Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels
2.1. Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels
2.2 Die Dramentheorie Lessings
2.3. Definition des Begriffs ‚Bürgerlich‘
2.4 Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels
3. Lessings Emilia Galotti
3.1. Der Ständekonflikt: ‚Bürgerlich‘ versus ‚Adlig‘
3.2. Der Ständekonflikt anhand der Figurenkonstellation
3.2. Der Ständekonflikt anhand der Handlungsorte
4. Goethes Clavigo
4.1. Die Figurenkonstellationen im Vergleich zu Emilia Galotti
4.2. Clavigo und dessen innerer Konflikt
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Lessings Emilia Galotti gilt als der Prototyp des bürgerlichen Trauerspiels. Inwieweit aber das Schema des Trauerspiels zum besseren Verständnis auch auf Goethes Clavigo anzuwenden ist, soll im Folgenden erörtert werden. Dazu soll zunächst erläutert werden, was unter einem bürgerlichen Trauerspiel zu verstehen ist und welche Entwicklungen es vollzogen hat. Anschließend soll das Drama Emilia Galotti in seiner Qualität als bürgerliches Trauerspiel untersucht werden, um abschließend die eingangs gestellte Frage zu beantworten.
2. Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels
Der Name des bürgerlichen Trauerspiels ist Programm: ‚bürgerlich‘ sind die Protagonisten und die Probleme, die in tragischer Form dargestellt werden. Bislang war die Tragödie für den Adel reserviert, für die Darstellung der Bürger war die Komödie vorgesehen. Im Zusammenhang mit dem aufstrebenden Bürgertum im 18. Jahrhundert sollte sich dies nun ändern. In dieser ersten Phase war das bürgerliche Trauerspiel geprägt von der moralischen Selbstvergewisserung des Bürgertums, von bürgerlichen Tugendproklamationen und der Darstellung adliger Willkür. Die zweite Phase wandte sich mehr den Konflikten innerhalb des Bürgertums selbst zu.
2.1. Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels
Lessings Miß Sara Sampson war 1755 das erste deutsche Drama, das mit dem Untertitel ‚bürgerliches Trauerspiel‘ ausgewiesen wurde. Im selben Jahr erschien auch die erste theoretische Abhandlung mit dem Titel „Vom bürgerlichen Trauerspiele“, ein Aufsatz von Johann Gottlob Benjamin Pfeil1.
Beeinflusst wurde das deutschsprachige bürgerliche Trauerspiel vor allem durch Diderot, Mercier und Lillo. Besonders hervorzuheben sind dabei die englischen Stücke Der Kaufmann von London oder Begebenheiten Georg Barnwells (1731) von George Lillo und Edward Moores The Gamester (1753). Ab 1754 werden die Stücke auch auf der deutschen Bühne aufgeführt. Lillo rückt dabei besonders das ‚private life‘ in den Vordergrund und gibt eine Anleitung zur persönlichen Lebensführung. Er hebt die Ständeklausel auf und wird vor allem in der Darstellung der Frauenfiguren zum Vorbild der deutschen Autoren. Ebenfalls großen Einfluss hat der Franzose Denis Diderot, der den bürgerlichen Stand zum Mittelpunkt der tragischen Handlung werden lässt. Diderot etabliert die Thematik der Familienkonflikte, sowie den Vater-Tochter-Konflikt. Die Familie wird also zum Ausgangspunkt der tragischen Handlung2.
Als deutscher Vorläufer kann Andreas Gryphius Cardenio und Celinde (1657) gelten, welchem aber eine bürgerliche Ideologie fehlt.3 Neben Christian Weises Trauerspiel von dem Napolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello (1683), gilt Johann Elias Schlegels Trauerspiel Canut (1746) als weiterer Vorläufer.
2.2 Die Dramentheorie Lessings
Trotz der ausländischen Einflüsse gilt Lessing als der Gründungsvater einer neuen Theaterkultur. Neben der Aufhebung der Ständeklausel sind die Werke von einer neuen wirkungsästhetischen Betrachtung Lessings geprägt. Lessing sieht im Drama das Ziel, Rührung und Mitleid zu erzeugen. Er möchte den Zuschauer sensibilisieren und ihn zu einem mitfühlenden Menschen erziehen. Lessing erhofft sich, dass der Zuschauer durch das ‚auf sich selbst bezogenen Mitleid‘ eine moralischen Besserung erfährt und aktiv gesellschaftsverändernd handelt. Mitleid kann aber nur hervorgerufen werden, wenn der Zuschauer sich in die Figur hineinversetzen kann. Um dies zu erreichen, muss die Figur dem Zuschauer möglichst ähnlich sein. Lessing etabliert den ‚gemischten Helden‘, der „aus gleichem Schrot und Korn ist“4 wie das Publikum. Die Fallhöhe als Garant einer tragischen Wirkung wird abgeschafft, um so die Identifikation der Zuschauer mit dem Bühnengeschehen zu fördern. Damit der Zuschauer sich in die Figur einfühlen kann, muss das Geschehen plausibel und logisch konsequent erzählt werden. Dieser strenge Kausalnexus wird allerdings von Lessing nur bei der Handlung gefordert, Raum und Zeit werden eher funktional zugeordnet. Identifikationsfördernd ist auch die Sphäre der häuslichen, alltäglichen Situationen und Konflikte.5
2.3. Definition des Begriffs ‚Bürgerlich‘
6 Als die bekanntesten bürgerlichen Trauerspiele gelten Miß Sara Sampson (1755), Emilia Galotti (1772), Kabale und Liebe (1784) und Maria Magdalena (1844)7. Schon allein diese vier Werke zeigen, wie weitgefasst der Begriff des ‚bürgerlichen Trauerspiels‘ ist.
‚Bürgerlich‘ bedeutet neben einer gesellschaftlichen Einordnung auch privat, häuslich, familiär und umfasst die Sphäre ‚bürgerlicher‘ Pflichten und Tugenden. Mit der Aufwertung des ‚Bürgerlichen‘ wird eine neue Schicht für die Figuren zugelassen: der Mittelstand8. Das bürgerliche Trauerspiel ist aber weit mehr als eine Verlagerung der Tragödie in eine neue soziale Sphäre: Das Heroische in der Tragödie wird vom Menschlichen, Privaten und Moralischen abgelöst, Helden und Könige vom Privatmensch mit seiner Bindung an die Gemeinschaft.
Wichtig ist, dass der Charakter etwas hergibt: die Figur wird mehr über ihr ‚Menschsein‘ als durch ihren Stand festgelegt. In den Mittelpunkt treten die Moralvorstellungen, Normen und das Gedankengut des Bürgertums. Auch Adlige finden ihren Platz im bürgerlichen Trauerspiel und zwar nicht nur als Kontrastierung zum tugendhaften Bürger: Denn fern von der Öffentlichkeit des adligen Hofes, finden sich auch beim Adel Konflikte und Charakterzüge, die im Sinne von ‚menschlich‘ als ‚bürgerlich‘ zu verstehen sind. Lessing macht deutlich, dass der Stand eigentlich nur sekundär ist: was wirklich entdeckt wird, ist der Charakter und die Individualität des Menschen. Wichtiger als der Kontrast zwischen den Ständen, ist also der Kontrast zwischen der privaten und der höfisch-öffentlichen Sphäre.
2.4 Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels
Im Mittelpunkt des bürgerlichen Trauerspiels der ersten Phase steht der Privatmensch in seiner Verbindung zu der Gemeinschaft in einer häuslichen Umgebung. Er wird als ‚empfindsamer‘ Mensch dargestellt, welcher bemüht ist, ein tugendhaftes, an ‚bürgerlichen‘ Werten ausgerichtetes Leben zu führen. Man könnte also in dieser ersten Phase von einem ‚empfindsamen‘ Trauerspiel sprechen.9 Der deutsche Bürger, dessen Nationalgeist im Gegensatz zum französischen und englischen Bürgertum wenig ausgeprägt war, suchte seine Selbstbestätigung auf moralisch-privatem Gebiet. Indem die ‚bürgerliche‘ Moral als überlegen dargestellt wird, „eroberte also die Geistigkeit des Bürgertums trotz seiner Passivität in der politischen Öffentlichkeit im Grunde die anderen Stände“10. Die Vertreter anderer Stände gelten dabei vor allem als Repräsentanten einer von der bürgerlich abweichenden Lebensauffassung. Ein emanzipiertes, bürgerliches Standesbewusstsein fehlt am Anfang genauso wie eine explizite, gesellschaftskritische Tendenz. Miß Sara Sampson ist wohl das wichtigste Beispiel für ein solches ‚empfindsames‘ bürgerliches Trauerspiel. Der ‚empfindsame‘ Charakter der Hauptfigur, welche meist eine Frau oder ein Mädchen ist, ist oft mehr fühlend als handelnd, womit eine gewisse Passivität einhergeht. Das Konzept Lessings wurde zunächst nur leicht abgewandelt:
„Der Akzent konnte vom Leiden oder von der Reue der liebenden Frau mehr auf die Vaterfigur verlagert werden; oder der Verführer rückte in stärkeres Licht. Variabel war auch das Maß der Schuld („Fehler“) sowie das Gewicht der äußeren und besonders der inneren, seelisch mildernden Umstände, die man der leidenden Hauptgestalt oder auch dem ‚lasterhaften‘ Verführer zubilligte.“11
Die Zeit, in der die Handlung stattfindet, ist die Gegenwart, also das mittlere und späte 18. Jahrhundert. Auch wenn die Familie als Ort der Tugend gilt, werden dennoch gerade die innerfamiliären Konflikte thematisiert, so zum Beispiel Vater-Tochter Konflikte, die durch den Selbstbestimmungsdrang der jungen Generation entstehen. Dabei tritt das Familienoberhaupt nicht nur patriarchalisch und autoritär auf, sondern auch als zärtlich ‚empfindsamer‘ Vater, dessen Autorität nicht selten von den Töchtern anerkannt wird. Das typische Ende eines solchen bürgerlichen Trauerspiels zeigt durch gegenseitiges Verzeihen und dem Verzichten auf Rache das Ideal der reinen ‚Menschlichkeit‘.
Mit Lessing Emilia Galotti (1772) beginnt eine neue Phase. Erhalten bleibt die Gegenwartsnähe des Stoffes, die Konzentration auf den Alltag, das Familienleben sowie der Mittelstand als bevorzugter sozialer Raum.12 Neu ist die Leidenschaftlichkeit des Subjekts, sowie die Figur als Repräsentant eines konkreten Milieus und die durch den Stand bedingte Mentalität. „Tugend und Laster werden demgemäß nun, statt abstrakt, in ihrem gesellschaftlichen Praxiszusammenhang erfaßt.“13 Emilia Galotti gilt als das erste Werk, in dem der Ständekonflikt zum Kernpunkt der tragischen Handlung wird. Der tragische Konflikt wird durch das Selbstverständnis in der Regel benachbarter sozialer Schichten ausgelöst. Zum Thema wird die Liebe über Standesgrenzen hinweg und der Kindesmord. ‚Bürgerlich‘ enthält nun einen stände- und gesellschaftskritischen Aspekt.
Die bürgerlichen Trauerspiele der Stürmer und Dränger, die Subjektivität und Individualität proklamierten, sind geprägt von Tyrannenhass und Ständekritik. Sie kritisieren nicht nur das Verhalten und Selbstverständnis des Adels, sondern auch des Bürgertums. Goethes Clavigo (1774) stellt eine interessante Variation des bürgerlichen Trauerspiels dar, auf die noch einzugehen ist.
Durch Lenz erfuhr das bürgerliche Trauerspiel noch einmal beachtliche Veränderungen: auch die unteren Stände werden thematisiert und alle gesellschaftlichen Kreise kritisiert. Schillers Kabale und Liebe verschärft die Kritik an der politischen Ordnung. Friedrich Hebbels Maria Magdalena (1844) gilt als das letzte deutsche bürgerliche Trauerspiel, das kleinbürgerliche Moralvorstellungen und pedantische Sittenstrenge innerhalb des Standes thematisiert.
3. Lessings Emilia Galotti
Bevor untersucht werden soll, in welchem Sinne Clavigo als ‚bürgerliches Trauerspiel‘ zu verstehen ist, soll zunächst das Drama Emilia Galotti betrachtet werden, das nicht nur für die Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels an sich, sondern auch für Clavigo als wegweisend gilt.
Emilia Galotti beruht auf dem Virgina-Stoff und wurde nach einem zweiten Anlauf im Jahre 1772 fertiggestellt. Die Uraufführung fand im selben Jahr anlässlich der Geburtstagsfeier der Herzogin Philippine Charlotte statt. Das Stück folgt konsequent dem Bestreben Lessings, Mitleid hervorzurufen. So wird das vieldiskutierte Ende des Stücks gerade dadurch tragisch, dass dem Opfer des Mädchens durch keinen Tyrannenmord nachträglich Sinn verliehen wird.
3.1. Der Ständekonflikt: ‚Bürgerlich‘ versus ‚Adlig‘
In dem bürgerlichen Trauerspiel stehen sich zwei Parteien gegenüber: die Galottis und der Prinz. Obwohl diese Struktur sehr klar scheint, treten dennoch viele Gegensätze auf, die der Forschung bereiten Interpretationsraum bieten: so die tugendhafte Emilia, die sich von ihrer Sexualität bedroht sieht oder der Prinz, der zwar die eheliche Treue missachtet, aber dennoch durch die Empfindungen zu Emilia moralische Besserung erfährt14.
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1 Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S.7.
2 Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 44-45.
3 Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 47.
4 Lessing: Hamburgische Dramaturgie. (http://gutenberg.spiegel.de/buch/1183/1)
5 Vorlesung „Grundzüge der Gattungspoetik“, Wintersemester 2010/11, Prof. Dr. Michaela Holdenried
6 Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 7-22.
7 Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S.7.
8 Erst nach Lenz werden auch Figuren aus dem unteren Stand thematisiert.
9 Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 42.
10 Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 45.
11 Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S. 68.
12 Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S.87.
13 Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S.87.
14 Fick: Lessing-Handbuch, S. 387-388.