Strukturen wissenschaftlicher Berichterstattung

Zur Konstruktion und Anwendung skalierbarer Diskursanalyseverfahren an den Beispielen Internet, Klimawandel und Gentechnik


Doktorarbeit / Dissertation, 2015

221 Seiten, Note: Magna cum laude


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einführung

1. Motivation und Forschungsdesign

II. Theoretischer Teil

2. Medienöffentlichkeit
2.1. Zum Grundaufbau der Öffentlichkeit
2.1.1. Differenzierung des Öffentlichkeitsbegriffs
2.1.2. Sichtung vorhandener (Öffentlichkeitsmodelle
2.1.3. Die „Neuen Medien“
2.2. Die mediale Informationsverarbeitung
2.2.1. Mediendiskurse
2.2.2. Die mediale Selbstreferenz
2.2.3. Die Medien als Lieferant von Örientierungswissen
2.2.4. Wissenschaft in den Medien

3. Fortschritt und Visionen in Medien und Gesellschaft
3.1. Fortschritt und Visionen
3.1.1. Der Fortschritt
3.1.2. Visionen
3.2. Szenarien als wissenschaftliche Projektionsräume

4. Resumee des theoretischen Teils
4.1. Medienäffentlichkeit
4.2. Mediendynamik
4.3. Mediendiskurskonstrukte
4.4. Auswahl der Diskurskonstrukte

III. Methodischer Teil

5. Methodische Grundlagen
5.1. Der methodologische Grabenkampf
5.1.1. Quantitative Inhaltsanalysen
5.1.2. Qualitative Inhaltsanalysen
5.1.3. Zur Integration der Denkschulen
5.2. Medienwissenschaftliche Instrumente zur Erhebung von Medienin­halten
5.2.1. Methoden quantitativer Inhaltsanalysen
5.2.2. Framing- und Schema-Theorien
5.2.3. Medienlinguistik
5.3. Erweiterung und Vertiefung der Instrumente
5.3.1. Grundformen computergestützter Sprachverarbeitung
5.3.2. Anwendungsbereiche computerlinguistischer Verfahren
5.4. Darstellung des Instrumentariums
5.4.1. Natural Language Processing
5.4.2. Information Retrieval
5.4.3. Erkennung sprachlicher Muster
5.4.4. Zur Aufdeckung von Frames
5.5. Visualisierung
5.5.1. Netzwerkanalysen mit Gephi

6. Erhebung der Datenbasis
6.1. Bestimmung von Mediengattung und -form
6.2. Qualitätsmedien als Medienform
6.2.1. Positionierung von Medien
6.2.2. Bestimmung der Quellen
6.3. Erhebung der Medientexte
6.3.1. Umfang des Samples und Textsorten
6.3.2. Datenzugriff
6.3.3. Auswahl der Artikel

7. Erstellung des Analytical Dataset
7.1. Vorbereitung der Primärdaten
7.1.1. Homogenisierung
7.1.2. Bestimmung relevanter Wortarten
7.2. Dimensionen des ADS
7.2.1. Dimension: Zeit
7.2.2. Dimension: Artikelattribute
7.2.3. Dimension: Bezugsebene
7.2.4. Dimension: Granularität
7.2.5. Bereitstellung der Dimensionsattribute
7.3. Attribute des ADS
7.3.1. Basisdaten
7.3.2. Prognostischer Gehalt
7.3.3. Diskursivitat
7.4. Messung der Kennzahlen
7.4.1. Basisdaten
7.4.2. Präteritum
7.4.3. Konditionalbezug
7.4.4. Zukunftsbezug
7.4.5. Diskursbeitrag
7.4.6. Finalisierung des Analytical Datasets
7.5. Konstruktion der Erkenner
7.5.1. Diskursanalytische Großen
7.5.2. Bewertung der Erkennerqualität
7.5.3. Erkennerlogiken
7.6. Auf der Suche nach dem Sinn

IV. Analyseteil

8. Allgemeine Diskursanalyse
8.1. Allgemeines zu den Quellen und Diskursen
8.1.1. Thematische Präferenzen der Quellen
8.1.2. Diskursqualitat und Komplexität
8.1.3. Zusammenfassende Charakterisierung der Quellen
8.2. Die Diskursverlaufe im Vergleich
8.2.1. Der Internetdiskurs im Zeitverlauf
8.2.2. Der Gentechnikdiskurs im Zeitverlauf
8.2.3. Der Klimawandeldiskurs im Zeitverlauf

9. Identifikation globaler Frames
9.1. Frames beim Thema Gentechnik
9.1.1. Identifikation von Frame-Kandidaten
9.1.2. Beispiel einer Frame-Identifikation im Gentechnikdiskurs
9.1.3. Frames im Gentechnikdiskurs
9.2. Die Frames der Themen Internet und Klimawandel
9.3. Anreicherung des ADS um Frames

10.Strukturanalysen
10.1. Die Frame-Abdeckung der Quellen
10.1.1. Die Frame-Abdeckung im Gentechnik-Diskurs
10.1.2. Die Frame-Abdeckung im Internet-Diskurs
10.1.3. Die Frame-Abdeckung im Klimawandel-Diskurs
10.2. Frame-Analysen nach Themen und Qualität
10.2.1. Gräße und Qualitat der Frames in der Textkollektion
10.2.2. Frame-Verlaufe nach Themen

11. Der Existenz-Frame in der Tiefenanalyse
11.1. Netzwerkanalyse des Existenz-Frames
11.2. Detailanalysen des Existenz-Frames
11.2.1. Die Wurde des Menschen
11.2.2. Die gättliche Schöpfung

V. Abschluss und Resümee

12. Bewertung des Forschungsdesigns
12.1. Zur Identifikation von Diskurskonstrukten
12.2. Zu den methodischen Grundlagen
12.3. Zur Bildung der Erkenner
12.4. Zu den Diskursanalysen
12.5. Zur Frame-Identifikation
12.6. Zu den Strukturanalysen

13. Ausblick

14. Literaturverzeichnis

A. Anhang
A.1. STTS Tagset
A.2. Präzision der Erkenner
A.3. Frame-Definitionen
A.3.1. Gentechnik-Frames
A.3.2. Internet-Frames
A.3.3. Klimawandel-Frames

Danksagung

Ich danke ganz besonders meinem Erst- und Zweitgutachter, Herrn Professor Dr. Wessler und Herrn Professor Dr. Lobin, für die sehr engagierte und konstruktive Betreuung meines zwischen den Disziplinen liegenden Forschungsprojektes. Mit Geduld und Augenmaß haben sie mir bei Unwügbarkeiten die nütigen Impulse gegeben, die mich einen erfolgreichen Lüosungsweg haben finden lassen.

Ich danke ebenso ganz besonders meiner Frau, Corinna Mall, ohne die dieses Projekt nicht moüglich gewesen waüre und die mir zu jeder Zeit die nütigen Rüume samt ideeller Unterstützung hat zukommen lassen, um meine Arbeit zum Erfolg zu führen.

Ich danke meinen Studienkollegen Dr. Christian P. Ohmichen und Volker Hafen für ihr konstruktives und hilfreiches Feedback.

Ich müochte auch all jenen danken, die als Studienteilnehmer bei der Bewertung von Adjektiven mitgewirkt und evaluiert haben, auch wenn die Ergebnisse schlussendlich nicht Bestandteil der Arbeit werden konnten. Dennoch haben sie zu Erkenntnissen geführt, die in folgenden Projekten Verwendung finden künnen.

Teil I. Einführung

Der Tag nach Morgen „Es ist noch gar nicht so lange her, da haben sie uns versichert, wir wurden um die Jahrtausendwende in Städten unter riesigen Glaskuppeln leben, uns mit Däsenrucksäcken fortbewegen und unsere Wohnungen von Robotern putzen lassen.“

Aus dem Artikel „Gentechnik des Menschen: falscher Alarm!“ (Süddeutsche Zeitung, 15.07.2003) Die Zukunft war schon immer eine dankbare Projektionsfläche fur all jene Hoff­nungen und Ängste, die den Menschen mit Vorliebe im Angesichte wissenschaftli­cher oder technologischer Revolutionen heimsuchen. Wie wird es sein, wenn alles anders ist? Welche faszinierenden Möglichkeiten tun sich auf? Welches Unheil konnte bevorstehen? Und was sollen wir jetzt tun?

Es beginnt eine Suche nach Antworten, die man sich lange Zeit von orakelnden Auguren, ausgestattet mit allerlei Werkzeugen der Wahrsagungskunst, oder etwa durch gättliche Offenbarungen erhoffte. Wer sich damit nicht anfreunden mochte, konnte bald aus einem reichhaltigen Fundus utopischer Literatur oder einer Viel­zahl von Science Fiction Filmen wählen. Seit der Entzauberung der mystischen Welten sind solche Varianten der Zukunftsbewäaltigung allerdings doch eher dem Unterhaltungsgenre zuzuordnen.

Der Bedeutung wissenschaftlicher Wissenserschaffung gemaß dienen heute dagegen idealerweise gut bestatigte Theorien und Gesetze zur Auflosung der Unwägbarkeiten, die sich aus der menschlichen Gefangenschaft in der 4. Dimen­sion ergeben. Und so ruhen die Erwartungen auf den Experten aus Wissenschaft und Forschung, auf das sie Orientierung und Aussicht zu geben vermäogen. Und zugegeben: ihre Trefferquoten sind besser als jene der Propheten. Zumindest, so­lange sich ihre Prognosen nicht auf chaotische Systeme wie das Wetter, Politik oder die Entwicklung einer Volkswirtschaft beziehen. Denn hier kann eigentlich immer alles oder nichts passieren, im Nachhinein gut zu analysieren, im Vorfeld unvorhersehbar. Auch ein Mediendiskurs ist insofern chaotisch, weshalb all jenen, die sich aus den in dieser Arbeit angestrengten Strukturanalysen prognostisches Potenzial erhofft haben, eine kleine Enttauschung zugemutet werden muß.

Doch auf der anderen Seite sei auch Trost gespendet: Zum einen werden Pro­gnosen als zentrale Analysedimension Beachtung finden, da sie gerade im politi­schen System erheblichen Einfluss auf individuelle wie kollektive Entscheidungen ausüben. Zum anderen vermögen Ex-post-Erkenntnisse die Einschatzbarkeit ak­tueller Gegebenheiten und Probleme deutlich zu verbessern. Und zu guter Letzt schutzt das Wissen um die Unberechenbarkeit der Zukunft davor, in Ehrfurcht vor dem Unbekannten zu erstarren oder in die Falle der self fulfilling prophecies zu stolpern.

1. Motivation und Forschungsdesign

Die vorliegende Arbeit versteht sich als im Schwerpunkt methodischer Beitrag zur Analyse von textbasierten Mediendiskursen und ist als solche an den (möglichen) Nahtstellen zwischen den Medien- und Kommunikationswissenschaften, der Com­puterlinguistik sowie der Informatik angesiedelt. Die Motivation zum gegebenen Forschungsziel ergab sich dabei aus verschiedenen (offenen) wissenschaftlichen, forschungspraktischen aber auch wissenssoziologischen Fragestellungen. Letztere Disziplin wird allerdings nur am Rande Gegenstand der Betrachtung sein. Die wesentlichen Fragestellungen werden im Folgenden kurz erlautert.

Die Politische Relevanz von Mediendiskursen Eine zentrale Aufgabe jeden politischen Systems ist es, Entscheidungen uber Handlungsoptionen bei relevan­ten Fragestellungen zu generieren und dabei z. B. das oöffentliche Interesse als Bewertungsmaßstab zu beräcksichtigen. Die verantwortlichen Eliten werden da­bei wesentlich auch durch öffentliche Diskurse beeinflusst. Bei komplexen Themen mit komplizierter Interessenlage, die potenziell weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen, entstehen oft Bewertungskonflikte, die nicht letztgultig losbar sind und sich entsprechend uber Jahre, sogar Jahrzehnte hinziehen können (wie etwa beim Thema „Atomkraft“).

Transportiert werden diese Konflikte im Wesentlichen öber die Medien. Aller­dings bilden sie die Realitöten nicht einfach nur ab, sondern (re-) produzieren sie auch nach eigener Logik, gleichviel um welche Art von Thema es sich handelt. Folglich ist es von zentraler Bedeutung die (Re-) Produktionslogik der Medien in ihren Zusammenhöngen aufzudecken, um dieses wesentliche Element politischer Entscheidungsfindung selbst zu bewerten und ggf. (öffentlich) zu problematisie­ren. Einfache Beispiele fur die Logik medial vermittelter öffentlicher Diskurse sind etwa das Agenda Setting, also die gezielte Selektion bestimmter Themen zu Lasten anderer, oder die Tendenz zur „Bipolaritöt“, also die Reduktion von Perspektiven auf „DaRir-Dagegen-Positionen“. Dadurch kann unter anderem ei­ne leichtere Aufnahme des Inhaltes durch den Rezipienten erreicht werden. Im theoretischen Teil der Arbeit im Kapitel 2 werden diese und weitere Prozessmu­ster erlöutert, um spater als Grundlage fur operationalisierbare Diskurskonstrukte Verwendung zu finden.

Der Sonderfall „Wissenschaftliche Berichterstattung“ Stehen bei den oben genannten komplexen Bewertungskonflikten wissenschaftliche Fortschritte oder Erkenntnisse im Mittelpunkt oder praögen diese das Thema, so scheinen die daraus abgeleiteten Folgen eine besondere Geltung beanspruchen zu konnen, da sie nicht einfach nur Meinungen oder Interessen wiederspiegeln, sondern gleichsam objek- 1. Motivation und Forschungsdesign tivierte Realitäten wiederzugeben scheinen. Gleichzeitig sind solche Fortschritte nicht einfach vermittelbar, sodass die Medien notgedrungen auf Verkürzungen und das Zurate ziehen von mehr oder weniger kundigen „Experten“ zurückgrei­fen müssen. Das die Wissenschaft und insbesondere die Berichterstattung über sie und ihre Forschungsergebnisse einem hüheren Wahrheitsanspruch gerecht werden kann, ist jedoch unabhüngig von einer solchen Auffassung im üffentlichen Raum bezüglich ihrer Faktizitüt durchaus hinterfragbar. Nicht selten werden auch und gerade in der Berichterstattung zu wissenschaftlichen Themen übertriebene oder einseitige Darstellungen zur Meinungsbildung eingesetzt, die eher zusaützliche Ver­wirrung, Fehlinformation etc. sowie eine Zuspitzung der Konflikte bewirken, als dass sie zu einer endgultigen, rationalen Klarung beitragen würden.

Dabei spielen fuür den politischen Kontext bereits eingetroffene oder erwartete Konsequenzen eine wichtige Rolle. Zukunftsprojektionen jeglicher Art können beliebig variiert und skaliert werden, um in der üoffentlichen Auseinandersetzung einen Vorteil zu erlangen. Einschneidende Ereignisse oder die Dominanz eines Bewertungsmusters künnen Zukunftsprojektionen zusützlich verstarken, in eine bestimmte Richtung lenken und einen starken Handlungsdruck erzeugen. Diese Dynamik erhöht die Wahrscheinlichkeit entsprechender Entscheidungen durch die Eliten. Ein Beispiel hierfuür ist die Entscheidung fuür den Atomausstieg unmittelbar nach der Fukushima-Katastrophe 2011.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Zukunftsprojektionen als spezielles Element in Mediendiskursen einen signifikanten Handlungsdruck erzeugen künnen und das in diesem Feld wissenschaftliche Prognosen noch am ehesten als interessensfrei“ wahrgenommen werden. Vor dem Hintergrund aller­dings, dass auch hier mediale Vermittlungsmuster greifen, soll dieser Sonderfall eine vertiefende Betrachtung erfahren (vgl. insbesondere den Abschnitt 2.2.4 und Kapitel 3).

Mediendiskursanalysen im neuen Mediasetting Seit Jahren wachst das verfügbare Medienangebot zunachst durch die starke Diversifizierung und Diffe­renzierung des Fernsehen- und Printmedienmarktes und spütestens dann seit der Verbreitung des Internet explosionsartig an. Zuletzt hat die Entwicklung mobi­ler, internetfahiger Endgerüte (Smartphones, Tablets etc.) noch einmal für einen beispiellosen Schub in dieser Hinsicht gesorgt. Abschnitt 2.1.3 beschüftigt sich deshalb ausfuührlich mit den Wandlungen der medialen Rahmenbedingungen und dem Einzughalten der Neuen Medien“. Die Auswirkungen dieser Verüanderungen auf das gesellschaftliche Leben sind umfassend und von sehr großer Dynamik.

Und auch fur die medienwissenschaftlichen Theorien und die Analyse von Öffentlichkeit ergeben sich daraus eine Menge neuer Fragen und Problemstel­lungen, hier konkret etwa, wie Diskursanalysen vor dem Hintergrund der sich vervielfachenden Menge an Text- und Videobeitraügen uüberhaupt noch zu leisten sind. Betrachtet man z. B. klassische Printmedien, so ist seit langem die Beruück- sichtigung sogenannter Leitmedien“ uüblich, aus denen nach inhaltlichen Krite­rien (Thema, Zeitraum etc.) ein Teilbestand in ein Mediensample eingeht, das dann manuell ausgewertet wird. Doch wie geht man damit um, dass die stetige Diversifikation des Medienangebotes eine reprüasentative Auswahl immer schwie­riger macht und auch die Sichtbarkeit und Relevanz von Leitmedien nachlassen?

Dass Rückschlüsse auf die Besonderheiten einzelner Leserschaften zunehmend komplexer und damit weniger berechenbar erscheinen? Und dass eine manuelle Sichtung des gesamten, (eventuell) relevanten Materials zu einem Thema oder Diskurs forschungsokonomisch nicht mehr zu bewaltigen ist?

Eine Möglichkeit besteht darin, die Analysearbeit durch (halb-) automatische Verfahren zu unterstötzen, die eine höhere Skalierbarkeit als rein manuelle Ver­fahren aufweisen. Hilfestellung hierbei kann etwa die Disziplin der Computer­linguistik geben. Insbesondere wenn es um textbasierte Medien geht, existiert bereits ein vielföltiges Instrumentarium zur automatischen Erkennung etwa von Textmustern, Wortarten oder spezifischen Inhalten. Unter Ruckgriff auf die Me­thoden und Algorithmen der Informatik können automatische Klassifikationen und Clusterbildungen vorgenommen werden. Schließlich erlauben es immer bes­sere Visualisierungs- und Analysetools die großen Datenmengen in interpretier­bare Darstellungen zu uöbersetzen, die Aufschluss uöber die Datenstrukturen geben koönnen.

Die vorliegende Arbeit erarbeitet im methodischen Teil (Kapitel 5 und 6) einen Vorschlag för ein solches Vorgehen zur Untersuchung von Mediendiskursen. Dabei ist das Ziel, einerseits auch komplexe Textkollektionen aus verschiedenen Quellen und Medien in eine einheitliche, analysierbare Form zu bringen. Hierzu werden im Kapitel 7 die schwach strukturierten Informationen in ein „Analytical Dataset“ mit einheitlichen Dimensionen öberföhrt. Andererseits sollen die Quelldaten au­tomatisch um zusöatzliche Informationen angereichert werden, die eine erweiterte Einschaötzung der Diskurse etwa bezuöglich ihrer Qualitöat oder ihrer Komplexitöat ermöoglichen.

Strukturen der Berichterstattung Wie es der Titel der vorliegenden Arbeit na­he legt, werden Mediendiskurse im Folgenden ganz wesentlich auf ihrer inhaltlich strukturellen Ebene Beachtung finden. Das erstreckt sich vom theoretischen Teil (mediale Verarbeitungslogiken) öber den methodischen Teil (Erstellung und au­tomatische Anreicherung der Datenbasis) bis hin zum Analyseteil (Analyse der Anwendungsfälle Gentechnik, Klimawandel und Internet sowie Bewertung des methodischen Vorgehens). Immer ist die Meta- bzw. Meso-Ebene im Fokus. Das Aufdecken von Besonderheiten und Aufföalligkeiten auf dieser Ebene kann und soll dann zum Anlass genommen werden, vertiefende Hypothesen öber die Dis­kurse abzuleiten und detaillierte Betrachtungen uöber relevante Aspekte anzustel­len. Und auch ein Ruckschluss auf die Qualitöt der beröcksichtigten Quellen, z. B. was die Abdeckung der Vielfalt eines Diskurses angeht, soll moöglich werden, denn am Ende geht es immer auch darum, eine moglichst gut funktionierende Öffent­lichkeit zu wahren, die in fairem Austausch zu guten Entscheidungen gelangt. Dazu sollte bekannt sein, welche Medienprodukte besonders hierzu beitragen - und welche eher nicht.

II. Theoretischer Teil

Im ersten Hauptteil dieser Arbeit wird das Ziel verfolgt, Funktionsmuster der (Öffentlichkeit aus den verfügbaren (klassischen) Theorien und Modellen abzulei­ten, um aus diesen zentrale und operationalisierbare Eigenschaften medial ver­mittelter Diskurse zu entwickeln. Hierzu werden der Öffentlichkeitsbegriff sowie die wichtigsten Öffentlichkeitsmodelle kurz skizziert und eingeordnet. Es werden die wesentlichen Elemente von Öffentlichkeit herausgearbeitet, um anschließend auch die Einflüsse der „Neuen Medien“ zu reflektieren. Als fur die Arbeit zentrales Element werden „Diskurse“ identifiziert, weil sich in diesen Bewertungskonflik­te direkt wenn auch nicht vollstündig beobachten lassen. In einem weiteren Vertiefungsschritt werden dann die einem Diskurs wesentlichen Eigenschaften ge­sammelt und dargestellt.

Da es zudem das Ziel der Arbeit ist, wissenschaftliche Diskurse zu verfolgen, werden auch die Wissenschaft bzw. wissenschaftliche Themen als Gegenstand me­dialer Verarbeitung theoretisch eingerahmt. Insbesondere wird auch die Schwie­rigkeit des wissenschaftlichen Anspruchs diskutiert, objektive Realitüten abbil­den zu wollen und dennoch zu Vorhersagen gedrüangt bzw. fuür solche benutzt zu werden. Unter anderem darin spiegelt sich der normative Anspruch, dass Medien­diskurse (politische) Orientierung vermitteln mussten. Wenn sie dies tatsüchlich leisten sollen, so mussten sie nach Reflektion der Theorie die folgenden (positiv formulierten) Eigenschaften erfullen:

- Mediale Diskurse sind rational und fair.
- Mediale Diskurse laufen auf einen Konsens hinaus, der als Entscheidungs­grundlage dienen kann.
- Mediale Diskurse vermitteln aktuelle und gesicherte Fakten, die eine vernunftige Entscheidung ermöglichen.

Der theoretische Teil schließt mit einem Resuümee und der Auswahl zu operationa- lisierender Mediendiskurskonstrukte“, die jeweils in Mediendiskursen beobacht­bare Verarbeitungsprozesse auf einem semi-abstrakten Niveau abbilden.

2. Medienöffentlichkeit

In diesem Kapitel werden theoretische Grundannahmen über den Aufbau und die Funktionsweise der Öffentlichkeit unter dem besonderen Blickwinkel der Bericht­erstattung uber wissenschaftliche Themen reflektiert. Das Ziel besteht im ersten Schritt (2.1) darin, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie jene maßgeblichen Größen zueinander in Beziehung stehen, die einen signifikanten Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der Berichterstattung in einem Mediensystem haben (können). Die theoretische Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstandes liegt dann allen weiteren Überlegungen als zentrale Bezugsgräße zugrunde. Im zweiten Schritt (2.2) geht es dann um die in ihrer Bedeutung offenbar zuneh­menden konkreten „Vermittlungsmuster“ der Medien (vgl. z. B. Wimmer 2007: 138), die besondere Anforderungen an Themen und Ereignisse stellen, damit die­se uäberhaupt als mediengerecht“ erscheinen (oder insoweit veraändert werden kännen, dass sie im Medienkontext verwertbar werden). Beide Schritte dienen zur Vorbereitung der Identifikation von Mediendiskurskonstrukten in Kapitel 4.

2.1. Zum Grundaufbau der (Öffentlichkeit

„Öffentlichkeit“ ist sicherlich einer der „schillerndsten“ Begriffe der Kommuni­kationswissenschaft (vgl. z. B. Wessler 1999: 23).[1] Hierfür gibt es viele Grunde: die Verwendung des Begriffs als Basiskategorie“, die Ablehnung als Mythos“ oder „Phantom“ und nicht zuletzt eine kontingente Begriffsgeschichte, die je nach thematischem und wissenschaftlichem Kontext die ohnehin mangelhafte termino­logische Präzision zusätzlich variiert (vgl. Wimmer 2007: 11 ff.). Zudem finden sich Konzepte von antipodisch ausgerichteten „Gegenüffentlichkeiten“ (Wimmer 2007). Es ist nun nicht das Ziel dieser Arbeit, sich detailliert mit den vielfältigen Konzepten und Konnotationen von Öffentlichkeit auseinanderzusetzen. Vielmehr geht es darum, aus den verfugbaren Modellen relevante Elemente zu identifizieren, die fur die Konstitution und Dynamik von Mediendiskursen prägend sind.

2.1.1. Differenzierung des Öffentlichkeitsbegriffs

Um zunachst der Vielschichtigkeit des (ffentlichkeitsbegriffs Herr zu werden, bietet es sich an, seine Bedeutungsaspekte sowie die Perspektiven auf diese zu strukturieren. Einen Vorschlag von Wessler aufgreifend kann Öffentlichkeit ei­ne soziale Sphäre („in der Meinungen und Argumente frei ausgetauscht werden kännen“), ein Kollektiv („die Gesamtheit der aktiven und passiven Teilnehmer an äffentlicher Kommunikation“) oder ein Prinzip (fur den Umgang mit gesell­schaftlichen Vorgaängen und Akteuren in demokratischen Gesellschaften, etwa[1]

Offenheit, Beobachtbarkeit, soziale Kontrolle usw.) bezeichnen (Wessler 2008: 220 f.). Diese drei Bedeutungsräume lassen sich zusätzlich noch normativ oder empirisch-analytisch wenden. Die normative Perspektive konzentriert sich dabei auf theoretische begründete Wänschbarkeiten hinsichtlich der Formen und Zie­le von Öffentlichkeit im jeweiligen Bedeutungskontext. Gegenstand ist z. B. die Frage, wie „gute“ oder „richtige“ Formen der Meinungsbildung und -außerung aussehen sollten. Die empirisch-analytische Perspektive konzentriert sich dage­gen auf die Erfassung und Untersuchung der genannten Bedeutungsaspekte auf der Basis wissenschaftlich-methodischer Überlegungen.

Ausgehend von dieser Parzellierung des Offentlichkeitsbegriffs kann eine Be­stimmung der im Kontext dieser Untersuchung besonders relevanten Bestandteile von (Öffentlichkeit erfolgen. So liefert die normative Perspektive die „wänschens- werte[n] Formen des Offentlichmachens gesellschaftlicher Sachverhalte“ (Wessler 2008: 221), die als Orientierungsgräße bei der Bewertung der Diskursverlaufe die­nen kännen. Auf der empirisch-analytischen Ebene sind Themenselektivität sowie die „Verlaufsdynamik von Skandalisierung, Protest und publizistischen Konflik­ten“ (ebd.) interessant. Es geht also auch um „publicness“, d. h. um Offentlich- keit als Prinzip und regelmaäßigen Ablauf. Die Grundannahme ist dabei, dass die Offentlichkeit“ als Thematisierungsplattform diskussionsbedürftiger Sachverhal­te und Ereignisse auf eine ganz bestimmte Art und Weise funktioniert“, um wichtige gesellschaftliche Zwecke zu ubernehmen (vgl. etwa Imhof 2008: 69). Da­bei wird sie stetig als emergentes Produkt variabler und dynamischer Kollektive hervorgebracht und kann nicht als Ergebnis intentionaler Bemuähungen einzelner Akteure gesehen werden, wenn auch einzelne Akteure in spezifischen Konstellatio­nen regelmäaßig einen entscheidenden Einfluss auf das Meinungsbild einer akuten Offentlichkeit nehmen können.

Bis zu einem gewissen Grad werden die prinzipiellen Funktionsweisen der Offentlichkeit deshalb anhand der aktuellen Beschaffenheit jenes Kollektivs rela­tiviert, in dem sich die Teilnehmer des Mediengeschehens (Produzenten, Publika usw.) hinsichtlich ihrer Rollen, ihres Aktivierungsgrades und ihrer gegenseitigen Einfluss- und Anpassungsprozesse unterscheiden. Da eine bestimmte Offentlich- keit außerdem niemals unabhaängig von ihrer sozial-kulturelle Einbettung zustan­de kommt, wird auch dieser Aspekt der äffentlichen Sphare in den Blick kommen.

2.1.2. Sichtung vorhandener Öffentlichkeitsmodelle

Die Sichtung der vorhandenen Offentlichkeitsmodelle, wie sie in der (Lehrbuch­) Literatur rezipiert und zusammenfassend dargestellt werden, lässt eine zägige Priorisierung derselben fur den Kontext dieser Untersuchung zu (vgl. z. B. Wim­mer 2007). Der Offentlichkeitsbegriff kann wie dargestellt zur Abbildung vielfälti­ger Phaänomene im Kontext gesellschaftlicher Kommunikation verwendet werden. Diese koännen den Dimensionen sozialer Raum“, Kollektiv“ oder Prinzip“ der Offentlichkeit zugeordnet werden. Die aus den vielfältigen Elementen des Themas entstehende inhaltliche Matrix ist so umfassend wie komplex und hat es notwendig gemacht, dass mit dem Thema beschäftigte Autoren Schwerpunkte auf ausgewähl­te „wichtige“ Phänomene setzen, um diese auf der Grundlage mehr oder weniger belegter Annahmen in eigene (Offentlichkeitsmodelle zu uberfuhren. Es konnen „sechs spezifische Dimensionen skizziert werden, die ein solches Öffentlichkeits­konzept aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive berücksichtigen muss“ (Wimmer 2007: 62 f.): Akteurshandlungen, Strukturen (journalistische Organi­sationen, Medien, Rollen usw.), sozialer Kontext, Kommunikationsinhalte/Sinn, Funktionen (Selektion, Vermittlung usw.) sowie (Eigen-)Dynamik (prozesshafte Veranlagung).

Jürgen Habermas In seiner Habilitation „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (vgl. Habermas 1987) entwickelt Jurgen Habermas ein normativ geprügtes Ide­al von Kommunikationssituationen im üffentlichen Raum, die als (fairer) Dis­kurs konzipiert sind. Alle Akteure nehmen hier systematisch aufeinander Be­zug und durchdringen auf diese Weise ein Thema zunehmend und argumentativ, um schließlich zu einer rationalen Meinungsbildung zu gelangen. Habermas be­schreibt das wunschbare Verhalten der im üffentlichen Raum tütigen Akteure, die sich sozialer und wirtschaftlicher Grenzen entledigen sollen, thematisch vollkom­men offen sind und jedem die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs ermoügli- chen (vgl. z. B. Jarren/Donges 2006: 99 ff., Wimmer 2007: 73 f., Müller-Doohm 2008). Erstens legt das Modell also Maßstabe zur Bewertung „guter“ üffentlicher Kommunikation fest. Zweitens stellt Öffentlichkeit fur Habermas aber auch einen „umkümpften Kommunikationsraum dar, in dem wechselnde Krafte und Gruppen [... ] ihre jeweiligen Hegemonialansprnche durchzusetzen und auch symbolisch zum Ausdruck zu bringen suchen“ (Wimmer 2007: 88). Diese grundlegende Ein­sicht trügt dem dynamischen Moment jedes üffentlichen Geschehens (als „Kampf“ um Aufmerksamkeit) ebenso wie der bloßen Existenz interessengeleiteter Akteure Rechnung, ohne die kein Phünomen der üffentlichen Sphare zu erklaren ware.

Das der normative Anspruch des Modells regelmüaßig eingeloüst wird, darf frei­lich bezweifelt werden: „Wer (Öffentlichkeit und diskursive (Öffentlichkeit gleich­setzt [...] riskiert uberdies den spüttischen Vorwurf einer rationalistischen Uberschützung üffentlicher Vernunft im Zeitalter von Fox News und ’hate radios’, von Nachrichtenunterhaltung und Murdoch-Imperien, von Anzeigenakquisiteuren als Aufpasser fuür Redakteure und TV-Prominenten als maßgeblichen Autoritaüten (’celebrities’).“ (Wessler/Wingert 2007: 16) Empirische Kritiken am Realitütsge- halt des normativen (Öffentlichkeitsmodells finden sich etwa bei Gerhards (1997) oder bei Wessler (1999) in seiner Untersuchung zur deutschen Drogenbericht­erstattung. Zum Drogendiskurs heißt es dort etwa: Weder werden unangemes­sene oder veraltete Deutungen zugunsten zeitgemaüßerer und zutreffenderer aus dem Diskurs ausgeschieden, noch bewegt sich der Diskurs auf eine argumentativ gestutzte Mehrheitsmeinung zu.“ (Wessler 1999: 215)

Trotz berechtigter Kritik ist der grundsüatzliche Anspruch einer diskursiven (Öffentlichkeit aber als Idealvorstellung und Orientierungsgröße zur politischen Gestaltung des Medienraumes eine beachtenswerte normative Grüße. Habermas kann als ein Begruünder dieser Anspruchshaltung gelten, die seit seiner Veroüffent- lichung immer wieder diskutiert, erweitert und auch operationalisiert wurde (vgl. die Kriterien zur Messung der „deliberativen Leistung“ in Abschnitt 2.2.3).

Niklas Lühmann Niklas Luhmann betrachtet das (Öffentlichkeitssystem - wie alle anderen sozialen Systeme - aus seinem systemtheoretischen Zugang heraus gewissermaßen als „natürliche“ und aus sich selbst heraus entwickelte Antwort ei­ner Gesellschaft auf das Vorhandensein und Erkennen eines spezifischen Problems. Eines dieser Probleme bestehe darin, eine „nicht von Eigeninteressen bestimmte Beobachtung gesellschaftlicher Interdependenzverhältnisse durchzuführen“, da­mit ein beliebiges (sich immer auch selbst regulierendes) System zur Beurteilung des Erfolgs seiner Aktionen kommen kann (vgl. Wimmer 2007: 104). Es geht also vornehmlich um Beobachtungsprozesse von Systemen, die sich der Öffentlichkeit als Reflektionsgrundlage bedienen (vgl. Jarren 2006: 98 f.).[2]

Waährend der große Vorzug der Systemtheorie ihr wertfreies Vokabular ist, das normativ unbeschwerte Beschreibungen des Mediengeschehens ermäglicht, liegt seine Schwache darin, dass es Festlegungen auf ursachliche Zusammenhange durch allgemeine Beschreibungen von Makrostrukturen und deren Irritationen zu um­gehen sucht (vgl. Jarren 2006: 283).[3] Aus diesem Blickwinkel erscheint sehr vieles mäglich aber nur wenig zwingend, sodass eine Ableitung von Hypothesen über die inhaltliche Dynamik einer üffentlichen Diskussion auf der Grundlage des sy­stemtheoretischen Modells nur eigentlich nicht erfolgen kann.

Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt Jürgen Gerhards und Fried­helm Neidhardt integrieren „akteur- und systemtheoretische Annahmen, um die Struktur- und Funktionsdimensionen von Öffentlichkeit beobachtbar zu machen“ (Wimmer 2007: 107 f.). Dies fuhrt zur Entwicklung eines „Arenenmodells“ der Öffentlichkeit und der öffentlichen Kommunikation, das „als ein offenes Kommu­nikationssystem verstanden“ wird und „quer zu den gesellschaftlichen Teilsyste­men liegt.“ (Weder 2008: 351) In diesem Forum agieren Akteure intentional und verfolgen individuelle Ziele. Als „Diskussionssystem“ besitzt Öffentlichkeit aber ebenso bestimmte Systemrationalitäten, wobei nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich die beteiligten Akteure auch (immer) an ihre „vorgesehenen“ Funktionen halten (Wimmer 2007: 108).

Öffentlichkeit als Kommunikationsforum zu begreifen, das in verschiedene Are­nen mit themenspezifischen Diskursen geschieden ist, besitzt den Reiz, inhaltlich wie strukturell pluralistischen Gesellschaften insoweit Gerecht zu werden, als in diesen zumeist nur von TeilÖffentlichkeiten uber „teilrelevante“ Themen verhan­delt wird: „In den Arenen des Forums Öffentlichkeit thematisieren Akteure vor einer mehr oder minder großen Zahl von Beobachtern Sachverhalte und artiku­lieren Stellungnahmen zu diesen.“ (Saxer 2006: 30)

Um sich mÖglichst gut im Diskurs gegen die Konkurrenz durchzusetzen, ziehen sich bestimmte Akteure immer wieder auf „Hinterbuhnen“ zurÖck, die internen Diskussionen bzw. Treffen oder z. B. der Festlegung von Kommunikationsstrate­gien dienen. Die Aktivitäten der Akteure auf Vorder- und Hinterbuhnen sowie die jeweils zugrunde liegenden Verhaltensregeln können sich je nach Arena unterschei­den.[4] Durch die Beriicksichtigung solcher Bähnen als „offizielle“ Öffentlichkeiten oder „inoffizielle“ Aushandlungsräume gelingt es z. B. Fragen des Agenda Set­tings oder des Verhaltens von Oä ffentlichkeitsakteuren theoretisch einzuordnen. Im Verlauf des Diskurses ubernehmen vor allem Leitmedien (vgl. auch Abschnitt 6.2) eine wichtige Rolle, wenn sie Teildiskurse aus den verschiedenen Öffentlich­keitsarenen „aufnehmen, filtern, zu massenmedial beobachtbaren Kommunikati­onsereignissen buändeln und dadurch Anschlusskommunikation in anderen Arenen und auf den unterschiedlichen Ebenen des politischen Systems ausläsen“ (Lat­zer/Saurwein 2006: 12). Das wesentliche Produkt der Öffentlichkeit ist nach den hier nur grob skizzierten Prozessschritten jene durch die Konstellation von Spre­chern, Medien und Publikum bestimmte „offentliche“ oder „herrschende“ Mei­nung, die sich in den Arenen Öffentlicher Meinungsbildung durchsetzt.

Gegen das Modell von Gerhards und Neidhardt ist kritisch eingewendet worden, dass es Öffentlichkeit als nationales Phanomen verstehe und allein auf politische Öffentlichkeit kapriziere, was empirisch zu einer Verengung auf rein mediale Dis­kurse und die Vernachlässigung des Einflusses der individuellen Rezeption bzw. Aneignung durch das Publikum führe. Auch der soziale Kontext würde nicht ausreichend gewurdigt (vgl. Wimmer 2007: 127). Dieser Haltung muss entge­gengestellt werden, dass die Öffnung eines an strukturellen Fragen interessierten (ffentlichkeitsmodells fur individuelle und/oder sozialpsychologische Rezeptions­forschung den abzubildenden Gegenstand derart ausweiten wurde, dass die An­wendbarkeit bzw. Aussagekraft des Modells infrage stunde. Zudem ist eine globale Beruäcksichtigung des sozialen Kontextes schlechterdings unmäoglich: dieser kann aufgrund seiner Überkomplexität immer nur in Abhängigkeit von konkreten The­menstellungen angemessen in ein Erklaärungsmodell Eingang finden.

Richtig ist jedoch, dass es notwendig erscheint, allgemeine gesellschaftli­che Wandlungsprozesse bei der Betrachtung solcher Themenstellungen und - entwicklungen zu beriicksichtigen. Die Analyse etwa von (zeitlich begrenzt gulti- gen) Kulturguätern und ihre Abstraktion zu geronnenen kulturellen Strukturen ist allerdings alles andere als trivial. Ab wann eine Gruppe von Kulturgutern, zu de­nen auch Medienprodukte zählen, den Sprung von einem Vehikel partikularer Di­stinktionsinteressen (vgl. Mikos 2007: 56) zur gesamtgesellschaftlichen Strämung vollzogen haben, ist kaum objektiv zu beurteilen und somit selbst Gegenstand einer eigenen Facharena mit eigenen Akteuren. Gerhards und Neidhardts Modell liefert aber insgesamt viele Anknuäpfungspunkte und ein passendes theoretisches Grundgerust fär den hier relevanten Üntersuchungsgegenstand. Erweiterungen waären lediglich bei der Erfassung thematisch-inhaltlicher Dynamiken sowie bei der Beruäcksichtigung des sozialen Kontextes zu erwaägen.

Gegenöffentlichkeiten Das Konzept von „Gegenöffentlichkeit“ geht davon aus, dass „bestimmte Teilöffentlichkeiten der Gesellschaft aus dem gesellschaftlichen Diskurs subjektiv wie objektiv ausgeschlossen sind“ und sich deshalb Uber „al­ternative“ Medien in einer Art Parallelöffentlichkeit Gehör verschaffen (Wimmer 2009: 127 f.). Es handelt sich insofern um ein Defizitmodell, bei dem die „ei­gentliche“ Öffentlichkeit ihre Funktion(en) nicht oder nicht ausreichend erfüllt. In diesem Zusammenhang bilden sich die folgenden „idealtypischen Konzepte al­ternativer Kommunikation“ (vgl. Wimmer 2009: 128 f.):

- das Modell der gegenöffentlichen Kommunikation, bei dem in „Sorge um die Demokratie“ (radikale) Aktionen die herrschende Meinung beeinflussen bzw. eine starke Abgrenzung zu dieser erfolgen soll.
- das Modell der authentischen Kommunikation, die auf die Anhorung der „Betroffenen“ eines Themas setzt, die als Einzige authentische Äußerungen taötigen köonnen.
- das Modell der emanzipativen Kommunikation, bei dem vor dem Hinter­grund des technischen und medienstrukturellen Wandels eine starke Ver­ankerung der Inhalte im Alltag der Rezipienten beobachtet wird, die zur „Umgestaltung des klassischen Sender-Empfönger-Schemas“ fuhre.

Gegenoffentlichkeiten können als „nicht zur etablierten Öffentlichkeit“ gehörende Kommunikationen mit (gesellschafts-) politischem Anspruch gesehen werden. Sie konstituieren und definieren sich (stark fließend und kontingent) immer gegen die bestehende Öffentlichkeit und sind insofern von dieser abhöngig. Gleichzei­tig erfahren sie eine interne Mobilisierung und Stabilisierung, solange sie von der etablierten Oö ffentlichkeit Resonanz erhalten, ohne dabei vereinnahmt oder vollstöndig absorbiert zu werden (vgl. Wimmer 2009: 130). Insgesamt können zu ihrer Analyse die gleichen Dimensionen angelegt werden, wie dies bei der eta­blierten Öffentlichkeit der Fall ist (ebd.).

Allerdings gibt es bezuglich der Erforschung von Gegenöffentlichkeiten we­der einen theoretischen Konsens noch eine allgemeine Klaörung ihres Stellen­wertes innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Von ihrer ge­samtgesellschaftlichen Bedeutung her gesehen wurden Gegenoöffentlichkeiten ei­nerseits als nur marginale Kommunikationsprozesse“ beschrieben, die im real- öoffentlichen wie virtuellen Raum gleichzeitig zu oöffentlichen Prozessen ablaufen“ (Wimmer 2009: 141). Andererseits zeigen immer mehr Beispiele wie der „Ara­bische Fruhling“ in Nordafrika ab Ende 2010 oder die regelmaßigen „PEGIDA“- Demonstrationen in Deutschland, dass Paralleloöffentlichkeiten durchaus einen be­deutenden Einfluss auf die etablierte Öffentlichkeit ausüben können. Dennoch liegt der thematische Fokus dieser Untersuchung auf „Leitmediendiskussionen“, sodass an dieser Stelle keine weitere Behandlung des Konzeptes der Gegenöoffent- lichkeit erfolgen soll.

Hartmut Wessler Im Verlauf seiner Fallstudie zur drogenpolitischen Bericht­erstattung bundesdeutscher Printmedien entwickelt Wessler ein umfassendes, deutungs- und prozessorientiertes Analysemodell medienoöffentlicher Diskurse (vgl. Wessler 1999). Öhne sein „normatives Erbe“, das auf Habermas zuriickgeht, zu ignorieren, wählt der Autor hierfür einen empirisch-analytischen Zugang, der auf das öffentlichkeitstheoretische Konzept von Gerhards und Neidhardt (siehe Seite 24) aufbaut. In Abgrenzung zu diesem ruckt allerdings der Prozesscharak­ter medienoffentlicher Diskurse, die als von politischen Regelungen weitgehend unabhöngige Realitöten erscheinen, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dabei werden drei Dimensionen identifiziert, die fur die konkrete Ausgestaltung von nicht-deterministischen, aber ebenso wenig chaotischen Diskursverlaöufen in re- gelmößigen Prozessmustern verantwortlich sind: die Sachdimension, welche „Pro­blemdeutungstypen“ erfasst, die Sozialdimension, in der die Konstellationen der Sprecher berucksichtigt werden sowie die Zeitdimension, die durch „Phasentypen“ gekennzeichnet ist (vgl. Wessler 1999: 45).

Für Wessler beginnt die öffentliche Deutung relevanter Themen immer mit der Identifikation eines Sachverhaltes als Problem. Die Öffentlichkeit dient zuvorderst als Infrastruktur zur Diskussion dieser Deutungen und zur Ruöckvermittlung der Diskussionsergebnisse an die Gesellschaft (vgl. Wessler 1999: 59 ff.). Der Identi­fikation eines Problems folgen Urachenzuschreibungen, typische Reaktionsweisen und auch normative Erwögungen als Prozessschritte des Mediendiskurses. Die­ser ist durch das Vorhandensein verschiedener Akteure mit je eigenen Interessen naturgemöß konflikthaft, sodass es letztlich im Diskurs um die Deutungshoheit uber ein zuvor identifiziertes Problem geht.

Als ein wesentliches Merkmal medienoöffentlicher Diskurse betrachtet Wessler ihren prozessualen Charakter, der sich als medialer Aufmerksamkeitszyklus zu er­kennen gibt. Dieser Zyklus hat keine besondere Zielrichtung und kennt lediglich Zunahme (etwa durch besondere Ereignisse) oder Abnahme als Bewegungsten­denz. Da Mediendiskurse nicht durch einen „Fortschritt“ im Sinne von rationaler Vertiefung oder abschließender Konsensfindung gekennzeichnet sind, werden die einzelnen Abschnitte innerhalb eines Diskurses als Episoden“ bezeichnet, welche die „mediale Langzeiterzöhlung“ zusammenhalten (vgl. Wessler 1999: 43). Dabei sind Röckfölle in friihere Diskurszustönde ebenso möglich, wie z. B. Wiederauf­nahmen bereits (mehrfach) diskutierter Argumente und Deutungen. Nach dem Abklingen einer Aufmerksamkeitswelle, die durch ein diskretes Ereignis hervor­gerufen wird, tritt die mediale Erzaöhlung in der Gesamtheit des Medieninhalts in den Hintergrund, ohne ganz zu verschwinden“, um bei einem weiteren zugehöri­gen und wichtigen“ Ereignis erneut belebt zu werden (ebd.).

Entsprechend dieser Grundannahmen bezuöglich des Mediendiskurses ist der Ansatzpunkt bei einer Prozessanalyse“ weder einseitig strukturell noch hand­lungstheoretisch gewahlt. Es dienen nicht Konfigurationen von Öffentlichkeitsele­menten oder konkrete Handlungskontexte und -maximen von Akteuren als Basis der Diskursanalyse. Vielmehr sucht Wessler ausgehend von den im Medieninhalt vorliegenden veröoffentlichten Sprechaöußerungen“ nach Ablaufmustern und fragt von hier aus nach der Logik von Medienöffentlichkeit“ (Wessler 1999: 40). Dies stellt sich als sehr fruchtbar heraus, da sich ein Diskurs an sich“ zunöachst in der Tat durch Kommunikationen in konkreten Medien manifestiert. Gleichzeitig liefert das Öö ffentlichkeitsmodell ein Set möoglicher Fragestellungen und Suchbe­dingungen, die auf ein Mediensample angewendet werden köonnen.

Auch Wessler kapriziert (öhnlich wie Gerhards und Neidhardt) vornehmlich auf politische Dimensionen von (Öffentlichkeit und sozialem Kontext. Diese Fo­kussierung führt zu einer schlüssigen Argumentation und liefert gewissermaßen ein ideales Bild: In der Realitüt und mit einer etwas ausgedehnteren Begriffsaus­legung erscheint „(Öffentlichkeit“ durchaus amorpher und undeutlicher. Davon abgesehen liefert das prüzise konturierte Modell durch Konzepte wie jenem der „Langzeiterzühlung“ die notwendige Erweiterung und Konkretion von Gerhards und Neidhardts Modell fur die hier interessierende Problemstellung. Im Folgen­den werden deshalb die Modelle dieser Autoren zusammen mit den theoretischen Erwügungen zu typischen medialen „Vermittlungsmustern“ zur Generierung von Hypothesen herangezogen.

2.1.3. Die „Neuen Medien“

Medien bilden die wesentliche Infrastruktur von Öffentlichkeit, die Kommunika­tion abseits persünlicher Begegnungen und Treffen uberhaupt erst ermöglichen. Sie formen den durch sie abgebildeten Inhalt durch ihre spezifische Begrenzt­heit bei der Speicherung von Informationen. Sie prügen der Kommunikation ihre eigene Logik auf (vgl. z. B. Altheide/Snow 1979). Ein vollstündiges, realitütsi- dentisches Abbild ist nicht müglich, es künnen lediglich Ausschnitte aus der Rea­litüt ausgewühlt und begrenzt durch die Kapazitaten des betreffenden Mediums transportiert werden. Zudem bietet jedes Medium eigene Manipulationsmoglich- keiten, die zur Darstellung“ und damit zur Interpretation des abgebildeten Ge­genstandes eingesetzt werden (künnen). Im Verlauf der Geschichte sind immer wieder „neue“ Medien entstanden, wenngleich Geschwindigkeit und Qualitüt der kürzlich vollzogenen und fortlaufenden Entwicklungen beispiellos sind. So wird „die Einführung des vernetzten „Persünlichen Rechners“ als Universalmedium für alle Lebensbereiche am Ende des 20. Jahrhunderts als Schock registriert.“ (Rusch/Schanze/Schwering 2007: 21) Dieser wird zusammen mit der Erfindung des Buchdrucks (um 1500) und jenen der Phonographie und Kinematographie (um 1900) als einer der drei epochalen Züsuren der Mediengeschichte betrachtet (vgl. Rusch/Schanze/Schwering 2007: 91).

Das Aufkommen digitaler Medien ist für das Untersuchungsziel gleich in zwei­erlei Hinsicht interessant: erstens wird der massive Wandel der Medienkonfigura­tionen und der Öffentlichkeitsstrukturen genau in den empirischen „Berichtszeit­raum“, nämlich den Zeitraum zwischen 1993 und 2009, fallen (vgl. Kapitel 6). Die Implikationen dieser Entwicklungen muüssen folglich bei der Beurteilung des zu erhebenden Gegenstandes berücksichtigt werden. Zweitens ist gerade dieser Wandel - in Gestalt der vermuteten und tatsachlichen Potenziale und Gefahren des aufkommenden Internets - selbst ein Beispielthema, an dem der üffentliche Umgang mit wissenschaftlichen Themen analysiert werden soll.

Das Phänomen „Neue Medien“ Grundsützlich existiert eine sehr umfassende Diskussion sowie Pluralitaüt bei der Definition und Benutzung des Medienbegriffs (und damit auch des Begriffs der „Neuen Medien“), die hier nicht weiter verfolgt werden kann.[5] Es künnen allerdings einige Eigenschaften festgehalten werden, die alle aktuell als „neue“ Medien bezeichneten Kommunikationsmittel auszeichnen (vgl. Rusch/Schanze/Schwering 2007: 39 ff.): so handelt es sich um Digitalme­dien (medientechnisches Apriori), die ähnlich dem Fernsehen räumliche Distan­zen uberwinden, daruber hinaus aber im „Cyberspace“ Körper greifbar machen kännen, die nirgendwo in irgendeiner Wirklichkeit existieren. Sie erfordern ständi­ge Neuerzeugung und folgen dem Prinzip der „Echtzeit“. Die hervorstechendsten neuen Eigenschaften sind zudem die Interaktivitat und die Multimedialitat dieser Medien, die (bewegtes) Bild, Ton und Text gleichzeitig verfugbar und vollständig manipulierbar machen. Somit fehlen theoretisch nur noch Tast- und Geruchs­sinn, um allen menschlichen Wahrnehmungsfäahigkeiten mediale Entsprechungen gegenuäberzustellen.

Entstehung neuer Medien und ihr Einfluss auf die Öffentlichkeit Allgemein wurde die Neuentstehung von Medien unter Ruäckgriff auf die Innovationsfor­schung in drei Phasen unterschieden: die Invention, in der „ein neues kulturel­les Werkzeug entdeckt oder erfunden wird“, die Innovation, „in der die Gesell­schaft die Neuerung annimmt oder verwirft“ und schließlich die Diffusion, „in der die Neuerung allgemein gebräuchlich wird“ (Stäber 2008: 150). Entsprechend sei aus dem Rechenknecht“ Computer dank vielfaältiger Innovationen und welt­weiter Vernetzung ein multimediales Instrument geworden, das sehr unterschied­lichen Kommunikations- und Informationsverarbeitungsbeduärfnissen entspricht (vgl. Stäber 2008: 151).

Diese Vorstellung ist allerdings dahingehend zu kritisieren, dass sowohl die Nutzer, die PC oder Internet in Alltag, Kultur und Gesellschaft integrieren, als auch die Technik als auch die sich im Laufe der Zeit verändernden Medienumge­bungen der Menschen es kaum zulassen, den Prozess der Verbreitung eines Medi­ums als Diffusionsprozess einer einheitlichen Innovation zu denken.“ (Krotz 2006: 287) Die Frage der Verbreitung und Nutzung neuer Medien ist dagegen wesentlich komplexer: die Menschen sind nicht als abstrakte Individuen oder Durchschnitts­wesen, sondern als handelnde Subjekte und Individuen in der Gesellschaft von der Einfuährung neuer Medien betroffen, und wie diese Betroffenheit dann aussieht, ist durch die äokonomischen, sozialen, kulturellen und Alltagsstrukturen und auch durch Machtverhaltnisse geprägt, in denen sie leben.“ (Krotz 2006: 293) Aussagen uber das tatsächliche Ausmaß und den Inhalt bzw. uber die Zusammenhänge der Nutzung der Neuen Medien muässen demnach grundsäatzlich vorsichtig bewertet werden, bis hierzu nicht umfassendere und belastbare empirische Daten vorliegen. Die juängste Revolution“ im Medienumfeld durch die massive Verbreitung von mobilen Endgeräten („Smartphones“, „Tablets“ etc.) macht diese Forschungsauf­gabe nicht gerade leichter.

Ohne sich also vor dem Hintergrund dieser Unwagbarkeiten allzu detailliert auf eine Interpretation der jungeren Entwicklungen festzulegen, kännen die immens gewachsenen Moglichkeiten fur (Teil-) Öffentlichkeiten, sich uber die neuen Medi­en mit Hilfe einfach zu bedienender „Social Software“ Anwendungen (Blogs, Pod­casts, Twitter, Facebook usw.) auszutauschen und zu organisieren, zweifellos als tiefer Einschnitt in die bisherigen Konstanten des Mediengeschehens betrachtet werden. Entsprechend fuhrte das aufkommende Internet auch zu weitreichenden Erwartungen „about a potential reconfiguration of public debates and, more spe- cifically, for a shift towards the idealized participatory model of the public sphe­re.“ (Gerhards/Schäfer 2010: 154 f., vgl. auch Dahlgren 2005) Diese Erwartungen gingen ganz wesentlich darauf zurück, dass die Knappheit an Verbreitungskapa­zität (durch die Begrenztheit der Trägermedien) nun kein großes Problem mehr ist.[6] „Themenöffentlichkeiten“, die ursprunglich als gruppenspezifisch spontane Treffen, organisierte äffentliche Tagungen oder ähnliche Diskussionsforen konzep- tualisiert wurden, konnten hierdurch eine massive Ausweitung erfahren.

Durch immer neu entstehende Plattformen, die aktuelle technische Entwicklun­gen unmittelbar aufgreifen und nutzen, sind mittlerweile frei skalierbare Diskurse uäber alle erdenklichen Themen gleichzeitig moäglich und verfuägbar. Die Sprecher kommunizieren auf diese Weise zunehmend (auch) an den Massenmedien vorbei, es bilden sich immer speziellere Arenen mit eigenen Zugangsbedingungen und etablierten Sprechern. Vorerst kann also festgehalten werden, dass es zumindest auf theoretischer Ebene starke Implikationen fur weitreichende qualitative und quantitative Veränderungen der äffentlichen Sphäre durch die Entwicklungen in der Medientechnik gibt.[7]

Zur Bedeutung der Neuen Medien Aktuell muss vor dem Hintergrund der umfassenden Mobilmachung“ des Medienkonsums durch Smartphones oder der Ausweitung von nutzergenerierter Bewegtbildkommunikation via „ YouTube“ (um nur zwei Beispiele zu nennen) erneut uber die Bedeutung der Medien für die Entwicklung der Öffentlichkeit nachgedacht werden. Auch die Intensität des Ein­flusses auf politische Entscheidungsprozesse ist alles andere als geklärt und bei weiterhin zunehmender Komplexität und Dynamisierung des Geschehens kaum greifbar zu machen. Methodisch fallt die Systematisierung von Öffentlichkeit im Internet deshalb schwer: die Medienangebote werden immer vielfäaltiger, schneller, fragmentierter und bedienen sich verschiedener Vermittlungsformen samt Verlin­kungen zu sozialen Netzwerken, Online-Enzyklopädien, Foren usw. (vgl. Katzen­bach 2008: 119). Zusätzlich liefert das traditionelle Verständnis von Journalismus, aus dem heraus die Kriterien zur methodischen Erfassung und Beurteilung von Meinungsaäußerungen abgeleitet wurden, im Falle des Internets nicht unbedingt adaäquate Ergebnisse, da es sich hier um ein gaänzlich anders strukturiertes Medi­um handelt (vgl. Neuberger 2008: 252 ff.).

Wie die Entwicklung die Prozesse (teil-) äffentlicher Willensbildung tatsächlich verändern, muss folglich theoretisch, empirisch und methodisch noch wesent­lich besser durchdrungen werden, ehe hierzu valide Aussagen gemacht werden konnen.[8] Kaum eine These kann als allgemein anerkannt gelten und die Diskus­sion um Modelle wie etwa jenes der „digitalen Spaltung“ (vgl. Rogg 2003: 145), das in der Verbreitung und Nutzung neuer Medien neben ihren Chancen auch die Gefahr einer Reproduktion sozialer Ungleichheiten unterstreicht, wird sich wohl fortsetzen (vgl. Krotz 2006: 277 ff.). Entsprechend gehen auch die Meinungen über positive oder negative Wirkungen von bestimmten Social Software-Anwendungen wie Blogs (vgl. Dernbach/Quandt 2009: 32) bzw. der „elektronischen Öffentlich­keit“ insgesamt (vgl. z. B. die Übersicht zu den theoretischen Positionen bei Jarren 2006: 114) auf die üffentliche Sphare weit auseinander.

Unstrittig ist zumindest, dass die Nutzungsdauer und -hüufigkeit der Neuen Medien weiter stetig zunimmt und selbst die Assimilation der digital immi- grants“ , also der Wenignutzer und Angelernten“ der Onlinewelt, deutlich schnel­ler vorangeschritten ist, als es noch vor wenigen Jahren möglich schien. Unstrittig ist darüber hinaus das außerordentliche Potenzial ebenso wie die sich abzeichnen­den Grenzen der neuen Kommunikationsformen bezuglich des Idealmodells einer partizipativen Öffentlichkeit (vgl. Lee 2006: 17). Als generelle Tendenzen im Zu­sammenhang mit der üffentlichkeitsrelevanten Nutzung der neuen Medien können schließlich festgehalten werden:

- Ausdifferenzierung, Entkoppelung und Desintegration von Teilöffentlichkeiten Die fortschreitende Individualisierung und Indivi- dualisierbarkeit von Kommunikations- und öffentlichkeitskontexten führt zu einem immer weniger verlüasslichen gemeinsamen Bestand allgemein bedeutsamer Themen. Dies bezieht sich jedoch weniger auf gesellschaftliche oder politische Großereignisse“ wie etwa Bundestagswahlen oder beson­ders alltagsrelevante Entscheidungen (z. B. Rauchverbot, Steuererhohungen usw.), fur die auch in Zukunft eine breite üffentliche Wahrnehmung un­terstellt werden kann. Der Blick auf diese Themen wird jedoch vermutlich stürker durch die Perspektive einer gewissen Teilüffentlichkeit und weniger durch ein homogenes Set an Meinungen aus allgemein sichtbaren Medien geprüagt sein.
- Verfögbarkeit des Meinungsangebotes Die quasi unbegrenzte Verbrei- tungskapazitaüt des Internets ruft im Zusammenhang mit der Vielfalt an technisch voraussetzungsarmen Web 2.0-Plattformen eine ungebremste Pro­duktion von Inhalten hervor, die die Verfugbarkeit des Meinungsangebotes in der üffentlichen Sphüre ganz deutlich erhüht. Öb daraus auch eine in­haltliche Verbreiterung des Angebotes resultiert, ist allerdings fraglich (vgl. z. B. Rüssler 2000: 170). Wie stark ein solcher Effekt auftreten kann, hangt in hohem Maße vom Einzelfall und davon ab, inwiefern die Müoglichkeiten gegenseitiger Referenzen genutzt werden, um bestehende Ansichten abzu­gleichen bzw. weiterzuentwickeln. Insofern die Nutzung von Social Software weiter zunimmt, kann aber grundsaützlich davon ausgegangen werden, dass sie auch zunehmend Funktionen der etablierten, homogenen Öffentlichkeit aus Presse, Hürfunk und Fernsehen übernehmen wird (vgl. Niedermaier 2008: 67).
- Spill-Over-Effekte Mit der zunehmenden Verbreitung von Social Software Anwendungen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Themen und Meinungen immer häufiger auch den „umgekehrten“ Weg, also ausgehend von Weblogs in die Massenmedien, gehen (vgl. Katzenbach 2008: 126). Allerdings bleibe es in diesem Zusammenhang bisher bei Beispielen mit „anekdotischem Cha­rakter“, die „keine Belege fur systematische oder kontinuierliche Auswir­kungen auf die Agenden der traditionellen Massenmedien liefern können.“ (Katzenbach 2008: 128)[9] Sich an diesem Punkt auf die bisher nachweisba­ren „Spill-Overs“ zu reduzieren erscheint gleichwohl verkurzend, denn bis­her gibt es keinen Grund anzunehmen, dass sich deren Anzahl verringern kännte, im Gegenteil. Die weltweiten Proteste, die durch den Kurznach­richtendienst „Twitter“ im Falle des Iran oder durch die Veröffentlichungen von Geheimakten zu Gräueltaten im Irak auf der „WikiLeaks“-Seite her­vorgerufen wurden, deuten jedenfalls auf einen bedeutenden Einfluss dieser Medien hin.

Wie ausgefuährt darf in der Konzeption gesicherter Zusammenhäange zwischen den Neuen Medien und den Elementen der „klassischen“ Öffentlichkeit eine aktuel­le Herausforderung erblickt werden. Die zunehmend crossmediale Verarbeitung von Inhalten, die bewusste Verschmelzung verschiedener Medienformen sowie die Teilnahme einer stetig wachsenden Zahl von Prosumenten“ am Mediengesche­hen laäuft aber offenbar auf synergetische Beziehungen hinaus, auf die eine binaäre Einteilung in klassische“ und neue“ Medien nicht mehr sinnvoll anzuwenden ist. Fur diese Untersuchung wird es nicht zuletzt interessant sein, ob sich im Me- diensample im Zeitverlauf die Hinweise auf die soeben dargestellten Dimensionen der neuen Medien widerspiegeln oder nicht.

2.2. Die mediale Informationsverarbeitung

Im Laufe der medienwissenschaftlichen Forschung haben sich diverse Autoren mit der Aufdeckung von Regelmäßigkeiten und der Aufklärung von Strukturbedin­gungen im Zusammenhang mit der Auswahl und Behandlung von Themen in den Medien beschäftigt. Dabei wurden eine ganze Reihe von eingespielten Routinen und Kriterien beschrieben, die fur die Medien handlungsleitend sind. Hierunter fallen etwa die Nachrichtenwerttheorie, „redaktionelle Linien“, bestimmte Quel­lenpräferenzen von Journalisten, der „Inter-Media-Agenda-Setting“-Ansatz, der Gatekeeper“-Ansatz, technologische Zwäange oder die Etablierung bestimmter Darstellungsformen (z. B. journalistische Texte als Narrativen zu präsentieren) (vgl. Schäfer 2007: 197). Auch die Bewertung der letztendlich erreichten Verarbei­tungsleistung bezogen auf normative Maßstäabe kam immer wieder in den Blick. Auch in der vorliegenden Untersuchung sollen Regelmäßigkeiten in der Bericht­erstattung zu ausgewaählten Themen aufgedeckt, erkläart und bewertet werden. Deshalb werden im folgenden theoretische Ansatze zur Erfassung verschiedener Aspekte der Verarbeitungsroutinen skizziert und fur den Untersuchungskontext aufbereitet.

2.2.1. Mediendiskurse

Die vorliegende Arbeit wird sich mit der Berichterstattung über wissenschaftli­che Themen beschäftigen, die als zeitverzogert reflektierende Manifestation der öffentlichen Auseinandersetzung über die Deutung und den Umgang mit wissen­schaftlichen Fortschritten verstanden wird. Die Reflexion medienwissenschaftli­cher Theorie legt es nahe, sie zudem als eigendynamisches Phanomen zu betrach­ten, dass durch eigene Muster und auf der Basis eigener Maximen Sinndeutungen produziert und veröndert. Mit diesem Fokus soll sich nun den speziellen Eigen­schaften medialer Diskurse zugewendet werden.

Allgemeines zu Diskursen Die Beschöftigung mit dem Phönomen „Diskurs“ kann viel Raum einnehmen und je nach Betrachtungsweise vielföltige Dimensio­nen und Aspekte umfassen (vgl. z. B. Keller 2008: 99 ff.). Als klassische Vertrerter von Diskurstheorien können etwa Habermas (vgl. Abschnitt 2.1.2) oder Lyotard gelten. Diese und weitere Autoren haben jeweils bestimmte Aspekte in die Cha­rakterisierung von Diskursen eingebracht und hervorgehoben:

- Wirklichkeitsproduktion Ein konstituierendes Element von Diskursen ist, dass sie sich wesentlich durch den Sprachgebrauch manifestieren, also durch eine „Prozessierung von Bedeutung“. (Keller 2007: 28) Eine solche Verarbeitung von Bedeutung findet als sozialer Prozess statt (in dem sich die Teilnehmer austauschen), ist aber zugleich auch durch gesellschaftliche Voraussetzungen selbst sozial strukturiert: „Diskurse konstituieren Welt, und sie werden umgekehrt durch sie konstituiert“.[10] (ebd.) Diskurse be­stehen also - kurz gesagt - nicht nur aus den eigentlichen Diskussionen“, sondern zeichnen sich zusötzlich fur die Erzeugung und die wechselseitige Strukturierung einer Realitaöt verantwortlich.
- Wiederholung Diskurse sind durch Anschlusskommunikationen miteinan­der verknupft, die auf eine gemeinsame Menge sich wiederholender Schlag­worte, Denkfiguren und Themensammlungen Bezug nehmen. Die stetige Wiederholung dieser diskursiven Versatzstucke bewirkt eine zunehmende Festigung eingespielter“ Positionen, sodass es immer schwieriger wird, sich mit völlig neuen oder widersprechenden Positionen öffentlich Gehör zu ver­schaffen: „Auch Argumente, Inhalte, Bauformen etc. ’wirken’ durch stöndi- ge Rekurrenz und tragen so mit dazu bei, Bewusstsein zu formieren, Wis­sen aufzubauen und zu verfestigen und damit Machtwirkungen auszuuben.“ (Jöger 2007: 33) Zumeist werden neue Positionen einfach bereits vorhande­nen mehr oder weniger gerechtfertigt zugeschrieben.
- Wechselspiel Diskurse konnen als ein „Wechselspiel von Außerung und Ge- genöußerung, von Meinung und Gegenmeinung, oder [...] von Deutung und Gegendeutung“ beschrieben werden (Wessler 1999: 39). Dieses Wechselspiel ergibt sich daraus, dass Positionen in öoffentlichen Arenen nur ein begrenz­tes Maß an Komplexitöt aufweisen durfen, wenn sie sich durchsetzen sollen.
Diskurse neigen deshalb zur Reduktion von Problemdimensionen und da­mit zur Bipolarität („dafür“ oder „dagegen“), die von Medienproduzenten zur Steigerung der Rezeptionswahrscheinlichkeit ihrer Inhalte verfolgt wird (vgl. Schwender 2006: 145).
- Erzählungen und Episoden Aus der prozessualen Perspektive bietet es sich bei der Betrachtung von Diskursverlaufen an, auf einen Begriff aus der Erzähltheorie zuräckzugreifen: „Die Abschnitte medienäffentlicher Diskurse sind Episoden, abgeschlossene Handlungsschritte in einem gräßeren Erzähl­zusammenhang.“ (Wessler 1999: 43) (vgl. auch Abschnitt 2.1.2, Seite 2.1.2) Der Erzaählzusammenhang wird von kleinen“, mittleren“ und großen“ Erzählungen (Meta-Erzählungen wie etwa „Aufklarung“ oder „marxisti­sches Denken“) zusammengehalten, wobei letztere „in eine Krise geraten“ und an ihre Stelle konkurrierende, widerspruächliche, nicht ineinander uäber- setzbare Sprachspiele einer zersplitterten Situation“ getreten sind (vgl. Jäger 2008: 347, Keller 2007: 89). Diese werden wiederum anlassbezogen und uber einen roten Faden zu einer „Story“ mit typischen personellen und dramaturgischen Elementen zusammengefuhrt.
- Praktiken und Handlungsorientierung Im Zusammenhang mit Diskur­sen käonnen drei typisierte Routinemodelle fuär Handlungsvollzuäge“ (Prak­tiken) unterschieden werden (Keller 2007: 255 f.): Erstens (1) Praktiken zur Diskurs(re)produktion, die zur Regulierung des legitimen Sprachge­brauchs sowie der Bedeutungszuweisung fuähren und sich daruäber hinaus auch in symbolisch aufgeladenen Handlungsweisen aäußern koännen (vgl. den „Machtaspekt“ in dieser Auflistung). Zweitens (2) diskursgenerierte Mo­dellpraktiken, d. h. Handlungsanweisungen, wie mit bestimmten diskur­sexternen Praxisfeldern umzugehen ist. Diese Praxisfelder käonnen selbst Kommunikationsprozesse sein oder aus nicht-sprachlichen Handlungen be­stehen. Drittens (3) diskursexterne Praktiken, also alltägliche, tradierte und/oder routinisierte Handlungen wie gehen, kochen, klatschen, aber auch das Führen von Tischgesprächen oder etwa bestimmte Formen des Strafens und Überwachens.

Wie bereits angedeutet handelt es sich bei diesen Eigenschaften von Diskursen lediglich um jene, die in den meisten Betrachtungen zum Phanomen behandelt werden und insofern als wichtigste“ Merkmale gelten koännen. Skizzenhaft kann fur den hier verfolgten Zweck festgehalten werden, dass Diskurse gesellschaftli­che „Orientierungsmaßnahmen“ darstellen, die sich symbolisch und wesentlich äber das Medium Sprache realisieren und in denen sich die Positionen verschie­dener Interessenträger und Akteure wiederfinden. Der episodische Verlauf des Diskurses wird vom Wandel der beteiligten gesellschaftlichen Formationen, den sich ändernden Realitäten bezuglich des thematisierten Gegenstandes sowie durch die (selbstreferentielle) Logik und Dynamik des Diskurses bestimmt (Diskurs als „Realität sui generis“). Daruber hinaus liefert er konkrete Handlungsanweisungen und Ümgangsformen fur die durch ihn behandelten Problemstellungen. Der Dis­kurs endet nicht notwendig, sobald die thematisierten Probleme als solche nicht mehr bestehen, sie koännen vielmehr immer wieder z. B. in Form von Ruäckblenden oder Analogiebildungen in neue Diskurse Eingang finden und diese beeinflussen.

Diskurse in dieser Untersuchung: Mediendiskurse Angesichts der Komple­xität und Vielschichtigkeit von Diskursen nimmt die vorliegende Arbeit für die empirische Analyse eine Eingrenzung vor, die sich als „materieller Fokus“ be­schreiben lasst. Wie gesehen gehären zu einer ganzheitlichen Betrachtung öffent­licher Diskurse neben den eigentlichen Inhalten in den „Dokumenten“ auch Analy­sen der sozialen Akteure sowie der diversen Formen von Praktiken (vgl. diese und weitere Dimensionen bei Keller 2007: 250 ff.). Aus diesen ergeben sich Machtkon­stellationen, Interessenskonflikte und „definitorische Kampfe“ um die Interpreta­tionshoheit äber ein Problem, die auf die „institutionelle Resonanz von Themen“ zuräckwirken (vgl. Behnke 2006: 109 f.). Aus den systematischen Abhangigkei- ten zwischen diesen Elementen eines Diskurses muss nun ein Rahmen gewäahlt werden, der ebenso uberschaubar wie fur spezifische Aspekte des Phanomens aussagekräftig ist. Dieser Rahmen umfasst:

- Die konkreten Materialisierungen eines Diskurses, also jene sprachliche Außerungen, die in publizierter Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und eine besondere Chance auf breite Rezeption haben.
- Die innere und inhaltliche Dynamik eines Diskurses, die sich anhand der sprachlichen Materialisierungen nachweisen lässt. Behandelt werden hier insbesondere die Aspekte Wiederholung“ und Erzaählungen und Episo­den“ (vgl. der vorangegangene Paragraph).
- Die Orientierungsleistung eines Diskurses, die sich anhand von Kriterien deliberativer Performance bestimmen lasst (vgl. Abschnitt 2.2.3). Damit ist die Tatsache angesprochen, dass sich die Gesellschaft bei der Einschätzung und Läsung von Problemen nicht zuletzt auf die Verlaufe äffentlicher De­batten und die Berichterstattung hierzu beruft.

Anhand dieses Rahmens wird deutlich, dass mäogliche implizite und versteck­te Deutungen in Diskursen vor den konkreten Materialisierungen zuruäcktreten müssen: Im Kern steht der Text, d.h. im Sinne Faircloughs „die in einem diskur­siven Ereignis produzierte, geschriebene oder gesprochene Sprache“, die „im Hin­blick auf ihren Produktions- und Rezeptionsprozess und dessen Kontexteinbet­tung, auf Form, Bedeutung, strategischen Sprachgebrauch, Vokabular usw. analy­siert“ werden kann (Keller 2007: 29). Auf dieser Grundlage kann sich jener Wahr­nehmung von Mediendiskursen“ angeschlossen werden, wonach diese eine Men­ge von inhaltlich zusammengehorenden Texten oder Außerungen“ bezeichnen, die „ein intertextuelles Gespräch in einer Kommunikationsgemeinschaft bilden. Die Aä ußerungen des Diskurses konstituieren und differenzieren gemeinsam ein globa­les Thema und sind verknäpft durch thematische und begriffliche Beziehungen, durch gemeinsame Werthaltungen oder andere Formen der Reformulierung. “[11] (Perlina 2008: 75) Der festgelegte Rahmen definiert daruber hinaus eine weite­re Einschränkung, die mit dem klassischen Diskursbegriff selbst zusammenhängt. Dieser erfasst namlich nur einen Ausschnitt der äffentlich zugänglichen Kommuni­kation, indem er einen mehr oder weniger explizit politisch-argumentativen Fokus setzt. Daruber hinaus kännen aber „diverse nicht-diskursive Sprachformen, etwa[11] reine Nachrichten oder Typen der fiktionalen, fantasiebetonten, spielerischen Un­terhaltung und Kultur“ einen großen Anteil an der öffentlichen Meinungsbildung und damit am Diskursverlauf haben (Peters/Habermas/Wessler/Wingert 2007: 204). Bei Neidhardt finden sich zudem noch zwei weitere öffentliche Kommuni­kationsmuster, nömlich die „Verlautbarung“, die ohne Dialog lediglich kundtut, und die „Agitation“, in der zwar auf andere Sprecher reagiert wird, jedoch ohne Verstöndigungsabsicht (vgl. Wimmer 2007: 121). Reale Diskursbeitrage unter­liegen dagegen starken Qualitötsschwankungen, nehmen unterschiedliche Gestal­ten an und muössen sich unter Umstaönden diversen Restriktionen beugen (Pe­ters/Habermas/Wessler/Wingert 2007: 204).

Genau genommen handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit also um eine zunaöchst isolierte Untersuchung des Diskurses“ ausgewöahlter deutschsprachiger Medien, in deren Darstellungen sich Verweise auf externe Ereignisse, Institutio­nen und Interpretationen sowie Verweise aufeinander und auf sich selbst wie­derfinden. Es muss im Bewusstsein bleiben, dass es sich hierbei nur um einen kleinen, zeitlich auf den Raum zwischen 1993 und 2009 begrenzten Ausschnitt aus allen eventuell relevanten direkten und indirekten Diskursbeitrögen handelt. Gleichzeitig kann durch die Abbildung besonders relevanter Medien, nömlich von Qualitötsmedien (vgl. Abschnitt 6.2), von einem signifikanten Einfluss auf den Ge­samtdiskurs ausgegangen werden. Dies gilt umso mehr, als der zugrundeliegende Untersuchungszeitraum erst in seiner Endphase die starken medialen Diversi­fizierungsentwicklungen umfasst, die durch die Ausbreitung der Online-Medien noch einmal massiv an Fahrt gewonnen haben. Das einzelne Medienprodukt - auch in den Qualitaötsmedien - hat heute eine deutlich geringere Sichtbarkeit und damit Relevanz fur den Gesamtdiskurs, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Der Untersuchungszeitraum kann insofern in dieser Hinsicht noch als dankbar“ betrachtet werden. Gleichzeitig soll aber durch die Untersuchung auch gezeigt werden, dass zur Beantwortung bestimmter Fragen ein Instrumentarium erstellbar ist, das auch auf komplexe Diskurse angewendet werden kann (vgl. zur Evaluation ausfuhrlich Abschnitt 12).

2.2.2. Die mediale Selbstreferenz

Die öffentliche Kommunikation in den Medien wird in der Offentlichkeitstheorie gemeinhin als selbstreferentieller Bezugspunkt einer Gesellschaft betrachtet, der zur Selbstverortung und -vergegenwörtigung dient (vgl. etwa Saxer 2006: 30, Im­hof/Blum/Bonfadelli 2006: 2). In Abgrenzung zur einfach gerichteten „Referenz“ auf eine öffentliche Meinung wirkt die Selbstreferenz in einem interdependenten Prozess auf den Referenten dergestalt zuruöck, dass dieser seine Haltung zum Ge­genstand in der „Diskussion“ mit diesem stetig weiter entwickeln kann (wenn auch eine gefestigte Haltung in den meisten Föallen eher zur selektiven Aufnahme hauptsöchlich bestötigender Aspekte fuhrt). Zusatzlich verkompliziert wird dieser Prozess „durch seine Reflexivitöt, d.h. den Umstand, dass er sich auf sich selbst beziehen kann“ und „Meinungen über Meinungen kursieren.“ (Saxer 2006: 30) Angesichts dieser Komplexitaöt ist es wenig verwunderlich, dass Kommunikation in Diskursen wie auch Kommunikation im allgemeinen einer gewissen Gefahr der Verselbststandigung unterliegt (vgl. Rottger 2006: 10).

An dieser Stelle geht es nun darum das Phänomen der Selbstreferenz auch in der Vielfalt der Medienprodukte und -inhalte aufzuspüren. Diese Form der Re­ferenz verzeichnet (nicht erst seit der Digitalisierung der Medienangebote) ein stetiges Wachstum (vgl. Nöth 2007: 3) und wurde bereits von verschiedenen Au­toren als Plausibilitötsargument zur Erklörung von Diskussionsdynamiken in der Öffentlichkeit herangezogen (vgl. z. B. Burkhardt 2006: 346, Debatin 2004: 98 f., Bonfadelli/Imhof/Blum/Jarren 2008: 12 oder die lönderöbergreifende „Claim­Analyse“ bei Vetters 2008). Es scheint evident zu sein, dass bestimmte Themen, die von einer Publikation aufgegriffen und erfolgreich platziert werden, in ihrer medialen Bedeutung exponentiell wachsen können, wenn andere Publikationen „auf den Zug aufspringen“ und ebenfalls etwas zu dem Thema veröffentlichen. Zu unterscheiden ist hierbei allerdings zwischen jenen Ereignissen, die von einem bestimmten Publikationstypus quasi behandelt werden „mussen“ (etwa größe­re Wahlen von politischen Magazinen) und jenen, die in der Tat von einer be­stimmten Publikation erst aufgedeckt und ins Gespröch gebracht wurden. Die Ubergönge können hier jedoch fließend sein, insbesondere, wenn es um „Wieder­aufnahmen“ von Aspekten (unterschwellig) allgegenwörtiger Metathemen geht (z. B. im Kontext „Arbeitslosigkeit“, „Umweltschutz“ usw.). Zusötzlich unterlie­gen die internen und externeren Referenzen der Publikationen einer stöandigen Redaktion, sodass diese nach wiederholten Reformulierungen und Rekontextua- lisierungen nach jeder Iteration schwerer wiederzuerkennen sind. Schließlich sind Referenzen auch noch „evidently a matter of degree“ (Nöth 2007: 13), d. h. durch­aus auch mal nur implizit oder graduell gegeben. Die mediale Selbstreferenz“ kann sich auch eher implizit zu erkennen geben, was sie für eine auf sprachliche Reprösentationen basierende Analyse schwerer erkennbar macht. Es wird ein Ge­genstand der Strukturanalysen des Analyseteils (vgl. Abschnitt 10) sein, mediale Selbstreferenzen aufzudecken und sichtbar zu machen.

Der Inter-Media-Agenda-Setting-Ansatz

Der Inter-Media-Agenda-Setting-Ansatz beschaöftigt sich mit der Frage, ob und wie sich die Medien in ihrer Berichterstattung wechselseitig beeinflussen“ (vgl. Jarren 2006: 187). Zur Beantwortung dieser Frage werden „Medienmei- nungsfuhrer“ („Vorreiter“) sowie „Mitlöufer“ und „Nachzugler“ bezöglich eines Themas identifiziert und in ihren wechselseitigen Beziehungen untersucht (ebd.). Als relevante Akteure potenzieller Meinungsfuöhrerschaft werden im Allgemei­nen Prestigemedien, wichtige Politikredaktionen und besonders relevante einzel­ne Journalisten ( Publizisten“) betrachtet, die die oöffentliche Agenda maßgeblich beeinflussen köonnen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Prestige- oder „Qualitötsmedien“, die sich zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Diskurse her­vorragend anbieten, erfolgt im Abschnitt 6.2. Das diese (wie auch gut sichtbare Alternativmedien) ihre Themensetzungen und Interpretationen immer wieder er­folgreich im Mediengeschehen durchsetzen und platzieren können, wurde bereits wiederholt gezeigt (vgl. z. B. Gerhards/Schafer 2006: 74, Schöfer 2007: 85, Wilke 2009: 40 und andere). Öb sich diese gut bestatigte Theorie halten kann muss aller­dings vor dem Hintergrund der Wandlungen im Medienumfeld immer wieder neu uberpruft werden (vgl. Abschnitt 2.1.3). In jungerer Zeit wurden aber auch Un­terhaltungsangebote als Thematisierungsinstanzen genannt, die durch ihre Art der Politikvermittlung die Agenda der politischen Medien beeinflussen“, weshalb dem ,,top-down Modell (Elitemedien setzen die Agenda fur Populärmedien) und dem bottom-up Modell (regionale Medien geben die Agenda der nationalen Me­dien vor; spill-over Effekt)“ cross-over Effekte zur Seite gestellt werden sollten, um „vertikale“ Agenda-Setting Prozesse (namlich jene zwischen verschiedenen Medienformaten) einzufangen (vgl. Schwer/Brosius 2008: 206). Grundsätzlich ist der publizistische Einfluss zwischen den Medien allerdings auch an zahlreiche Voraussetzungen geknupft, etwa an Nachrichtenfaktoren oder die Blattlinie der fraglichen Medien (vgl. Wimmer 2007: 249). Als wesentliche Eigenschaften der Inter-Media-Agenda-Beeinflussung werden genannt:

- Selbstreferenz: Die Eigenbezäglichkeit im Mediensystem nimmt durch das gegenseitige Beobachten auf Kosten des Realitätsbezugs ab. „Eingehendes Rohmaterial“ wird deshalb im Extremfall von einer „entfremdeten Elite“ zu einer medialen Wirklichkeit mit eigener Qualität geformt (vgl. Jarren 2006: 189).
- Leit- oder Qualitätsmedien kommt eine besondere Funktion beim Be­obachten und interagieren der Medien und bei der Selektion von Themen, zu (vgl. Abschnitt 6.2).

Nach der Behandlung von wechselseitigen Referenzen im uäbergeordneten Me­dienkontext als Inter-Media-Agenda-Setting wird im folgenden Abschnitt nun besondere Aufmerksamkeit auf die Dynamik der Beeinflussung von Diskursen untereinander gelegt.

(Selbst-)Referenzen in Diskursen

Im Zusammenhang mit Mediendiskursen können verschiedene inhaltliche Refe­renzformen unterschieden werden, die benutzt werden, um Themen aufzugreifen und/oder miteinander zu assoziieren:

Aufgreifen von Themen Für die Medien ist es von Vorteil, mehr oder weniger neue Aspekte von schon Dagewesenem zu thematisieren, da in diesem Fall die Rezipienten den Gegenstand schon kennen, was die Anschlusskommunikation er­leichtert. Eine solche Wiederaufnahme“ weckt zudem Interesse an einer neuen Wendung der „Geschichte“. Grundsätzlich spielt es dabei zunächst keine Rolle, durch wen das Thema urspriinglich induziert wurde. In der Tat gibt es immer wieder auch Themen, die nur von einer einzelnen Publikation ganz besonders fo­kussiert werden, ohne dass sie ihren Weg in die „allgemeine“ Agenda finden. Die Regel ist allerdings, dass Massenmedien zur gegenseitigen Beobachtung neigen, was einem zirkularen Prozess bei der Nachrichtengestaltung Vorschub leistet (vgl. Rässler 2000: 177). Aus dieser „themendynamischen“ Perspektive heraus ergeben sich grundsäatzlich vier Moäglichkeiten, wie sich die Berichterstattung von zwei Medienangeboten zueinander verhalten kann (vgl. Rässler 2000: 175):[12]

Redaktion, aus Eigenrecherchen ohne besonderen Anlass, aus Exklusivver­einbarungen mit Informanten oder aus voneinander abweichenden Selekti­onskriterien resultieren.

2. Zeitgleiche Publikation: Ein Thema wird zum selben Zeitpunkt (in der­selben „Ausgabe“) auf der Basis ahnlicher Selektionskriterien, einheitlich vorliegenden Ausgangsmaterials (etwa Agenturberichte) und/oder durch die von beiden berücksichtigten Genuin- oder Pseudo-Ereignissen in beiden An­geboten behandelt.
3. Themenführerschaft: Ein gegebenes Thema wird zuerst von dem einen Angebot behandelt, und von dem anderen Angebot in einer zeitlich nachfol­genden „Ausgabe“ aufgegriffen. Oftmals tritt ein anerkanntes Leitmedium als Meinungs- oder Themenfuhrer auf, wührend das zweite Angebot mehr oder weniger gleichlautend folgt.
4. Ignoranz: Ein gegebenes Thema wird von keinem der beiden Angebote aufgegriffen und erscheint damit uüberhaupt nicht auf der Medienagenda, bleibt also von den Wirklichkeitsentwürfen dieser Medien ausgeschlossen.

Selbstverstandlich gelten diese Varianten des Zueinanderstehens zweier Medien­angebote auch fuür beliebig viele Medien, wobei eine exklusive Behandlung durch nur ein Medium mit zunehmender Anzahl der betrachteten Medien unwahrschein­licher wird. Der Regelfall ist hingegen, dass neue und alte Themen zwischen den Medien umfassend weitergereicht, weiterentwickelt, dramatisiert, relativiert usw. werden. Intertextualitüt kann daher als eine notwendige Bedingung eines Dis­kurses betrachtet werden (vgl. auch die Definition von „Diskurs“ im Abschnitt 2.2.1).

Etablieren und aufgreifen von Schlagwörtern Um in einem Text unmittelbar an einen bestimmten Diskurs anzuschließen und ggf. gleichzeitig eine bestimm­te Position und/oder Argumentationsrichtung zu transportieren, werden haüufig Schlagwürter eingesetzt. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen „geprägten“ Be­griffen, also solchen, die in bestimmten Kontexten wiederholt verwendet wur­den und werden und eine entsprechend hinterlegte Assoziation aufweisen und den politischen Schlagwortes, die intentional und bewusst verwendet werden, um eine bestimmte Funktion zu erfullen. Eine einheitliche linguistische Definition des Schlagwortes“ ist bisher allerdings nicht gelungen, insbesondere politischen Schlagworten wurden jedoch die Eigenschaften „aktuell“, „parteiisch“ und ,,ap- pellativ“ zugeschrieben (vgl. Hermanns 2007: 472). Hiervon ausgehend kann spe­zifiziert werden (ebd.):

1. Schlagwürter sind Appelle Es handelt sich um Fahnenwörter (Kampf­begriffe, die Gruppenidentitat stiften) oder Stigmawürter: Sie besitzen ko­gnitive und emotive Bedeutungsanteile.
2. Gebrauch Schlagwürter werden vorzugsweise in politischen Kontexten be­nutzt.
3. Schlagwörter sind Wörter oder Wortkombinationen Sie können aus einzelnen Wörtern, Satzbausteinen oder selbststöndigen Sätzen (auch Personen-, Marken- oder Parteinamen) gebildet werden.
4. Wiederholung Die stöndige Wiederholung ist Voraussetzung ihres Erfol­ges und ihrer Wirkung.
5. Körze Lange Begriffe und Begriffsketten eignen sich nicht als Schlagwort.
6. Einprögsamkeit Der Wiedererkennungseffekt ergibt sich aus einer einfa­chen Form und einer unmittelbar eingöngigen („kondensierten“) Bedeutung.

Ohne an dieser Stelle auf die wissenschaftliche Erkenntnisse uber Funktion und Gebrauch von Schlagwörtern im Detail einzugehen, können diese als wichtige An­kerpunkte der Artikelauswahl seitens der Rezipienten sowie als Impulsgeber di­verser Assoziationen gelten. Burkhardt geht sogar davon aus, dass politische Aus­einandersetzungen „in erster Linie auf der Grundlage zentraler [Schlag-]Wörter ausgetragen“ werden (Burkhardt 1998: 100).

Assoziation von Themen durch Verschränkung von Diskurssträngen Zusötz- lich zur Referenz der Medien untereinander kommt es im Mediendiskurs auch zur Verschrönkung von Diskurs strängen, die sich an bestimmten Stellen uberschnei­den und uöberlagern. Ein Beispiel hierfuör ist der Frauendiskurs und der Einwande­rungsdiskurs, weil beide durch die öffentliche Auseinandersetzung über das Tra­gen von Kopftöchern miteinander assoziiert sind (vgl. Jöger 2007: 110).[13] Daröber hinaus geht es in dem Diskurs um das grundsatzliche Verhöltnis von Kultur und Religion, was der Debatte eine zusaötzliche emotionale Dimension verleiht und der öffentlichen Auseinandersetzungen eine entsprechend hohe Dynamik gibt (vgl. Jöger 2007: 102). Bezogen auf Medientexte liegen Diskursstrangverschränkungen vor, wenn in einem Text „Diskursfragmente“ aus unterschiedlichen Diskursen enthalten sind, d. h. entweder klar verschiedene Themen angesprochen oder von einem Hauptthema ausgehend Bezöge zu anderen Themen vorgenommen werden (vgl. Jöger 2007: 29). Die Wahrscheinlichkeit von Diskursstrangverschränkungen erhöht sich mit der Lönge eines Textes und natörlich der Dauer des jeweiligen Diskurses.

2.2.3. Die Medien als Lieferant von Orientierungswissen

Massenmedien tendieren dazu, einfache Gegensatze zu konstruieren: die „massen­mediale Stereotypisierung von Konflikten“ lauft „in der Regel darauf hinaus, daß [Nachrichten] durch eine zweiseitige Berichterstattung auf einfache Pro-/Contra- Strukturen reduziert werden.“ (Wessler 1999: 75, vgl. auch Höussler 2006: 311). Dies haöngt auch mit der eher geringen und keineswegs systematischen Bereitschaft des Publikums zusammen, vor dem Hintergrund der immensen Informationsfuölle „auch noch“ neues Wissen aufzunehmen (vgl. Kubler 2010: 313). Medienprodukte dürfen also nicht zu kompliziert sein und sollten idealerweise Anschlüsse an beste­hende Themen und Positionen ermöglichen, was eine Dominanz weniger und klar zuordenbarer Argumente und Denkfiguren begunstigt. Inwieweit diese Pröferenz auf die fortlaufende Debatte und ihre Meinungsaußerungen zuriickwirkt ist war nicht genau anzugeben. „Mehrere Indizien sprechen jedoch daför, daß die Medien einen strukturierenden Effekt im Sinne einer Vereinfachung der Konfliktstruktur ausöben.“ (Wessler 1999: 224)

Die Vereinfachung von Konfliktstrukturen erleichtert bereits die Selbstpositio­nierung eines Rezipienten. Zudem fördert sie den Drang zu klaren Aussagen öber einen Gegenstand zu kommen, was zur kritischen Recherche und einer gewissen Beharrlichkeit bei der Aufdeckung von sensiblen Informationen beitrögt. Dies ist eine der zentralen (wenn nicht die zentrale) Aufgabe des Journalismus als „vierte Gewalt“ (vgl. Lessmöllmann 2009: 140) und unterstötzt die Identifikati­on richtiger“ Entscheidungsoptionen. Spöatestens an dieser Stelle wird klar, was verschiedene Autoren aus verschiedenen Perspektiven behandelt haben: Medien ubernehmen im Alltag wie auch auf höherer Ebene ständig Orientierungsfunktio­nen (vgl. z. B. Trepte/Reinecke/Bruns 2008: 579, Scherer/Tiele 2008: 110 oder Jarren 2006: 98) und die Omnipräsenz elektronischer Medien hat diesen Umstand vermutlich weiter verstörkt (vgl. Krotz 2007: 115, Hepp 2008: 133). Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, „dass (Öffentlichkeit uber eine ungleich starke Ei­gendynamik verfugt“ und als „unuberschaubares Konkurrenzsystem“, das sich durch zunehmende Sprunghaftigkeit und Instabilitaöt“ auszeichnet, seine Orien­tierungsaufgaben eventuell immer weniger allgemeinguöltig und konsistent erfuöllen kann (vgl. Wimmer 2007: 124).

Uö ber die Orientierungsfunktion hinaus werden den Medien wie angedeutet noch diverse andere Funktionen zugeschrieben. In seiner Darstellung speziell bezuglich des „Risikojournalismus“ nennt etwa Görke neben seiner Orientierungs- und Kri­tikfunktion zusötzlich Funktionen im Zusammenhang mit der Thematisierung von Risiken, der Warnung vor Gefahren, der Prognose von kunftigen Entwicklun­gen (vgl. Abschnitt 3.2) sowie ihre generelle Bedeutung för die Demokratie (vgl. Görke 1999: 156 ff.).

[...]


[1] Der Begriff besitzt außerdem Relevanz in anderen Disziplinen, etwa politikwissenschaftlichen, sozialpsychologischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen.

[2] Der Elastizität ihrer Grundbegriffe verdankt es die Systemtheorie allerdings, dass verschie­dene der ihr nahe stehenden Autoren bei der Auslegung der Funktion(en) der Offentlich- keit zu mehr oder weniger stark abweichenden Schlussfolgerungen gelangt sind. Genannt wurden neben der Selbst- bzw. Interdependenzbeobachtung etwa Informationsselektion und -Vermittlung, Vermittlung zwischen politischem System und Bürgern, ,, systemubergreifende Beobachtung von Ereignissen zur Ausbildung teilsystemischer Umwelterwartungen“ oder die „Integration gesellschaftlicher Teilsysteme durch gesellschaftliche Synchronisation“ (Wim­mer 2007: 100).

[3] Der Fokus auf eineindeutige Systemgrenzen (vgl. Hepp 2006b: 165), die Reduktion der Ana­lyse von (Öffentlichkeit auf das Phanomen des Journalismus sowie die lediglich implizite Thematisierung der zweifellos wirkmachtigen Dimensionen ,, Akteur“ und „sozialer Kontext“ wurden als weitere Schwachen genannt (vgl. Wimmer 2007: 105 f.).

[4] Es werden drei Akteursgruppen unterschieden: Medien, Publikum und Sprecher (vgl. Neid­hardt 1994b: 8 ff.). So gilt etwa zwischen Politikern und Journalisten auf der Vorderbuhne die „ normative Grunderwartung nach Distanz und formalisierten Beziehungen, während auf der Hinterbähne Absprachen stattfinden, man sich auch persönlich kennt und schätzt und vielerlei Geschäfte miteinander tätigt.“ (Jarren 2006: 325)

[5] Allein für den Versuch, „Neue Medien“ im Zusammenhang mit der Informationstechno­logie zu beschreiben, wurden acht verschiedene Lesarten des Konzepts identifiziert (vgl. Rusch/Schanze/Schwering 2007: 346).

[6] Durch den sprunghaften Anstieg von Informationsproduzenten verschob sich der Fokus dafür auf die „Knappheit an Aufmerksamkeit und Urteilsvermügen auf Seiten der Rezipienten.“ (Katzenbach 2008: 118)

[7] Präzisierende und weitergehende empirische Betrachtungen zur Nutzung und insbesondere zu müglichen Substitutionseffekten neuer Mediengattungen finden sich im Abschnitt 6.1.

[8] Zu untersuchen waren neben den genannten Formen zusatzlich noch das sogenannte „de­ep web“ (vgl. Losem 2008: 53), also jene Medienangebote, die sich hinter Log-ins und in Intranets verbergen. Dieser in seiner Große kaum zu überschatzende Teil des Internets (ver­mutlich 400 bis 550 mal so groß wie das ,,visible web“) ist durch Zugangsbeschränkungen für Suchmaschinen und einen freien Zugriff nicht erreichbar, beinhaltet aber potenziell immense Mengen an Diskussionen und Meinungsaußerungen. Es ist schlechterdings unmöglich eine Aussage zu treffen, ob und in welchem Ausmaß im „deep web“ auch politische Diskussionen stattfinden.

[9] Ahnlich kritisch sieht es Wimmer (vgl. Wimmer 2007: 142).

[10] An dieser Stelle klingt bereits das (selbst-) referentielle Moment in Diskursen an, das im Abschnitt 2.2.2 näher behandelt wird.

[11] Vgl. auch HartigPerschke (2009: 237) sowie Wengeler (2003: 74)

[12] Exklusivität: Ein gegebenes Thema wird innerhalb eines bestimmten Zeit­raums nur von einem der Angebote behandelt, vom anderen nicht. Exklu­sive Themen kännen beispielsweise aus dem investigativen Vorgehen einer

[13] Als weitere Beispiele nennt Jager etwa die oftmals in rechtskonservativer Absicht verschränk­ten Diskurse „nationale Identitat“ und „Einwanderung“ oder den „Moral-“ und „Gesund­heitsdiskurs“, die beim Thema Gentechnik aufeinandertreffen (vgl. Jäger 2007).

Ende der Leseprobe aus 221 Seiten

Details

Titel
Strukturen wissenschaftlicher Berichterstattung
Untertitel
Zur Konstruktion und Anwendung skalierbarer Diskursanalyseverfahren an den Beispielen Internet, Klimawandel und Gentechnik
Hochschule
Universität Mannheim  (Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft)
Note
Magna cum laude
Autor
Jahr
2015
Seiten
221
Katalognummer
V315126
ISBN (eBook)
9783668140370
ISBN (Buch)
9783668140387
Dateigröße
6725 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Interdisziplinäre Arbeit: Kommunikationswissenschaft, Computerlinguistik und Netzwerkforschung.
Schlagworte
Medien, Wissenschaftlicher Fortschritt, Computerlinguistik, Netzwerkforschung, Automatische Inhaltsanalyse, Gephi, Mediendiskurse
Arbeit zitieren
Dr. Christof Niemann-Mall (Autor:in), 2015, Strukturen wissenschaftlicher Berichterstattung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/315126

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