Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Vorbetrachtungen zum Wesen der Gerechtigkeit
2.1 Dialoge mit Kephalos und Polemarchos
2.2 Die Gegenargumentation des Thrasymachos
3. Das Lob der Ungerechtigkeit
3.1 Glück und Gerechtigkeit
3.2 Der Nutzen der Gerechtigkeit
4. Herleitung des Gerechtigkeitsbegriffes
4.1 Die Entwicklung des Idealstaates
4.2 Der platonische Idealstaat
4.3 Die Beschaffenheit der Seele
4.4 Der Analogieschluss
5. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis II
1. Einleitung
Platons Politeia gilt als sein philosophisches Hauptwerk und stellt bis heute eines der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie dar. Neben ihrer philosophiegeschichtlichen Bedeutung sucht die Bandbreite der in der Politeia behandelten Themen ihresgleichen: neben Kunst und Musik, Erziehung und Bildung, den Rechten der Frau, Ökonomie und Arbeitsteilung, dem glücklichen Leben, sowie dem Verhältnis von Gut und Böse, steht vor allem die Gerechtigkeit im Mittelpunkt der Überlegungen Platons. Platons erklärtes Ziel ist es, das Wesen der Gerechtigkeit zu bestimmen und herauszufinden, „ob die Gerechten […] besser leben als die Ungerechten und glücklicher sind“1 - schließlich gehe es dabei „nicht um irgendeine belanglose Frage, sondern darum, wie man leben soll.“2
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die durch Sokrates forcierte Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffes in der Politeia nachzuvollziehen. Dazu sollen die zur Formulierung des platonischen Gerechtigkeitsbegriffes im vierten Buch der Politeia führenden Argumente des Sokrates und seiner Gesprächspartner systematisch dargestellt und kritisch Stellung zu deren Folgerichtigkeit und Bedeutung für die Gesamtargumentation bezogen werden.
2. Vorbetrachtungen zum Wesen der Gerechtigkeit
Im ersten Buch der Politeia stellen mehrere Gesprächspartner des Sokrates ihre Vorstellungen von der Gerechtigkeit dar, die sich an konventionellen Erklärungsansätzen orientieren. Die Handlung spielt sich im Haus des Kephalos ab, eines attischen Aristokraten, der ebenso am Gespräch teilnimmt wie sein Sohn Polemarchos, Platons Brüder Glaukon und Adeimantos, sowie Trasymachos. Sokrates versucht deren Positionen zu widerlegen, vermeidet aber zunächst die Entwicklung eines positiven Gerechtigkeitsbegriffes. Dennoch werden bereits im ersten Buch einige zentrale Inhalte des platonischen Gerechtigkeitsbegriffes vorgestellt, die in den späteren Ausführungen des Sokrates berücksichtigt werden.3
2.1 Dialoge mit Kephalos und Polemarchos
Das Thema der Gerechtigkeit wird erstmals durch Kephalos aufgegriffen, der als lebensweiser Geschäftsmann und mit Blick auf seine Erfahrungen einen gerechten Mann als jemanden bezeichnet, der „niemanden belügt und betrügt, nicht einmal unabsichtlich, und […] weder einem Gott ein Opfer noch einem Menschen Geld schuldig bleibt [...].“4 Diese Auffassung der Gerechtigkeit als Zusammenspiel von Wahrhaftigkeit und kaufmännischer Aufrichtigkeit im Sinne einer „Tauschgerechtigkeit“5 kann nach Sokrates jedoch nur eingeschränkt gültig sein, da es kaum gerecht wäre, einem Wahnsinnigen eine für ihn verwahrte Waffe zu geben, deren Herausgabe dieser fordert. Ebenso wenig wäre es in einem solchen Falle gerecht, die Wahrheit auszusprechen.6 Kephalos stimmt dem Einwand des Sokrates zu und zieht sich aus dem Gespräch zurück, das an seiner Stelle von Polemarchos, dem Sohn des Kephalos, fortgeführt wird.
Polemarchos greift die Definition seines Vaters auf und verweist zur Bestimmung der Gerechtigkeit auf ein Gedicht des Simonides7, wonach es gerecht sei, „jedem seine Schuld zu bezahlen.“8 In seinen Augen ist die Unterscheidung von Freund und Feind ausschlaggebend, denn Gerechtigkeit sei, „seinen Freunden Gutes und seinen Feinden Schlechtes [anzutun].“9
Sokrates wendet zunächst ein, dass Menschen darüber irren können, ob ein Freund ihnen wohlgesonnen oder ein Feind schlechtgesonnen sei, sodass es nach Polemarchos‘ Argumentation im Falle einer Täuschung gerecht wäre, einem nur vorgeblichen Freunde Gutes zu tun.10 Polemarchos präzisiert daraufhin seine Definition dahingehend, dass der jemandem gutgesonnen Erscheinende, dies definitionsgemäß auch sein muss, es also keine Unklarheit über dessen Absichten gäbe11: der Freund sei gut, und der Gute wiederum per definitionem „gerecht und so geartet, dass [er] kein Unrecht tun [kann].“12 Fraglich bleibt, warum die Möglichkeit einer Täuschung allein hinsichtlich der Freundschaft bestehe, die postulierte Identität des Gerechten und Guten Sokrates und Polemarchos jedoch unproblematisch erscheint und eine Täuschung ausschließt, vor allem da Sokrates hinsichtlich der Erziehung der Wächter im späteren Gesprächsverlauf selbst auf das Freund-Feind-Verhältnis zurückgreift.13
Sokrates argumentiert weiter, dass es nicht gerecht sein könne, jemandem zu schaden. Ebenso wie Tiere (Pferd, Hund) durch erlittenen Schaden in ihrer Tüchtigkeit (aretḗ) eingeschränkt würden, müsse dasselbe auch für den Menschen gelten, dessen eigene Tüchtigkeit unter anderem in der Gerechtigkeit bestehe; durch erlittenen Schaden würde der Mensch an Tüchtigkeit verlieren, also schlechter und damit ungerechter werden.14 Die Gerechtigkeit, als deren qualitativer Wesensinhalt zuvor das Gute bestimmt wurde, kann nach Sokrates aber nichts Schlechtes hervorrufen, sodass „es also nicht Sache des Gerechten [ist], zu schaden, weder einem Freunde noch sonst jemandem, sondern […] die seines Gegenteils, des Ungerechten.“15 Hiermit ist nach Auffassung des Sokrates und Polemarchos die Freund-Feind-These widerlegt.
2.2 Die Gegenargumentation des Thrasymachos
Den bedeutendsten Teil der Gespräche des ersten Buches bildet der Dialog des Sokrates mit Thrasymachos. Thrasymachos - ein Sophist und Gast des Hauses - lehnt die negative Beweisführung des Sokrates als opportunistisch und unzulänglich ab und behauptet, „das Gerechte [sei] nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren.“16 Als die Stärkeren bezeichnet er die in jedem Staat Regierenden, unabhängig von einer tyrannischen, demokratischen oder aristokratischen Verfassung des Staates. Die vom jeweiligen Regime erlassenen Gesetze seien derart verfasst, dass sie die Interessen der Regierenden durchsetzen und somit „das für die Regierten als gerecht [gelte], was ihnen selbst zum Vorteil dient.“17 Seine Argumentation lässt auf eine legalistische Auffassung von Gerechtigkeit schließen, die als gerecht nur das ansieht, was in dem jeweiligen Staat als gerecht gilt.18 Andererseits kann Trasymachos‘ Standpunkt auch als ein pragmatischer Realismus interpretiert werden, der sich gegen eine normative Definition der Gerechtigkeit ausspricht, einen eher deskriptiven Charakter besitzt und sich des Gedankens einer intrinsischen Qualität der Gerechtigkeit verwehrt.19
Sokrates weist darauf hin, dass aufgrund der menschlichen Unvollkommenheit den Regierenden Fehler in der Gesetzgebung unterlaufen, sodass neben den für diese selbst vorteilhaften Gesetzen auch solche erlassen werden, die unvorteilhaft und nach Trasymachos‘ Definition ungerecht wären.20 In diesem Falle wäre zwar gerecht, dass die Regierten gesetzeskonform handeln, diese Gesetze jedoch unvorteilhaft für die Regierenden und damit nicht gerecht im Sinne des „Vorteils des Stärkeren“. Die an dieser Stelle deutlich werdende mangelhafte Präzisierung des „Stärkeren“, weist Trasymachos mit dem Verweis zurück, dass „der Regent, insofern er Regent ist, […] keinen Fehler [macht], und weil er keinen Fehler macht, befiehlt er das , was für ihn am besten ist, und das muss der Regierte ausführen.“21
Sokrates versucht im Folgenden für den Standpunkt zu argumentieren, dass die Kunst (téchne) des Regierens - vor allem unter der Annahme eines idealen Herrschers - die Wohlfahrt der Regierten befördere, nicht aber die der Regierenden. Sokrates argumentiert hier bereits ähnlich wie bei seinem späteren Ergon-Argument: Nach seiner Auffassung der téchne sei diese immer auf ihren eigentlichen Zweck gerichtet. So wie der Arzt mit seiner Tätigkeit das Wohlergehen des Patienten zum Ziel hat und ein guter Arzt sich dadurch auszeichne, dass er den Kranken heilt, verhalte es sich analog auch mit der Staatskunst, die dem Wohl der Regierten diene.22
Trasymachos hält dem das Beispiel des Schafhirten entgegen, der seine Herde nur zum eigenen Vorteil versorge und behüte, um daraus zu schließen, dass der Vorteil des Stärkeren sogar den Schaden des Untergebenen bedeute.23 Die „Einfalt“ der Gerechten sei demnach dem Konsequentialismus der Ungerechten unterlegen, da erster in vielen Lagen schlechter dastehe: „er zahle zuviel Steuern; er vernachlässige die eigenen Angelegenheiten, wenn er in ein Amt gelange; er mache sich unbeliebt bei Freunden und Verwandten, da er sie nicht protegiere.“24 Der sich an dieser Stelle vollziehende Wandel der Argumentation des Trasymachos zum „Lob der Ungerechtigkeit“ hat durchaus zynische Züge und verdeutlicht sein Misstrauen gegenüber „der politischen Rhetorik der Gerechtigkeit“25, die der idealistische Ansatz des Sokrates darstellt. Erspitzt seine These dahingehend zu, dass "die vollendete Ungerechtigkeit [...] lohnender als die vollendete Gerechtigkeit"26 sei und somit der Ungerechte ein besseres Leben führe, als der Gerechte.
3. Das Lob der Ungerechtigkeit
3.1 Glück und Gerechtigkeit
Sokrates stellt zu Ende des ersten Buches die Frage, "ob die Gerechten [...] besser leben als die Ungerechten und glücklicher sind."27 Der Glückseligkeit räumt Platon einen außerordentlich hohen Stellenwert ein, gehe es dabei schließlich nach Sokrates "nicht um irgendeine belanglose Frage, sondern darum, wie man leben soll."28
Die ab 352e beginnende Argumentation des Sokrates, die als Ergon-Argument bekannt ist, stellt sein Hauptargument gegen das von Trasymachos vorgetragene Lob der Ungerechtigkeit dar und ist von großer Bedeutung für das in der Politeia entwickelte Gerechtigkeitsideal Platons.29 Sokrates beginnt mit der These, dass ein jedes Ding eine bestimmte Aufgabe (ergon) hat. Diese Aufgabe einer Sache definiert Sokrates als etwas, "was man nur mit ihm oder doch am besten mit ihm ausführen kann."30 Er erläutert diese These mit einigen anschaulichen Beispielen. So könne man etwa nur mit den Augen sehen und den Ohren hören, sodass man folglich diese Eigenschaften als die Hauptaufgaben der Organe Auge und Ohr bezeichnen kann. Als Beispiel für die zweite Gruppe benennt er, dass man einen Rebenschößling "mit einem Dolch oder Messer [...], oder mit manch anderem Werkzeug"31 zwar auch abschneiden könnte, jedoch mit keinem Werkzeug so gut wie mit der Rebschere, die eigens dafür gemacht ist. Folglich sei dies die "eigentliche Aufgabe dieses Dinges: Zu tun, was entweder nur es allein, oder was es besser als alle anderen ausführen kann."32 Diese These ist schlüssig und haltbar, da auch wenn ein Ding durchaus verschiedene Aufgaben erfüllen kann - so wie das Ohr zum Beispiel gleichfalls ein Gleichgewichtsorgan ist oder die Augen auch eine besondere Bedeutung für die soziale Interaktion haben - es.
[...]
1 Sofern nicht anders angegeben handelt es sich bei den im Folgenden zitierten Stellen um den platonischen Primärtext. Der verwendete Text orientiert sich an der Übersetzung von Rufener, Rudolf, „Platon: Der Staat.“, Deutscher TaschenbuchVerlag (1991), mit Verweis auf die jeweilige Stephanusseitenzahl. Hier: 352d.
2 352d.
3 Vgl. Schütrumpf, Eckart. „Konventionelle Vorstellungen über Gerechtigkeit“, Erschienen in: Höffe, Otfried (Hrsg.). „Platon: Politeia“, Oldenbourg Verlag (2005), S.22f.
4 331b.
5 Vgl. Ottmann, Henning. „Geschichte des Politischen Denkens 1/2, Die Griechen: Von Platon bis zum Hellenismus.“, J.B. Metzler (2001). S.26f.
6 Vgl. 331c.
7 Simonides von Keos, griechischer Lyriker, 556-468 v. Chr.
8 331e.
9 332d.
10 Vgl. 334c.
11 Vgl. 334c - 335a.
12 334d.
13 Vgl. Ottmann, Henning (2001). S. 27.
14 Vgl. 335a - 335c.
15 335d.
16 338c.
17 338e.
18 Vgl. Schubert, Andreas. „Platon: Der Staat: ein einführender Kommentar.“, Schöningh (1995), S.20f.
19 Vgl. Ottmann, Henning (2001). S.28.
20 Vgl. 339c.
21 341a.
22 Vgl. Ottmann, Henning (2001). S. 28.
23 Vgl. 343b - c.
24 Ottmann, Henning (2001). S.28.
25 Ebd. S. 29.
26 348b.
27 352d.
28 352d.
29 Vgl. Blössner, Norbert. "Zu Platon, 'Politeia' 352d-357d.", Hermes (1991), S.61.
30 352e.
31 353a.
32 353b.