Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Jurij M. Lotmans Modell der Raumsemantik
3. Räume in Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel
3.1. Außenwelt vs. Innenwelt
3.2. Grenzüberschreitung
4. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In Gerhart Hauptmanns (1862-1946) novellistischer Studie Bahnwärter Thiel (1887) wird der Leser mit einer Handlung konfrontiert, die räumlich klar auf zwei komplementäre Bereiche aufgeteilt ist. Zum einem gibt es einen Raum, der, um es mit den Worten von Fritz Martini aus dem Nachwort zu der Novelle auszudrücken, für die „dinglich-sinnliche Außenwelt“[1], das häusliche Milieu, steht. Dieser Raum umfasst die Dörfer Neu-Zittau, in dem die Kirche steht, die sonntäglich besucht wird, und das Dorf Schön-Schornstein, in dem der Wärter mit seiner Familie in einer Wohnung lebt. Zum anderen gibt es in Kontrast dazu einen Raum, der die „psychische Innenwelt“[2] repräsentiert. Dazu gehören das Wärterhäuschen, das entlang der Bahngleise in einem Waldgebiet liegt, und der angrenzende, noch zu bebauende Acker. Getrennt werden die Bereiche durch einen Fluss, die Spree, die als Grenze dient und täglich auf dem Weg zur Arbeit und bei der Rückkehr überschritten werden muss. Beide Räume sind unterschiedlich dargestellt und semantisch klar definiert. Diese Räume sollen mit ihren verschiedenen Bedeutungen mithilfe des Modells der Raumsemantik nach Jurij M. Lotman beschrieben werden. Dazu werden zunächst für diese Arbeit relevante Aspekte des Modells erläutert, bevor es auf die beiden Räume inklusive der Grenze und die dazugehörigen Charaktere der Novelle angewandt wird. Hauptsächlich dient Lotmans Modell als Grundlage dieser Arbeit, aber auch wichtige Ergänzungen von Hans Krah (1999), Karl Renner (2004) und Michael Titzmann (2004) sollen hier Erwähnung finden. Die oben genannten Bezeichnungen für die konträren Orte werden von Martini übernommen und als Kapitelüberschriften benutzt. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt auf der in der Erzählung dargestellten Grenzüberschreitung, die in Kapitel 3.2. näher mit ihren Konsequenzen erläutert werden soll. Ziel der Arbeit ist es, aus raumsemantischer Sicht zu begründen, dass der Bahnwärter Thiel seinen Sohn nur wegen der Grenzüberschreitung seiner zweiten Ehefrau Lene verliert, was letztlich zu dem Verbrechen an seiner Frau und dem gemeinsamen Säugling führt.
2. Jurij M. Lotmans Modell der Raumsemantik
Der estnische Literaturtheoretiker, Methodologist und Analytiker Jurij M. Lotman (1922-1993) begründete auf dem Zenit seines akademischen Schaffens zwischen den 1950er und 1970er Jahren die für die Literaturanalyse bedeutsame Theorie der Raumsemantik. In seinem „literaturtheoretischen Klassiker“[3] Die Struktur literarischer Texte[4] (1970) widmet er sich in einem Kapitel der Frage nach dem künstlerischen Raum, also der räumlichen Anordnung und seiner Bedeutung in einem Text. Weil dieser Aspekt von den zahlreichen Themengebieten, die er erforscht hat, für diese Arbeit besonders relevant ist, soll er im Folgenden gesondert herausgearbeitet und erläutert werden.
Lotman weist den Orten in einer Erzählung eine größere Bedeutung zu, als nur „eine Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds“[5] zu sein. Anders als gängig angenommen, bieten sie den Charakteren und Geschehnissen in der Handlung nicht nur eine Spielfläche, sondern einen „notwendigen Hintergrund“.[6] Für ihn bildet der Raum in einem Werk einen eigenen „Topos“, der auch „als Sprache für den Ausdruck anderer, nicht räumlicher Relationen des Textes“[7] fungiert. Er zitiert den russischen Mathematiker Alexandr Danilovich Aleksandrov, der den Raum als „Gesamtheit homogener Objekte […], zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen“[8], definiert.
In seiner Theorie ersetzt er den gebräuchlichen Begriff ‚Ereignis‘ mit ‚Sujet‘. Als Ereignis bzw. Motiv wird in der Literaturtheorie „die kleinste thematische Einheit der Handlung“[9] verstanden. Unter Sujet hingegen versteht man „die globale Struktur der Handlung“[10], also die Erzählung als Ganzes, bestehend aus „eine[r] Kette von Ereignissen“.[11]
Ein Ereignis ist in der Raumsemantik „ die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes “[12] (Hervorhebung im Original), ohne dass sich die Ordnung in den dargestellten Welten verändert. Es wird also angenommen, dass es mindestens zwei verschiedene Räume gibt. Die Versetzung über die Grenze ist demnach für das Sujet notwendig. Lotman sagt auch, dass ein Ereignis dadurch definiert sei, dass es geschieht, „obwohl es auch nicht hätte zu geschehen brauchen.“[13] Die Wahrscheinlichkeit dessen, ob das Ereignis eintritt, sagt etwas über den Grad der Sujethaftigkeit aus.[14] In den meisten Fällen ergibt sich ein Ereignis aus der Nichtbeachtung eines Gebots.
Eine wichtige Ergänzung zu dieser Theorie macht Michael Titzmann (2004), der Lotmans Begriff ‚Ereignis‘ in „normale Ereignisse“ umbenennt und eine Abgrenzung zu „Metaereignissen“[15] schafft. Metaereignisse erhält man dadurch, dass sich beim Übergang der Figur in den anderen Raum dieser Raum verändert und die „dargestellte Weltordnung in dieser Zeit selbst transformiert wird“.[16] Das Überschreiten der Grenze spielt bei der Unterteilung in sujetlose und sujethafte Texte eine wichtige Rolle.[17]
In sujetlosen Texten wird keine Grenze überschritten. Zu diesen Texten zählt Lotman beispielsweise Kalender, Telefonbücher „oder ein sujetloses lyrisches Gedicht.“[18] Gekennzeichnet sind sujetlose Texte neben der nicht vorhandenen Grenzüberschreitung auch dadurch, dass sie „ihre eigene Welt“[19] haben und dass eine „bestimmte Ordnung“[20] eingehalten werden muss und diese nicht gestört werden darf.
In sujethaften Texten hingegen findet diese Grenzüberschreitung durch eine „bewegliche Figur“[21] statt, woraus sich das Ereignis ergibt. Als „unentbehrlich“ für jedes Sujet ergibt sich nach Lotman:
1. ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich jedoch im vorliegenden Fall […] für den Helden als Handlungsträger doch als überwindbar erweist; 3. der Held als Handlungsträger.[22]
Das unter dem ersten Punkt beschriebene komplementäre semantische Feld ist topologisch „durch Oppositionen wie ‚hoch vs. tief‘ […] differenziert.“[23] Diese Oppositionen sind dann wiederum mit „ semantischen Gegensatzpaaren verbunden, die oft wertend sind oder zumindest mit Wertung einhergehen, wie z.B. ‚gut vs. böse‘“.[24] Die gegensätzlichen Orte, die semantisch jeweils auch anders behaftet sind, werden häufig auch durch „ topographische Gegensätze der dargestellten Welt konkretisiert, z.B. ‚Berg vs. Tal‘“.[25]
Ergänzend zu dem zweiten Punkt lässt sich noch sagen, dass man ferner zwischen Texten unterscheidet, in denen der Grenzübergang vollzogen wird, und solchen, in denen die Überschreitung stattfindet, aber rückgängig gemacht wird, oder stattfindet und scheitert. Erstere Erzählungen werden „revolutionär“ genannt, zweite „restitutiv“.[26]
Besonders an dem dritten Punkt ist, dass Lotman nicht nur Helden als Handlungsträger ansieht, sondern den Begriff auf „Bedingungen und Umstände“[27] erweitert. Helden sind beweglich, Bedingungen und Umstände, die auch durch Menschen verkörpert werden, hingegen nicht. Wie sich die oben genannten Aspekte auf die Novelle anwenden lassen, soll im nächsten Kapitel gezeigt werden.
3. Räume in Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel
3.1. Außenwelt vs. Innenwelt
Wie in der Einleitung schon erwähnt, unterscheidet Martini zwischen der „dinglich-sinnlichen Außenwelt“ und der „psychischen Innenwelt“, die topologisch, semantisch und topographisch zueinander in Kontrast stehen und ein Spannungsfeld erzeugen.[28]
Der Ursprung dieses Kontrasts ist in dem Auftritt Lenes in das Leben Thiels zu finden. Bevor sie in sein Leben tritt, bilden Außen- und Innenwelt noch ein Ganzes, die semantische Teilung der Orte geschieht erst, als Thiel einen Rückzugsort vor der herrschsüchtigen Art seiner neuen Ehefrau finden muss und durch die Tatsache, dass er einen Ort sucht, an dem er seiner ersten Ehefrau gedenken kann.
[...]
[1] Fritz Martini: „Nachwort“. In: Gerhart Hauptmann (Hg .): Bahnwärter Thiel. Stuttgart 1983. S. 41-48, hier: S. 41.
[2] Martini: „Nachwort“, S. 41.
[3] Matías Martínez / Michael Scheffel (Hg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. München 2010. S. 241.
[4] Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972.
[5] Lotman: „Struktur“, S. 329.
[6] Hans Krah: „Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen“. In: Kodikas/Code: Ars Semeiotica 22 (1999). S. 3-12, hier: S. 3.
[7] Lotman: „Struktur“, S. 330.
[8] Alexandr Danilovich Aleksandrov: „Abstraktnye prostranstva“. In: Matematika, ee soderzanie, metody i znacenie. Bd. 3. Moskau 1956. S. 151. Zitiert nach Lotman: „Struktur“, S.312.
[9] Matías Martínez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 7. Aufl. München 2007. S.190.
[10] Martínez / Scheffel: „Erzähltheorie“, S.140.
[11] Lotman: „Struktur“, S. 333.
[12] Lotman: „Struktur“, S. 332.
[13] Lotman: „Struktur“, S. 336.
[14] Lotman: „Struktur“, S. 336.
[15] Michael Titzmann: „Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik“. In: Roland Posner (Hg.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 4 Bde. Berlin 2003. Bd. 3. S. 3028-3103, hier: S. 3081.
[16] Titzmann: „Semiotik LW“, S.3081.
[17] Lotman: „Struktur“, S. 336.
[18] Lotman: „Struktur“, S. 336.
[19] Lotman: „Struktur“, S. 337.
[20] Lotman: „Struktur“, S. 337.
[21] Lotman: „Struktur“, S. 338.
[22] Lotman: „Struktur“, S. 341.
[23] Martínez / Scheffel: „Erzähltheorie“, S. 140.
[24] Martínez / Scheffel: „Erzähltheorie“, S. 141
[25] Martínez / Scheffel: „Erzähltheorie“, S. 141.
[26] Martínez / Scheffel: „Erzähltheorie“, S.142.
[27] Lotman: „Struktur“, S. 345.
[28] Martini: „Nachwort“, S. 41.