Zur Funktion der Patientenautonomie in der ethischen Kommunikation klinischer Ethikkomitees


Diplomarbeit, 2004

128 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Aufbau der Arbeit
1.2 Das Religionssoziologische dieser Arbeit

2 Methode
2.1 Talcott Parsons Kausalitätskonzept und Robert Mertons Dysfunktionalität
2.2 Niklas Luhmann – Entwicklung der funktionalen Methode
2.3 Die Anwendung der funktionalen Methode zur Auswertung der teilnehmenden Beobachtungsprotokolle
2.4 Beobachtung
2.4.1 Beobachtung erster Ordnung
2.4.2 Beobachtung zweiter Ordnung
2.4.3 Untersuchung der teilnehmenden Beobachtungsprotokolle – eine Beobachtung zweiter Ordnung
2.4.4 Die wissenschaftliche Perspektive dieser Arbeit

3 Medizinsoziologische Entwicklungen
3.1 Die Medizin als Profession
3.1.1 Die klassische Rolle des Arztes
3.1.1.1 Universalismus
3.1.1.2 Funktionale Spezifität
3.1.1.3 Affektive Neutralität
3.1.1.4 Kollektivitätsorientierung
3.1.1.5 Leistungsorientierung
3.1.2 Arzt-Patienten-Beziehung
3.1.3 Pflege-Patienten-Beziehung
3.1.4 Arzt-Patienten-Beziehung versus Pflege-Patienten-Beziehung
3.1.5 Die Exklusion der menschlichen Seite des Patienten
3.2 Deprofessionalisierung der Medizin
3.2.1 Der Patient als Mensch
3.2.2 Auswirkungen der Deprofessionalisierung auf die Arzt-Patienten-Beziehung
3.2.3 Entstehung einer neuen Ethik in der Medizin
3.2.4 Die Auswirkungen der Legitimationskrise der Medizin auf die Organisation Krankenhaus

4 Paternalismus versus Patientenautonomie
4.1 Paternalismus
4.1.1 Starker Paternalismus
4.1.2 Neopaternalismus
4.1.3 Kriterien der ärztlichen Dominanz
4.1.3.1 Macht als Ausdrucksmedium der ärztlichen Dominanz
4.1.3.2 Autorität als positive Ausdrucksform der ärztlichen Dominanz
4.1.4 Individualisierung
4.2 Patientenautonomie
4.2.1 Verschiedene Arten der Patientenautonomie
4.2.1.1 Patientenverfügungen
4.2.1.2 Patientenbetreuer
4.2.2 Zusammenfassung der Funktion der Patientenautonomie

5 Klinisches Ethikkomitee
5.1 Zielsetzung eines Ethikkomitees
5.2 Zusammensetzung eines Ethikkomitees
5.3 Funktionsweise eines Ethikkomitees
5.4 Welche Ethik wird in einem Ethikkomitee vertreten?
5.5 Das Verfahren eines Ethikkomitees aus soziologischer Sicht
5.6 Erhaltung der sozialen Ordnung

6 Untersuchung der Beobachtungsprotokolle
6.1 Problem: Die falsche Entscheidung (Sachdimension)
6.2 Lösungsmöglichkeiten für die Umsetzung der falschen Entscheidung
6.2.1 Patientenverfügungen
6.2.1.1 Patientenverfügung – Transparenz des Patientenwillens
6.2.1.2 Patientenverfügung - Rechtfertigung vor den Angehörigen
6.2.2 Schriftliche Fixierung des Patientenwillens – rechtlicher Beweis
6.2.3 Aufklärung als Voraussetzung für die Entscheidungsfindung des Patienten
6.3 Problem: Die falsche Beziehung (Sozialdimension)
6.3.1 Das Fürsorgeprinzip der Pflege
6.3.2 Ärzte als Techniker
6.3.3 Lösungsmöglichkeiten für die sozialdimensionalen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Patientenautonomie
6.3.3.1 Das gute Gespräch des Seelsorgers
6.3.3.2 Die Würde des Patienten als höchstes Gebot
6.4 Problem: Der falsche Zeitpunkt (Zeitdimension)
6.4.1 Die Notfallsituation als falscher Zeitpunkt
6.4.2 Die körperliche Stabilität als Lösung
6.4.3 Der falsche Zeitpunkt der Aufklärung über Patientenverfügungen
6.5 Die Beachtung der Person als Lösung für die Probleme der Umsetzung der Patientenautonomie
6.6 Die Funktion des klinischen Ethikkomitees in der ethischen Kommunikation
6.6.1 Die „helle Seite“ des Ethikkomitees
6.6.1.1 Ethikkomitee als Raum zur Kommunikation und Entscheidungsfindung
6.6.1.1.1 Ganzheitliche Kommunikation
6.6.1.1.2 Interdisziplinarität
6.6.1.1.3 Gute Entscheidungsfindung qua Verfahren
6.6.1.2 Das Ethikkomitee als Instanz zur Feststellung von Krisensymptomen im Krankenhaus
6.6.1.2.1 Die Zeit ist das Problem
6.6.1.2.2 Kommunikations- und Hierarchisierungsprobleme unter dem Klinikpersonal
6.6.1.2.3 Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Arzt und Patient
6.6.1.2.4 Probleme im Umgang mit dem Patienten
6.6.2 Die „dunkle Seite“ des Ethikkomitees
6.6.2.1 Das Nicht-Bezeichnete
6.6.2.2 Dysfunktionen des Ethikkomitees
6.6.2.2.1 Einschränkung der Kommunikation durch Erhalt der krankenhausinternen Hierarchie
6.6.2.2.2 Zu wenig Ethik
6.6.2.2.3 Häufige Absenzen
6.6.3 Das Ethikkomitee als Förderer der Patientenautonomie
6.7 wissenschaftliches Arbeiten: Entdecken von Strukturen, die den Praktikern verborgen bleiben

7 Auswirkungen der Wissenskluft zwischen Arzt und Patient aus soziologischer Sicht

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Wenn man einen Arzt rufen muss, wird alles andere nebensächlich“ (Saake, 2004: 429). An diesem Zitat lässt sich der hohe Status eines Arztes erkennen, welchen er sich aufgrund seiner Fähigkeit, körperlich integre Verfassung wiederherstellen zu können, erworben hat. Aber wird tatsächlich alles nebensächlich, wenn man die Hilfe des Arztes braucht? Wie steht es um die Wünsche des Patienten, seinen Willen? Wird dieser vernachlässigt, da er auf die Künste des Arztes angewiesen ist?

Gehen wir mal davon aus, dass dies nicht so ist. Also dass der Arzt zwar einen hohen Status aufgrund seiner Fähigkeiten besitzt, aber für den Patienten trotzdem nicht alles nebensächlich wird; dass er außer der Hilfe des Arztes auch eine Akzeptanz seines Willens verlangt und sein Recht auf Autonomie geltend macht, dass er also mit der langen medizinischen Überzeugung bricht, dass allein der Arzt die Kenntnis besitzt, was gut für den Patienten ist und stattdessen davon ausgeht, dass letztlich nur er selbst sich helfen kann, denn er ist der Experte für seine eigene körperliche und seelische Verfassung (Hurrelmann zit. nach Bauch, 2000: 41).

Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die Arzt-Patienten-Beziehung? Entstehen dadurch Konflikte oder empfindet es der Arzt als entlastend, wenn der Patient selbst die Verantwortung für seine Behandlung übernimmt. Welche Auswirkungen entstehen durch den autonomen Patienten für die Organisation Krankenhaus? Kann der autonome Patient problemlos in die gewohnten Handlungsabläufe integriert werden oder entstehen Probleme, die diese Handlungsabläufe behindern? Und wenn ja, wie können diese Probleme bearbeitet werden, ohne die stabile Ordnung des Krankenhauses zu stören?

Diese Fragen sollen in dieser Arbeit zunächst durch Rückgriff auf Autoren beantwortet werden, um sie dann hierauf auch empirisch zu bearbeiten. Als empirisches Material dienen Beobachtungsprotokolle[1], welche die Kommunikation klinischer Ethikkomitees wiedergeben. Durch die empirische Auswertung soll demonstriert werden, wie der autonome Patient in einem Ethikkomitee thematisiert wird. Es wird also eine Darstellung angestrebt, die demonstriert, wie die Ethikkomiteeteilnehmer auf den autonomen Patienten zurückgreifen und welche Themen in der ethischen Kommunikation in einem Ethikkomitee in bezug auf den autonomen Patienten entstehen.

1.1 Aufbau der Arbeit

Profession und Deprofessionalisierung, Paternalismus und Patientenautonomie, ärztliche Entscheidung und Patientenwille, Verantwortungsübernahme und Verantwortungsabgabe, Belastung und Entlastung, Distanz und Nähe, Experte und Laie, Wissen und Nichtwissen... Diese Aufzählung ließe sich natürlich noch verlängern, aber das Entscheidende wird auch an den dargestellten Paaren sichtbar: Die Gegensätzlichkeit.

Diese Gegensätzlichkeit wird in dieser Arbeit verwendet, um sich der Ausgangsfrage dieser Arbeit zu nähern. Es wird also Wert auf eine kontroverse Argumentation gelegt.

Um dies zu erreichen, wurde als Bearbeitungsmethode die funktionale Analyse gewählt, welche in Kapitel 2 vorgestellt wird. Sie impliziert bereits die kontroverse Darstellung durch die Problem- bzw. Problemlösungszuschreibung zu gesellschaftlichen Phänomenen. Durch diese Methode soll aufgezeigt werden, welche Probleme innerhalb des medizinischen Systems bestanden bzw. bestehen und welche Entwicklungen dadurch notwendig geworden sind. Außerdem wird in diesem Kapitel auf die Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung und des wissenschaftlichen Forschers eingegangen, um meine Position in dem Forschungsprozess deutlich zu machen.

Kapitel 3 beschäftigt sich mit medizinsoziologischen Entwicklungen. Dabei sollen zunächst die Entwicklungen dargestellt werden, die zu einer Autonomiesteigerung des Patienten geführt haben. Es soll also aufgezeigt werden, warum Patientenautonomie überhaupt ein Thema der Kommunikation geworden ist. Dabei wird expliziert, welche Schwierigkeiten im medizinischen System entstanden sind, die die Entwicklung des autonomen Patienten ermöglicht bzw. notwendig gemacht haben. So soll in diesem Kapitel auch aufgezeigt werden, welche Dynamik sich aufgrund der asymmetrischen Arzt-Patienten-Beziehung entwickelt hat und wie sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Akteuren durch die Entstehung des autonomen Patienten verändert hat.

Bei diesen Überlegungen spielen die aufgezählten Antipoden dahingehend eine wichtige Rolle, da sie einerseits die Schwierigkeiten des medizinischen Systems allgemein und andererseits speziell die Probleme im Umgang mit dem Patienten sichtbar machen. Schwierigkeiten also, welche teilweise die Entwicklung des Patienten zu einem autonomen Patienten vorangetrieben haben, teilweise aber erst durch den autonomen Patienten hervorgebracht wurden.

Kapitel 4 umfasst eine konträre Darstellung der beiden medizinischen Therapieansätze Paternalismus und Patientenautonomie. Hierbei soll speziell die Problem bzw. Problemlösungsfunktion der Patientenautonomie thematisiert werden.

Kapitel 5 führt das Ethikkomitee in diese Arbeit ein. Dabei wird die Funktionsweise, die Zusammensetzung und das Ziel der Arbeit eines Ethikkomitees skizziert. Detaillierter wird auf das Verfahren des Ethikkomitees eingegangen, da dieses Aufschluss über die Kommunikation in einem Ethikkomitee gibt, welche ja ein wichtiges Thema in dieser Arbeit darstellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kapitel 3, 4, und 5 außer zur Demonstration der Entstehung des autonomen Patienten auch zur Darstellung des Beziehungsgefüges zwischen der Organisation Krankenhaus, der Patientenautonomie und dem klinischen Ethikkomitee dienen; es soll also demonstriert werden, in welcher Hinsicht sich diese drei Bereiche gegenseitig entlasten, aber auch inwiefern man von einer gegenseitigen Belastung sprechen kann. Es wird eine Darstellung angestrebt, die einerseits deutlich macht, welche krankenhausinternen Probleme die Patientenautonomie zu lösen vermag und welche sie auf der anderen Seite erst entstehen lässt; außerdem soll auch beachtet werden, welche Rolle dem Ethikkomitee bei der Umsetzung der Patientenautonomie in einem Krankenhaus zukommt. Vermag es die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser zu lösen oder dient es dazu, die krankenhausinterne stabile Ordnung zu erhalten und krankenhausinterne Probleme durch die ethische Kommunikation über die Patientenautonomie sichtbar zu machen? Diese Fragen, welche im Zusammenhang mit dem autonomen Patienten auftreten, sollen zunächst in dem ersten Teil dieser Arbeit bearbeitet werden.

Im Kapitel 6 wird die ethische Kommunikation in einem Ethikkomitee über den autonomen Patienten anhand der Analyse von Beobachtungsprotokollen, die die Sitzungen in Ethikkomitees wiedergeben, beschrieben. Es wird dargestellt, wie die Patientenautonomie in unterschiedlichen Sitzungen von Ethikkomitees thematisiert wird. Dabei sind die Themen relevant, welche erst im Zusammenhang mit dem autonomen Patienten in der Kommunikation entstehen. Auch hier wird die funktionale Analyse als Auswertungsgrundlage verwendet, was bedeutet, dass aufgezeigt werden soll, wann die Umsetzung der Patientenautonomie als Problem angesehen wird und wie versucht wird, diese Schwierigkeiten zu minimieren. Dabei wird viel Gewicht auf die sozialen und zeitlichen Probleme der Umsetzung gelegt. In sozialer Hinsicht wird hierbei auf die bereits im ersten Teil thematisierten Beziehungsgefüge zwischen dem Klinikpersonal und dem Patienten zurückgegriffen; aber auch in bezug auf die temporäre Begrenztheit im Umgang mit dem autonomen Patienten werden Themen wieder aufgenommen, die im ersten Teil bereits angesprochen und problematisiert wurden. Des weiteren soll dargestellt werden, welche Formen von Patientenautonomie fähig sind, das Transparenzproblem des Patientenwillens zu minimieren und dadurch den Ärzten den Umgang mit dieser - für sie noch neuen - medizinischen Entwicklung zu erleichtern.

Der zweite Teil nimmt also die thematisierten Schwierigkeiten des ersten Teiles wieder auf, transformiert sie aber durch die Wiedergabe der konkreten Gesprächssituation in einem Ethikkomitee in eine bearbeitbare Form. Anders formuliert, soll durch die empirische Auswertung der Beobachtungsprotokolle die Funktion der Patientenautonomie anhand von Ansichten und Erlebnissen der Ethikkomiteeteilnehmer praktisch handhabbar werden. Es soll also nicht bei der theoretischen Funktion der Patientenautonomie bleiben, sondern ihr soll Praxisrelevanz verschafft werden.

1.2 Das Religionssoziologische dieser Arbeit

Diese Arbeit wird in dem soziologischen Vertiefungsgebiet Religionssoziologie geschrieben; diese Zuordnung soll an dieser Stelle kurz begründet werden:

Durch die Beschreibung des Aufbaus der Arbeit wird sichtbar, dass die Ethik an sich ein zentrales Thema dieser Arbeit darstellt. So wird versucht, die ethische Kommunikation in einem Ethikkomitee zu beschreiben, indem ethische Fragen gestellt und beantwortet werden. In dem literarischen Teil wird Wert darauf gelegt, die Ethik in der Medizin hervorzuheben und speziell in bezug auf die Patientenautonomie darzustellen, warum man sie als eine neue ethische Entwicklung der Medizin bezeichnen kann. Bei der empirischen Auswertung wird eine Darstellung angestrebt, die deutlich macht, wie die einzelnen Ethikkomiteeteilnehmer in der Kommunikation auf Ethik zurückgreifen.

Ethik und Religion stehen in einem engen Zusammenhang, welcher an dieser Stelle durch ein Zitat von Nassehi expliziert werden soll: „Wie Religion muss auch Ethik auf Unbeobachtbares, Unsichtbares verweisen. Wie sonst sollte die Paradoxie bearbeitet werden, das Gute des Guten, das Vernünftige der Vernunft, das Menschliche des Menschen, das Moralische der Moral zu begründen?“(Nassehi, 2003: 276) Aufgrund dieses ähnlichen Aufgabenfeldes von Religion und Ethik kann diese Arbeit als eine religionssoziologische Arbeit betrachtet werden und es wird angestrebt, das „Unbeobachtbare“ und „Unsichtbare“ beobachtbar und sichtbar zu machen.

2 Methode

In diesem Kapitel soll dargestellt werden, mit welcher Methode die Ausgangsfrage dieser Arbeit bearbeitet wird. Dabei sollen zunächst die entscheidenden Erkenntnisse von Talcott Parsons in bezug auf seine Idee des Kausalitätskonzepts aufgezeigt werden, um sie als Ansatz- und Kritikpunkt sowohl für Robert Merton als auch für Niklas Luhmann verwenden zu können. Im nächsten Schritt ist ein Vergleich zwischen Parsons, Merton und Luhmann angestrebt, um die Unterschiede und speziell die Erweiterungen ihrer Theorien hervorzuheben. Dabei soll deutlich gemacht werden, inwiefern die Systemtheorie von Luhmann die Schwierigkeiten von Parsons aufnimmt und die funktionale Analyse als Methode zur Untersuchung von gesellschaftlichen Problemen entwickelt hat. Im Abschluss an diesen ersten Methodenteil wird dargestellt, warum sich die funktionale Analyse als Methode für diese Arbeit eignet und wie sie konkret zur Beantwortung der Ausgangsfrage angewendet werden soll.

Da das Untersuchungsmaterial teilnehmende Beobachtungsprotokolle sind, wird der zweite Teil dieses Kapitels der Beobachtung und speziell der Beobachtung zweiter Ordnung gewidmet. Dabei soll hervorgehoben werden, warum man die Beobachtung zweiter Ordnung als eine Entparadoxierung der Beobachtung erster Ordnung bezeichnen kann und weiter, welche Vorteile der Beobachter zweiter Ordnung im Vergleich zu den Beobachtern erster Ordnung speziell bei der Auswertung der Protokolle hat. Zum Abschluss des Methodenteils soll noch eine Darstellung der wissenschaftlichen Perspektive dieser Arbeit erfolgen, bei der auch systemtheoretische und ethnographische Überlegungen integriert werden.

2.1 Talcott Parsons Kausalitätskonzept und Robert Mertons Dysfunktionalitäten

Als Einstieg zur Explikation von Parsons grundlegenden Gedanken sollen folgende drei Wörter gelten: „action is system“ (Parsons, 1968a: 14). Die Gedanken hinter diesen drei Wörtern waren ausschlaggebend für die weitere Entwicklung seiner Theorie. Parsons hat erkannt, dass man Handlung und System nicht trennen kann, denn die Einheit des sozialen Systems ist der Handelnde und die soziale Struktur ist ein System von sozialen Beziehungsmustern zwischen Handelnden (Parsons, 1964: 54). Jedes System verfügt über spezielle Handlungsmuster, die für das Bestehen des Systems in der Gesellschaft notwendig sind. Das System muss also über bestimmte Komponenten verfügen, um Handlungen zu ermöglichen oder anders formuliert: um einen bestimmten Zweck zu erreichen, werden bestimmte Mittel eingesetzt. Das Individuum an sich, also der Handelnde selbst, ist für ihn nicht von Interesse. Er versucht nicht die individuellen Beweggründe für Handlungen zu hinterfragen, sondern für ihn ist wichtig, dass jedes Individuum eine bestimmte Handlung ausführt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. „Ein Ziel ist definiert als ein ,wünschenswerter´ Zustand, sein Nichterreichen ist eine ,Versagung´, ,eine ,Frustration´.“ (ebd.: 53) Luhmann hat das bis jetzt Gesagte in seiner Vorlesung (Semester 91/92) treffend zusammengefasst: Für Parsons resultiert eine Handlung aus drei Voraussetzungen: es muss möglich sein, Zweck und Mittel zu differenzieren, des weiteren sind gesellschaftliche Wertvorgaben zur Orientierung notwendig und außerdem benötigt man einen „actor“, der die Handlung ausführt. Der Handelnde wird bei Parsons also nur auf die Funktion des Ausführens reduziert. Seine individuellen Motive sind nicht von Interesse. „Es wird also nicht die Handlung dem Handelnden untergeordnet, sondern der Handelnde der Handlung“ (Luhmann zit. nach Baecker, 2002: 21/22).

Diese sehr reduzierte Fassung der Grundgedanken von Parsons verhilft einem, die Entwicklung des berühmten AGIL-Schemas[2] nachvollziehen zu können, welches im Rahmen dieser Arbeit nur sehr kurz skizziert werden soll. Parsons reduziert die wesentlichen Funktionsbedingungen jedes Handlungssystem auf vier Komponenten[3] (Parsons, 1976: 172). Jedes System funktioniert über diese Komponenten, denn wenn es dies nicht tun würde, dann würde es auch nicht in der Gesellschaft bestehen können. Die Folgerung daraus ist, dass jedes System über das selbe Kausalitätskonzept verfügt, was bedeutet, dass jedes System einen bestimmten Zweck erfüllen muss, um zu bestehen. Dieser Zweck orientiert sich an den Komponenten des AGIL-Schemas. Die Logik, die aus dieser Zweck-Mittel-Beziehung resultiert, kann somit auf jedes System übertragen werden. Diese Zweck-Mittel-Beziehung bleibt jedoch nicht im System, sondern geht über die Systemgrenzen hinaus. Die Systeme stellen untereinander Beziehungen her oder anders formuliert, es findet eine „Interpenetration“[4] zwischen den Systemen statt. Ein System hat immer eine Wirkung auf ein anderes System und sie sind somit nicht in sich geschlossene Systeme, sondern sie sind nach außen offen und beruhen auf partieller Überschneidung (ebd.: 166). Hier liegt das Problem der Theorie von Parsons: wie geht man mit der Abhängigkeit der einzelnen Systeme um? Diese Tatsache lässt sich nicht mehr mit der Innenaufteilung der Systeme erklären. Schneider beantwortet diese Frage folgendermaßen: „Parsons geht davon aus, dass die Anerkennung einer gemeinsam normativen Ordnung durch die Mitglieder einer Gesellschaft als Bestandsforderung und Abgrenzkriterium gesellschaftlicher Systeme zu betrachten ist.“ (Schneider, 1999: 180) Diese Annahme wird von Luhmann folgendermaßen kritisiert: Systeme sind nicht offen, sondern operativ in sich geschlossen. Sie brauchen keine anderen Systeme, um sich erhalten zu können. Sie sind also nicht fremdreferentiell, sondern selbstreferentiell. Dieser und weitere Kritikpunkte von Luhmann an Parsons werden später detaillierter diskutiert.

Zuvor erscheint es jedoch notwendig, die Ansichten von Robert Merton kurz darzustellen, da er als Parsons Schüler sehr direkt an Parsons anknüpft, sich aber in entscheidenden Punkten von ihm distanziert und eine neue Perspektive auf das Zusammenspiel von Struktur und Funktion des Systems entwickelt hat, welche für die Entstehung der funktionalen Analyse grundlegend war.

Parsons hatte den Anspruch, eine Theorie auszuarbeiten, die allen menschlichen Handlungen zugrunde lag, Merton hingegen entfernte sich von dieser Annahme[5], und entwickelte die sogenannten „middle range theories“[6]: „Theorien, angesiedelt zwischen den kleinen Arbeitshypothesen, die während der alltäglichen Forschungsroutinen im Überfluss entwickelt werden, und den allumfassenden Spekulationen einschließlich eines theoretischen Globalschemas, von dem man eine große Anzahl empirisch beobachteter Gleichförmigkeit des sozialen Verhaltens herzuleiten erhofft.“ (Merton, 1995: 3) Wie bei Parsons stehen bei Merton die Akteure im Mittelpunkt seiner Theorie, jedoch werden diese nicht völlig durch ihre strukturelle Position auf ihre Handlungen determiniert. Das bedeutet also, dass der Handelnde, obwohl er eine bestimmte Stellung in der Gesellschaft einnimmt, trotzdem über einen gewissen Handlungsspielraum verfügt. Merton lehnt somit das allumfassende System von Parsons ab. Dies drückt er einerseits dadurch aus, dass er nicht nur die Funktionen eines Systems bzw. eines Akteurs in seine Analyse einbezieht, sondern auch die „Dsyfunktionen“ seine Aufmerksamkeit erlangen. So hat er die Vorzüge des Aufzeigens von „Dysfunktionalitäten“ in den 60er Jahren deutlich gemacht. Denn nur dadurch, dass im System etwas nicht funktioniert, wird deutlich, dass etwas verändert werden muss, damit es wieder funktioniert. Stehr/Meja explizieren hierzu, „dass nach Merton Verhaltensweisen und Normen nicht immer positive Konsequenzen haben“ (Stehr/Meja, 1995: 14). Stattdessen bewirken Dysfunktionen nach Merton Druck, Belastung und Spannung, welche einen analytischen Ansatz zum Studium der Dynamik und des Wandels bieten (Merton: 1995: 51). Durch die Erkenntnis, dass die Annahme der funktionalen Unentbehrlichkeit bestimmter sozialer Strukturen aufgegeben werden muss, entstanden die „funktionalen Alternativen“, durch welche er aufdeckte, dass ein funktionales Erfordernis durch unterschiedliche Alternativen erfüllt werden kann (ebd.: 50). Hier erkennt man bereits die Konzeption des „Äquivalenzfunktionalismus“ von Luhmann und die erste Stufe der Entwicklung der funktionalen Analyse. Denn es ist, wie später noch genauer anhand von Luhmann dargestellt wird, die Aufgabe der funktionalen Analyse, funktional äquivalente Lösungen für ein bestimmtes Bezugsproblem miteinander zu vergleichen. Coser erklärt hierzu, dass Merton anhand der funktionalen Analyse die strukturellen Ursachen von Unordnung wie von Ordnung, von sozio-kulturellen Unterschieden und Widersprüchen, von zentralen wie von abweichenden Werten in einem gegebenen sozialen Ganzen herausarbeiten konnte (Coser, 1999: 158). Diese sozialen Gegebenheiten hätte man mit Parsons statischer Interpretation der funktionalen Notwendigkeiten sozialer Systeme, gegen die sich Merton wandte[7], nicht erklären können (Stehr, 1985: 8).

2.2 Niklas Luhmann - Entwicklung der funktionalen Analyse

Parsons hat die Zweck-Mittel-Beziehung nur an Handlungen festgemacht oder anders formuliert, „Zwecke und Mittel sind für Parsons jedoch zunächst noch Wesensmerkmale des Handelns“ (Luhmann, 1973: 15). Hier setzt der Kritikpunkt von Luhmann an Parsons an: Denn nach Luhmann sind Zweck und Mittel Begriffe, die nur in bezug auf Systeme das Urteil „rational“ begründen können (ebd.: 16). Das bedeutet, dass Luhmann den Gedanken von Parsons umdreht. Für ihn beschreiben nicht der Zweck und die eingesetzten Mittel die Handlung, sondern die Handlung selbst wird als Mittel charakterisiert.

Der Umdrehvorgang von Luhmann lässt sich deutlicher beschreiben, wenn man die Begriffe von Luhmann einführt. So werden Zweck und Ursache bei Luhmann in die Begriffe Problem und Problemlösung umgewandelt, wodurch die Wirkungen in Ursachen verwandelt werden (Luhmann, 1964: 4). Das Problem selbst wird als Auslöser gesehen, stimuliert selbst seine Lösung. In anderen Worten bedeutet das, dass Luhmann im Vergleich zur strukturfunktionalistischen Ansicht das Verhältnis von Struktur und Funktion umdreht. „Anstatt von vorausgesetzten gesellschaftlichen Strukturen auszugehen, zu deren Erhaltung bestimmte gesellschaftliche Probleme (=Funktion) gelöst (erfüllt) werden müssen, bestimmt Luhmann das Gesellschaftssystem durch ein invariantes Bezugsproblem, das durch unterschiedliche Strukturen gelöst werden kann.“ (Schneider, 1999: 182) Es stellt sich die Frage, wie sich dieser Umdrehvorgang auf das System auswirkt. Luhmann verwendet zur Anschauung die Organisationssoziologie von Peter Blau (Blau: 1955): „Jede Organisation muss verschiedenartige, zueinander widerspruchsvolle Systembedürfnisse zugleich erfüllen. Sie wird deshalb von Problemen geplagt, die durch Strukturentscheidungen, durch faktisches Verhalten und durch Persönlichkeitsbelastung gelöst werden. Jede Lösung hat ,dysfunktionale’ Folgen[8] im System, die wiederum als Probleme bewusst werden, zu neuartigen Lösungen stimulieren“ (Luhmann, 1964: 5). An diesen Ausführungen kann man den Problem-Problemlösungs-Mechanismus deutlich erkennen. So wird nicht nur nach einer Lösung für ein Problem gesucht, sondern jede einzelne Problemlösung bewirkt wieder weitere Probleme. Durch diese Problem-Problemlösungskette werden Strukturen des Systems entfaltet.

Durch das Aufzeigen von „Dysfunktionalitäten“ in einem System ist es möglich, Mittel einzusetzen, damit das System wieder funktioniert. Die funktionale Analyse interessiert sich nicht nur für die positiven Funktionen eines Systems, sondern bezieht in ihre Analyse auch die negativen Funktionen mit ein. Es geht ihr nicht nur um die Wahl eines Mittels, sondern es wird versucht, mehrere Problemlösungen für ein Problem zu finden, die untereinander äquivalent sind. Das Charakteristische an der funktionalen Methode ist also die Vergleichbarkeit der einzelnen Problemlösungen. Wichtig für das Verständnis der Arbeitsweise der funktionalen Methode ist der Bezug zum einzelnen System. Die funktionale Methode kann prinzipiell auf jedes System angewendet werden und sie dient dazu, für ein Bezugsproblem eines Systems die beste Lösung zu finden. Da die einzelnen Systeme über unterschiedliche Probleme verfügen, kann die Lösung eines Systems nicht auf ein anderes übertragen werden. Die einzelnen Lösungen beziehen sich also nur auf ein System.[9]

Die funktionale Analyse benötigt eine Theorie, welche ihr dabei behilflich ist, die funktional äquivalenten Möglichkeiten einzuschränken, so dass Erklärungen möglich werden. Denn „was Luhmann mit dem Konzept der Problemstufenordnung vorschlägt, ist keine Theorie, sondern nur eine analytische Technik, die es erlaubt, die unbegrenzt und beliebig erscheinenden Möglichkeiten zur Variation des Bezugskontextes funktionaler Analysen zu ordnen und so in eine abarbeitbare Prozessform zu bringen.“ (Schneider, 1999: 200)[10]

Als Theorie der funktionalen Analyse wird die Theorie sozialer Systeme verwendet. Die Theorie sozialer Systeme definiert die Problemgesichtspunkte und verhilft der funktionalen Analyse dadurch zu Forschungsansätzen. In den Ausführungen zur funktionalen Analyse wurde ihr Untersuchungsgegenstand noch nicht berücksichtigt. Auch hier hebt sich Luhmann von den Ansichten von Parsons ab; wurde in den Ausführungen zu Parsons beschrieben, dass in seiner Theorie eine Interpenetration zwischen den einzelnen Systemen stattfindet und dass sich dass System als Aufgabe gemacht hat, ein befriedigendes Verhältnis zur Umwelt aufzubauen, so liegen bei Luhmann die Systemleistungen in der „Erhaltung einer relativen Indifferenz gegenüber Umweltbewegungen, einer distanzierten Autonomie und einer reaktionsbeweglichen Elastizität, die unvermeidbare Umwelteinwirkungen kompensieren kann.“ (Luhmann, 1964: 12) Im Vergleich zu Parsons behandelt die funktionale Systemtheorie den Zweck nur als Leitformel, die dem System helfen soll, im Verhältnis zur Umwelt stabil zu bleiben. „Die Form des Systems ist der Innen/Außen-Unterschied, den es realisiert“ (Fuchs, 2000: 80).

Die funktionale Methode wird oftmals kritisiert[11], da sie keine eindeutigen Vorhersagen und Leistungen erklären kann, aber gerade „diese Beschränkung ist auch ein wichtiges Erfordernis der strukturellen Elastizität von Systemen“ (Luhmann, 1973: 120), denn ein System kann nur in einer, sich ständig verändernden Umwelt stabil gehalten werden, wenn es die Wahl zwischen verschiedenen Alternativen hat. Ein weiterer Aspekt, der die Eignung der Systemtheorie als Grundlage für die funktionale Analyse deutlich macht, ist, dass „die funktionale Systemtheorie die Probleme eines Systems als permanente Gegebenheiten behandelt, die als solche die Stabilisierung von Systemen nicht verhindern, sondern nur eine kontinuierliche, aber strukturierbare Bedürftigkeit bekunden“ (Luhmann 1964: 14). Bereits hier wird wieder die konstruktive Dysfunktion eines Systems angesprochen. Die systemspezifischen Probleme, die nach Luhmann immer vorhanden sind, machen ein System nicht instabil, sondern verhelfen dem System, Strukturen zu bilden.

2.3 Die Anwendung der funktionalen Analyse zur Auswertung der teilnehmenden Beobachtungsprotokolle

Nach der Beschreibung der Entwicklung und Arbeitsweise der funktionalen Analyse, soll nun dargestellt werden, warum sie als Methode für die Beantwortung der Ausgangfrage dieser Arbeit verwendet wird. In Kapitel 1 wurde bereits das Thema dieser Arbeit und die Vorgehensweise der Bearbeitung dargestellt. Deswegen sollen an dieser Stelle nur noch die Schritte erläutert werden, die sich speziell auf die Anwendung der funktionalen Analyse beziehen.

Es soll die Funktion der Patientenautonomie in der ethischen Kommunikation klinischer Ethikkomitees erarbeitet werden. Es interessiert also nicht ausschließlich die Patientenautonomie an sich, sondern speziell ihre Funktion in der ethischen Kommunikation in einem klinischen Ethikkomitee. Dies bedingt eine Explikation der Beziehung zwischen Patientenautonomie und klinischem Ethikkomitee. Außerdem wird die Vermutung angestellt, dass auch die Organisation Krankenhaus sowohl von dem klinischen Ethikkomitee als auch von der Patientenautonomie beeinflusst wird. Deswegen soll dieses als dritte Komponente in die Analyse integriert werden. Es wird also eine Darstellung des Beziehungsgefüges von Krankenhaus, Patientenautonomie und Ethikkomitee angestrebt, um die Funktion der Patientenautonomie in der ethischen Kommunikation in einem Ethikkomitee hervorheben zu können. Wie soll nun im Konkreten vorgegangen werden?

Als Untersuchungsmaterial werden teilnehmende Beobachtungsprotokolle verwendet, welche die Kommunikation in Ethikkomitees verschiedener deutscher Krankenhäuser wiedergeben. Jedes Protokoll beschreibt eine Sitzung eines Ethikkomitees und beinhaltet eine Teilnehmerliste, an der ersichtlich wird, welche Berufe die einzelnen Teilnehmer ausüben. Außerdem wird der zeitliche Ablauf einer Sitzung nachvollziehbar. Wichtig für die Auswertung der Protokolle ist, dass alle Aussagen deutlich den jeweiligen Personen (inklusive ihrer Berufe) zugeordnet werden können, da dadurch berufsspezifische Zuschreibungen möglich sind. Die Beobachtungsprotokolle werden hinsichtlich der Patientenautonomie in ihrer Funktion als Problem bzw. als Problemlösung betrachtet. Es wird also versucht, aufgrund der einzelnen Aussagen der Teilnehmer herauszufiltern, wie diese auf die Patientenautonomie in der Kommunikation zurückgreifen und welche Funktion so der Patientenautonomie zukommt. Dazu werden unterschiedliche Formen von Patientenautonomie gebildet und ihnen Funktionen zugeschrieben. Außerdem werden die einzelnen Berufsgruppen speziell auf ihre Argumentationsstrukturen und Ansichten untersucht, um Muster herausarbeiten zu können. Dadurch soll demonstriert werden, wann und von wem Patientenautonomie als Problem bzw. als Problemlösung angesehen wird.

Bei der Analyse wird auch auf die Sinndimensionen von Luhmann zurückgegriffen (Luhmann 1984, S.92ff.). So wird eine Einteilung in sachliche, soziale und zeitliche Dimension vorgenommen. Das bedeutet, dass dargestellt wird, welche Themen in Bezug auf die Patientenautonomie (Sachdimension) diskussionsrelevant sind, wie die unterschiedlichen Beziehungen des Klinikpersonals (Ärzte, Pflegschaft, Theologen) zu dem autonomen Patienten in der Kommunikation dargestellt werden (Sozialdimension) und wann und wie Zeit in Bezug auf die Umsetzung von Patientenautonomie in den einzelnen Sitzungen thematisiert wird (Zeitdimension). Durch diese kontroverse Darstellung soll sich die Funktion der Patientenautonomie in der ethischen Kommunikation herauskristallisieren.

Auch das Ethikkomitee soll in die funktionale Analyse miteinbezogen werden. Und zwar in der Form, dass die Funktion des Komitees in Beziehung zu der Organisation Krankenhaus und Patientenautonomie gesetzt wird. Welche Funktion erfüllt also das Ethikkomitee für die Umsetzung der Patientenautonomie?

Abschließend soll sich mit Hilfe der funktionalen Analyse ein stimmiges Problem-Problemlösungs-Beziehungsgeflecht zwischen der Organisation Krankenhaus, Patientenautonomie und Ethikkomitee gebildet haben, wodurch die Funktion der Patientenautonomie in der ethischen Kommunikation von klinischen Ethikkomitees sichtbar wird.

2.4 Beobachtung

Mit der Erläuterung der funktionalen Methode ist Teil I des methodischen Vorgehens beschrieben; die Bearbeitung von teilnehmenden Beobachtungsprotokollen bedingt jedoch auch noch eine Erläuterung der Forscherperspektive des Beobachters zweiter Ordnung. Deswegen wird in dem folgenden Punkt zunächst die Beobachtung erster Ordnung expliziert, um darauffolgend das Spezifische der Beobachtung zweiter Ordnung hervorzuheben.

2.4.1 Beobachtung erster Ordnung

Um die Bebachtung nach Luhmann explizieren zu können, ist es notwendig, zunächst auf seine Systemkonstitution einzugehen. Nach Luhmann sind Systeme autopoietische Systeme (Luhmann, 1984: 60ff.). Damit ist gemeint, dass sich Systeme selbst reproduzieren. Diese Reproduktion besteht darin, dass das System auf eigene Operationen zurückgreift. Welche Rolle spielt nun also die Beobachtung bei der Reproduktion von Systemen? Zur Beantwortung dieser Frage dient Luhmanns Auffassung, dass Systeme beobachtende System sind (ebd.: 59). Durch diese Fähigkeit heben sich die Systeme von ihrer Umwelt ab, weil das Beobachten eine Grenze zwischen den Beobachter und das Beobachtete legt .

Was passiert nun also bei einer Beobachtung? „Beobachten heißt Unterscheiden und Bezeichnen. „Indem etwas bezeichnet und dadurch von anderem unterschieden wird, gewinnt es Realität für einen Beobachter.“ (Luhmann 1990b: 52) Jeder Beobachter sieht also nur das, wofür er davor eine Unterscheidung getroffen hat. Entscheidend bei Luhmanns Definition von Beobachtung ist, dass sie in sich ein Paradox enthält. Das Paradoxe ist, dass der Vorgang des Unterscheidens und Bezeichnens nicht auf zwei Stufen stattfindet, sondern gleichzeitig passiert. „Beobachten aktualisiert eine Zweiheit als Einheit, in einem Zuge sozusagen. Und sie beruht auf der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung, aktualisiert also eine Unterscheidung, die in sich selbst wiedervorkommt.“(Luhmann, 1998: 95) Übertragen auf den Beobachter bedeutet dies, dass durch die Unterscheidung Ereignisse konstituiert werden. „Alles, was beobachtet wird, ist mithin abhängig von der Unterscheidung, die der Beobachter verwendet.“ (ebd.: 82) Aufgrund dieses Mechanismus wird deutlich, dass es keine allgemeingültige Realität[12] geben kann oder in Luhmanns Worten formuliert: „Beobachter sind stets nur mit sich selbst identisch, weil sie über eine jeweils selbstgezogene Grenze beobachten, und andere Systeme können allenfalls Beobachter beobachten, wie sie beobachten, aber nicht an ihrer Beobachtung teilnehmen.“ (ebd.: 79) Entscheidend dabei ist, dass der Beobachter nicht nur zwischen Ereignissen und Dingen in seiner Umwelt unterscheidet, sondern er „unterscheidet zugleich sich selbst von seiner Umwelt“ (Schneider, 1999: 185), kann sich jedoch selbst nicht bei seiner Beobachtung beobachten. Man kommt also nicht daran vorbei, „dass etwas unbeobachtbar wird, wenn etwas beobachtet wird“ (Luhmann, 2000: 127). Dieses Unbeobachtbare wird auch als „blinder Fleck“ (Luhmann 1998: 90) bezeichnet und kann nur durch andere Beobachtungen sichtbar gemacht werden.[13] Durch Beobachtung kann das System die Komplexität der Gesellschaft verringern, jedoch nur begrenzt, da die Umwelt „mehr Möglichkeiten des Beobachtens bietet, als im System selbst verwirklicht werden.“ (Schneider 1999: 186)

2.4.2 Beobachtung zweiter Ordnung

Anhand der Formulierung Beobachtung zweiter Ordnung lässt sich schon vermuten, dass es sich hierbei um eine Beobachtung von Beobachtungen handelt. Transformiert in die unter 2.4.1 explizierten Begriffe bedeutet das, dass man von Beobachtung zweiter Ordnung spricht, wenn man einen Beobachter als Beobachter, also „im Hinblick auf die Unterscheidung, die er zur Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite verwendet“ (Luhmann, 1991: 240) beobachtet. Jedoch wird hierbei immer noch nicht klar, was es bedeutet, einen Beobachter zu beobachten. Wer oder was ist dieser Beobachter, der beim Beobachten beobachtet wird? Luhmann hat darauf nur eine Antwort: das System. Dies begründet er mit der Selbstreferenz[14] der Systeme: „eine rekursiv, organisierte, vor- und zurückgreifende Sequenz von Operationen muss sich als System beobachten, sich also von einer operativ zugänglichen Umwelt unterscheiden können.(...) Es muss sich selbst als operierendes System (...) beobachten können. Es muss zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden können“ (ebd.: 241). Ein System führt selbst beobachtende Operationen durch und kann dabei beobachtet werden. Ein System kann also aufgrund der Trennung von Fremdreferenz und Selbstreferenz andere Systeme beim Beobachten beobachten, aber eben auch sich selbst. Durch diese Beobachtung erkennt das System, dass die einzelnen Systeme aus unterschiedlichen Perspektiven sehen. Diese unterschiedlichen Perspektiven werden bei Luhmann auch als „binäre Codes“ (Luhmann, 1997) bezeichnet; jedes System verfügt über andere binäre Codes. In anderen Worten könnte man auch sagen, dass jedes System eine bestimmte Brille trägt, durch die es die Welt sieht und es somit für kein System möglich ist, die Welt absolut zu sehen. Nassehi verweist hier auch auf den Begriff der „Kontextur“[15]: „Kontexturen erscheinen erst einem Beobachter, der Beobachtungen als Beobachtungen beobachtet. Der Begriff spielt darauf an, dass jede kognitive Operation das, was sie erkennt, durch ihre Perspektive selbst erzeugt.“ (Nassehi, 2003: 35)

Was interessiert nun einen Beobachter an der Beobachtung eines anderen Beobachters? „Bei einer Beobachtung zweiter Ordnung ist die primäre Frage, mit welchen Unterscheidungen der beobachtete Beobachter und wie er mit Hilfe dieser Unterscheidungen bezeichnet.“ (Luhmann, 1991: 243) Es soll hier erneut auf das Paradox des Beobachtens eingegangen werden. Denn daran wird klarer, was der Beobachter bei der Beobachtung zweiter Ordnung gewinnen kann. Hierbei ist das Wie entscheidend. „Wenn der Beobachter zweiter Ordnung wissen will, wie der Beobachter erster Ordnung (und das kann er selber sein) beobachtet, muss er beobachten, wie der beobachtete Beobachter mit seiner Paradoxie umgeht; wie er diese auflöst, wie er die Paradoxie des Beobachtens entparadoxiert.“ (Luhmann, 1998: 98) Der Beobachter erster Ordnung kann die Beobachtung selbst als erste Unterscheidung nicht beobachten. Dazu benötigt er entweder einen anderen Beobachter, der ihn dabei beobachtet oder er selbst verlegt diese Beobachtung auf einen späteren Zeitpunkt.

Was bedeuten diese Kenntnisse nun konkret für den Beobachter zweiter Ordnung? Wie geht er in seiner Beobachtung vor? „Also zunächst geht es um ein operatives Beobachten von Beobachtungen, also um ein Unterscheiden, das unterscheidet, was und wie andere unterscheiden“ (ebd.: 113). Aber was ist operatives Beobachten bzw. wozu benötigt man das? Luhmann beantwortet diese Frage mit dem Verweis auf den „blinden Fleck“(ebd.:90). Dadurch, dass man sich für etwas entscheidet, entscheidet man sich automatisch gegen etwas. Die Beobachtung zweiter Ordnung wird also dafür genutzt, den „blinden Fleck“ sichtbar zu machen und dafür ist eine Operation notwendig. Denn dadurch, dass eine andere Beobachtung in Operation gesetzt wird, wird ein anderes Ereignis aktualisiert. Luhmann verweist hier auf die Zeit, die er einerseits als Problem und andererseits als Problemlösung darstellt (ebd.: 115). Auch Fuchs äußert die Vermutung, dass „sich eine Lösung andeuten könnte, wenn man Zeit als Tempo an den Beobachter bindet“ (Fuchs, 2000: 70). Durch die Beobachtung zweiter Ordnung wird das Paradoxe an der Beobachtung erster Ordnung entparadoxiert und der „blinde Fleck“ sichtbar. Entscheidend ist, dass eine Beobachtung zweiter Ordnung, auch wenn sie die Fähigkeit besitzt, das Paradoxe an der Beobachtung erster Ordnung zu entparadoxieren, immer auch eine Beobachtung erster Ordnung bleibt. Denn der Beobachter zweiter Ordnung glaubt an die Authentizität[16] der Beobachtung erster Ordnung, hält sie also fürwahr. Das soll jetzt jedoch nicht bedeuten, dass die Beobachtung zweiter Ordnung funktionslos ist, nur weil sie an authentische Sätze glaubt. Beobachtung zweiter Ordnung reflektiert die Beobachtung erster Ordnung und macht sie somit anschlussfähig.

2.4.3 Untersuchung der teilnehmenden Beobachtungsprotokolle – eine Beobachtung zweiter Ordnung

Wenn die Kenntnisse über die Beobachtung erster Ordnung und speziell diese über die Beobachtung zweiter Ordnung auf die Untersuchung der Beobachtungsprotokolle übertragen werden, dann kann man dies auch als eine Beobachtung zweiter Ordnung bezeichnen.

So werden Protokolle untersucht, die Geschehnisse enthalten, die von anderen Beobachtern beobachtet wurden oder anders formuliert es wird beobachtet, wie andere Beobachter beobachtet haben. Es stellt sich die Frage, worin nun der Vorteil der Beobachtung zweiter Ordnung im Vergleich zu der Beobachtung erster Ordnung liegt? Auf den ersten Blick erscheint es keinen großen Vorteil zu geben, da die Sätze, die in den Beobachtungsprotokollen gelesen oder beobachtet werden fürwahr gehalten werden und somit die Beobachtung der Protokolle auch nur eine Beobachtung erster Ordnung ist, weil an die Authentizität der Sätze geglaubt wird.[17]

Es bleibt aber trotzdem eine Beobachtung zweiter Ordnung, weil die Geschehnisse, die sich in den Ethikkomitees abspielten, nicht von mir beobachtet wurden; es wurde also nicht von mir die Unterscheidung getroffen, was bezeichnet wurde und was nicht. Diese Unterscheidung wurde schon getroffen. In der Analyse der Beobachtungsprotokolle wird versucht, diese zu reflektieren und indem diese reflektiert wird, unterscheidet und bezeichnet der Beobachter zweiter Ordnung (also ich) ebenso. Welcher Vorteil entsteht durch diese Reflexion?

Ein großer Vorteil liegt in der Schrift verborgen. Die Beobachtungsprotokolle geben die Geschehnisse schriftlich fixiert wieder und „indem die Schrift Information, Mitteilung und Verstehen auseinander zieht und zeitfest beobachtbar macht, macht sie letztlich Unsichtbares sichtbar“ (Nassehi, 2003: 36). Auch hier tritt die Zeit wieder als Problemlösung des Paradoxem der Beobachtung auf. Die Schrift ermöglicht es, dass der Beobachter zweiter Ordnung den Prozess des Beobachtens zeitlich auseinanderziehen kann und somit über die notwendige Distanz verfügt, die benötigt wird, um das Paradoxe an der Beobachtung zu entparadoxieren. So schreibt auch Kalthoff: „Die Architektur der Schrift (...) bringt einen Zusammenhang zur Darstellung und konstituiert die Wahrnehmung empirischer Gegenstände, und zwar durch ein Zusammenspiel kognitiver Prozesse und der Erzeugung von Sichtbarkeit.“ (Kalthoff, 2003: 81)

Es würde aber trotzdem keinen großen Vorteil für den Beobachter zweiter Ordnung geben, wenn nur ein Protokoll zur Untersuchung vorhanden wäre und dieses in bezug auf die Funktion der Patientenautonomie in der ethischen Kommunikation von klinischen Ethikkomitees ausgewertet werden müsste. Denn dann könnten nur die Sätze fürwahr gehalten werden, die in diesem Protokoll stehen. Der Vorteil dieser Untersuchung liegt darin, dass 25 Beobachtungsprotokolle untersucht werden und dadurch die Möglichkeit entsteht, Strukturen und Formen[18] zu erkennen, welche die Beobachter erster Ordnung noch nicht erkennen konnten. Aus der Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung können aufgrund der distanzierten Perspektive all die Beobachtungen strukturiert, verglichen und somit in eine bearbeitbare Ordnung gebracht werden. Es wird also nicht nur eine Sitzung eines Ethikkomitees beobachtet, sondern es werden 25 Sitzungen beobachtet und durch diese distanzierte und zeitversetzte Beobachtung soll das System Medizin und speziell die Funktion der Patientenautonomie expliziert werden. Also auch hier ist die Zeit zwar einerseits das Problem, nämlich für die Beobachter erster Ordnung; für den Beobachter zweiter Ordnung ist sie dagegen die Problemlösung.

2.4.4 Die wissenschaftlicher Perspektive dieser Arbeit

In den bisherigen Ausführungen wurde dargestellt, welche Position ich als Beobachter einnehme, wenn ich die Beobachtungsprotokolle untersuche. Jedoch wurde hierbei noch nicht expliziert, was ich als Beobachter dieser Protokolle in bezug auf die Beantwortung meiner Ausgangsfrage konkret leiste. Was tue ich also, wenn ich als Beobachter zweiter Ordnung die Kommunikation in Ethikkomitees hinsichtlich der Funktion der Patientenautonomie untersuche und die Ergebnisse dieser Untersuchung in einem kohärenten Text wiedergebe?

In den Worten von Hirschauer lautet die Antwort, dass Entdeckungen bezeichnet werden (Hirschauer: 1997:8). Wichtig ist dabei, dass diese Entdeckungen aus der Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung bereits im Vorfeld eingegrenzt werden[19], denn die Beobachtungsprotokolle werden hinsichtlich der Funktion der Patientenautonomie in der Kommunikation klinischer Ethikkomitees beobachtet. Man hätte diese Protokolle ja auch ganz anders beobachten können, also eine andere Unterscheidung wählen und somit auch anders bezeichnen können. Durch das Bezeichnen der einen Seite wird eine andere nicht beachtet oder in den Worten von Luhmann formuliert: „Schließlich ist zu beachten, dass anschlussfähige Kommunikation eine Asymmetrie erfordern. Die eine und nicht die andere Seite wird bezeichnet.“ (Luhmann, 1996: 112) Kalthoff würde sagen, dass durch diese Einschränkung ein Text zustande kommt, der „meine Konstruktion, meine Erzählung“ (Kalthoff, 2003: 71) ist. Als Beobachter wird eine Unterscheidung dahingehend getroffen, dass die Beobachtungsprotokolle hinsichtlich der Art und Weise untersucht werden, wie die Teilnehmer eines klinischen Ethikkomitees in der ethischen Kommunikation auf die Patientenautonomie zurückgreifen. Es kommt durch diese Beobachtung also etwas zur Sprache, was davor nicht Sprache war (Hirschauer, 2001: 430).

Der wissenschaftliche Blick dieser Arbeit produziert Fragen an den Text, die nicht mit den Fragen der Beobachter erster Ordnung, also den Teilnehmern der Sitzungen der Ethikkomitees, übereinstimmen müssen und es vielleicht auch gar nicht können. In dieser wissenschaftlichen Arbeit soll das Untersuchungsmaterial an theoretische Fragestellungen angebunden werden, wodurch die Beobachtung dieses Materials kontextabhängig ist. So erklären Nassehi/Saake in ihrem Aufsatz Kontingenz: Methodisch verhindert oder beobachtet?: „Was Luhmann als zirkuläres Argument vorbringt, dass nämlich die Gesellschaftstheorie – und das gilt für die soziologische Theorie schlechthin – ohne Rest unvermeidbar ,abhängt von der Beobachtungsweise und den Unterscheidungen’, mit denen sie ,sich etabliert’ (Luhmann, 1997: 43), gilt eben nicht nur für theoretische Sätze, sondern schlicht für alles, was kommuniziert wird – also auch für Methoden und für Empirie“ (Nassehi/Saake, 2002a: 70). Sie entfernen sich somit von der Annahme, dass die Forschung die Gesamtheit ihres Gegenstandes erforschen muss und heben die Frage hervor, wie der wissenschaftliche Beobachter seinen Gegenstand durch Beobachtung selbst konstituiert (ebd.). Sie weisen also auf die Beschränkung des forschenden Blicks durch die Wahl von Begrifflichkeiten hin (Nassehi/Saake, 2002b: 337). Durch die Unterscheidung, die ein wissenschaftlicher Forscher bei der Auswertung des Untersuchungsmaterials trifft, schließt er andere Möglichkeiten aus. Durch dieses Ausschlussprinzip nimmt er Einschränkungen vor, die zur Einschränkung von Kontingenz führen, denn durch die gezielte Perspektive der Beobachtung ist nicht mehr alles möglich. Das wissenschaftliche Forschen bezieht sich aus dieser Perspektive darauf, auf die Selektivität des Textes aufmerksam zu machen. Es geht nicht darum, an die wirkliche Bedeutung des Textes heranzukommen, sondern vielmehr um die Selbstkonstitution von Inhalten und um das Nachvollziehen von Sinn und das Erfragen von sozialen Erwartungs- und Darstellungsformen, unter denen sich forschungsrelevante Topoi darstellen lassen (Nassehi/Saake, 2002a: 82).[20]

Diese systemtheoretischen Annahmen werden dahingehend in diese Arbeit integriert, dass nicht erarbeitet werden soll, was Patientenautonomie ist, sondern wie diese in der ethischen Kommunikation klinischer Ethikkomitees thematisiert wird. Es geht also, um wieder an Nassehi und Saake anzuschließen, um Kontexturen, die vom Text selbst erzeugt werden. Die Untersuchung der Beobachtungsprotokolle wird somit aus einer wissenschaftlichen, kontextabhängigen Perspektive vollzogen, die sich von der Praxisperspektive der Beobachter erster Ordnung differenziert.[21]

3 Medizinsoziologische Entwicklungen

In dieser Arbeit soll die Funktion der Patientenautonomie in der Kommunikation klinischer Ethikkomitees dargestellt werden. Dazu sollen zunächst die medizinsoziologischen Entwicklungen erläutert werden, die dazu geführt haben, dass sich diese Frage überhaupt stellt. Als Leitfragen dienen hierzu: Warum spricht man von Ethik und Patientenautonomie in der Medizin? Wieso werden in immer mehr Kliniken Ethikkomitees eingeführt? Welche Funktion erhofft man sich von diesen? Welche Probleme sind im medizinischen System entstanden, die solch neue Entwicklungen notwendig gemacht haben? Lassen sich diese womöglich auf eine Krise in der Medizin zurückführen?

3.1 Die Medizin als Profession

Die Medizin soll zunächst aus professionstheoretischer Sicht betrachtet werden, um daraufhin zu demonstrieren, welche Probleme und Dysfunktionalitäten innerhalb der Profession entstanden sind, die in der medizinsoziologischen Literatur zu einer neuen Perspektive geführt haben.

Die Medizin wird zunächst als ein eigenständiges System dargestellt, das sich durch Autonomie von den anderen Systemen abgrenzt. Diese professionelle Autonomie (Bollinger/Hohl, 1981: 442) schafft es sich dadurch, dass seine originäre Aufgabe die Krankenbehandlung darstellt, welche von keinem anderen System übernommen werden kann. Die Medizin benötigt kein anderes System, um sich erhalten zu können. „Das Recht scheitert am mangelnden Verständnis medizinischen Wissens. Kostengründe lassen sich nicht gegen Heilungschancen aufrechnen, die Politik ist selber auf die Expertise ausgewiesener Mediziner angewiesen, und die akademische Wissenschaft weiß nichts vom Handlungsdruck der Praxis.“ (Vogd, 2002: 298) Für die Medizin bildet der Patient das Zentrum, auf das sich ihr kompletter Handlungsrahmen bezieht. Die Basis für diese Handlungen bildet das Expertenwissen, das sich ein Arzt einerseits zum großen Teil in seinem Studium aneignet und das andererseits auch auf Erfahrungen, die er im Laufe seiner Karriere gesammelt hat, beruht. „Als ein modernes Funktionssystem entfaltet sich die Medizin als ein Gesamtkomplex von Wissen[22], Forschung, Ausbildung, und Behandlung, für den Leistungsabgabe eine Form der Regelung der eigenen System/Umwelt-Beziehungen darstellt.“ (Stichweh 1988 zit. nach Vogd, 2002: 297)

Die Autonomie des Funktionssystems Medizin ist nicht der einzige Faktor, der die Medizin zu einer Profession macht, sondern entscheidend ist auch, „dass die Person des Professionellen enger mit seiner Profession verbunden ist als die des Berufstätigen mit seinem Beruf; in stärkerem Maße als beim Berufstätigen setzt die konkrete Arbeit des Professionellen nicht nur bestimmte Einzelfähigkeiten, sondern auch eine professionstypische Formung der Persönlichkeit voraus“ (Bollinger/Hohl, 1981:445). Ein Versicherungskaufmann übt untertags seinen Beruf aus und regeneriert sich in seiner Freizeit, da dort der Beruf vernachlässigt wird oder anders formuliert, er kann sich von seinem Beruf distanzieren. Der Arzt dagegen ist mit Leib und Seele Arzt und identifiziert sich mit seiner Profession. Deswegen kann er diese auch nicht in seiner Freizeit ablegen, sondern wird immer Arzt sein. Damit soll ausgedrückt werden, dass der Arztberuf keinen Lebensalltag zulässt, der sich in Beruf und Freizeit spaltet. Ärzte beschreiben sich selbst als Arzt aus innerer Überzeugung; das bedeutet, dass ein anderer Beruf nie eine Alternative darstellen konnte, sondern nur der Arztberuf der einzig richtige war: In den Worten von Bollinger/Hohl bedeutet dies: „Der Professionelle geht auf in seiner Profession, er ist Professioneller in all seinen Regungen und Strebungen.“ (ebd.: 445)

Ein weiterer Unterschied zwischen Beruf und Profession bezieht sich auf das Ziel ihrer Tätigkeit. Der Beruf begnügt sich mit der Lösung eines Detailproblems, dagegen strebt die Profession danach, ein ganzheitliches Problem zu beheben. Als ganzheitliche Lösung der Medizin kann die Wiederherstellung der Gesundheit der Bevölkerung gelten. Die Profession der Medizin war besonders aufgrund ihrer ganzheitlichen Aufgabenorientierung und der Nähe von Person und Tätigkeit in der Gesellschaft anerkannt (ebd.:455).

3.1.1 Klassische Rolle des Arztes

Außer der professionstypischen Formung der Persönlichkeit musste der Arzt nach Parsons noch weitere Fähigkeiten mitbringen. Diese sollen an dieser Stelle vorgestellt werden, um darauffolgend zu demonstrieren, warum diese als Handlungsalternativen nicht mehr ausreichen, sondern ein Arzt über mehr verfügen muss als über diese typischen Variablen.[23]

Parsons hat die sogenannten „pattern variables“ aufgestellt, die als Verhaltensalternativen für das Subjekt gelten sollen.

So schreibt Parsons der Rolle des Arztes die Handlungsalternativen Universalismus, funktionale Spezifität, affektive Neutralität, Kollektivitätsorientierung und Leistungsorientierung zu (vgl. Parsons 1968b).

3.1.1.1 Universalismus

Unter Universalismus wird die fachliche Kompetenz des Arztes verstanden. Diese setzt sich aus wissenschaftlich begründetem Wissen der Chemie, der Biologie und der Physik zusammen. Der Arzt wendet dieses Wissen, welches er in seinem Studium erworben hat, auf den Patienten an. Dabei wird der Patient als Fall betrachtet, der anhand dieser Kenntnisse behandelt wird. Das Entscheidende am Universalismus ist, dass dieses Wissen auf jeden Patienten angewendet werden kann und somit eine Gleichbehandlung aller Patienten gesichert ist. Der Arzt darf nicht differenzieren, indem er einen Patienten besser und einen schlechter behandelt, sondern er muss sich an das Gebot des Universalismus bei seinen Behandlungen halten. (vgl. Parsons 1968b)

3.1.1.2 Funktionale Spezifität

Durch die funktionale Spezifität verfügt der Arzt über ein Expertenwissen, das ihn von Laien und anderen Experten abgrenzt. Er ist jedoch in seinem Expertenwissen dahingehend begrenzt, da er es nur zur Heilung der Beschwerden, die den Patienten zum Arzt führen, anwendet. Außerdem muss er sich an die ärztliche Schweigepflicht halten, was bedeutet, dass er keine Kenntnisse über den Patienten aus der Arzt-Patienten-Beziehung tragen darf. Er muss alle Probleme des Patienten für sich behalten und darf nur mit Erlaubnis des Patienten diesen Fall mit anderen Personen, Medizinern besprechen (vgl. Parsons 1968b). „Es ist mithin die ,funktionale Spezifität´ seiner ,technischen Kompetenz´, die mit ihrer inhaltlichen Besonderheit den Beruf des Arztes gegenüber anderen Berufen abgrenzt“ (Rohde, 1961:358).

3.1.1.3 Affektive Neutralität

Unter affektiver Neutralität wird das Ablehnen aller Emotionen gegenüber dem Patienten zusammengefasst. Der Arzt darf den Patienten nicht aufgrund von Sympathie oder Antipathie noch sexueller Anziehung bevorzugen bzw. benachteiligen. Diese Emotionen dürfen nicht in die Arzt-Patienten-Beziehung integriert werden. (vgl. Parsons 1968b)

3.1.1.4 Kollektivitätsorientierung

Die Kollektivitätsorientierung des Arztes drückt aus, dass der Arzt seinen Beruf nicht zu seinem individuellen Vorteil ausübt, sondern nur das Interesse des Patienten im Vordergrund steht. Nicht der hohe Verdienst macht eine Person zu einem Arzt, sondern das Verantwortungsbewusstsein dem Patienten gegenüber. Dieses Verantwortungsbewusstsein wird oft durch Macht und Autorität ausgedrückt, worauf später genauer eingegangen wird.

(vgl. Parsons 1968b)

3.1.1.5 Leistungsorientierung

„Der Leistungsorientierung liegt der Wert des instrumentellen Aktivismus zugrunde. Dieser verpflichtet den Einzelnen in der modernen Gesellschaft dazu, unter Einsatz all seiner Ressourcen zu einer ,guten Verfassung´ der Gesellschaft beizutragen“. (Streckeisen, 2001: 69) Die „gute Verfassung“ einer Gesellschaft wird durch die Bewahrung von gesellschaftlichen Werten ausgedrückt. Gesundheit wird als solcher Wert angesehen und deshalb schreibt man dem Arzt die Bewahrung dieses Wertes zu. So schreibt Streckeisen: „Parsons betont, dass Krankheit für die Medizin etwas darstellt, das sich innerhalb sehr weiter Grenzen kontrollieren und überwinden lässt. Ärztliches Handeln wird dadurch zu einem Handeln, das aktiv Dinge ,meistert’ und ,Erfolg’ bringt.“ (ebd.: 69)

3.1.2 Arzt-Patienten-Beziehung

Die Arzt-Patienten-Beziehung ist durch eine Asymmetrie geprägt, die sich dadurch auszeichnet, dass der Arzt der Experte und der Patient der Laie ist. Dadurch ist auch die Kommunikation als eine Arzt-Patienten-Interaktion von dieser Asymmetrie geprägt. So schreibt Giese: „In der Realität besteht oftmals ein Gefälle zwischen Arzt und Patient, aus dem verschiedene schwerwiegende Kommunikationshindernisse erwachsen“ (Giese, 2002: 84). Der Arzt dominiert das Gespräch, indem er Fragen stellt, die für den Experten wichtig zur Erstellung einer Diagnose sind, aber dem Laien zusammenhangslos erscheinen. Von einer ausgeglichenen Gesprächssituation kann also nicht die Rede sein (vgl. Hak, 1994). „Was auf Asymmetrie schließen lässt, ist z.B. ein Frage- und Antwortspiel, bei dem immer nur einer fragt, und der andere immer nur antwortet“ (Saake, 2004: 436). Der Patient fungiert als Informant, aber nicht als ein gleichberechtigter Gesprächspartner, der auch Fragen stellt und Wünsche in bezug auf seine Behandlung äußert, der nicht nachfragt, warum der Arzt dieses und jenes wissen möchte. „Der Ansatzpunkt für den professionellen Arzt ist der leidende Patient, der ,sich fallenlässt’ und dem Arzt die Verantwortung über sich selbst delegiert. Dieser infantilen Regression des Patienten entspricht der paternalistische Bezug des Arztes“ (Bollinger/Hohl, 1981: 451). Parsons bezieht sich bei dieser Rollenzuschreibung auf die Vorgaben durch die Gesellschaft und sagt, dass die Gesellschaft von dem Kranken fordert, dass dieser mit dem Träger der Therapie ohne Einschränkung kooperieren soll, um an seiner Genesung zu arbeiten (Parsons, 1984: 79). Das „Arbeiten“ bezieht sich also auf die uneingeschränkte Kooperation des Patienten mit dem Arzt und nicht auf ein selbstständiges Entscheiden des Patienten. Von Ferber hat bei seiner Beschreibung der asymmetrischen Arzt-Patienten-Beziehung versucht, die unerwünschten Handlungen von beiden Parteien hervorzuheben: „Der Patient ,bedient’ sich des Arztes, weil er selber nicht mehr weiter weiß oder will, auf der anderen Seite sucht der Arzt den Patienten als folgsamen Erfüllungsgehilfen seiner Therapie; beide meiden im Interesse eines effizienten Umgangs miteinander den Dialog. Der Arzt, der dem Patienten Alternativen vorgibt, ihm Nutzen und Risiken zur eigenen Entscheidung darstellt, ,verunsichert’; der Patient, der informierte Entscheidungen treffen möchte, der sachkundig und mündig auftritt, ,stört’.“ (v. Ferber, 1989: 16)[24].

Der Arzt ist nicht an dem - in der Kommunikation - aktiven Menschen Patienten interessiert, sein Interesse gilt nur dem behandelbarem Körper: „Was so irritierend an der Arzt –Patienten-Interaktion ist – so ließe sich nun formulieren - ist sein Desinteresse an einem sich selbst als handelnden Interaktionspartner beschreibenden Patienten. Interessiert ist der Arzt zunächst nur an den Zeichen des Körpers“ (Saake, 2004: 449). Siegrist macht drei Gründe für die „strukturell asymmetrische soziale Beziehung“ (Siegrist, 1995: 244) verantwortlich: Der Arzt übt eine Expertenmacht, Definitionsmacht und Steuerungsmacht auf den Patienten aus, wodurch eine symmetrische Arzt-Patienten-Kommunikation verhindert wird (ebd.). Diese drei Machttypen werden in dem Kapitel 4.1.3.1 detailliert beschrieben, an dieser Stelle sollen sie nur zur Demonstration der Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung verwendet werden.

3.1.3 Pflege-Patienten-Beziehung

Wenn ein Patient einen Krankenhausaufenthalt verbringt, dann geht er nicht nur Interaktionen mit dem behandelten Arzt ein, sondern auch mit dem Pflegepersonal. An dieser Stelle soll kurz die Pflege-Patienten-Beziehung skizziert werden, um hierauf Ähnlichkeiten und Unterscheide zu der Arzt-Patienten-Beziehung aufzeigen zu können; dies ist notwendig, da in der empirischen Auswertung der Beobachtungsprotokolle auf diese beiden Beziehungsgefüge zurückgegriffen wird.

Die Pflege-Patienten-Beziehung zeichnet sich durch mehr Kontakt und Nähe aus als die Arzt-Patienten-Beziehung. So „hat das Pflegepersonal ständig Bezug zum Patienten und ist hier ständig gefordert durch die Fragen, die Ängste, die Erwartungen und die Hoffnungen des Patienten“ (Stucke, 1987: 116). Das Pflegepersonal setzt sich durch den intensiven Kontakt mit den Wünschen und Ängsten des Patienten auseinander und lernt den Patienten dadurch als Mensch kennen, welcher den Ärzten meist verborgen bleibt. Hofmann nimmt hierzu eine dreiteilige Einteilung der Aufgaben der Pflegenden vor, wobei eine Sparte als „emotionale Arbeit“ bezeichnet wird. Dadurch wird demonstriert, dass die Pflege neben „körperlicher“ und „rational-organisatorischer Arbeit“ auch „Beziehungsarbeit“, „Gefühlsarbeit“, „Wohlbefindensarbeit“ und „Konfliktarbeit“ leisten muss (Hofmann, 1999: 190). Die Pflege ist also -ganz allgemein formuliert- nahe am Patienten; nahe an seinem Körper durch die notwendigen kurativen Tätigkeiten, aber auch nahe an seinem Seelenleben.

Jedoch kann die Pflege-Patienten-Beziehung trotz dieser menschlichen Nähe nicht als symmetrische Beziehung bezeichnet werden. So beschreibt Bobbert: „Die Pflegenden als Akteur(inn)e(n) initiieren und kontrollieren Handlungen, welche die Freiheit eines Patienten betreffen, es liegt folglich eine Asymmetrie vor“ (Bobbert, 2002: 216). Bobbert geht hierbei davon aus, dass auch die pflegerischen Handlungen das Wissensspektrum des Patienten übersteigen können und der Patient nicht fähig ist, alle an ihm vorgenommen pflegenden Tätigkeiten zu überblicken. Gerade die körperliche Abhängigkeit des Patienten von den Hilfestellungen der Pflegenden bewirkt die Asymmetrie in dieser Beziehung ähnlich der Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung.

3.1.4 Arzt-Patienten-Beziehung versus Pflege-Patienten-Beziehung

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich die Pflege-Patienten-Beziehung durch mehr menschliche Nähe als die Arzt-Patienten-Beziehung auszeichnet; verfügt die Pflege doch durch die häufigeren und intensiveren Kommunikationen mit dem Patienten über mehr Kenntnisse in bezug auf die Wünsche und Ängste der Patienten. Jedoch zeichnen sich beide Beziehungskonstellationen durch eine Asymmetrie aus, da der Patient sowohl in der Beziehung zum Arzt als auch in der Beziehung zum Pflegepersonal immer der Hilfesuchende ist, der körperlich auf die Hilfe seines Gegenübers angewiesen ist. Auch das Wissensgefälle findet sich in beiden Beziehungstypen, da der Patient weder alle ärztlichen Handlungen nachvollziehen kann, noch die vielen pflegerischen Tätigkeiten, die im Laufe eines Klinikaufenthalts an ihm vorgenommen werden, überblicken kann. Entscheidend für diese asymmetrischen Beziehungen ist jedoch nicht nur die machtbesetzte Rolle des Arztes, der seinen Expertenstatus auskostet und auch nicht die Krankenschwester, die den Patienten mit den vielen pflegerischen Tätigkeiten teilweise überfordert, sondern auch der Patient trägt entscheidend zu der Asymmetrie bei, indem er den Experten aufsucht und von ihm eine Heilung verlangt. So Schreibt Wesiack: „Der kranke Mensch braucht zu allen Zeiten einen Experten, der ihm behilflich ist, seine Beschwerden und seine eingeschränkte Leistungsfähigkeit zu überwinden, sowie einen Partner, der ihm hilft, aus der sozialen Isolierung herauszugelangen und seine existentiellen Ängste zu ertragen. Diese drei Forderungen werden seit jeher an die Heiler und Helfer gestellt, ob es sich nun um Medizinmänner, Schamanen, Ärzte, Schwestern, Pfleger und andere Angehörige der Heilberufe handelt.“ (Wesiak, 1985: 218)

3.1.5 Die Exklusion der menschlichen Seite des Patienten

Nachdem die „pattern variables“ des Arztes und die Arzt-Patienten-Beziehung beschrieben wurde, fällt auf, dass in der Medizin als Profession für jemanden kein Platz ist. Denn obwohl die Pflichten, die Parsons einem guten Arzt zuschreibt, alle plausibel erscheinen, lässt sich keine dem Umgang mit dem Patient als Menschen zuordnen. So schreibt Vogd: „Professionalisierung heißt in diesem Sinne auch, dass für die Medizin nun gerade nicht der ganze Mensch im Zentrum des Handelns steht, sondern der spezifische Leistungsvollzug überwiegend organbezogener Diagnosen und Therapien“ (Vogd, 2002: 289). Dem Arzt wird also keine Handlungsalternative für die Situation geboten, dass der Patient menschlich wird und nicht nur ein Fall bleibt, der sich dem Arzt völlig ausliefert und alles über sich ergehen lässt, weil der Arzt ihm sagt, dass es so am besten ist. Welche Verhaltensalternative bietet sich dem Arzt, wenn der Patient seine Meinungen und seine Ängste zu Therapievorschlägen äußert und sich dem Arzt nicht meinungslos unterwirft? Was passiert, wenn sich der Patient autonom verhält und sein Recht auf Selbstbestimmung geltend macht? Worauf kann der Arzt zurückgreifen, wenn sein Expertenwissen nicht mehr ausreicht, um den Patienten von einer Therapie zu überzeugen? Dies lässt sich anhand Parsons Darstellung des klassischen Arztes nicht beantworten. Die Frage, die sich hier stellt, ist, welche Entwicklung die Medizin vollzogen hat, dass eine Erweiterung der Fähigkeiten des Arztes notwendig sind. Warum kann ein Arzt nicht mehr nur die „pattern variables“ erfüllen, um im System Medizin bestehen zu können? Da diese Variablen in der Medizin als Profession funktionierten, könnte die Notwendigkeit der Erweiterungen der Fähigkeiten des Arztes auf eine Deprofessionalisierung der Medizin hinweisen.

[...]


[1] Diese sind im Rahmen des laufenden DFG-Projekts „Ethik und Organisation“ (Prof. Anselm, Prof. Nassehi, Prof. Schibilsky – Na 307/4-1) entstanden. Die Forschungsarbeit bezieht sich auf vier Ethikkomitees in einem Universitätsklinikum, zwei konfessionellen und einem städtischem Krankenhaus in vier verschiedenen Städten in der Bundesrepublik.

[2] An der Form des Wortes AGIL-Schema lässt sich möglicherweise schon vermuten, dass jeder Buchstabe für eine dieser vier Komponenten steht. So verbirgt sich hinter dem A die Komponente Adaption, hinter dem G Zielerreichung, hinter dem I Integration und das L steht für Latente Strukturerhaltung (Parsons, 1976: 172ff.).

[3] Diese Komponenten entstehen aus der Kombination der einzelnen Achsen der Kreuztabelle. So befinden sich auf der horizontalen Achse die Variablen „instrumentell“ und „konsumatorisch“, wobei „instrumentell“ die Mittel des Handelns bezeichnet und „konsumatorisch“ das Erreichen des Zweckes. Auf der vertikalen Achse unterscheidet Parson „extern“ und „intern“, also die Außenbeziehungen des Systems und die internen strukturellen Gegebenheiten (Parsons, 1976: 87).

[4] Siehe hierzu auch Aretz 2000, S. 91.

[5] „We cannot expect any individual to create an architectonic system of theroy which provides a complete vade mecum to the solution of sociological problems.“ (Merton, 1948: 165)

[6] vgl. hierzu auch Coser 1999: „middle range theories sind Theorien, die nicht das ganze Panorama menschlichen Handelns und all seiner Widersprüche erhellen sollten, sondern klar abgegrenzte Aspekte der sozialen Realität.“ (Coser 1999: 156)

[7] „ (…) emphasis on the need für survival tends to focus attention of observers on statics rather than on an change an to divert attention from the functional needs for determinate types of change.“ (Merton, 1948: 167)

[8] Wie bereits bei den Ausführungen zu Merton sichtbar gemacht wurde, sieht auch Luhmann in dem Aufzeigen von „Dysfunktionalitäten“ Vorzüge im Vergleich zu Parsons. Durch die Widerherstellung der Funktionalität eines Systems werden Strukturen im System sichtbar. „Über die Art, wie Systeme ihre Probleme lösen, lässt sich zumindest eine zusammenfassende Aussage machen: durch Strukturbildung“ (Luhmann, 1984:16). Luhmann verwandelt also das lineare Kausalitätsmodell von Parsons in ein vergleichendes Modell. „Der Übergang von einer Kausalgesetze suchenden zu einer funktional vergleichenden Methode führt in der Theorie konsequent zu dem (...) geforderten Übergang von Handlungstheorien zu Systemtheorien“ (Luhmann, 1973: 169).

[9] Dass mit der funktionalen Methode nur systeminterne Probleme behandelt werden können, begründet Luhmann mit seiner Auffassung, dass jedes einzelne System einzelne Logiken besitzt. Die Systeme nach Luhmann sind selbstreferentiell, was bedeutet, dass sie unabhängig von anderen Systemen bestehen können. Sie müssen keine bestimmte Funktion erfüllen, wie bei Parsons eine der vier AGIL-Komponenten, um ihren Bestand zu sichern. „Systeme können nicht kausal aus ihrer Umwelt heraus erklärt werden – das würde schon dem Systembegriff mit seiner Innen/Außen-Differenz widersprechen-, weil sie auch über interne Ursachen verfügen und weil sie die Ursachen, die ihre Systemprobleme lösen, selbst nach informationellen Gesichtspunkten auswählen.“ (Luhmann, 1973: 194)

[10] Für Luhmann gilt als allgemeinstes Problem die Reduktion der Weltkomplexität, das verschiedene Lösungen bietet. Damit ein System in einer solch komplexen Welt bestehen kann, „muss es in seinen Grenzen eine gewisse Autonomie entwickeln, die zumindest darin zu bestehen hätte, dass es Kausalfaktoren selektiv, das heißt als Informationen behandeln und mit anderen Möglichkeiten vergleichen kann“ (Luhmann, 1973: 177). Durch diesen Selektionsvorgang wird ein System in die Lage versetzt, die Umweltkomplexität zu verringern, denn es selbst wählt Ursachen und Wirkungen aus. Anders formuliert, steigert die funktionale Methode das menschliche Bewusstsein für Komplexität, indem sie dem Handelnden die Möglichkeit bietet, ein komplexes Bezugsproblem durch die Auswahl aus untereinander äquivalenten Lösungsmöglichkeiten zu lösen.

[11] so beispielsweise von Carl G. Hempel 1959 oder von Robert Brown 1963.

[12] siehe hierzu auch Luhmann 1996: „Unterscheidungen ergeben sich aus der Sache selbst (...), sie sind Konstruktionen einer Realität, die auch auf ganz andere Weise im Ausgang von ganz anderen Unterscheidungen konstruiert werden könnte.“ (Luhmann 1996: 111)

[13] siehe hierzu auch Kneer/Nassehi 1991: „Sinnverarbeitende Systeme können beobachten, dass sie beobachtet werden; sie können womöglich sogar sehen, dass sie anders beobachtet werden, als sie sich selbst beobachten. Sie können damit zwar noch nicht aus ihrem eigenen Beobachtungsschema ausbrechen, das ihren Operationen nolens volens zugrunde liegt. Sie können aber sehen, dass sie nicht sehen können, was ihnen aufgrund ihrer systemrelativen Perspektivität verborgen bleiben muss.“ (Kneer/Nassehi, 1991: 347)

[14] Der Terminus Selbstreferenz bezeichnet „die Einheit, die ein Element, ein Prozeß, ein System für sich selbst ist.“ (Luhmann, 1984: 58)

[15] Nassehi bezieht sich hierbei auf den Kontexturbegriff nach Günther (Günther 1979: 181ff.).

[16] „Authentizität besagt, dass der Autor vorgibt, seine Leser nicht täuschen zu wollen, was jedoch nicht ausschließt, dass er sich selbst getäuscht hat“ (Duerr 1987 zit. nach Reichertz, 1992: 345).

[17] Auch Hirschauer greift in seinen Ausführungen die Authentizität der Sätze auf, indem er sagt: „Das Transkript schafft nicht eine Kopie des Gesprächs so wie es für seine Teilnehmer stattgefunden hat, sondern ein Original (d.h. einen Referenten) für den Diskurs seiner soziologischen Beobachter. Das soziale Original und seine ,primäre Sinnstruktur´ ist eine kunstvolle soziologische Reifikation seiner beständigen Reinterpretation: ein Zeuge (das Mikrofon), ein Zeugnis (die Aufnahme), eine Abschrift (das Transkript), ein Referent (das Gespräch, so, wie es war).“ (Hirschauer, 2001: 435) Wenn das Transkript nicht als Kopie, sondern als ein Original aufgefasst werden kann, dann gelangen wir wieder zu der beschriebenen Authentizität der Sätze dieser Transkripte.

[18] Siehe hiezu Luhmann 1996: „Die Einführung einer Unterscheidung ist zunächst einmal die Einführung einer Form. Eine Form ist die Unterscheidung einer Innenseite von einer Außenseite.“ (ebd.:109)

[19] Es wird also keine teilnehmende Beobachtung nach Geertz durchgeführt, der als Kriterium dieser die Ausgangsfrage: „What the hell is going on here“ (Geertz zit. nach Hirschauer/Amann, 1997: 20) als entscheidend ansieht.

[20] oder im Vergleich zur Ethnomethodologie formuliert: „Ähnlich wie der Ethnomethodologie geht es auch der Systemtheorie um Ereignisse, jedoch nicht um den konkreten Nachvollzug der ,wirklichen´ und nicht manipulierten Ereignisse, sondern um die notwendige, aller Sinnproduktion vorausgehenden Selektion von Ereignissen.“ (Nassehi/Saake, 2002b: 338)

[21] Die Kontextabhängigkeit der wissenschaftlichen Perspektive und die Differenz von wissenschaftlicher und praktischer Perspektive wird in dieser Weise von den Ethnographen nicht beachtet. So erklären Hirschauer /Amann in Befremdung der eigenen Kultur: „Wir verbinden mit dem Begriff „Ethnographie“ einen theoretischen und methodischen Kulturalismus. Theoretisch geht es um die Hervorhebung eines Phänomenbereichs gelebter und praktizierter Sozialität, dessen Individuen (Situationen, Szenen, Milieus...) gewissermaßen zwischen den Personen der Biographieforschung (mit ihrer erlebten Sozialität) und den (nationalen) Bevölkerungen der Demographie anzusiedeln sind. Methodisch wird mit der Adaption der ethnologischen Leitdifferenz von Fremdheit und Vertrautheit etabliert, für das jenes offensive Verhältnis zum Nicht-Wissen charakteristisch ist, das wir eben als Heuristik der Entdeckung des Unbekannten bezeichnen.“ (Hirschauer/Amann, 1997:11) Die Entdeckung des Unbekannten wird – nach systemtheoretischen Annahmen - aus wissenschaftlicher Perspektive anders erzeugt als dies bei den Praktikern der Fall ist. Es wird zwar in dem Aufsatz von Amman und Hirschauer thematisiert, dass die Ethnographie eine Trennung zwischen praktischer Erhebung der Daten und wissenschaftlicher Ergebnisse zugesteht: „Es geht in der Ethnographie gewissermaßen darum, sich – nachdem man etwas verstanden hat – noch mehr zu wundern“ (ebd.: 29).Jedoch wird nicht deutlich, dass die wissenschaftliche und die praktische Perspektive aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus entstehen oder anders formuliert, dass ein Wissenschaftler ganz andere Fragen an den Text stellt als der Praktiker.

[22] Dieses Wissensspektrum dient nicht nur der Abgrenzung zu den anderen Systemen, sondern grenzt den Arzt auch vom Patienten ab. Denn das Expertenwissen des Arztes bildet eine Kluft zwischen Arzt und Patient, da der Patient als Laie der auf Expertenwissen beruhenden Kommunikation nicht immer folgen kann. Hierzu jedoch unter 3.1.2 mehr.

[23] Dieser Punkt dient also zur Grundlage der unter 3.1.5 thematisierten Exklusion der menschlichen Seite des Patienten.

[24] Das interessante an dieser Darstellung ist, dass genau diese unerwünschten Handlungen im Umgang mit dem autonomen Patienten von den beiden Parteien verlangt werden.

Ende der Leseprobe aus 128 Seiten

Details

Titel
Zur Funktion der Patientenautonomie in der ethischen Kommunikation klinischer Ethikkomitees
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
128
Katalognummer
V31448
ISBN (eBook)
9783638324571
Dateigröße
997 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Funktion, Patientenautonomie, Kommunikation, Ethikkomitees
Arbeit zitieren
Kerstin Geisler (Autor:in), 2004, Zur Funktion der Patientenautonomie in der ethischen Kommunikation klinischer Ethikkomitees, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31448

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