Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Rahmen und Hypothesen
2.1 Political Sophistication und die Entstehung von Belief Systems
2.2 Sozialisationsprozesse
2.3 Black and White-Modell
2.4 Orientierung im politischen Raum: Links/Rechts-Schema
3. Hypothesen
4. Methodisches Vorgehen: Operationalisierung und Durchführung
5. Ergebnisse
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
8. Anhang
1. Einleitung
In der Nacht vom neunten auf den zehnten November 1989 wurde mit dem Fall der Berliner Mauer die Wiedervereinigung der DDR mit der BRD eingeläutet (Weber 2010, 130). Aber auch nach nunmehr 25 Jahren der Wiedervereinigung werden noch immer erkennbare Unter- schiede zwischen den neuen und den alten Bundesländern angeführt. Lohnunterschiede, Ar- beitslosigkeit und auch im Wahlverhalten sind Unterschiede nicht abzustreiten. Doch woher kommen diese Unterschiede? In der Wahl- und Einstellungsforschung gibt es schon seit lan- gem Bestrebungen, diese Frage zu klären. Dabei werden unter anderem soziostrukturelle (vgl. Lazarsfeld 1944) oder auch sozialpsychologische (vgl. Campbell 1980) Erklärungsansätze verfolgt um Gründe für die Unterschiede zu elaborieren. Diese beziehen sich aber vor allem auf den aktuellen Kontext, in welche die Individuen eingebettet sind. Wodurch wurden die unterschiedlichen Gegebenheiten aber erst bedingt? Die Teilung Deutschlands in zwei sich gegenüberstehende Staaten, mit unterschiedlichen Vorstellungen, Ideologien und politischen Rahmenbedingungen (vgl. Waterkamp 1989, 124) kann kaum folgenlos sein für die politische Wahrnehmung der Individuen heutzutage, zumindest jedenfalls solcher, welche in einem der beiden Systeme aufgewachsen sind. Und ist es nicht denkbar, dass neben dem Wahlverhalten noch wesentlich grundlegende Unterschiede der heutigen Individuen durch die unterschiedli- chen Sozialisationsrahmen induziert sind?
Diese Arbeit macht es sich zur Aufgabe, anhand von Befragungsdaten der Bundestagswahl 2013 diesem Unterschied zwischen „Ost“ und „West“ nachzugehen und grundlegende Diffe- renzen im politischen Denken zu identifizieren und zu erklären. Die Hoffnung dabei ist, durch den Nachweis nachhaltiger Auswirkungen der unterschiedlichen Sozialisation für die weder sichtbaren noch intendierten und auch nicht aktuellen Beeinflussungen der politischen Wahr- nehmungs- und Bewertungsfähigkeit von Individuen zu sensibilisieren, um diese als weitere mögliche Erklärung in Ost/West-Untersuchungen der aktuellen Forschung miteinzubeziehen.
Was aber ist unter dem recht diffusen Begriff politischen Denkens zu verstehen? Hierbei wird auf die Arbeit von Philip E. Converse zur „nature of belief systems in mass publics“ (Con- verse 2006) aufgebaut. Converse befasst sich dort mit ebenjenen grundlegenden Strukturen des politischen Bewusstseins, der politischen Kognition und bietet dieser Arbeit damit eine Basis zur Bestimmung, Identifizierung und Erklärung unterschiedlicher politischer Denkstrukturen zwischen „Ost“ und „West“. Dabei ergebe sich aus der Beschaffenheit der „belief systems“ (Converse 2006, 3) die „political sophistication“ (Converse 2006, 28) eines Individuums, was in etwa mit „politischer Versiertheit“ (Rattinger 2009, 218) übersetzt wer- den könnte.1 Anhand dieser political sophistication sollen nachfolgend Unterschiede unter der Annahme, dass die divergierenden Rahmen des politischen und sozialen Lebens in der BRD und DDR nachhaltige Unterschiede im politischen Denken generiert haben, aufgezeigt wer- den. Ob und weshalb signifikante Unterschiede in der political sophistication und entspre- chend den grundlegenden belief systems zwischen Ost und West vorliegen, stellt somit die Forschungsfrage dieser Arbeit da.
Der theoretische Zugang zu der Problematik dieser Arbeit über Converse bietet noch einen weiteren Vorteil. Entsprechend seines Konzepts von belief systems steht das Abstraktionsund Orientierungsvermögen der Individuen im Mittelpunkt und gestattet somit eine Vernachlässigung themenspezifischer2 Unterschiede zwischen Ost und West, welche womöglich eher durch aktuell präsente Faktoren bedingt sind und somit den Zugang zu den sozialisationsinduzierten Bestandteilen der belief systems verhindern könnten.
Dennoch wird deutlich, dass das theoretische Fundament dieser Arbeit weiterer Spezifikatio- nen bedarf, da vor allem die Entstehungsmechanismen von belief systems diese für Sozialisa- tionseffekte öffnen und eine langfristige, stabile Verankerung der unterschiedlichen Sozialisa- tionsbedingungen und somit Unterschiede in der political sophistication zwischen Ost und West suggerieren. Zusätzlich wird das Konzept von political sophistication in entsprechenden Forschungssträngen derart häufig genutzt, dass die Pluralisierung des Begriffs seine konzep- tuelle Trennschärfe beschneidet. So stellt beispielsweise Luskin fest, dass „we all think that we are talking about the same thing. But are we? [...] Since measures suceed or fail only in relation to what they are supposed to be measuring, it is important to get these things straight from the outset“ (Luskin 1987, 857). Entsprechend soll nun nachfolgend das Verständnis die- ser Arbeit von belief systems und political sophistication auf theoretischer Ebene konturiert werden, um es anschließend in der Ausführung des methodischen Vorgehens plausibel opera- tionalisieren zu können. Darüber hinaus wird auf verschiedene Modelle der Sozialisation mit ihren Implikationen für diese Arbeit als wesentliche Mechanismen für die Generierung der Unterschiede zwischen Ost und West eingegangen. Nachdem kurz das black and white - Modell von Converse vorgestellt wird, schließt der theoretische Rahmen mit der Darstellung des Links/Rechts-Schemas, um dieses ebenfalls plausibel in die nachfolgende Operationali- sierung einbinden zu können. Anschließend werden noch einmal die aus dem theoretischen Rahmen abgeleiteten Hypothesen explizit gemacht. Danach folgt die Erläuterung des metho- dischen Vorgehens zwecks Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, welche danach vorgestellt werden. Dabei werden die aufgestellten Hypothesen überprüft und diskutiert, bevor im Fazit schließlich zuvor ungenannte Einschränkungen der Aussagekraft der Ergebnisse problemati- siert und Implikationen der Ergebnisse auch für weitere Forschungsbestrebungen aufgezeigt werden.
2. Theoretischer Rahmen und Hypothesen
Im Nachfolgenden werden also zunächst die political sophistication spezifiziert und die Entstehungsmechanismen von belief systems dargestellt. Darauf folgt ein kurzer Abriss über verschiedene Sozialisationsmodelle. Anschließend wird kurz das Black and White -Modell vorgestellt, welches einen wesentlichen Bestandteil von Converses Arbeiten ausmacht, in dieser Arbeit aber nur unterstützend konsultiert wird, bevor schießlich das Links/Rechts-Schema für die spätere Operationalisierung theoretisch fundiert wird.
2.1 Political Sophistication und die Entstehung von Belief Systems
Bei der Entwicklung seines Modells der political sophistication beschreibt Converse Mecha- nismen der Entstehung von belief systems, wovon drei wesentlich für die Annahme dieser Arbeit sind, dass die unterschiedlichen politischen und sozialen Gegebenheiten der DDR und BRD nachhaltig belief systems unterschiedlichen Konzeptualisierungsgrades generiert haben. Zunächst führt Converse aus, dass die Aktivation von politischen Objekten deren Träger für Inkonsistenzen sensibilisiert und äußert entsprechend die Annahme, dass „simple thinking about a domain of idea-elements serves both to weld a broader range of such elements into a functioning belief system and to eliminate strictly logical inconsistencies [...]“ (Converse 2006, 6). Warum hat nun diese Überlegung Relevanz für die vorliegende Forschungsfrage? Während in der BRD das Parteiensystem den Wähler vor eine breitere Auswahl stellte, wurde das Parteiensystem der DDR hingegen durch den „monolithischen Machtapparat“ (Weber 2010, 39) der SED dominiert. Dadurch könnte unterstellt werden, dass die DDR-Bürger durch die geringere Aktivation der Entscheidungsproblematik zwischen Parteien verschiedener poli- tischer Ausrichtungen weniger Möglichkeiten hatten, ihr belief system um die Elemente ver- schiedener Parteipositionen und deren Anordnung zu erweitern. Somit wäre ein geringerer Konzeptualisierungsgrad hinsichtlich der Orientierung in einem Mehrparteiensystem zu er- warten. Tatsächlich unterstützen Untersuchungen kurz nach der Wende diese Hypothese. In einer Querschnittsuntersuchung aus dem Jahre 1990 wird festgestellt, dass „die Befragten aus der BRD [...] besser Bescheid [wussten] über die Parteienlandschaft“ (Ingrisch 1997, 78). Dabei bleibt vor dem Hintergrund der Aktualität der Studie jedoch die Frage, inwieweit heutzutage solche Unterschiede noch zu erwarten sind.
Der zweite Entstehungsmechanismus unterscheidet zunächst zwischen logischen und quasi- logischen Verbindungen zwischen Elementen des belief systems (Converse 2006, 7). Solche quasi-logischen Verbindungen werden nach Converse häufig „on the basis of an appeal to some superordinate value or posture toward man and society, involving premises about the nature of social justice, social change, natural law, and the like“ (Converse 2006, 7) erzeugt. Die DDR wurde unter der Diktatur der SED stark von der Ideologie des Sozialismus geprägt (vgl. Weber 2010, 43) was somit unter Umständen zu quasi-logischen Verbindungen im belief system führe und entsprechend die political sophistication negativ beeinflusst haben könnte.
Der dritte Entstehungsmechanismus verweist auf die Diffusion von belief systems, welche durch die Entstehung determiniert sei. Demnach sei die Entstehungsphase von einem logisch verknüpftem „package“ (Converse 2006, 8) von beliefs auf eine kleine Gruppe der gesamten Bevölkerung begrenzt. Von diesen „creative sources“ (Converse 2006, 8) würden dann die belief packages als „natural wholes“ (Converse 2006, 8) in die breite Masse diffundieren, wo diese dann lediglich als „fact of existence“ (Converse 2006, 8) in das bestehende belief system inkludiert würden und Deduktionen aus diesem package heraus aufgrund mangelnder Kennt- nisse über den eigentlichen Zusammenhang verhindern. Hierbei soll wieder auf die Diktatur der SED verwiesen werden, deren relativ kleine Parteispitze zum einen vermutlich selbst als creative source agierte, zum anderen die packages der „Lehrsätze des Marxismus- Leninismus“ (Weber 2010, 40) womöglich wenig reflektierend übernahm, dabei entsprechend voriger Ausführungen quasi-logische Beziehungen oder facts of existence übernahm und diese an die breite Masse weiterleitete, welche wiederum noch weniger Möglichkeiten zur Ent- schlüsselung der logischen Beziehungen besaß. Im Bezug auf diesen Diffusionsprozess weist Converse zudem auf die wichtige Rolle der Transmission von Informationen hin (vgl. Con- verse 2006, 9). Die Querschnittsuntersuchung aus dem Jahre 1990 zeigt, dass in der Oststich- probe die Zusammenhänge zwischen politischem Wissen und medialen Informationsquellen weniger signifikant und konsistent sind als in der Weststichprobe (vgl. Ingrisch 1997, 92).3
Dies indiziert eventuell die geringe Wissensfunktion der DDR Medien, was sich womöglich in der Gleichschaltung der Medien durch die SED Diktatur (Weber 2010, 101) begründet sieht, welche vermutlich eher systemstabilisierend, als informativ motiviert war. Entspre- chend wird erwartet, dass auch dieser Entstehungsmechanismus in Verbindung mit den spezi- fischen politischen und sozialen Gegebenheiten die political sophistication der DDR Bürger negativ beeinflusst hat.
2.2 Sozialisationsprozesse
Wie zuvor bereits angedeutet, werden die Unterschiede zwischen Ost und West in der politi- cal sophistication aufgrund der systematisch unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen erwartet, wobei einige spezifische politische und soziale Rahmenbedingungen schon ange- sprochen wurden. Erwartet man nach 25 Jahren noch Effekte der unterschiedlichen Sozialisa- tion, so basiert diese Erwartung größtenteils auf dem Primacy- und dem Intermediate-Modell der politischen Sozialisation. Diese Modelle postulieren unterschiedliche sensible Phasen für die Sozialisation mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die spätere politische Identität ei- nes Individuums (vgl. Rattinger 2009, 133). Dem Primacy-Modell zufolge ist dabei „die Kindheit zwischen ungefähr dem fünften und zehnten Lebensjahr die nachhaltigste und wich- tigste Sozialisationsphase“ (Rattinger 2009, 133), beim Intermediate-Modell hingegen wird die „wichtigste Sozialisationsphase in der späteren Kindheit und der Jugend [...]“ (Rattinger 2009, 134) gesehen. Konträr dazu erscheint das Recency-Modell, welches im wesentlichen postuliert, dass „diejenigen politischen Sozialisationserfahrungenen am einflußreichsten [...] sind, die am wenigsten weit zurückliegen“ (Rattinger 2009, 135). Hier wird also nicht von einer sensiblen Phase, sondern vielmehr von einer lebenslangen Sozialisation ausgegangen. Jeder dieser Phasen werden dabei unterschiedliche Effekte auf die politische Identität der In- dividuen zugeschrieben. Während das Primacy-Modell vor allem affektive Einstellungen (z.B. diffuse Unterstützungen) formt, bilden sich in der Jugendphase dem Intermediate- Modell folgend Fähigkeiten, „politische Prozesse, Strukturen und Rollen differenziert zu er- kennen und zu bewerten“ (Rattinger 2009, 135). Vor allem hier wäre vor dem Hintergrund von political sophistication ein Effekt durch unterschiedliche Sozialisationsbedingungen zu erwarten. Dem Recency-Modell ist durch seinen Aktualitätsbezug am ehesten eine Funktion für Einstellungen gegenüber spezifischen Themen inhärent. Da beim Recency-Modell die politische Orientierung als „eine Funktion aller gegenwärtigen und vergangenen Ereignisse und Randbedingungen [verstanden wird, M.G.], wobei mit zunehmendem zeitlichen Abstand frühere Erfahrungen immer stärker diskontiert werden“ (Rattinger 2009, 135), wäre dieses Modell durch zunehmend geringere Unterschiede zwischen Ost und West unterstützt.
Die dargestellten Mechanismen der Sozialisation sind für diese Arbeit insofern fundamental, als dass sie sowohl als Erklärung für die unterschiedlichen belief systems in Verbindungen mit Converse Annahmen fungieren, darüber hinaus aber auch erst diese Unterschiede über die Wiedervereinigung hinwegtragen und für die Bundestagswahl 2013 erwartbar machen. Sollte sich also die Annahme dieser Unterschiede bestätigen, wäre von einem Perioden- oder auch Generationeneffekt4 auszugehen, welche sich aus dem Primacy- und Intermediate-Modell ergeben und bestehende Unterschiede trotz größerer zeitlicher Differenz erklären können. Es wäre dann davon auszugehen, dass „Menschen in ihrer Kindheit und Jugend anders soziali- siert wurden und sich diese Sozialisationserfahrungen bis ins hohe Alter erhalten haben“ (Rat- tinger 2006, 136).
2.3 Black and White-Modell
Einen weiteren wesentlichen Bestandteil von Converse Arbeiten über political sophistication stellt das „’black and white’ model“ (Converse 2006, 49) dar. Dieser Befund macht dabei keine direkten Aussagen über die Beschaffenheit von belief systems und political sophistica- tion, sondern vielmehr über deren Verteilung. Demnach hätte der Großteil der Bevölkerung „meaningsless opinions that vary randomly in direction during repeated trials over time“ (Converse 2006, 49), wohingegen nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung kristallisierte und zeitlich stabile belief systems besitze (vgl. Converse 2006, 49). Darüber hinaus gebe es „no middle ground, no set of people whose beliefs [...] are in the process of evolution“ (Converse 2006, 50).
2.4 Orientierung im politischen Raum: Links/Rechts-Schema
Ein belief system hat nach Converse einen umso höheren Konzeptualisierungsgrad,5 je abs- trakter und entsprechend ökonomischer es arbeitet (vgl. Converse 2006, 13).
[...]
1 Um konzeptuell möglichst eindeutig zu arbeiten, wird in dieser Arbeit aber mit den Konzepten und entsprechenden englischen Termini von Converse gearbeitet.
2 Mit „themenspezifisch“ sind hierbei aktuelle politische Fragen gemeint.
3 An dieser Stelle wird bewusst eine Studie nach der Auflösung der DDR gewählt, da solche Untersuchungen während des Bestehens der DDR zum einen äußerst rar sind, zum anderen nicht durch externe Institute durchge- führt worden sind, was die Validität in Frage stellen kann. Durch die zeitliche Nähe zur bestehenden DDR lassen sich durch diese Untersuchung jedoch noch Rückschlüsse auf die entsprechenden Zusammenhänge erwarten (vgl. Ingrisch 1997, 43).
4 Für weitere Informationen zu diesen Effekten: Rattinger 2006.
5 Ein Individuum hat eine höhere political sophistication.