wo er am Morgen tot aufgefunden wird.
Der Körper des Ritters wird – im Gegensatz zu bäurischen Beisetzungen, die in einigen exemplarischen oder schwankhaften Mären beschrieben werden – standesgerecht auf Seidenstoff aufgebahrt, als im wol zam (v. 328-330). nâch sînem rehte wird gelesen und gesungen – gemeint ist wohl die häusliche Abschiednahme und das dazugehörige Sterbebrauchtum (v. 331-33; an allen dingen, v. 331), denn erst danach wird die Überführung des Leichnams in die Kirche vru durch seine treuen Knechte berichtet (v. 334-38). Die Frau bittet ihren Mann, der im Gegensatz zu anderen deutschen Mären ähnlichen Inhalts von Anfang an über alles informiert ist, ihr zu ermöglichen, dem Toten das Totenopfer darzubringen, und das wird gewährt. Das Sterben der Frau mit den Symptomen des nahenden Minne- bzw. Kummertods wird lakonisch beschrieben: in der Kirche schreitet sie dreimal zum Altar zur Leiche und zieht sich nach und nach aus. Ihr rosenfarbener Mund wird bleich (v. 364); beim dritten Mal verliert sie vor Trauer vollends ihre Scham (v. 366); ihr Herz erschrickt (v. 368), ihre Farbe verkehrt sich (v. 369), sie ringt ihre Hände (v. 371), ihr Herz zerbricht (v. 372) und sie sinkt zu Boden (und nicht etwa auf den Körper des toten Ritters, v. 373), was ein allgemeines Gedränge auslöst; diu vrouwe was vor leide tôt (v. 376).
Die gesamte Schilderung klingt ziemlich mechanisch, der Tod der Frau scheint in einem solchen Kontext der Ablehnung der Anträge des Ritters bis über den Tod hinaus kaum motiviert. Wesentliches dazu schon bei Grubmüller, Novellistik des Mittelalters, S. 1178: „Die Frauentreue, die offensichtlich den Schüler von Paris, Fassung C, gekannt hat (im Schlussteil ist seine Benutzung nachzuweisen [...]), akzentuiert [...] die objektive Kraft des Minnedienstes. Dem unbedingten, das Leben aufs Spiel setzenden Dienst des Ritters korrespondiert die unbedingte eheliche Treue der Frau. [...] die Frau handelt stets im Einvernehmen mit ihrem Mann, wenn nicht gar auf seine Veranlassung. Auf dieses Verhältnis fällt kein Schatten. Von Minne der Dame zum werbenden Ritter ist zunächst keine Rede, dennoch opfert die Frau für den [1179] Ritter ihre Ehre und ihr Leben. Dem fehlt (im Gegensatz etwa zu Boccaccios Version) jede psychologisierende, auf unbegriffene oder unterdrückte Liebe zielende Motivation. Das Opfer der Frau ist eine notwendige Antwort auf eine außerordentliche Tat: sie setzt Größe gegen Größe und lohnt ihm so seine Liebe und seine Treue; dies erst füllt dann den Begriff der triuwe [...] am Ende erzählerisch auf: als Verpflichtung auf Gegenseitigkeit, die ihren Wert in sich trägt. Dass diese konsequente Realisierung eines ritterlich-höfischen Wertes in das Handeln einer Bürgersfrau verlegt ist, ist ein irritierender Zug dieser Erzählung; mag sein, dass die Geschichte so aus dem oft spielerischen Regelsystem höfischen Erzählens gelöst wird, damit der Fall in seiner Krassheit als allgemein verbindlich erscheinen kann (Ruh).“
Die geänderten Voraussetzungen der klassischen Dreiecksbeziehung erschweren eine eindeutige Interpretation. Durchaus als (implizit) psychologisierend kann der – allerdings sehr schwach herausgearbeitete – Konflikt zwischen den beiden Treueverpflichtungen der Frau gelten: gegenüber dem Mann einerseits und dem um sie mit extremster Hingabe und Nachdruck werbenden Ritter andererseits, den seine brennende Leidenschaft allen höfischen Anstand und gesunden Menschenverstand vergessen lässt. Auch die Frau verliert bei ihrem letzten Gang zum Toten all ihre Scham, wohl das Wichtigste, was eine ehrenhafte Frau besitzt. Dies wird von der Forschung nach Ruh “Opfer der Scham“ genannt und die Idee dahinter ist, dass die Frau alle Kleider ablegend sozusagen zuerst einen gesellschaftlichen Selbstmord begeht, der dann notwendig zum physischen Tod führt.[26] Wozu bekennt sich aber die Frau mit dieser öffentlichen Geste, wenn die Liebe während der Lebenszeit des Ritters als wirklich einseitig beschrieben wird? Die Antwort liegt in der finalen Szene, die sich in der Kirche während des Begräbnisses des Ritters abspielt, und zwar, wie die Frau ihren Tod am gebrochenen Herzen stirbt. In allen ernsten Minnemären mit ähnlichem Handlungsaufbau ist Pflicht und Liebe umgekehrt zugeordnet, was auch der Logik eines Konfliktaufbaus mit Dreiecksbeziehung entspricht: es ist der Konflikt zwischen ehelicher Treue und der außerehelichen Liebe der Frau, also auch der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Pflicht und Norm und der Sehnsucht des Herzens, den der Verfasser hier versucht, umgekehrt zu gestalten. Dass die Frau ihren Mann über alles liebt und dennoch aus irgendeinem Gefühl einer Verpflichtung dem aufdringlichen Ritter gegenüber sterben sollte, wäre unlogisch und unhaltbar. Im Endeffekt erfüllt sich doch das einer bloßen (Minne)Dienst- und (Minne)Lohnmechanik widersprechende übliche Schema und die Frau muss zwangsläufig in Liebe zum toten Ritter verfallen, um den Minnetod am gebrochenen Herzen sterben zu können. Dies wird mehr oder weniger kryptisch im Bild des Verlustes des Verstandes und der Scham angedeutet, die beide Symptome der Verliebtheit sind, wie schließlich auch an der Todesursache selbst. Dass ein solcher Umschwung vom Denken zum Fühlen nicht schon beim Tod, sondern erst bei der Bestattung des Ritters überhaupt nicht überzeugend ausgearbeitet ist, ist eine andere Sache; die Idee des Verfassers aber scheint die gewesen zu sein, dass die größte aller Gesten, der Tod für jemanden anderen, Liebe auch bei der unzugänglichsten (also: glücklich verheirateten) Frau auslösen kann. Im dreifachen Kursus des Opfergangs steigert sich bis zum Herzbruch sukzessiv die angedeutete, den klaren Verstand raubende Betörung der Frau. Ihre stets höfische Haltung weicht mehr und mehr der Anziehung durch eine fatale Macht, die die ehemals vorbildlich Beherrschte mit jedem neuen Gang zum Sarg des zu Lebzeiten abgelehnten Freiers immer mehr der Kontrolle der angelernten Anstandsregeln entreißt bis hin zum großen Finale des Opfers der Scham, einer Geste, die von der Aufgabe höfischer Sitten zeugt. So fügt sich auch dieses zunächst untypisch anmutende Märe schließlich dem klassischen Dreiecksschema. Die Glaubwürdigkeit leidet teilweise am Hinausschieben des Minnetodes. Das Bild einer aus unbewältigbarer Trauer alle Hemmungen verlierenden und sich nackt ausziehenden Dame und Ehefrau hat auch eine offensichtliche erotische Komponente, die eine Innovation dieser Darstellung des Sterbens ist. Auch hier die Verflechtung von Erotik und Tod. Die verheiratete Dame zieht sich in der Kirche öffentlich nackt aus, womit eine unerhörte Begebenheit erzählt wird, die zunächst beim Publikum durchaus auch lüsterne Vorstellungen hervorgerufen haben konnte, vor allem angesichts der damaligen äußerst bigotten Einstellung der Kirche zur Nacktheit selbst im Rahmen ehelichen Zusammenlebens.
Gegen Ende der Dichtung wird noch eine der üblichen Klagegebärden genannt: der Ehemann reißt sich vor Schmerz über seinen Verlust die Haare aus (v. 379); seine Frau wird bezeichnender Weise zusammen mit dem Ritter begraben: auch dies eine Geste typisch nur bei gegenseitiger Liebe – wenn diese auch sukzessiv ist; bei ihr erst ist Treue durchaus ein Grund zu sterben.[27]
3.1.2.1 Im Vergleich: Boccaccios Novelle IV,8 des Dekameron
Da sich Boccaccio in seinen Novellen tlw. derselben Stoffe[28] bedient, wie auch Fabliaux- und Märenautoren, überschneiden sich teils und teils unterscheiden sich auch narrative Funktionalisierungen der Todesdarstellungen im Vergleich zu diesen. Die Novelle IV,8 handelt von der unerfüllten Liebe des vierzehnjährigen Kaufmannssohnes Girolamo zur Schneiderstochter Salvestra; das Hindernis ist abermals, wie öfters bei Boccaccio, die soziale Schichtung der Bürger in unterschiedliche Einkommensklassen, wie in IV,5, nur sind die Geschlechter vertauscht. Eingangs schon wird der Mutter Girolamos die Schuld für seinen Tod gegeben, weil sie meint, eine Liebe auslöschen zu können; echte Liebe aber achtet nicht auf politische oder finanzielle Interessen der Familie, und da der konfliktträchtige Klassenunterschied nicht überwunden werden kann, führt sie zum Liebestod. Die novellistische Problematisierung liegt – ähnlich wie in der Frauentreue – darin, dass die Liebe auf beiden Seiten ungleich stark ausgeprägt ist; vielmehr scheint es, als liebe nur Girolamo Salvestra und nicht umgekehrt. Jedoch erfüllt die Handlung am Ende doch das prototypische Schema des Motivs vom Liebestod beider Liebenden, als sich die Frau – ähnlich wie in der Frauentreue – ihrer Liebe zum Freier erst nach dessen Tod bewusst wird, und zwar schlagartig während der Beisetzung. Doch Boccaccio motiviert diesen Tod etwas glaubwürdiger dadurch, dass Girolamo und Salvestra sich bereits früher liebten und diese Liebe nach der Trennung bei der mittlerweile verheirateten Salvestra nachgelassen zu haben schien. Nach seiner Rückkehr aus Paris will sich Girolamo ihr in Erinnerung bringen, versteckt sich im Schlafgemach des Ehepaares und als der Ehemann einschläft, spricht er die nichts ahnende und mit ihrem Mann glückliche Salvestra an. Sie sagt, die Kinderzeit, als sie es sich leisten konnten, verliebt zu sein, sei vorbei. Da nichts hilft, entscheidet Girolamo sich fest, zu sterben und bittet sie, ihm ein schönes Begräbnis auszurichten. Er fordert als Minnelohn, sich an ihrer Seite im Bett erwärmen zu können, was ihm schließlich gewährt wird. Er ist aber entschlossen sogleich zu sterben und begeht daher einen kuriosen Selbstmord, wie er uns sonst in den ausgewählten Werken nicht begegnet: er hält mit aller Kraft seinen Atem an, bis er tot ist und gibt dabei keinen Laut von sich.
In dieser Novelle scheinen mehrere motivlichen Einflüsse zusammenzufließen: ein Aufenthalt in Paris könnte auf den Stoff vom Schüler von Paris hindeuten, einseitige Liebe eines verzweifelten Mannes zu einer glücklich verheirateten Frau hat ihr deutsches Pendant in der Frauentreue; der Jüngling stirbt aber einen Minnetod, der als Selbstmord zu werten ist, da er sich bewusst für diesen entscheidet und ihn erst bewirken muss. Ein Selbstmord wird sonst innerhalb der Werke unserer Auswahl noch in den Novellen IV,1 und IV,9 des Dekameron, in der Vida von Guilhem de Cabestanh und – abgesehen von unbeabsichtigten Selbsttötungen – in Pyramus und Thisbe als einzigem Märe thematisiert. Dass die neben ihm Liegende zunächst nichts von seinem Tod mitbekommt und annimmt, dass er schläft, findet sich ähnlich etwa im Schüler zu Paris C. Sie berührt ihn und stellt fest, dass er eiskalt und also tot ist, da auch nicht wachzurütteln. Auch hier das makabre Bild einer nichts ahnend neben einer Leiche im Dunkeln liegenden Frau. Ihre unmittelbare Reaktion auf den Tod Girolamos ist, dass sie vor Entsetzen für eine längere Zeit versteinert.
Als Salvestra ihrem Mann sagt, was passiert ist, schlägt er vor, den jungen Toten unbemerkt in sein Haus zu bringen – das Motiv von der Beseitigung der Leiche und ihrer Arrangierung zur Verschleierung der Todesursache kommt in den sentimentalen Mären vom Minnetod sowohl im Schüler von Paris, als auch in der Frauentreue vor; unter gänzlich anderen Voraussetzungen zentral auch im Schwankmäre vom Fünfmal getöteten Pfarrer. Die teils abenteuerliche Beseitigung der Leiche ist selbst ein beliebtes Schwankmotiv, das seinen Weg in ernste Erzählungen fand und diese Möglichkeit wird auch in der Novelle IV,6 des Dekameron erwogen (s.u.).
Der Ehemann Salvestras trägt die Leiche vor die Tür dessen Elternhauses, wo er sie liegen lässt. Der aufgefundene Körper wird von Ärzten sozusagen forensisch untersucht; da aber keine äußeren Anzeichen für Gewalt festgestellt werden, weder Wunden noch Anzeichen eines Schlages, kommt man zum Ergebnis, Girolamo sei vor Gram gestorben, was denn auch als offizielle Todesursache angenommen wird. Die Kenntnis dessen, dass man sich selber durch Atemanhalten nicht umbringen kann, ist wohl vorauszusetzen, doch spielt hier die Wahrscheinlichkeit eine geringere Rolle als das erzählerische Novum eines so kuriosen Todes irgendwo zwischen Minnetod und Selbstmord. Der Körper wird in eine Kirche gebracht, in die sich auch Salvestra einfindet. Ihre Anwesenheit wird dadurch erklärt, dass sie ihr Mann ausschickt, um auszukundschaften, was die Leute wissen; aber auch sie wünscht selbst den Toten noch zu sehen, wobei bei in ihr die alte Liebe wieder auflebt. Sie drängt sich nach vorn bis zum Sarg vor. Vom heißen Erbarmen ergriffen wirft sie sich „mit einem schrillen Schrei auf das Antlitz des Toten nieder, doch [kann] sie es nicht mehr mit ihren Tränen benetzen, da, wie zuvor Girolamo, nun auch ihr das Herz vor Gram gebrochen [ist]“ (S. 514). Die Anwesenden, die die mit einem Schleier verdeckte Salvestra nicht erkennen, nehmen zunächst an, sie sei in heftiger Klage aus Trauer über den Verstorbenen gefallen, merken dann aber, dass auch sie den Minnetod gestorben ist. „Die tote Salvestra wurde aufgehoben und festlich geschmückt, wie es einer Toten zukommt. Danach legte man sie zu Seiten des jungen Mannes auf dieselbe Bahre und beweinte sie lange. Endlich wurden beide in einem gemeinsamen Grabe beigesetzt. So vereinte denn der Tod auf immer zwei Menschen, die Amor im Leben nicht hatte vereinen können“ (S. 515). Auch hier also wird wie in der Frauentreue die treue Ehefrau eines in die Werbung eingeweihten Mannes zusammen mit dem zunächst erfolglosen Werber begraben. Das zweifellos herzergreifende Bild der gemeinsamen Beisetzung zweier ehebrechender Liebender ist ein Gemeinplatz, der nur wenige Ausnahmen kennt. Verstärkt wird dieses Bild dadurch, dass es nicht der Ehemann ist, der am Ende an der Seite seiner Frau liegt. Dies als auch die Treue dem Ehemann gegenüber lässt sich, wo sie denn gehalten wird, gut anhand des Eheversprechens erklären. Die Ehe als Sakrament ist eine vor Gottes Angesicht geschlossene und daher heilige und gesegnete (Lebens-)Gemeinschaft zwischen Mann und Frau, die auch diverse gesellschaftliche Funktionen erfüllt und nicht selten auch aus eher praktischen Gründen denn aus einem innigen Gefühl heraus geschlossen wird. Sie wird sozusagen per mündlichen Vertrag in Form des Eheversprechens geschlossen, dieser aber gilt, bis der Tod die Eheleute scheidet; die Liebenden, deren Liebe eine Revolte gegen die gesellschaftlichen Zwänge der Ehe ist, kommen erst im Tod zusammen, als die Ansprüche der Ehepartner sozusagen verjährt sind. Modalitäten der Treue in Ehebeziehungen handelt bereits der Stricker in den besten seiner Mären (s.u.) ab, die Frage nach der Geltung des Eheversprechens auch nach dem Tod eines Ehepartners wird im Erzwungenen Gelübde gestellt und gleichermaßen beantwortet, wie etwa im Begrabenen Ehemann, wo die Verpflichtungen zusammen mit dem Ehemann auf radikale Weise außer Kraft gesetzt werden. Die eheliche Verpflichtung, den vor Gott geleisteten Treueschwur als verbindliche Vereinbarung zu halten, ist eines der möglichen Hindernisse für die Ehefrau, wenn denn die Ehe wie etwa in der Frauentreue oder der Novelle ernst genommen wird. In den ernsten Mären vom Minnetod lassen sich zwei grundlegende Szenarien beobachten: entweder ist die außereheliche Liebe und Leidenschaft so stark, dass die Frau – denn es ist immer die Frau – die durch das Eheversprechen begründete Treueverpflichtung verletzt. Das ist meistens der Fall, wenn der Ehemann negativ gezeichnet ist und die Liebesbeziehung geheim ist. Oder aber der Ehemann ist positiv oder zumindest nicht negativ gezeichnet, die Werbung des Nebenbuhlers wird ihm nicht verschwiegen und die Frau hält ihre geschworene Treue, und zwar bis der Tod sie scheidet. In beiden Fällen zieht die Frau schließlich die Verbindung mit dem Liebenden im Tod derjenigen mit dem Ehemann im Leben vor. Der Geliebte oder Werber bringt ein unüberbietbares Opfer, dem kein anderer Liebesbeweis seitens des Ehepartners konkurrieren kann, da ja Ehepartner keinen Minnetod für einander erleiden.[29] Auch in der Novelle Boccaccios scheint das zufriedene Leben Salvestras mit ihrem Ehemann und die Treue zu diesem nicht die ausbrechenden Gefühle aufwiegen zu können, die sie zuletzt – im Angesicht des für sie Gestorbenen – verspürt. Die gemeinsame Beisetzung einer treuen Ehefrau nun mit dem sie scheinbar erfolglos umwerbenden und schließlich durch die Opferung seines Lebens doch bezwingenden Geliebten deutet auf die Möglichkeit einer Hoffnung auf Erfüllung einer in diesem Leben nicht möglichen Liebe erst nach dem Tod hin. Der vorgezogene Tod könnte auf der christlichen Vorstellung vom ewigen jenseitigen Leben gründen in Verbindung mit der durch den Tod gegebenen Befreiung von diesseitigen Verpflichtungen (Eheversprechen). So gesehen wäre ein vorgezogener Tod – sofern und da kein Selbstmord – auch keineswegs sündhaft. Der Liebestod wird vielmehr als Erlösung, Befreiung von den Qualen der unheilbaren Minnekrankheit gesehen . Wenn dann auch vom Selbstmord die Rede ist, wie etwa in der Nacherzählung des antiken Stoffes von Pyramus und Thisbe, so wird dieser als Beschleunigung des Unvermeidbaren gesehen; als solche dient sie der Fürsprache für die Selbstmörder und soll dem aus christlicher Sicht unheilbringenden Akt der Selbsttötung einen Teil der Schändlichkeit nehmen. In Selbstmordfällen zweier unglücklich Liebender gilt ebenfalls die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben nach dem Tod, wo immer dieses auch stattfinden soll; das Publikum wird in solchen Fällen um Fürsprache gebeten und die gemeinsame, öffentliche und prunkvolle Beerdigung impliziert ein ordentliches christliches Begräbnis, wenn auch nicht ausdrücklich die Rede von geweihter Erde sein muss oder kann. Jedenfalls weist auch die Symbolik einer gemeinsamen öffentlichen Beerdigung zweier Liebenden eindeutig auf ein in der Vorstellungswelt des damaligen Publikums vielleicht viel wirklicher und wahrscheinlicher anmutendes Zusammenleben nach dem Tod hin, als es vom heutigen „Normalstandpunkt“ her vielleicht vermutet wird.
3.1.3 Der Schüler von Paris A
Die Fassung A bietet dank der[30] ausholenden und variierenden Beschreibungen agonalen Liebessterbens und[31] zahlreichen thanatopraktischen und liturgischen Details besonders viel zu unserem Thema. Die Liebesgeschichte spielt sich in Paris zwischen einer reichen Bürgerstochter und einem jungen adligen Schüler aus England ab (Red. B, v. 40f.). Ihre Liebe ist erfüllt, nicht nur platonisch (v. 49ff.), ihre Leben verweben sich derart, dass sie ohne einander nicht leben können.[32] Auch hier entsteht eine unzertrennbare Einheit, ein Körper sozusagen, der mit bloß einer Hälfte nicht überlebensfähig ist. Die Verse 89ff. widmet der Dichter der Minne, ihrer quälenden Qualität und zerstörerischen Kraft. Da es sich im Schüler von Paris um besonders junge Liebende handelt, ist der Gegner, der die Liebe bekämpft, nicht der eifersüchtige Ehemann, sondern der Vater; in dieser Fassung sperrt er die Tochter zusammen mit drei Jungfrauen in einer Kammer ein, in die nur eine Magd Eintritt hat. Die Isolation vom Geliebten löst bei der Tochter die Minnekrankheit aus,[33] sie weint (v. 154). Zusammen mit der Magd schmiedet sie einen Plan, wie der Junge zu ihr hineinkommen kann. Zunächst gibt sie vor, ihr Kopf tue weh und sie bräuchte einen Priester, damit er ihre Beichte hört; es wird dabei nicht eindeutig gesagt, dass sie den Priester aus vermeintlicher Furcht vor einem nahenden Tod rufen lasse, doch liegt eine solche Deutung nahe, da häusliche Beichtbesuche von Geistlichen in der Regel einen triftigen Grund erfordern, wie etwa das Sterben. Eine ähnlich aufgebaute List mit explizit vorgespieltem Sterben, an der sich auch der Pfarrer – dort wissentlich – beteiligt, findet sich später in Des Weingärtners Frau und der Pfaffe. Die fiktive Beichte (v. 226ff.) dient letztendlich der Überbringung einer verschlüsselten Botschaft durch den nichts ahnenden Pfaffen an den Jungen; das Motiv vom Pfaffen als unwissenden Liebesboten ist sonst in schwankhaften Erzählungen anzutreffen. Von den drei Fassungen leidet der Ernst von A am meisten unter dem Einfluss ähnlicher Einlagen. Der Schüler versteht die Botschaft und gibt vor, so sehr von der Absage betroffen zu sein, dass er es kaum überstehe.[34] Als der junge Geliebte in Verkleidung bei ihr eintrifft, wird sie vor Freude ohnmächtig[35] – dies wohlmöglich eine parodierende Bezugnahme auf eine Version dieser Geschichte mit dem Tod des Geliebten aus Freude, wie er in Fassung C berichtet wird (s.u.).
Die Liebenden leben zusammen ein Jahr lang, als der Schüler zur Ader lässt – eine Diagnose wird nicht genannt, Adern wurden oft aus prophylaktischen Gründen geschlagen – und in der folgenden Nacht kein Maß finden kann beim Geschlechtsverkehr (v. 411-13). Diese Abwandlung der Todesursache gegenüber dem Gemeinplatz vom gebrochenen Herzen verkehrt das sonst zum Tod führende Übermaß der aus dem Herzen sprießenden Liebe in ein Übermaß einer Liebe, die ihren Ursprung hat in „prosaischeren“ Körperpartien. Ob es sich dabei um gewollte Parodie oder bloß einen Versuch um Neuerung handelt, sei dahingestellt. Der Aderlass wird so in Verbindung mit der Maßlosigkeit zur Todesursache: nach dem Liebesakt, der die ganze Nacht dauert, schlafen beide Liebenden tief ein, seine Ader öffnet sich währenddessen und der Junge verblutet im Schlaf.[36]
Die Tode des Schülers haben in allen Märenfassungen der Erzählung rationale, empirisch fassbare Gründe, wobei den Verfassern viel an einer physiologisch überzeugend erklärten Darstellung der Todesursachen gelegen ist. Zu Recht werden in der Version A schwankhafte Einflüsse gerade auch in der Beschreibung des Sterbens des Jünglings gesehen: die eigentlich ernste Szene erhält durch die banale Begründung eine leicht ironisierende und den ernsten Kern des Stoffes parodierende Note.[37] Alle Fassungen verbindet, dass der Jüngling an einem Übermaß an Liebe stirbt, und obzwar in beiden Fällen die Liebe auch körperlich ist, entschläft er in B und C vor Freude. In A wird der Tod realitätsnäher durch Verbluten im Schlaf erklärt – eine banale Todesursache, die der Geschichte ihre schicksalhafte Tragik nimmt.
Die Redaktion A fährt fort mit der Beschreibung der Klagegebärden des Mädchens; dazu gehört, dass sie sich da, wo das Herz liegt, in die Brust schlägt, sich auf die Leiche des Jungen wirft, unaufhörlich seine weißen Hände küsst, Augen, Wangen und den Mund liebkost (v. 464ff.). Nach v. 468 der Red. A schaltet die Redaktion B der Version A eine die Beschreibung der Klagegebärden erweiternde Stelle ein (Red. B, v. 669-76), wie sie ähnlich in A erst später angeführt wird (v. 498-508). Die nonverbale Klage geht in v. 475 in eine verbale über, in den üblichen Klagemonolog über der Leiche, und zwar mit einer Beschreibung von Todeszeichen: sie klagt, dass sein roter Mund verblassen und die Farbe verlieren und sein Blick sich trüben soll, Red. B, v. 690f.). In Red. A verflucht das Mädchen den Tag, an dem die Liebe geboren wurde, in der Parallelstelle der Red. B verflucht sie denjenigen, an dem sie selbst geboren wurde (v. 482-84 / Red. B, v. 694-96). Sie wünscht sich abermals den Tod, wobei sie den Tod als salde ansieht (v. 485ff.); sie personifiziert den Tod, indem sie an ihn ihre Worte richtet;[38] so auch in der Red. B, v. 713f.: Ach grimmer tôt, dû fliuhest mich, / Ez ist zît, nû öuge dich! – dies ist auch die einzige Stelle, wo der Tod direkt adressiert wird. Zu den Klagegebärden des Mädchens gehört auch ziemlich überraschend eine Reminiszenz an eine Stelle in Wolframs Parzival, wo sich Herzeloyde mit Muttermilch und Tränen begießt.[39] Es ist ein Akt des Entschlusses, nach dem Tod Gahmurets ihr Leben nicht selbst aufzugeben, da sie hochschwanger ist. Analog zur Vorstellung von einer Taufe durch Muttermilch und Tränen im Parzival könnte im Märe dieses Bild der Berieselung des Toten mit Muttermilch und Wein als eine symbolische, dem Heil des Toten förderliche Handlung anstatt der nicht empfangen Sterbesakramente gedacht worden sein. Ausgesprochen wird dies aber nicht. Die Erwähnung der Muttermilch könnte auch die Möglichkeit impliziert haben, dass das Mädchen – wie Herzeloyde – nach einem Jahr Zusammenleben mit ihrem Geliebten schwanger sei; dann würden wir hier einen besonders schockierenden Fall eines doppelten Minnetods haben: der Frau samt ihres ungeborenen Kindes – auch diese Deutungsmöglichkeit muss offen bleiben, da es nicht klar ist, ob auch der Verfasser des Märe sie so intendierte.
[...]
[1] Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 163: „Wie bei Gotfrid trägt auch in vielen dieser Mären nicht der Plot allein des Sinn; es ist vor allem auch die rhetorische Kunstfertigkeit in den Totenklagen (z.B. >Schüler von Paris A<, v. 461-588; >Schüler von Paris B<, v. 281-294; >Pyramus und Thisbe<, v. 331-404) und im hymnischen, aus Anlass des Liebestodes vorgetragenen Preis der Minne (z.B. >Schüler von Paris C, v. 631-698<), der die Mären vom Minnetod auszeichnet.“
[2] Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 158ff.
[3] Grubmüller, Novellistik des Mittelalters, S. 262ff.; S. 1124f. a.a.O.: „Dem Herzmäre liegt eine in vielen Literaturen verbreitete, möglicherweise aus indischer Tradition stammende Handlungskonstellation [...] zugrunde, nach der ein ehebrecherisches Paar dadurch bestraft wird, dass einem der beiden Partner, meist der Frau, das Herz oder auch ein anderer Körperteil (z.B. die Genitalien) des anderen als Speise vorgesetzt wird. Die Rache des Ehemannes ist in den meisten Versionen der motivierende Anlass; so ist auch er, der den Nebenbuhler tötet. Der Stoff kommt zuerst im Lai Guiron vor [...], dann im italienischen Novellino (Nr. 62), in der Vida des zwischen 1175 und 1212 bezeugten provenzalischen Troubadours Guillem de Cabestany [...], vielleicht auf der Vida des Guillem beruhend bei Boccaccio, Dekameron IV,9.“
[4] A.a.O., S. 1123.
[5] in dûhte daz er âne wer / dâ heime tôt gelæge (v. 128f.)
[6] der strengen minne bürde / twanc sô vaste sînen lîp / daz er durch daz schœne wîp / wær in den grimmen tôt gevarn (v. 132-135).
[7] In dirre clagenden herzenôt / was er mit jâmer alle tage, / und treip sô lange diese clage / biz er zejungest wart geleit / in alsô sende siecheit / daz er nicht langer mohte leben (274-79). Minnekrankheit bzw. das Syndrom des gebrochenen Herzen ist die Haupttodesursache in sentimentalen Minnemären.
[8] Analog zu christlichen Märtyrern des Glaubens, die aus Liebe zu Gott sterben (müssen), ist hier das Bild des Märtyrers einer leidenschaftlichen Liebe zwischen zwei Menschen nachgezeichnet, deren Macht unwiderstehlich ist und deren Mangel – wie der Mangel der Liebe Gottes – zerstörend wirkt. Dies ist laut Fischer, Studien, S. 109 auch ein diesen Märentypus kennzeichnender Aspekt: „Eigentümlich [für das höfisch-galante Märe] ist die Vorliebe für Geschehnisse, die sich einer sentimentalen Behandlung anbieten; die zum Larmoyanten neigenden Liebestodgeschichten mit ihrer Darstellung weltlich kanonisierten Minnemärtyrertums samt seinen antiken Präfigurationen […]“.
[9] im wart sô grimmiu nôt gegeben / daz man wol ûzen an im sach / den tougenlichen ungemach / den innerhalp sîn herze truoc (v. 280-83).
[10] si hât sô reine sinne / und alsö ganze triuwe / daz ir mîn jâmer niuwe / lît iemer an ir herzen / bevindet si den smerzen / den ich durch si lîden sol (v. 318-323).
[11] Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 201: „Auch hier [im Herzmäre ] wird Liebe in einem zeichenhaften Sinn körperlich vollzogen. Die Sehnsucht des in der Ferne weilenden Ritters führt zum Tod; er stirbt am >gebrochenen Herzen<. Dieses als Memorialzeichen übersandt, >verleibt< sich die Geliebte – unwissentlich – ein. Und daran wiederum kommt sie zu Tode: Die vollkommene Gegenseitigkeit der Liebe wird als gegenseitige Zerstörung der Körper vorgeführt.“ S. auch a.a.O., S. 166.
[12] Diese Diagnose wird auch von der modernen Medizin erfasst, doch gibt es bislang „keine wissen-schaftliche Erklärung für das Broken Heart Syndrom, also das gebrochene Herz. [...] Das Broken Heart Syndrom wurde erstmals zu Beginn der 1990er Jahren von japanischen Wissenschaftlern beschrieben. Darum ist das Phänomen auch als Takotsubo-Kardiomyopathie bekannt. [...] Die Patienten klagen vor allem über Schmerzen in der Brust und Atembeschwerden. Wurden sie bei der Untersuchung befragt, berichteten sie, beispielsweise gerade vom Tod eines Familienmitglieds erfahren zu haben oder gerade erst einen Autounfall unverletzt überstanden zu haben. Diese psychischen Belastungen haben dann die scheinbare Herzattacke ausgelöst. [...] Die Ursache für das gebrochene Herz kann in den Stresshormonen wie Adrenalin liegen, die durch ein traumatisches Erlebnis vermehrt ausgeschüttet werden. Das Herz schlägt dann besonders schwach oder einige Teile des Herzmuskels funktionieren kurz nur fehlerhaft. [...] aus unbekannten Ursachen tritt das Broken Heart Syndrom überwiegend im Frühjahr und im Sommer auf, während Herzinfarkte meistens im Herbst und Winter passieren. Diese Entdeckung unterstützt die Vermutung, dass die versorgenden Gefäße überhaupt nichts mit der Entstehung der Pseudo-Herzattacke zu tun haben. Dann wäre das Broken Heart Syndrom eine ganz andere Krankheit als der Herzinfarkt - allerdings mit gleichen Symptomen“ (Quelle: http://www.vnr.de/b2c/gesundheit/krankheiten/herz/broken-heart-syndrom-das-gebrochene-herz.html, Stand: 1.6.2010)
[13] Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 165, spricht von einer „gewissermaßen technische[n] Assistenz des Ehemannes“ und von „intime[r] Gemeinschaft von (totem) Ritter und Dame.“ In Novellistik des Mittelalters, S. 1126, heißt es dann: „Der zentrale Punkt in der (in der Wohl auf eine gemeinsame Quelle [in der Pikardie?] zurückgehenden) Umgestaltung bei Konrad von Würzburg und im Castelain de Couci liegt in der neuen Funktion des Herzens: vom »Objekt der Rache« wird es zum »Symbol der Liebe« (Schulze, S. 454) [...] Damit gelingt ihm [Konrad von Würzburg] ohne Mühe der Anschluss an die Liebesideologie seines Vorbildes Gotfrid von Straßburg.“
[14] Diverse Beziehungsangelegenheiten bilden die Handlungsgrundlage für das Gros der Mären, zentral dabei das Thema des Ehebruchs, der je nach Märentyp und -intention sehr unterschiedlich aufgefasst werden kann (s. z.B. die Rache des Ehemannes oder Der Herr mit den vier Frauen u.a.). Zum Ehebruch im mittelalterlichen Toulouse Otis-Cour, De jure novo : Dealing with Adultery in the Fifteenth-Century Toulousain. Speculum 84, 2 (2009): 347-392, zitiert nach http://inpress.lib.uiowa.edu/feminae/ArticleOfThe MonthPrevious.aspx, Stand 4.6.2010: „It has often been asserted in scholarly literature that repression of wifely adultery in the Middle Ages was severe. There is, however, overwhelming evidence – in customary law, court records, notarial documents and literature – that, starting no later than the twelfth century, the tendency was toward clemency and reconciliation rather than exemplary repression. This tendency was clearly linked to the Church’s growing insistence on marital indissolubility; if an unfaithful wife could not be repudiated, discretion was a wiser option than repression. A “divorce Italian style” – murder of the adulterous wife – was less common than has often been claimed, and royal letters of pardon, no guarantee of impunity, as they were subject to critical judicial review. [...] A popular “solution” to wifely adultery was reconciliation of the couple, officialized before public authorities or before a notary, in acts that sometimes stipulate a monetary compensation to the offended husband, but always include a promise on his part to treat his wife well in the future [...]. [Abstract submitted to Feminae by the author.]“
Dazu auch Schnell, The representation and treatment of adultery in Medieval Literature (Zusammefassung, zit. nach http://www.intams.org/61schnell.htm, Stand: 4.6.2010 ): „ The range of literary attitudes to adultery in the Middle Ages stretches from defence and approval through leniency to condemnation. The grounds for the different treatments cannot simply be defined in terms of the categories ‘secular’ and ‘spiritual’. There is also the crucial function of a certain type of poetry, with playful/comic texts that contrast starkly with the moralising texts, and it is important to indicate that there is overlap here. But above all there seems to be a realm of courtly literature where morally questionable constellations of actions occur without any moralising undertone. Here we see a world of values that stands outside of the religious-ecclesiastical world, a world where each person seems to have the right to a joyful sexuality. All the more surprising then is the agreement between theological texts and comic poems on one point: an unsatisfying sexuality in marriage is understood as an essential prerequisite for adultery. Secular and spiritual viewpoints also coincide with regard to two further possible causes of adultery: mistreatment of the wife by the husband and extreme jealousy. Against the background of numerous literary adultery scenarios, the Church’s marriage teaching in the Middle Ages - usually equated with a crass hostility to sex - is not quite as isolated as might appear: it has affinities with carnival shows, comic tales and troubadour songs in the significance which it attributes to a satisfying sexuality in marriage. Of course we cannot overlook the important difference in the treatment of adultery once committed. Even where theologians do show leniency towards adultery by an unhappily married woman, they still see it as a sin, whereas in carnival shows and comic tales there is no sin in adultery, only a disturbance of public order or a loss of standing. Sin discourse and honour discourse go their own separate ways.“
[15] ich sol mit sender herzenôt / verswenden hie mîn armes leben / umb in der durch mich hât gegeben / beidiu leben unde lîp. / ich wære ein triuwelôsez wîp, / ob ich gedæchte niht daran / daz er vil tugendhafter man / sante mir sîn herze tôt (v. 502-509).
[16] Boccaccio, Das Dekameron 1, S. 433ff. Hiernach auch die restlichen Verweise in diesem Abschnitt.
[17] Dieser Tod erinnert auch an den von Girolamo in der Novelle IV,8, der auch ganz im Stillen und ohne agonale Anzeichen unbemerkt gestreckt im Bett willentlich vor Gram aus unerfüllbarer Liebe stirbt (s.u.).
[18] Boccaccio, Das Dekameron 1, S. 516ff. Hiernach auch die restlichen Verweise in diesem Abteil.
[19] Der Text der altprovenzalischen Vida erschien in neuhochdeutscher gekürzter Übersetzung und wird hier zitiert nach Neuschäfer, Boccaccio und der Beginn der Novelle, S. 34f. Im Gegensatz zu Boccaccios problematisierender Bearbeitung ist der Ehemann – Raimon de Castel-Roussillon – ein „sehr böser, hartherziger, grausamer, mächtiger und hochmütiger Mensch“ (S. 34) – als solcher erinnert er eher an den Mann mit den vier Frauen. Bei Boccaccio sind beide, der Ehemann und der Liebhaber seiner Frau zunächst untrennbare Freunde, streiten in Turnieren in gleicher Rüstung und haben auch denselben Vornamen – sie sind also einander bewusst viel ähnlicher gestaltet. In der Vida wird der Geliebte der Frau Raimons de Castel-Roussillon, Guillem de Cabestaign, als sein Gegensatz beschrieben. Es wird hier – anders als bei Boccaccio – davon berichtet, dass Roussillon seinen Kontrahenten Cabestaign wohl eigenhändig tötet; er lässt ihm das Herz herausschneiden und über die Novellen und das Märe hinaus den Kopf abtrennen. Dieser dient später als Beweis dafür, dass das Herz, das seine Frau unwissend geröstet und gewürzt verspeist, wirklich Cabestaign gehört: der Mann lässt auch diesen vor ihr auftragen. Als sie ihrem Mann nun sagt, sie würde nie mehr eine weitere Speise zu sich nehmen, will der Mann sie mit dem Schwert auf den Kopf schlagen, sie aber läuft zum Balkon und stürzt sich in den Tod. König von Aragón, Lehnsherr beider Männer, lässt Raimon verhaften und ins Gefängnis werfen, wo er auch elend stirbt. Es ist das einzige der hier erwähnten Werke, in dem alle drei an der Dreiecksbeziehung Beteiligten infolge ihrer Handlungen umkommen und abgesehen von Boccaccios Bearbeitung auch das einzige, in dem ein eifersüchtiger Edel- und Ehemann für den Mord eines Nebenbuhlers zur Rechenschaft gezogen wird. Der Körper seiner Frau wird indessen nicht zusammen mit dem des Ehemanns begraben, sondern mit dem Liebhaber nach Perpignan überführt, wo sie gemeinsam in ein Grab vor dem Tor der Kirche gelegt werden. Eine Inschrift auf dem Grab erzählt vom Schicksal der Liebenden und ihren Überresten wird alljährlich Ehre erwiesen. Neuschäfer nennt die beiden Toten „Märtyrer des amour courtois, denen am Schluss durch die Errichtung eines Grabmals im Angesicht der Kirche und durch die jährlich wiederkehrende Ehrung auch als solchen gehuldigt wird. In unserem Text wird die ewige Feindschaft zwischen den Liebenden und dem eifersüchtigen Ehemann ausgetragen, und zwar auf exemplarische Weise. Alles was hier dargestellt wird, steht entweder unumgänglich fest oder geschieht mit schicksalhafter Notwendigkeit und bedarf keiner Begründung oder Rechtfertigung; alles Zufällige bleibt ausgeschlossen“ (a.a.O., S. 35).
[20] Boccaccio, Das Dekameron 1, S. 482ff. Hiernach auch die restlichen Verweise in diesem Abteil.
[21] Grubmüller, Novellistik des Mittelalters, S. 470ff.; entstanden wohl im ausgehenden 13. Jahrhundert (Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 256); Die Erzählung setzt sich aus drei verbreiteten Motiven zusammen (gekürzt nach Grubmüller, Novellistik des Mittelalters, S. 1176f.; Nachweise s. a.a.O.): 1, Zweikampf ohne Rüstung (im Hemd) als Liebesbeweis (z.B. in Wolframs von Eschenbach Parzival, Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst, Heinrichs von dem Türlin Krone; 2, (Tödliches) Aufbrechen einer Wunde durch die Leidenschaft der Liebesbegegnung (vgl. z.B. in Gotfrids von Straßburg Tristan) und 3, (Bekenntnishafter) Tod einer Frau am Grabe des Geliebten (z.B. Eilharts von Oberge Tristrant; Pyramus und Thisbe, Maries de France Les dous amanz in Konsequenz von (1) verknüpft mit 3a, einer Demonstration der Zusammengehörigkeit durch öffentliches Auftreten im (seinen) Hemd. Diese Elemente sind sonst zu finden auch [1177] im Fabliau Des trois chevaliers et del chainse [etc.], im Märe Der Schüler von Paris, [1178] in Boccaccios Girolamo und Salvestra (Dekameron IV,8).
[22] enzundet was von ir minne gluot / sîn herze nie gescheiden wart / von ir, biz ez der tôt verkârt. / des lônte im diu guote, / diu reine, wol gemuote, / alsô daz si daz leben verlôs / und den tôt durch sînen willen kôs (v. 14-20).
[23] ouch bin ichz niht Gotes sun, / daz ich die tôten muge getuon / lebendic. Got der reine / hât den gewalt aleine, / der mac über iuch erbarmen sich (v. 225-29).
[24] Obzwar eine solche Deutung etwas zu weit hergeholt sein kann, ist zumindest nicht auszuschließen, dass hier der unbekannte Dichter im Bild des an der Seite verwundeten Minnemärtyrers implizit dasjenige des gekreuzigten Jesus mitzeichnet. Gott und Minne sind oftmals in der Tradition der Erzählungen vom Minnetod zwei – obzwar ungleiche – Mächte, die sozusagen über Leben und Tod gebieten und im gewissen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, doch scheint die Dichtung nicht in eine solche Tiefe zu gehen.
[25] Boccaccio spielt mit den Erwartungen des Publikums, als er Andreuola in seiner Novelle IV,6 über dem Körper des toten Gabriotto nur in Ohnmacht fallen lässt. Ein solches etwa einen den künftigen Tod ankündigendes Bild ist hier nicht gegeben, Ohnmacht ist wohl einfach Ohnmacht.
[26] Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 164, Anm. 35: „In der beispielhaften Interpretation von Kurt Ruh, >Frauentreue<, ist das Kleideropfer der Frau »ein Opfer der Scham« (S. 262), das den körperlichen Tod der Frau notwendig zur Folge hat: »dem gesellschaftlichen Tod, der Selbstentäußerung ohnegleichen, kann nur noch der Tod des Leibes folgen« (S. 264). Dem Kleideropfer der Frau korrespondiere der Zweikampf des Ritters im bloßen Hemde: »Die entscheidende Motiv- und Sinnachse der >Frauentreue< ist die Entsprechung zwischen dem Zweikampf im Hemd und dem Kleideropfer als jeweils öffentlichem Liebesbeweis von Ritter und Frau« (S. 267).“ Und ebenda, S. 165: „Die Frau nimmt sich nicht das Leben, sie bricht tot zusammen.[…] Kurt Ruh […] sieht das als notwendige Folge ihrer öffentlichen Entblößung [...]. Ehrverlust, der den Tod nach sich zöge, kann aber nicht gut aus vorbildlichem Minneverhalten folgen. […] Sie bricht zusammen unter unlösbar widerstreitenden Ansprüchen: zwischen der unbeschädigten Liebe zu ihrem Mann und dem unwiderstehlichen Dienst des Ritters. Nur im Tod ist die Identität der Person bewahrt.“
[27] Dâ legte man si beide / mit jâmer und mit leide / in ein grap, die holden. / sust het si im vergolden, / und tet im ganze triuwe schîn. / hie endet sich daz büechelîn (v. 385-90).
[28] Boccaccio, Das Dekameron 1, S. 507ff.
[29] Eine leidenschaftliche Liebesbeziehung innerhalb einer Ehe wird hier nur in Boccaccios Novelle IV,6 thematisiert, das übliche Szenario wird aber bezeichnender Weise so abgewandelt, dass es zu keinem Liebestod kommt.
[30] Grundlegende Informationen zur Überlieferung, Stoffgeschichte und Motivik gekürzt nach Grubmüller, Novellistik des Mittelalters, S. 1133: „Die Geschichte vom Schüler von Paris ist im Mittelalter in drei Fassungen erzählt worden, die nicht unmittelbar miteinander zusammenhängen: Der Schüler von Paris A, entstanden im späten 13. Jahrhundert in Thüringen [...]; Der Schüler von Paris B, entstanden an der Wende des 13./14. Jahrhunderts [...]; Der Schüler von Paris C, entstanden gleichfalls um die Wende des 13./14. Jahrhunderts in Thüringen [...]. [1135] Das Märe geht von einer ähnlichen Grundkonstellation aus wie die Frauentreue [...], ist aber einfacher gebaut. Es braucht für sein Thema nur die beiden korrespondierenden Motive: [1136] Tod eines Mannes aus übermäßiger Liebe [...]; Tod einer Frau an der Bahre des Mannes. [...] Die Grundkonstellation, die den Schüler von Paris auszeichnet, findet sich in der Kombination der beiden Kernmotive sonst nirgends. Die nahe verwandten Texte unterscheiden sich alle darin, dass sie für den Tod des Mannes jeweils spezifische Begründungen geben: Marie de France, Les dous amanz [...]: der Liebhaber hat vergessen, für eine Kraftprobe sein Stärkungsmittel einzunehmen; Boccaccio, Dekameron IV,8 [...]: der Liebhaber wird bei seiner Wiederkehr verschmäht und tötet sich aus Verzweiflung im ehelichen Schlafzimmer seiner Geliebten, indem er die Luft anhält. (In der nah verwandten Version Giovanni Francesco Straparolas, piacevoli notti IX, 2 [...] bricht ihm aus Verzweiflung das Herz.); Margarete von Navarra, Heptameron, Nr. 50 [...]: dem Liebhaber bricht beim Rendezvous die Wunde vom Aderlass auf, der durch den Liebeskummer notwendig geworden war.
Es spricht vieles dafür, dass die Reduktion des ernsten Minnekasus auf die Überwältigung durch Liebesglück das Spezifikum [1137] der deutschen Fassungen ist (das dann vom Autor der Fassung A wieder rückgängig gemacht worden wäre)“.
[31] Rosenfeld, Deutsche Novellenstudien, S. 207ff. – synoptische Ausgabe der Redaktionen A und B des Schülers von Paris A (=GA). Wenn nicht anders angeführt, wird nach den Verszahlen und dem Wortlaut der Redaktion A zitiert.
[32] Si hetten herzẹ unde sin / So genzlichẹ in ein ander geweben / Daz si anẹ ein niht mohten leben, / […] / Ach here Got von himelrich, / Daz si niht ummer solden leben (v. 77-83). Der Tod der Liebenden wird vorausgedeutet. Die novellistische Wendung beschränkt sich in allen Mären vom Minnetod nicht auf die Tatsache selbst hin, dass gestorben wird, sondern darauf, wie gestorben wird. Die Verfasser der einzelnen Versionen bemühen sich meist hier um mit mehr oder weniger Erfolg um Invention.
[33] Do gẹwan si pin und smerzen, / Si krankete in irm herzen (v. 154f.). Eingesperrt und vor Kummer verliert das Mädchen ihre Farbe (Davon ir liechte farwe val / Ist worden unde missevar (v. 314f.)
[34] Daz her von ir vorwundet was / So sere, daz her mit not genas (v. 363f.).
[35] Do her zuo der schonen quam, / Solch freudes an ir herze nam, / Daz si amehtec viel darnidir (v. 377-9)
[36] Die ader sich leider inbrach / Und blutetẹ also sere / Daz der tugendbere / Der schonen an der siten starp (v. 456-60). Red. B der Fassung A (v. 602ff.) erweitert diese Stelle nicht unwesentlich: der Jüngling erwacht noch vor dem Tod; er ist sich des kommenden Endes bewusst und betet zu Gott, er möge ihn nicht verlassen und spricht auch die Minne an. Das Mädchen erwacht und klagt ihre Schmerzen in der Vorahnung seines Todes. Sie bittet Gott, den Geliebten so lange leben zu lassen, bis sie die Kommunion empfangen, dann möge er auch ihr Leben beenden. Der Junge stirbt, ohne das Sakrament empfangen zu haben, seine letzten Worte sind, sie solle weiterleben: […] Daz was mînes herzen ger, / daz dû keinem manne mêr / Nâch mir ûf dieser erden / Ze teile soldest werden. / Daz will aber got niht geben: / Ich muoz sterben, dû solt leben (Red. B, v. 641-46).
[37] Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 166, spricht diesbezüglich von „hybriden Zügen“; „Die Versionen A und B kommen in der Ausgestaltung nicht ohne die Einmischung von Schwankmotiven aus […]. […] Auch dass der Liebhaber beim Geschlechtsverkehr verblutet, weil er kurz vorher zur Ader gelassen hatte (A), verdirbt das Pathos des Liebestodes. Es sind Versatzstücke aus der unter dem Einfluss des Fabliau stehenden schwankhaften Märendichtung, die sich hier einstellen, ohne von der Logik der Geschichten gefordert zu sein. Sie unterlaufen den Ernst der [167] Minneproklamationen und machen auf die Brüchigkeit einer solchen Verknüpfung anders zugeordneter und vorgeprägter Elemente aufmerksam.“ Programmatisch wird dies aber eher nicht geschehen sein, denn die Fassungen sind viel zu sehr im Ernst verhaftet, um gezielte Parodien zu sein.
[38] We tot, wes sparest du min, / Sint ich von herzen gere din? / Wes schonst du einer armen maget, / Du werẹ e grim, nu bist vorzaget. / Ach tot, wie du vorswindest, / Daz du mich nicht vorslindest! usw.; Red. B erweitert dieses Flehen um den Tod um acht Verse, einer wird alterniert. In diesen Versen fleht sie ihr Herz an, es solle zerbersten.
[39] Sus in getaner quale / Si druktẹ in eine schale / Mit jamers geluste / Uz ir vil zarten bruste / Ir milch, damite si in twug, / Ir trut durchjemerliche gẹnug, / Die suze reine fine, / Die Milch tranks zu mit wine / Und sprach: „Du bitters jamers flut, / Du kindesspisẹ, du menschenblut, / Nu menge dich im herzen min / Gar bitterlich mit birnder pin, / Und wirke in mir die jamers sucht, / Die will ich tragen mit genucht / Anẹ arzatiẹ biz an den tag, / Daz ich numme geleben mag!“ (v. 509-24). Bei Wolfram: diu milch in ir tüttelîn: / die dructe drûz die künegîn. / si sprach ‘du bist von triuwen komen. / het ich des toufes niht gemonen, / du wærest wol mîns toufes zil. / ich sol mich begiezen vil / mit dir und mit den ougen, / offenlîche und tougen: / wand ich wil Gahmureten clagen.’ (v. 111,5-13)
- Arbeit zitieren
- Radovan Glovna (Autor:in), 2011, Der Tod in der mittelhochdeutschen Dichtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/313207
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