Deutsch als Zweitsprache von zwei- und mehrsprachigen Kindern in der Sekundarstufe I

Erwerb, Diagnose und Förderung


Examensarbeit, 2009

71 Seiten, Note: 2,7

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zweitspracherwerb theoretisch gesehen
2.1 Begrifflichkeiten und Definitionen
2.1.1. Erstsprache und Zweitsprache
2.1.2. Zwei- und Mehrsprachigkeit
2.1.3. Bilingualer Erstspracherwerb vs. Zweitspracherwerb
2.1.4. Deutsch als Zweitsprache vs. Deutsch als Fremdsprache
2.2. Theoretische Ansätze zum Zweitspracherwerb
2.2.1. Die Kontrastivhypothese
2.2.2. Die Identitätshypothese
2.2.3. Die Interlanguagehypothese
2.2.4. Die Interdependenz- und Schwellenniveauhypothese
2.3. Rahmenbedingungen des Zweitspracherwerbs
2.3.1. Biologische Voraussetzungen: Gehirn und Alter.
2.3.2. Individuelle Einflussfaktoren: Einstellung, Motivation, Persönlichkeitsfaktoren
2.3.3. Soziale Einflussfaktoren und Zugang zur Sprache

3. Sprachauffälligkeiten der Zwei- bzw. Mehrsprachigen in DaZ
3.1. Sprachmischungen: Code-Mixing, Code-Switching, Transfer
3.2. Sprachinterferenzen
3.2.1. Phonetisch-phonologische Interferenzen
3.2.2. Semantisch-lexikalische Interferenzen
3.2.3. Syntaktisch-morphologische Interferenzen

4. Diagnosemöglichkeiten
4.1. Lernbiografie
4.2. Profilanalyse
4.3. C-Test

5. Sprachförderung
5.1. Förderung der Erstsprache(n)
5.2. Immersion vs. Submersion
5.3. Schulsprache und fächerübergreifende DaZ-Förderung im Sekundarbereich
5.4. Das Programm FörMig - „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“
5.5. Schulexterne Sprachförderung im Sekundarbereich: Das Projekt „Förderunterricht von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ der Stiftung Mercator GmbH

Resümee

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das deutsche Bildungsniveau gilt spätestens seit PISA und den internationalen Vergleichsstudien offiziell als bedenklich und ist zu einem der meist diskutierten Themen in der Bildungspolitik geworden. Einer der Gründe der so genannten deutschen Bildungsmisere ist die Mehrsprachigkeit an deutschen Schulen.

Deutschland ist ein Zuwanderungsland mit ca. 15,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, davon besitzen ca. 6,7 Millionen eine nicht-deutsche Staatsbürgerschaft (Ausländer). Der Rest gilt als deutsche Bürger mit Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt Deutschland 2008)1. Auf den schulischen Kontext übertragen würde dies bedeuten, dass in einem Klassenzimmer SchülerInnen nicht-deutscher Herkunft keine Ausnahme mehr darstellen, sondern zum schulischen Alltag gehören. Diese SchülerInnen wachsen in der Regel mit zwei oder mehr Sprachen auf und kommen mit unterschiedlich ausgeprägten multilingualen Sprachkompetenzen in die Schule, wo sie den gesamten Lernprozess in einer Sprache (hier: Deutsch) bewältigen müssen, die sie nicht altersentsprechend beherrschen. Und da Deutsch die Basis für jedes Schulfach an deutschen Schulen ist, erfahren diese SchülerInnen unabhängig von ihren tatsächlichen Leistungsfähigkeiten durch ihre mangelnden sprachlichen Kompetenzen oft nicht nur im Fach Deutsch sondern auch in anderen Fächern wenig Bildungserfolg. Auf Grund dieses Kompetenzmangels besuchen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund deutlich häufiger eine Hauptschule oder gar eine Sonderschule, und deutlich seltenerer ein Gymnasium.

Aus diesem Grund stellt der Zweitspracherwerb in der heutigen Zeit vor allem im schulischen Bereich mehr denn je einen wichtigen Aspekt dar. Wichtige Kriterien sind u.a. die Grundlagen, die Erwerbskonstellationen, und die diversen Erklärungsansätze des Zweitspracherwerbs. Besonders durch den stetig wachsenden Anteil der SchülerInnen nicht-deutscher Herkunft in den Schulen ist es zwingend erforderlich, sich mit den dadurch bedingten Änderungen, welche nicht zuletzt in dem differenzierten Sprachverhalten bzw. Sprachstand bestehen, auseinander zu setzen. Deshalb hat diese Arbeit zum Ziel, anhand von theoretischen Ansätzen zum Zweitspracherwerb zu erklären, wie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ihre Zweitsprache Deutsch erwerben, warum bei ihnen die Kompetenzmängel in Deutsch zustande kommen und wie diese festgestellt und behoben werden können. Dabei bezieht sich diese Arbeit auf die Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sowohl in Deutschland geboren sind und den Kindergarten und/oder die Grundschule besucht haben, als auch auf die, die Deutsch als Zweitsprache erst ab der Pubertät erwerben (Seiteneinsteiger). Denn all diese Kinder und Jugendliche sind in der Sekundarstufe I vorzufinden.

Zunächst werden die für diese Arbeit relevanten Begrifflichkeiten und Definitionen in Bezug auf den Zweitspracherwerb erläutert und diskutiert. Danach werden die wichtigsten Zweitspracherwerbshypothesen und die Rahmenbedingungen, unter denen die Zweitsprache erworben wird, vorgestellt. Des Weiteren wird auf konkrete Sprachauffälligkeiten der DaZ-Lerner eingegangen, und anschließend werden mögliche Diagnosemöglichkeiten zum Zweck der Ermittlung des Sprachstandes der DaZ-Lerner beschrieben, wobei diese sich hauptsächlich auf den Sekundarbereich beziehen. Schließlich werden verschiedene Ansätze zur schulinternen und schulexternen DaZ-Förderung dargestellt.

2. Zweitspracherwerb theoretisch gesehen

2.1 Begrifflichkeiten und Definitionen

Wenn es um den Erwerb zweier Sprachen geht, dann spricht man im Allgemeinen von einer Erstsprache (auch Muttersprache und Familiensprache) und von einer Zweitsprache. In Bezug auf mehrfachen Sprachbesitz finden sich ebenso die Begriffe Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit, bilingualer Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb. In Bezug auf Deutsch als zu erwerbende bzw. zu erlernende Sprache spricht man von Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache, die von Kindern mit Migrationshintergrund oder von so genannten Seiteneinsteigern erworben wird. Im Folgenden werden diese Begriffe etwas näher betrachtet.

2.1.1. Erstsprache und Zweitsprache

In der Spracherwerbsforschung wird unter dem Begriff Erstsprache meistens die erste Sprache, die ein Mensch erwirbt, verstanden. Die Linguistin Els Oksaar gibt die folgende Definition: „Unter Erstsprache wird im allgemeinen die Sprache verstanden, die der Mensch zuerst erworben hat. […] Erstsprache kann auch den Anfang einer Erwerbsfolge bezeichnen und somit implizieren, dass sie nicht die einzige Sprache des Menschen ist“ (Oksaar 2003, 13). Edith Glumper und Ernst Apeltauer sehen die Erstsprache des Kindes hingegen als „die Sprache, in der er am liebsten und am häufigsten spricht und in der es über den größeren Wortschatz verfügt“ (Glumper/Apeltauer 1997, 10). Eine weitere Definition der Erstsprache gibt Triarchi-Herrmann (2003): „Mit der Erstsprache ist […] die Sprache gemeint, die ein Kind in seinen ersten Lebensjahren erwirbt und die es somit in seiner Sozialisation am meisten prägt“ (2003, 31; zit. in Pabst, 2007, 20).

Synonym zu dem Begriff Erstsprache werden oft die Begriffe Muttersprache und Familiensprache verwendet. Der Begriff Muttersprache wird jedoch als problematisch angesehen, denn „er hat mehrere verwandte Bedeutungen, er ist polysem und trägt außerdem verschiedene Konnotationen“ (Oomen-Welke 2003, 145). Der Begriff Muttersprache sei nicht so einfach auf zweisprachig Aufwachsende anwendbar, weil „die Erstsprache nicht in jedem Fall durch den Umgang mit der Mutter erlernt wird, sondern gegebenenfalls über andere Bezugspersonen, oder weil die Muttersprache nicht immer mit der Sprache der Mutter übereinstimmt“ (Pabst 2007, 19). Die bilingualen Kinder wachsen beispielsweise von Beginn an mit einer Mutter- und einer Vatersprache nach dem Prinzip „Eine Person – eine Sprache“ auf und erwerben somit zwei Erstsprachen. Der Begriff Familiensprache ist ebenso problematisch und nicht immer auf die zwei- und mehrsprachigen Kinder anwendbar. Er bezeichnet zwar die Sprache, die innerhalb der Familie gesprochen wird, doch in Bezug auf die mehrsprachigen Familien, in denen Mutter- und Vatersprache verschieden sind, würde es nicht unbedingt heißen, dass die Familiensprache automatisch eine der Erstsprachen des Kindes ist. Die Familiensprache, also „die Sprache, in welcher die Eltern miteinander kommunizieren“ (Pabst 2007, 20), kann auch der Umgebungssprache entsprechen und somit die Zweitsprache des Kindes sein. Dies wird an folgendem Beispiel deutlich: die Mutter ist Französin und spricht mit dem Kind Französisch, der Vater ist Engländer und kommuniziert mit dem Kind auf Englisch, die Eltern sprechen miteinander die Umgebungssprache Deutsch. In diesem Fall würde der Begriff Familiensprache nicht mit dem Begriff Erstsprache übereinstimmen, denn in einer solchen Familie wäre die Familiensprache Deutsch, und bei dieser Konstellation ist Deutsch die Zweitsprache des Kindes. Für die vorliegende Arbeit wird deshalb der Begriff Erstsprache (L1) verwendet, da er am deutlichsten ausdrückt, dass es um diejenige Sprache geht, die ein Kind als allererstes erwirbt. Außerdem macht der Begriff Erstsprache deutlich, dass es sich um die erste von zwei oder mehreren Sprachen handelt, die ein Kind erwirbt.

Der Begriff Zweitsprache (L2) wird auf unterschiedlichste Art und Weise definiert. Klein (1992) definiert die Zweitsprache als eine Sprache, „die nach oder neben der Erstsprache als zweites Mittel der Kommunikation dient und gewöhnlich in einer sozialen Umgebung erworben wird, in der man sie tatsächlich spricht“ (Rapti 2005, 30). Für Apeltauer ist die Zweitsprache „jede Sprache, die nach der Erstsprache erlernt wurde“ und „die zum Überleben in einer fremden Gesellschaft […] notwendig ist und darum […] häufig fast so gut beherrscht wird wie die Erstsprache“ (Apeltauer 2006, 149). Pabst verdeutlicht, dass es sich nur dann um eine explizite Zweitsprache handelt, „[…] wenn […] das Kind frühestens nach Vollendung des dritten Lebensjahres eine zweite Sprache erlernt, nachdem es bereits die Grundkenntnisse seiner Erstsprache sicher erworben hat. Wird diese Zweitsprache noch während der Kindheit erlernt, so beeinflusst diese die Entwicklung des Kindes im starken Maße“ (Pabst 2007, 21). Nach Rudolf meint der Begriff Zweitsprache jedoch „nicht in erster Linie den chronologischen Erwerb dieser Sprache nach dem Erwerb der Erstsprache. Es ist durchaus möglich, bereits mehrere Fremdsprachen zu beherrschen und erst dann eine Zweitsprache zu erwerben“ (Rudolf 2008, 8). Festzuhalten ist daher, dass es dann um eine Zweitsprache geht, wenn diese zur Orientierung und zum Leben in dem Land gebraucht wird, in dem der Sprecher lebt. „Sie [die Migranten] sollten diese [die Zweitsprache] so beherrschen, dass eine Teilnahme am öffentlichen Leben uneingeschränkt möglich ist, dass sie eigene Interessen vertreten können und dass sie Bildungsmöglichkeiten in allen Institutionen wahrnehmen können“ (Rudolf 2008, 8).

2.1.2. Zwei- und Mehrsprachigkeit

Es gibt viele und unterschiedliche Definitionen der Zwei- und Mehrsprachigkeit. Die Problematik dieser Definitionen liegt darin, dass sie „entweder zu „eng“ sind, sodass kaum jemand dem Kriterium entspricht um zweisprachig bezeichnet zu werden, oder zu „breit“, sodass im Prinzip jeder, der ein Paar Wörter in einer anderen Sprache kann, zweisprachig genannt wird“ (Kuhn-Lääs 2002, 32). Die klassische Definition der Zweisprachigkeit stammt von Leonard Bloomfield (1933) und beinhaltet hinsichtlich beider Sprachen „the native-like control of two languages“ (vgl. Kuhn-Lääs 2002, 33). Eine ähnliche „enge“ Definition gibt Einar Haugen (1970), der „native competence in more than one language“ fordert (ebd.). Eine solche Definition würde eine ganze Menge zweisprachiger Individuen stark einschränken, weil „es fast unmöglich ist, alle Wörter beider Sprachen mitsamt ihren unterschiedlichen Bedeutungsnuancen zu kennen“ (Skutnabb-Kangas 1981; zit. in Leist-Villis 2004, 96). Nach MacNamara (1969) sind dagegen diejenigen Personen bilingual, „die in der Lage sind, eine zweite Sprache in einem nur minimalen Ausmaß zu sprechen, zu schreiben, zu verstehen oder zu lesen“ (Rapti 2005, 29). Weinreich (1974) bezeichnet mit Zweisprachigkeit „den abwechselnden Gebrauch zweier Sprachen, ohne dabei ein bestimmtes Niveau festzulegen“ (Rauch 2007, 30). Die Mehrsprachigkeit wird von Günther/Günther wie folgt beschrieben: „Ein Kind ist dann mehrsprachig, wenn es zwei oder mehr Sprachen täglich als Mittel der sprachlichen Kommunikation einsetzt. Dabei wird erwartet, dass der Wechsel von einer Sprache in die andere ohne Probleme gelingt“ (Günther/Günther 2004, 35). Eine ähnliche Definition gibt Oksaar: „Mehrsprachigkeit ist die Fähigkeit eines Individuums, hier und jetzt zwei oder mehr Sprachen als Kommunikationsmittel zu verwenden und ohne weiteres von der einen Sprache in die andere umzuschalten, wenn die Situation es erfordert“ (Oksaar 2003, 31). Zwei- oder mehrsprachig sind also diejenigen Personen, die in den meisten Situationen ohne Weiteres von der einen in die andere Sprache umschalten können. Dabei müssen sie diese Sprachen regelmäßig in alltäglichen Situationen gebrauchen, aber nicht perfekt beherrschen. Da dies eine häufig anzutreffende Ansicht ist, liegt sie auch dieser Arbeit zugrunde.

In der Fachliteratur werden verschiedene Formen der Zweisprachigkeit unterschieden. Sie orientieren sich in der Begrifflichkeit am Grad der Beherrschung von Erst- und Zweitsprache. Man unterscheide also: 1) normale/asymmetrische Zweisprachigkeit; 2) balancierte Zweisprachigkeit; und 3) doppelte Halbsprachigkeit/Semilingualismus (vgl. Koch 2007, 29). Bei der normalen / asymmetrischen Zweisprachigkeit handelt es sich um „die häufigste Form der Zweisprachigkeit, bei der eine der beiden Sprachen der anderen gegenüber dominant ist“ (ebd.). Meistens spricht man dabei von einer „starken“ und einer „schwachen“ Sprache. Die „starke“, dominante Sprache ist in der Regel die Sprache des Landes, in dem das Kind aufwächst, d.h. die Sprache, die im unmittelbaren Umfeld gesprochen wird. Da aber soziokulturelle und geografische Faktoren die Ausbildung der „starken“ bzw. „schwachen“ Sprache beeinflussen, kann sich die „starke“ Sprache auch ändern. Von einer balancierten Zweisprachigkeit ist die Rede, wenn die Menschen „jederzeit von einer Sprache in die andere wechseln (können), ohne an Ausdrucksgrenzen zu stoßen“ (Apeltauer 2001, 629; zit. in Koch 2007, 29). Dies ist jedoch eher selten und fast ausschließlich bei Personen zu finden, die besonders günstige Bedingungen im Kontakt mit zwei Sprachen hatten, z.B. in einem zweisprachigen Elternhaus erzogen wurden (ebd.). Doppelte Halbsprachigkeit, auch Semilingualismus genannt, bezeichnet „zu geringe sprachliche Kompetenzen sowohl in der Erst- als auch in der Zweitsprache“ (ebd., 30). Kinder mit doppelter Halbsprachigkeit verfügen über einen geringen aktiven und passiven Wortschatz in beiden Sprachen, haben Störungen der Redeflüssigkeit, Artikulationsschwierigkeiten und Unsicherheiten, zeitliche Abläufe und Sinnzusammenhänge richtig wiederzugeben. Sie benutzen ein gemischtes Sprachsystem, indem sie beide Sprachen mischen und fehlende Begriffe in der einen Sprache durch die entsprechenden aus der zweiten Sprache ersetzen (vgl. Koch 2007, 31). Dies hat negative Einflüsse auf die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes und hat somit Auswirkungen auf Lernverhalten und Schulleistungen.

2.1.3. Bilingualer Erstspracherwerb vs. Zweitspracherwerb

Wenn man über die Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit spricht, ist es wichtig, zwischen dem bilingualen Erstspracherwerb und dem Zweitspracherwerb zu unterscheiden. Wenn ein Kind innerhalb einer Familie aufwächst, in der Mutter und Vater unterschiedliche Sprachen sprechen, ist es von Beginn seiner Sprachentwicklung an mit zwei Sprachen konfrontiert, d.h. das Kind erwirbt zwei Sprachen gleichzeitig. In diesem Fall spricht man von bilingualem Erstspracherwerb. Dabei können sich diese zwei Sprachen (z.B. Englisch und Französisch) von der Umgebungssprache (z.B. Deutsch) unterscheiden. Es ist aber auch möglich, dass eine von den beiden Sprachen, die Eltern sprechen (z.B. Englisch und Deutsch), der Umgebungssprache (z.B. Deutsch) entsprechen. Im ersten Fall wären Englisch und Französisch Erstsprachen des Kindes und Deutsch seine Zweitsprache, bzw. auch Familiensprache, falls die Eltern auf Deutsch miteinander kommunizieren. Im zweiten Fall sind Englisch und Deutsch beide Erstsprachen des Kindes, die später sich jeweils zu einer „starken“ bzw. „schwachen“ Sprache ausbilden können, abhängig davon, in welchem Land die Familie gerade lebt. Pabst meint aber, dass „auch Kinder welche im Ausland geboren werden und aufwachsen – wenn sich demzufolge Familiensprache und Umgebungssprache unterscheiden -, von Geburt an zweisprachig aufwachsen (können), vorausgesetzt, sie haben häufig und konstant Gelegenheit, mit der Umgebungssprache in Kontakt zu kommen“ (Pabst 2007, 23). Damit meint sie den Besuch des lokalen Kindergartens. In diesem Zusammenhang wäre es angemessen, an dieser Stelle die weiteren Kategorien der Zweisprachigkeit vorzustellen und Unterschiede zwischen ihnen aufzuzeigen. Es geht um die simultane und sukzessive Zweisprachigkeit. Beim bilingualen Erstspracherwerb handelt es sich um die simultane Zweisprachigkeit. Im Fall der sukzessiven Zweisprachigkeit findet der Erwerb der Sprachen zeitlich versetzt statt. Die Grenze wird bei ca. drei Jahren gesetzt. „In diesem Alter hat das Kind bereits Strukturen seiner Erstsprache erworben sowie Erfahrungen mit der Verwendung und Funktion von Sprache gesammelt, auf die es beim Zweitspracherwerb aufbauen kann“ (Leist-Villis 2004, 97). Darüber hinaus kann man sagen, dass die Behauptung von Pabst nicht ganz korrekt ist, denn in dem von ihr beschriebenen Fall werden die Erstsprachen und die Zweitsprache nicht gleichzeitig, sondern nacheinander erworben, weil die Kinder erst im Kindergarten, also mit drei Jahren, intensiv mit der Zweitsprache konfrontiert werden. Daher kann ein solcher Zweitspracherwerb nicht als bilingualer Erstspracherwerb bzw . simultaner Zweitspracherwerb bezeichnet werden, sondern als sukzessiver Zweitspracherwerb. „Wenn der Beginn des Erwerbs einer zweiten Sprache im vierten Lebensjahr oder später liegt, ist der Spracherwerb nicht mehr simultan, sondern es handelt sich um kindlichen Zweitspracherwerb“ (Rothweiler 2007, 122). Der sukzessive Zweitspracherwerb, der „nach Vollendung des dritten Lebensjahres, aber vor Beginn der Pubertät“ (Pabst 2007, 25) ansetzt, wird auch der frühere Zweitspracherwerb genannt. Von dem späten Zweitspracherwerb ist dagegen die Rede, „wenn die zweisprachige Person die Zweitsprache erst in der Pubertät oder im Erwachsenenalter erwirbt“ (ebd.).

Eine besonders große Bedeutung zur Unterscheidung von verschiedenen Formen des Zweitspracherwerbs wird dem Umstand beigemessen, ob die Zweitsprache mit oder ohne Unterricht gelernt wird. Dabei spricht man von einem gesteuerten bzw. künstlichen oder ungesteuerten bzw. natürlichen Zweitspracherwerb. Klein/Demroth verstehen unter ungesteuertem Zweitspracherwerb den Erwerb der Zweitsprache „außerhalb des Unterrichts, also lediglich durch die alltägliche Kommunikation mit Sprechern der zu lernenden Sprache“ (Klein/Demroth 2003, 2). Rothweiler gibt folgende Definition: „Ungesteuerter Zweitspracherwerb findet statt, wenn Menschen, die als Jugendliche oder Erwachsene in eine neue Sprachumgebung kommen, der neuen Sprache >ausgesetzt< werden. Das bedeutet, dass der Lerner die neue Sprache selbsttätig erschließen muss“ (Rothweiler 2007, 107). Diese Definition schließt jedoch Kinder aus und ist daher unvollständig. Eine weitere Definition, die meines Erachtens treffender ist, gibt Pabst. Für sie ist der Zweitspracherwerb ungesteuert, wenn „die Zweitsprache, entweder im frühen Kindesalter […] oder auch später im Jugend- oder Erwachsenenalter in fremdsprachiger Umgebung, durch den Umgang mit Muttersprachlern im Alltag erlernt (wird)“ (Pabst 2007, 18). Beim ungesteuerten Zweitspracherwerb geht es also im Allgemeinen um den Erwerb der zweiten Sprache von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in alltäglichen Kommunikationssituationen durch Kontakte mit Personen, die die Zweitsprache nutzen, und zwar ohne systematische Versuche, diesen Prozess zu steuern. Beim gesteuerten Erwerb einer Zweitsprache geht es dagegen um den strukturierten Unterricht, zum Beispiel in der Schule, in welchem die grammatikalische und stilistische Korrektheit der Äußerung im Vordergrund steht. Im Falle der Kinder mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, verwischen die beiden Erwerbsformen spätestens beim Eintritt in schulische oder vorschulische Einrichtungen, wo parallel zu ungesteuerten sprachlichen Kontakten mit deutschen Gleichaltrigen eine gelenkte Form des Spracherwerbs hinzukommt (vgl. Klein 1996, 77). „Im günstigsten Falle können sich ungesteuerter und gesteuerter Erwerb gegenseitig auf die Sprünge helfen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die ungesteuert erworbenen Lernervarietäten […] zunächst einmal als Basis ernst genommen werden, die es zu verbessern und auszubauen gilt“ (Klein 2003, 3).

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem sukzessiven, ungesteuerten und gesteuerten Zweitspracherwerb sowohl der Migrantenkinder, die in Deutschland den Kindergarten und/oder die Grundschule besucht haben, als auch der sogenannten Seiteneinsteiger, die die Zweitsprache Deutsch erst in der Pubertät oder im Erwachsenenalter erwerben. Der bilinguale Erstspracherwerb wird in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.

2.1.4. Deutsch als Zweitsprache vs. Deutsch als Fremdsprache

Es wird bereits über mehrere Jahrzehnte über Deutsch als Zweitsprache gesprochen und versucht zu konkretisieren, welche Handlungsfelder auf deren Erwerb wirken können. Eine Vielzahl von Fachleuten hat versucht, Deutsch als Zweitsprache zu definieren. Heidi Rösch (2005) fasst diese Definitionen folgendermaßen zusammen: „Deutsch als Zweitsprache (DaZ) bezieht sich auf Erwerb, Gebrauch und Vermittlung der deutschen Sprache in deutschsprachiger Umgebung – in unserem Fall in der deutschen Schule. Es richtet sich an DaZ-Schüler und damit an Schüler mit Migrationshintergrund, die in aller Regel zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, und deren Zweitsprachkompetenz nicht ausreicht, um dem Unterricht in deutscher Sprache ohne Probleme folgen zu können“ (Rösch 2005, 4).

Es ist wichtig, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache zu unterscheiden. Die Spracherwerbsforschung spricht grundsätzlich vom Erlernen einer Fremdsprache und dem Erwerb einer Zweitsprache, was bedeutet, dass während der Zweitsprachlerner die Sprache innerhalb der Zielkultur ungesteuert (in Alltagssituationen) und gesteuert (in den Bildungseinrichtungen) erwirbt, findet das Erlernen einer Fremdsprache außerhalb der Zielkultur und innerhalb einer Unterrichtssituation statt. Die Fremdsprache ist also nicht die Umgebungssprache und wird gesteuert im Unterricht gelernt. Außerdem hat die Zweitsprache eine der Erstsprache ähnliche soziale und kommunikative Bedeutung, was die Fremdsprache nicht hat.

2.2. Theoretische Ansätze zum Zweitspracherwerb

Es gibt eine Reihe von Ansätzen, die zu erklären versuchen, unter welchen Bedingungen und aufgrund welcher Mechanismen eine Zweitsprache erworben wird. Der Hauptgedanke all dieser Hypothesen liegt darin, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Erst- und Zweitspracherwerb gibt. Dabei gehen sie von verschiedenen Überlegungen bezüglich der Lernstrategien aus. Obwohl nicht alle Hypothesen in ihrer starken Auffassung erhalten werden konnten, haben sie trotzdem im großen Maße zur Spracherwerbsforschung beigetragen. Im Folgenden werden diese Hypothesen vorgestellt.

2.2.1. Die Kontrastivhypothese

Die Kontrastivhypothese ist die älteste Hypothese zum Zweitspracherwerb und wurde erstmals von Fries (1945) und später von Lado (1957) formuliert. Sie basiert auf behavioristischen Lerntheorien und geht davon aus, dass der Erwerb der Zweitsprache von der Struktur der Erstsprache bestimmt wird (vgl. Koch 2007, 36). So greift das Kind beim Erwerb einer zweiten Sprache auf seine Kenntnisse aus der Erstsprache zurück und wendet diese im Laufe des Lernprozesses auf die Zweitsprache an. Dabei werden die erlernten Strukturen der Erstsprache auf die Zweitsprache übertragen. Dieser Transferprozess wird in einen positiven und einen negativen Transfer unterschieden. Wenn die Strukturen und Regeln der Erst- und Zweitsprache ähnlich sind, führt dies zu positiven Ergebnissen und erleichtert dem Erwerber den Lernprozess. Bei großen Unterschieden sind negative Ergebnisse zu erwarten. Man spricht demzufolge von einem positiven Transfer, wenn der Lerner in seiner Übertragung von Strukturen der Erstsprache auf die Zweitsprache erfolgreich ist, und von einem negativen Transfer, wenn die Übertragung nicht gelingt und Übertragungsfehler und Interferenzen auftreten (vgl. Jeuk 2003, 15). Daraus ergibt sich, dass eine Zweitsprache umso leichter erworben werden kann, je mehr sie der Erstsprache gleicht. Je unterschiedlicher die Strukturen sind, desto größere Schwierigkeiten bereiten sie dem Lerner (vgl. Rauch 2007, 46).

Es gibt zwei unterschiedlich starke Auffassungen der Kontrastivhypothese. Die starke Variante, die davon ausgeht, dass die Lernschwierigkeiten durch das Kontrastieren zweier Sprachen vorherbestimmt sind, wurde in vielen Forschungen angezweifelt und auch empirisch widerlegt. Den Untersuchungen zufolge werden gerade Strukturen, die sich stark von denen der Erstsprache unterscheiden, schneller gelernt, wohingegen besonders ähnliche Strukturen dem Lerner große Schwierigkeiten bereiten können. Es steht sogar fest, dass Interferenzen eine wichtige Rolle bei der Verwendung und Differenzierung zweier Sprachen spielen und damit ein Zeichen für die fortgeschrittenen sprachlichen Kompetenzen des Kindes sein können (vgl. Koch 2007, 36). Oksaar macht darauf aufmerksam, dass nicht nur Kontraste zwischen Erst- und Zweitsprache zu Lernschwierigkeiten führen, sondern auch Kontrastmangel (vgl. Oksaar 2003, 99).

Aus dieser Kritik an der starken Variante entstand eine schwächere Variante der Kontrastivhypothese. „Sie erhebt keinen Anspruch auf Vorhersehbarkeit von Lernschwierigkeiten, nimmt sich jedoch die Möglichkeit heraus, Fehler beim Zweitspracherwerb nachträglich durch die zwischensprachlichen Transfers und Interferenzen zu erklären“ (Koch 2007, 37). Unter diesem abgeschwächten Gesichtspunkt besitzt die Kontrastivhypothese für die aktuelle Zweitspracherwerbsforschung weiterhin eine Gültigkeit. Insbesondere im Bereich der Sprachdidaktik wird auf sie zurückgegriffen, um Sprachprobleme beim Erwerb der zweiten Sprache zu erklären.

2.2.2. Die Identitätshypothese

Die Identitätshypothese, deren Vertreter S. Pit Corder (1967), Heidi Dulay und Martina Burt (1974) sowie Stephen Krashen (1976) sind, basiert im Gegensatz zur Kontrastivhypothese auf nativistischen Lerntheorien, die behaupten, dass jeder Mensch einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus besitzt. Demzufolge geht die Identitätshypothese davon aus, dass Erst- und Zweitspracherwerb grundsätzlich den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und dass der Zweitspracherwerb nach demselben Schema wie der Erstspracherwerb verläuft. Auf die bereits beim Erstspracherwerb erworbenen Regeln und Kenntnisse greifen Zweitspracherwerber demzufolge nicht zurück (vgl. Koch 2007, 37). Dieser Hypothese zufolge verarbeitet der Lernende das Sprachmaterial ausschließlich nach den angeborenen mentalen Prinzipien und nach der universalen Erwerbsstrategie, die für den Erst- und Zweitspracherwerb gleichermaßen gilt. So wird „die zu erlernende Sprache nachkonstruiert, indem der Lerner Hypothesen bildet, überprüft und revidiert“ (Rapti 2005, 47), was zum Aufbau und zur Erweiterung seiner Sprachkompetenz führt. Die Kompetenz in der Erstsprache, Transfers und Interferenzen spielen dabei keine Rolle. Auftretende Fehler des Lernenden sind größtenteils nicht auf die Struktur der Erstsprache zurückzuführen, sondern liegen in der Struktur der Zweitsprache begründet. Sie sollen auch nicht vermieden werden, sondern sind sogar notwendige Prozesse beim Erwerb einer Zweitsprache (vgl. Rauch 2007, 47).

Auch diese Hypothese wurde massiv kritisiert, vor allem deshalb, weil sie außersprachliche, z.B. soziale und zeitliche, Faktoren des Zweitspracherwerbs völlig ausklammert. Zudem sind die kognitiven Voraussetzungen für den Zweitspracherwerb verschieden, denn der Erstspracherwerb erfolgt innerhalb der kognitiven und sozialen Entwicklung im Kindesalter, während beim Erwerb einer Zweitsprache die wichtigste Phase der kindlichen Sprachentwicklung oft annähernd abgeschlossen ist (vgl. Klein 1992, 36). Außerdem besagen neue Forschungsergebnisse, dass eine Zweitsprache nur sehr selten vollständig erworben und in allen Fertigkeiten gleich gut beherrscht wird. Wäre die Aneignung von Erst- und Zweitsprache identisch, könnten auch alle Erwachsene ihre Zweitsprache bzw. Fremdsprache akzentfrei sprechen, was nur sehr selten der Fall ist (vgl. Koch 2007, 37). Aufgrund der unterschiedlichen kognitiven, zeitlichen und sozialen Erwerbsbedingungen können die beiden Erwerbsprozesse also nicht identisch ablaufen. In gewissem Maße wird das vorhandene Vorwissen die Erwerbssequenzen im Zweitspracherwerbsprozess immer beeinflussen.

Diese starke Variante der Identitätshypothese wird heute nicht mehr vertreten. Der Blick auf den Einfluss externer Variablen hat die Annahme einer völligen Identität der beiden Erwerbsprozesse widerlegt. Es wurde bewiesen, dass der Zweitspracherwebsprozess in Abhängigkeit von der Veranlagung und den Einstellungen des Lerners sowie von sozialen Faktoren abläuft. Die schwache Variante der Identitätshypothese geht davon aus, dass sich der Erwerb verschiedener Sprachen in wesentlichen Zügen ähnelt (vgl. Jeuk 2003, 19). Für den schulischen Deutschunterricht bedeutet dies, dass er nur erfolgreich sein kann, wenn er sich an den natürlichen Spracherwerbsphasen orientiert und die Bewertung weniger auf die Fehler, sondern vielmehr auf die jeweils erreichte Erwerbsphase der Schüler ausgerichtet wird (vgl. Grießhaber 2002, 9).

2.2.3. Die Interlanguagehypothese

Die Interlanguagehypothese, erstmalig von Larry Selinker (1972) formuliert, versucht die Defizite der Kontrastiv- und der Identitätshypothese aufzunehmen und sozialpsychologische Faktoren einzubeziehen (Bausch/Kasper 1979, 15). Es wird angenommen, dass der Lerner beim Erwerb einer zweiten Sprache ein spezifisches, drittes, Sprachsystem herausbildet, „das Züge von Grund- und Zweitsprache sowie eigenständige, von Grund- und Zweitsprache unabhängige sprachliche Merkmale aufweist“ (Bausch/Kasper 1979, 15). Dieses Sprachsystem neben Erst- und Zweitsprache nennt Selinker Interlanguage (deutsch: Interimsprache oder Lernersprache). Ihre Dynamik, die als variabel und systematisch zugleich charakterisiert werden kann, wird durch das Zusammenwirken verschiedener lernerspezifischer Prozesse, Strategien und Regeln bestimmt (ebd.), d.h. die Entwicklung erfolgt über notwendige Zwischenschritte, bis der Lerner eine endgültige Form der Zielsprache erreicht hat. Anhand der Fehler, die der Lerner im Erwerbsprozess macht, kann beurteilt werden, was dieser bereits weiß (vgl. Jeuk 2003, 22). Selinker (1979) spricht in diesem Zusammenhang von fünf für die Interlanguage charakteristischen psycholinguistischen Prozessen:

1. Language transfer from the first language (Transfer aus anderen Sprachen).
Regeln oder Gewohnheiten werden aus der Muttersprache (oder anderen beherrschten Sprachen) in die Systematik der Interlanguage inkorporiert bzw. übernommen.
2. Transfer of training (Transfer aus der Lernumgebung).
Ungeeignete Lehrmaterialien bzw. Übungsformen können zu Sondermerkmalen der Interlanguage führen.
3. Strategies of L2 learning (Lernstrategien).
Der Lerner findet selbst Regeln heraus, überprüft und bestätigt oder revidiert sie.
4. Strategies of L2 communication (Kommunikationsstrategien).
Wenn Lerner etwas sagen wollen und ihnen die dazu benötigten fremdsprachlichen Mittel fehlen, dann müssen sie mit diesem Kommunikationsproblem fertig werden. Zur Bewältigung einer solchen Situation werden verschiedene Strategien verwendet.
5. Overgeneralization of target language material (Übergeneralisierung).

Bisher erworbene Kenntnisse der Zielsprache werden durch Anwendung falscher Analogien auch dort eingesetzt, wo sie nicht angebracht sind (vgl. Bausch/Kasper 1979).

Selinker macht darauf aufmerksam, dass es im Gegensatz zum Erstspracherwerb beim Zweitspracherwerb immer wieder zum Phänomen der Fossilisierung kommt. Darunter versteht er Folgendes: “Fossilizable linguistic phenomena are linguistic items, rules, and subsystems which speakers of a particular NL [native language] will tend to keep in their IL [interlanguage] relative to a particular TL [target language], no matter what the age of the learner or amount of explanation and instruction he receives in the TL. […] fossilizable structures tend to remain as potential performance, reemerging in the productive performance of an IL even when seemingly eradicated” (Selinker 1972, 215). Man spricht also dann von fossilisierten Strukturen, wenn der Lerner in bestimmten Bereichen keine Fortschritte mehr macht, obwohl seine Äußerungen denen einer zielsprachlichen Norm nicht entsprechen (vgl. Knapp-Potthof/Knapp 1982, 52). Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass viele Lerner nach einer bestimmten Zeit, insbesondere wenn sie ein für sie akzeptables Niveau der Beherrschung der Zweitsprache erreicht haben, die Motivation verlieren, sprachliche Perfektion zu erlangen (vgl. Jeuk 2003, 22). Der Lerner erwirbt also mit seinen psychischen Ressourcen eigenständige, aber instabile Kommunikationsmittel, die zwischen Erst- und Zweitsprache stehen, und die teilweise fossilisiert bleiben, selbst wenn sich die Interlanguage der Zielsprache annähert (vgl. Grießhaber 2002, 2).

Im Gegensatz zur Kontrastivhypothese und zur Identitätshypothese versteht die Interlanguagehypothese den Zweitspracherwerb als einen sich ständig veränderten und instabilen Prozess, der nicht nur durch sprachliche Faktoren, sondern auch durch soziale, emotionale und motivationale Aspekte beeinflusst wird (vgl. Jeuk 2003, 23). Diese Erkenntnisse sind sehr wichtig für den schulischen Kontext, denn die Normabweichungen im Zweitspracherwerb können somit als legitime Zwischenstufen auf dem Weg zur Zielsprache betrachtet werden, die zeigen, über welches Wissen der Lerner bereits verfügt und worauf aufgebaut werden soll.

2.2.4. Die Interdependenz- und Schwellenniveauhypothese

Die Interdependenz- und Schwellenniveauhypothese wurden vom britischen Linguist Jim Cummins (1979) entwickelt und resultieren aus Ergebnissen bilingualer Erziehungsprogramme in Kanada (Lambert/Tucker 1972)2 und Schweden (Skutnabb-Kangas/Toukomaa 1976)3 (vgl. Koch 2007, 39). Die Untersuchungsergebnisse zeigten, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Erst- und Zweitsprache gibt, denn „die untersuchten Kinder (zeigten) umso mehr Erfolge beim Zweitspracherwerb, je besser sie ihre Erstsprache beherrschten“ (Koch 2007, 40).

Die Schwellenniveauhypothese versucht, die kognitiven und schulischen Folgen verschiedener Formen von Zweisprachigkeit zu erklären. Sie besagt, dass sich Zweisprachigkeit sowohl positiv als auch negativ auf den Schulerfolg auswirken kann. Damit der Zweitspracherwerb positive Früchte tragen kann, muss die Erstsprache in gewisser Weise bereits kompetent beherrscht werden (vgl. Jeuk 2003, 24). In diesem Zusammenhang behauptet Cummins, dass „die positiven kognitiven Auswirkungen von Zweisprachigkeit erst wirksam würden, wenn die Fähigkeiten des Kindes in beiden Sprachen eine bestimmte Schwelle erreichten“ (Koch 2007, 39). Die Abbildung 1 bietet eine Übersicht dieser Schwellen.

Abbildung 1: Die Schwellenniveaus und ihre unterschiedlichen Effekte auf Zweisprachigkeit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wenn beide Sprachen also nur geringfügig beherrscht werden, spricht man von dem Semilingualismus oder doppelter Halbsprachigkeit, die negativ auf die kognitive Entwicklung des Kindes auswirkt. Das Kind befindet sich dabei auf der untersten Schwelle (vgl. Jeuk 2003, 24). Überschreitet das Kind aber diese Schwelle, so besitzt es eine dominante und eine nichtdominante Sprache. Durch die Erreichung der Kompetenzen eines Muttersprachlers in einer Sprache werden negative Konsequenzen für die intellektuelle Entwicklung ausgeschlossen (ebd.). Überschreitet das Kind dann auch noch die zweite Schwelle, bei der beide Sprachen in hoher Kompetenz beherrscht werden, erreicht es somit die additive Zweisprachigkeit, die auf die gesamte kognitive Entwicklung positiv auswirkt (vgl. ebd., 25). Das Erreichen bestimmter Schwellenniveaus ist also von den Kompetenzen in beiden Sprachen abhängig. Zudem zeigte die Studie aus Schweden, dass Kompetenzen in der Erstsprache notwendig sind als Fundament für die Zweitsprache. Skutnabb-Kangas und Toukomaa kamen zum Ergebnis, dass „Kinder, die im Alter von zehn Jahren nach Schweden kamen, nach einigen Jahren besser Schwedisch konnten als die Kinder finnischer Migranten, die in Schweden geboren waren und dort eingeschult wurden“ (vgl. Jeuk 2003, 24). Dies erklärt der Fakt, dass die Erstsprache der Kinder, die in ihrem Heimatland längere Zeit gelebt hatten, zum Zeitpunkt der Migration schon altersgemäß entwickelt war. Diese Kinder hatten - im Gegensatz zu den Kindern, deren Erstsprache zu einem Zeitpunkt gelernt wurde, in dem ihre Erstsprache noch nicht ausgebildet war - eine Basis für die Entwicklung weiterer Sprachen. Bei den anderen Kindern wurde es jedoch auf unzureichend entwickelten Sprachkompetenzen aufgebaut, was zu unzureichender Entwicklung beider Sprachen führte. Daher lässt es sich erschließen, dass ein hoher Stand in der Erstsprache eine gute Zweitsprachentwicklung ermöglicht, wohingegen sich eine mangelhaft ausgebildete muttersprachliche Kompetenz negativ auf die Zweitsprache auswirkt.

Den unterschiedlichen Erfolg beim Erst- und Zweitspracherwerb von zweisprachigen SchülerInnen versucht Cummins mit der Interdependenzhypothese zu erklären. Sie besagt, dass „sich die Zweitsprache auf der Grundlage einer intakten Erstsprache entwickelt, von der die Zweitsprache profitiert“ (ebd., 25), d.h. wenn die Erstsprachgrundlagen gut entwickelt sind, wirken sie auch günstig auf die Zweitsprachentwicklung aus, und umgekehrt, wenn die Erstsprache nicht genügend entwickelt ist, bringt sie somit eine schlechte Voraussetzung für den Erfolg der Zweitsprache. Darüber hinaus geht Cummins davon aus, dass „das Kompetenzniveau in der S2, das vom zweisprachigen Kind erworben wird, zum Teil davon abhängig ist, welches Kompetenzniveau es in der S1 zu dem Zeitpunkt hat, an dem es mit der S2 intensiv konfrontiert wird (Cummins 1982, 39). Cummins geht von zwei Dimensionen der Sprachbeherrschung aus: basic interpersonal communicative skills (BICS) und cognitive academic language proficiency (CALP). Die BICS umfassen die grundlegenden Fertigkeiten der mündlichen Kommunikation, die vor allem in Alltagssituationen eine Rolle spielen. Sie entstehen außerhalb der Schule und werden auch von Kindern beherrscht, bei denen doppelte Halbsprachigkeit vorliegt (ebd., 26). Unter CALP werden die sprachlichen Fähigkeiten zusammengefasst, die sich als intellektuelle Aktivitäten in der Schule manifestieren (ebd.). Das sind beispielsweise Fähigkeiten, mit schriftlichen und mündlichen Schultexten umgehen zu können. Cummins (1979) versteht unter CALP „die sprachlichen Aspekte, die durch dekontextualisierten Sprachgebrauch und Schriftlichkeit gekennzeichnet sind. Sie ermöglichen es dem Individuum, Sprache als kognitives Werkzeug zu gebrauchen“ (Rapti 2005, 52). Die meisten Migrantenkinder verfügen über die BICS, was aber laut Cummins nicht genügt, um die Schule erfolgreich durchlaufen zu können. Um den Anforderungen der Schule gerecht zu werden, benötigen sie die Fähigkeiten, die ihnen erlauben, an der Fachkommunikation, also an den Unterrichtsgesprächen, teilnehmen zu können (vgl. Siebert-Ott 2001, 33). Dafür brauchen sie die CALP. Der Interdependenzhypothese zufolge wird also derjenige, der in seiner Erstsprache keine CALP erworben hat, sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der Zweitsprache nicht erwerben können und dementsprechend in der Schule versagen. Wenn aber diese Fähigkeiten in der Erstsprache beherrscht und gefördert werden, ist der Erwerb einer zweiten Sprache garantiert. Trotz vielen Kritiken an den beiden Hypothesen sind die Grundannahmen von Cummins von einer großen Bedeutung für die Zweitspracherwerbs-forschung, denn sie stellen die Bedeutung der Erstsprache für den Zweitspracherwerb heraus, woraus sich ergibt, dass eine Förderung der Muttersprache sinnvoll ist.

[...]


1 vgl. http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Navigation/ Statistiken/Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration.psml [18.10.2009]

2 Ein Immersionsprogramm, dessen Ziel war, den anglophonen Kindern in Kanada die volle Beherrschung des Französischen zu ermöglichen. Immersion=Eintauchen in die Zweitsprache.

3 Ein Submersionsprogramm zur Sprach- und Schulentwicklung von finnischen Kindern in schwedischen Schulen ohne muttersprachlichen Unterricht. Submersion=Untertauchen in die Zweitsprache.

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Deutsch als Zweitsprache von zwei- und mehrsprachigen Kindern in der Sekundarstufe I
Untertitel
Erwerb, Diagnose und Förderung
Hochschule
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Note
2,7
Jahr
2009
Seiten
71
Katalognummer
V315308
ISBN (eBook)
9783668141322
ISBN (Buch)
9783668141339
Dateigröße
755 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
deutsch, zweitsprache, kindern, sekundarstufe, erwerb, diagnose, förderung
Arbeit zitieren
Anonym, 2009, Deutsch als Zweitsprache von zwei- und mehrsprachigen Kindern in der Sekundarstufe I, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/315308

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