Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Mythos und Mythentheorien ...1
1.1. Der Begriff des Mythos bei Lévi-Strauss und Blumenberg ...2
1.1.1. Claude Lévi-Strauss ...2
1.1.2. Hans Blumenberg ... 3
1.2. Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer ...4
2. Goethes ‘Erlkönig’ ...10
2.1. Entstehungsgeschichte, Form und Inhaltsangabe ...10
3. Analyse des ‚Erlkönig’ in Anlehnung an Cassirers Mythos-Begriff ...11
4. Konklusion ...13
5. Appendix: Goethes “Erlkönig” ...15
6. Literaturverzeichnis ...16
1. Einleitung: Mythos und Mythentheorien
Der Begriff ‚Mythos’ scheint zur Zeit sehr modern zu sein und erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Immer wieder hört oder liest man effekthascherische Titel wie „Mythos Auto“, „Mythos China“, oder „Mythos Roger Federer“. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um Mythen im eigentlichen Sinne (auch wenn eine eindeutige Definition des Begriffes nicht gegeben ist), sondern eher um eine Implikation, die zu sagen scheint, dass es sich bei jenem Thema um etwas kultiges oder um ein Phänomen besonderer Art handelt.
Der Mythos ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst, auch wenn sich dessen Existenz ‚nur’ bis zu den Vorsokratikern zurückverfolgen lässt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Mythos ist aber ein Phänomen der Moderne und ist den unterschiedlichsten Disziplinen zuzuweisen. Die Psychologie und Anthropologie haben sich mit diesem Thema systematisch auseinandergesetzt, wie auch die Theologie und die Linguistik. Im Besonderen soll in dieser Arbeit aber der philosopische Zugang im Zentrum stehen. Hierbei sollte gesagt werden, dass sich zum einen jede Mythentheorie früher oder später auf sozialwissenschaftliche Daten bezieht. Andererseits sollte nicht vergessen werden, dass der Mythos oft lediglich einen Bezugspunkt für die jeweilige Theorie darstellt. So führt Segal [1] zum Beispiel an, dass „anthropologische Mythentheorien im Grunde Kulturtheorien“ seien, „die auf den Fall des Mythos angewandt werden“.
Ein die Theorien verbindendes Element sei aber der Aspekt der Fragestellungen. Gemäss Segal [2] sind die grundlegenden Fragen auf Ursprung, Funktion und Thematik gerichtet. Ersterer „will erfahren, wie und warum der jeweilige Mythos entstanden ist“. Funktion fragt danach, wie und warum sich der Mythos gehalten hat. Thematik, schliesslich, bezeichnet den „Referenten“ des Mythos. Ein offensichtlicher Referent ist beispielsweise ein Gott. Der Referent kann aber auch ein symbolisierter Bezugspunkt sein. Nur selten widmen sich, so Segal [3] Theorien allen drei Fragen. Meist steht nur einer dieser Aspekte im Zentrum.
Weiter oben hatte ich in Klammern bemerkt, dass es keine einheitliche Definition zum Begriff `Mythos` gebe. Man könnte jedoch sagen, dass ein `Mythos` die Form einer `Geschichte` hat, beziehungsweise eine Geschichte ist. So kommen einem wohl spontan die griechischen und ägyptischen Göttergeschichten, die germanische Mythenvielfalt, oder die christliche Schöpfungsgeschichte in den Sinn. Der Mythos ist aber viel mehr als eine erzählte Geschichte. Die Grenze zur blossen Legende wäre damit viel zu eng gesetzt. Mythen können sich auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder auf die Zukunft beziehen. Mythen haben Bedeutung und stellen Schicksale dar. Die Akteure in Mythen sind (Halb-)Götter, aber auch andere Wesen mythischer Herkunft, so wie der Faun, der Zwerg, oder der Elfenkönig, und natürlich auch der Mensch, der die Auswirkungen der Geschehnisse der mythischen Welt am eigenen Leib zu spüren bekommt.
Die in dieser Arbeit vorgestellten Mythos-Theorien gehen stillschweigend alle davon aus, dass der `Mythos` auch erzählte Geschichte ist. Bevor ich zum Hauptteil übergehe und die philosophische Mythos-Theorie von Ernst Cassirer zu skizzieren versuche, werde ich den strukturalistischen Ansatz von Claude Lévi-Strauss, dann den philosophischen Ansatz von Hans Blumenberg knapp darstellen. Damit möchte ich bezwecken, dass ein Kontrast zu Cassirers These hergestellt werden kann, wenn auch in geringem Mass.
In einem zweiten Teil werde ich eines der berühmtesten Gedichte Goethes vorstellen, die Ballade vom “Erlkönig”. Eine kurze Entstehungsgeschichte der Ballade, sowie eine knappe Zusammenfassung, soll das Gedicht in Erinnerung rufen. Zum anderen soll aber vor allem ein Übergang geschaffen werden, der es mir (hoffentlich) erlaubt, Goethes „Erlkönig“ im Lichte Ernst Cassirers Mythos-Theorie neu zu lesen und zu interpretieren. Eine Abschrift des Gedichtes findet sich im Appendix dieser Arbeit.
1.1 Der Begriff des Mythos bei Lévi-Strauss und Blumenberg
1.1.1 Claude Lévi-Strauss
Claude Lévi-Strauss geht von der Voraussetzung aus, dass die Wahrheit des Mythos nicht in der Analyse oder Interpretation seiner einzelnen Bestandteile aufgefunden werden kann [4]. Mythen werden nicht auf etwas spezifisch anderes zurückgeführt. Vielmehr sind Mythen Ausdruck eines allgemeinen Sachverhalts. Ebenfalls besitzt der Mythos keine Urform. Er existiert in der Vielzahl seiner Aktualisierungen. Enthistorisierung ist eine zentrale Idee des Strukturalismus, welche Lévi-Strauss auf die Mythenanalyse überträgt. Mythen gehören einerseits in das Gebiet des gesprochenen Wortes und erzählen eine Geschichte, das andere Mal aber bieten sie eine strukturelle Aussage. Der Sinn der Mythen liegt in einer sprachlichen Aussage, die nicht auf der Ebene der Normalsprache zu finden ist. In Analogie zur strukturalen Linguistik, macht Lévi-Strauss auf die Existenz von Mythemen, ähnlich dem Phonem oder Morphem, aufmerksam.
Gemäss Lévi-Strauss thematisieren Mythen elementare Probleme einer Gesellschaft auf symbolischer Ebene, welche sich immer um die Pole Natur und Kultur drehen [5]. In den Mythen werden immer wieder identische Elemente neu kombiniert und in neuen Zusammenhängen artikuliert: Für den Anthropologen Lévi-Strauss liegt das Interesse auf elementaren anthropologischen Grundstrukturen.
1.1.2 Hans Blumenberg
In der philosophischen Mythenheorie Hans Blumenbergs ist der Begriff der Depotenzierung der Unheimlichkeit der Welt sehr zentral [6]. Damit schliesst Blumenberg an die Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer [7] an, die im Mythos bereits Aufklärung am Werk sehen, weil er sich dem Unheimlichen entgegenstemme. Die Grundoperation des Mythos besteht nach Blumenberg darin, numinose [8] Unbestimmtheit in nominale [9] Bestimmtheit zu überführen, die
Dinge der Welt werden benannt und durch Benennung beherrschbar [10]. Durch Benennung der Dinge in der Welt, wird ihre mythische und oft bedrohliche Kraft abgeschwächt. Somit wird der Mythos zum Instrument der Gliederung der weltlichen Dinge.
Ein weiteres wichtiges Moment in Blumenbergs Theorie ist die Arbeit am Mythos. Diese bezieht sich vor allem auf literarische Mythen, beziehungsweise auf die Gestalt des Mythos in der Literatur. Man könnte sagen, dass Mythen eine Art Material sind, welches sich immer wieder bearbeiten lässt. Konkret heisst das, dass Mythen in der abendländischen Schriftkultur immer wieder umgeschrieben, zum Teil in neue Literatur eingefügt, manchmal sogar der Rahmenhandlung angepasst und somit aktualisiert wurde. Man denke dabei zum Beispiel an den Narziss-Mythos bei Heinrich von Mohrungen.
1.2 Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer
Ernst Cassirer baut im Rahmen seiner „Philosophie der symbolischen Formen, Band II“ (kurz: PhSF II) [11] den Begriff des Mythos zu einer eigenständigen These aus. Aufbauend auf Theorien von Platon, über Immanuel Kant, bis zu der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/ Adorno, schafft Cassirer es, eine eigene phänomenologische Theorie des Mythischen aufzustellen. Im Folgenden soll ein knapper, aber dennoch möglichst vollständiger Überblick über die Cassirer’sche Mythos-Philosophie und ihrer zentralen Begriffe gegeben werden.
Der Mythos ist seit je her eine Form der menschlichen Wahrnehmung, die gleichzeitig sowie aktuell, als auch zeitlos ist. Sie wird bestimmt durch das kulturelle Geschehen, das mannigfaltigen Einflüssen, wie der zeitgenössischen Politik und Wissenschaft, ausgesetzt ist. So werde eine
“kritische Phänomenologie des mythischen Bewusstseins weder von der Gottheit als einer metaphysischen, noch von der Menschheit als einer empirischen Urtatsache ausgehen können, sondern sie wird das Subjekt des
Kulturprozesses, sie wird den ‘Geist’ lediglich in seiner reinen Aktualität, in der Mannigfaltigkeit seiner Gestaltungsweise und die immanente Norm, der jede von ihnen folgt, zu bestimmen suchen” [12].
Nach dieser Auffassung ist das mythische Bewusstsein als ein Phänomen aufzufassen, das, geformt von der menschlichen Begierde, zu verstehen versucht, was in der Welt geschieht. Ebenfalls ist es ein Phänomen, das einen globalen Aspekt in seiner Mannigfaltigkeit birgt. Mythen begleiten den Menschen seit diese Begierde zu wissen, was in der Natur vor sich geht, entstanden ist. Diese mythischen Erklärungsversuche sind eingebettet in Geschichten und Erzählungen, die, ausgeschmückt und wissentlich strukturiert, mehr bieten, als blosse Vermittlung von Wissen. Doch das Wissen in diesen Erzählungen steht im Mittelpunkt, der Versuch, das Objektive und das Wahre, nicht etwa das Dazugedichtete, isoliert zu betrachten und zu schematisieren.
[...]
[1] Segal: 2007, 8
[2] Segal: 2007, 9
[3] ebd.
[4] Lévi-Strauss: 1971, 226-254
[5] Lévi-Strauss: 1971, 26
[6] Blumenberg:1971, 11-66
[7] Adorno, Max/ Horkheimer, Theodor: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a./M, 2003
[8] Das Numinose ist das `mysterium tremendum`, die Faszination, die zum Götterglauben, dem Glauben ans Übernatürliche, das Heilige, oder das Transzendentale führt.
[9] Der Nominalismus ist eine philosophische Denkrichtung, nach der die Begriffe nur als Namen, Bezeichnungen für einzelne Erscheinungen der Wirklichkeit fungieren, was heisst, dass Allgemeinbegriffe nur im Denken existieren und keine Entsprechung in der Realität haben. (Duden, Bd. 5. Das Fremdwörterbuch. 9., aktualisierte Auflage, Mannheim, 2007)
[10] Friedrich und Quast 2004, XIV-XV.
[11] Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Band II: Das mythische Denken, Berlin 1925
[12] PhSF II, 18