Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Grundlagen der Psychometrie
1.1 Klassische Schwellentheorie
1.2 Signalentdeckungstheorie
2 Psychophysikalische Messmethoden
2.1 Messmethoden der klassischen Schwellentheorie
2.1.1 Herstellungsmethode - method of adjustment
2.1.2 Grenzwertmethode - method of limits
2.1.3 Konstanzmethode - method of constant stimuli
2.2 Adaptive Methoden
2.2.1 Up-Down Methode
2.2.2 Transformierte Up-Down Methoden - UDTR
2.2.3 Block-Up-Down Temporal Interval Forced-Choice - BUDTIF Methode
2.2.4 Bekesy’s Tracking Methode - method of tracking
2.2.5 Audioscan
2.2.6 Parameter Estimation by Sequential Testing - PEST
2.3 Messmethoden mit binärem Trialcharakter
2.3.1 Alternative-Forced-Choice Methode-AFC
2.3.2 Ja-Nein-Experiment
Literatur- und Quellenverzeichnis
1 Grundlagen der Psychometrie
1.1 Klassische Schwellentheorie
Vorraussetzung der klassischen Schwellentheorie nach Fechner ist die Annahme eines physikalischen Reizkontinuums, eines internen Reaktionskontinuums und eines Beurteilungskontinuums. Die zu be- stimmende Schwelle ist ein fester Punkt innerhalb des internen Reaktionskontinuums dessen Über- schreitung zu einer Wahrnehmung des Reizes führt. Eine weitere Annahme ist, dass Reizintensitäten unterhalb dieser Schwelle zu keiner bewussten Wahrnehmung führen können. [Saborowski 2001] Unter der Voraussetzung, dass alle Faktoren während der Messung konstant gehalten werden, kann nach der klassischen Schwellentheorie eine scharf abgegrenzte Reizintensität ermittelt werden, wel- che die absolute Schwelle darstellt (siehe Abb. 1(a)). Sämtliche Faktoren während der Messung kon- stant zu halten ist in der Realität nicht zu erreichen und somit führen individuelle Variationen der Versuchspersonen (z. B. Änderung der Aufmerksamkeit) zu leichten Veränderungen der psychome- trischen Funktion (siehe Abb. 1 (b)) und zur veränderten Bestimmung der absoluten Schwelle, gege- benenfalls durch Interpolation. Zu den Messmethoden der klassischen Schwellentheorie gehören u.a.
(a) Verlauf der psychometrischen Funktion mit konstan- (b) Verlauf der psychometrischen Funktion auf Grund in- ter Wahrnehmungsschwelle nach der klassischen Schwellen- dividueller Schwankungen, mit Bestimmung der absoluten theorie. Schwelle bei 50% Detektionswahrscheinlichkeit.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Ermittlung der absoluten Schwelle Sabs auf der psychometrischen Kurve. Quelle: Eigene Grafik
die Herstellungsmethode, die Grenzwertmethode und die Konstanzmethode (zur näheren Erläuterung siehe Abschnitt 2.1.1 bis 2.1.3), die gegen die 50% Detektionswahrscheinlichkeitsschwelle konver- gieren. Die klassischen Messmethoden können nicht zwischen den individuellen Urteilstendenzen (konservativ oder liberal) und den Detektions- und Diskriminationsleistungen der Versuchsperson trennen, haben jedoch auf Grund ihrer breiten Anwendbarkeit, auch für komplexe Reize, einen hohen Stellenwert bezüglich der Schwellenbestimmung in der Psychophysik. [Goldstein 2002]
1.2 Signalentdeckungstheorie
Auf Grund der empirisch gefundenen Variabilität des Antwortverhaltens von Versuchspersonen, hinsichtlich Sensitivität d’ und Urteilstendenz β (konservativ oder liberal), wurden verschiedene Modellansätze entwickelt, von denen die Signalentdeckungstheorie einen hohen Stellenwert zur Beschreibung von Detektions- und Diskriminationsexperimenten einnimmt. Mit Hilfe der Signalentdeckungstheorie, die ursprünglich auf Grund des Signal-Rausch-Abstandes technischer Kommunikationssysteme in den 1960er Jahren entwickelt wurde, können die inter- und intraindividuellen Messvariationen hinsichtlich Sensitivität und Entscheidungskriterium kontrolliert und bestimmt werden. Dafür unterscheidet die Signalentdeckungstheorie die folgenden zwei Systemzustände:
1. S+N, d.h. der angebotene Reiz enthält das zu detektierende Signal S und Rauschen N
2. N, d.h. der angebotene Reiz enthält nur Rauschen N
Das Rauschen N modelliert dabei den stochastischen Entscheidungsprozess bzw. die individuellen Urteilstendenzen der Versuchsperson. Daraus ergeben sich die vier Reiz-Reaktionskombinationen und dazugehörigen Wahrscheinlichkeiten P, dargestellt in Tab. 1, die der Signalentdeckungstheorie zu Grunde liegen. Für den Fall der permanent richtigen Trennung zwischen den Systemzuständen S+N und N und der richtigen Antwort der Versuchsperson, ist Ph = 100% bzw. Pcr = 100% und Pm = 0% bzw. Pfa = 0%. Die psychometrische Kurve für diesen Fall entspricht der Kurve der Abb. 1 (a) mit der Existenz einer konstanten Wahrnehmungsschwelle. Die Wahrscheinlichkeiten P
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Vierfelderschema der Signalentdeckungstheorie und die zugehörigen relativen Wahrscheinlichkeiten P.
der Reiz-Reaktionskombinationen in Tab. 1 beziehen sich nicht auf die Summe der angeboten S+N und N-Zustände, sondern auf die tatsächliche Anzahl von S+N bzw. N-Zuständen. Daraus folgt, dass die Wahrscheinlichkeitssumme Ph+m=1 sowie Pfa+cr=1 ergibt und in der Literatur meistens nur Ph und Pfa betrachtet wird.
Eine weitere Annahme der Signalentdeckungstheorie ist die Abbildung jeder Reizvorlage (S+N oder
1 Grundlagen der Psychometrie 3
N) auf einer internen kontinuierlichen Skala r, mit deren Hilfe ein Entscheidungsprozess stattfin- det. Aus der empirisch bestimmten Anzahl der Treffer, der Verpasser, der falschen Alarme und der korrekten Ablehnungen wird die Lage der S+N und der N-Verteilung ermittelt. Der Sensitivitätspara- meter d’ (siehe Abb. 2 und Gleichung (1)) resultiert aus der Differenz des Mittelwertes der Signalver- teilung μ S + N und der Rauschverteilung μ N = 0, normiert an der Standardabweichung σ N. Demnach konvergiert der Sensitivitätsparameter gegen Null, wenn die Versuchsperson nicht zwischen den zwei Systemzuständen N und S+N diskriminieren kann, wächst an und konvergiert gegen ∞ mit zuneh- mender Diskriminationsleistung oder Erhöhung der Reizintensität [Muesseler und Prinz 2002].
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Darstellung der Ermittlung des Sensitivitätsparameters d’. Quelle: Eigene Grafik
Für die Berechnung eines kriterienfreien d’ kann Gleichung (2), mit der Gaussverteilungsfunktion F G, angewendet werden. Für die Herleitung wird auf [Hartmann 1998] verwiesen.
d ′ = F − 1 G (P h) − G (P f a) (2)
Der zweite Parameter der Signalentdeckungstheorie ist die Urteilstendenz β als Maß für das subjek- tive Kriterium der Versuchsperson eher konservativ oder liberal zu antworten. Der Theorie entspre- chend gibt es einen Punkt c entlang der kontinuierlichen internen Skala r, dessen Überschreitung zur Angabe der Wahrnehmung des Reizes führt. Wird der Punkt nicht überschritten, wird die Versuchs- person angeben, den Reiz nicht wahrgenommen zu haben. Die Urteilstendenz β kann sowohl von in- neren als auch äusseren Faktoren abhängig sein, z.B. von der Instruktion, der Wahrscheinlichkeit der Systemzustände S+N und N, vom Feedback, der Erfahrung und Motivation der Versuchsperson. Die
Urteilstendenz β, auch likelihood-ratio genannt, berechnet sich nach Gleichung (3). [Hartmann 1998]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In der Abb. 3 ist die Auswirkung der Urteilstendenz auf die vier Wahrscheinlichkeiten P des Vierfelderschemas bei gleicher Sensitivität d’ dargestellt. Falls β < p(x | S+N)p(x | N) ist,dannantwortetdieVersuchperson eher konservativ und der Anteil der korrekten Ablehnung steigt. Für β > p(x | S+N)p(x | N) urteilt die Versuchsperson eher liberal und der Anteil der Treffer steigt an.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Auswirkung der Urteilstendenz auf die Anteile der Treffer und falscher Alarm bei gleicher Sensitivi- tät d’. Quelle: Eigene Grafik
Die Beschreibung des Antwortverhaltens der Versuchspersonen kann grafisch in ROC-Kurven (engl. receiver operating characteristic) dargestellt werden. Dabei werden die relativen Häufigkeiten der Treffer Ph gegen die relativen Häufigkeiten der falschen Alarme Pfa aufgetragen. In der Abb. 4 ist der Einfluss des Sensitivitätsparameters d’ auf die ROC-Kurve dargestellt. Je hö-
Abb. 4: Abhängigkeit des ROC-Kurvenverlaufs vom Sensitivitätsparameter d’. Quelle: [Hartmann 1998]
her die Sensitivität ist und sich somit die relativen Wahrscheinlichkeiten der Treffer erhöhen und je geringer die relativen Wahrscheinlichkeiten der falschen Alarme sind, desto weiter ist die ROCKurve oberhalb von der Zufallsdiagonalen (d’=0) entfernt. Hohe Sensitivitäten verschieben dementsprechend die ROC-Kurve entlang der y-Achse zu höheren relativen Häufigkeiten der Treffer Ph, wobei sich das Verhältnis von Treffern zu falschen Alarmen verbessert. Datenpunkte unterhalb der Zufallsdiagonalen können nur zufällig auftreten oder wenn die Versuchsperson (vorsätzlich) konträr antwortet bzw. den Test nicht verstanden hat.
Die Abb. 5 zeigt den Einfluss der Urteiltendenz β bei gleicher Sensitivität der Versuchsperson. Bei einer eher liberalen Urteilstendenz der Versuchsperson, d. h. β > p(x | S+N), steigt sowohl die relative
Häufigkeit der Treffer Ph als auch die relative Häufigkeit der falschen Alarme Pfa (siehe auch Abb. 3) und der entsprechende Datenpunkt der ROC-Kurve ist sowohl auf der x-Achse als auch auf der y- Achse in Richtung 1 verschoben. Konservative Urteilstendenzen, d.h. β < p(x | S+N)p(x | N) verschiebenden Datenpunkt der ROC-Kurve auf beiden Achsen in Richtung Koordinatenursprung, da die relativen Häufigkeiten der Treffer und der falschen Alarme abnimmt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5: Abhängigkeit des ROC-Kurvenverlaufs von der Urteilstendenz β. Quelle: [Hartmann 1998]
Der Sensitivitätsparameter d’ und die Urteilstendenz β sind sowohl formal mathematisch als auch statistisch unabhängig voneinander, was in verschiedenen Versuchen durch Variierung der Vorkommenswahrscheinlichkeit des Reizes bestätigt werden konnte [Muesseler und Prinz 2002]. [Hartmann 1998]
[...]
- Arbeit zitieren
- Jacqueline Rausch (Autor:in), 2007, Einführung in die Psychometrie und Psychophysikalische Messmethoden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/313381
Kostenlos Autor werden
Kommentare