Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Die Monolognovelle und ihr heuristisches Bezugssystem
A. Der intertextuelle Bezug der Novelle
B. Zur Technik des inneren Monologs
C. Zur Novellengattung
II. Inhaltsangabe
III. Hauptteil
A. Erster Teil
1. Entwurf des Geldmotivs
2. Von der galvanochemischen Kraft der Gesellschaft
3. Vom Eros oeconomicus
B. Zweiter Teil
1. Im verlebten Filou das Luder in spe
2. Karneval am Schindacker
IV. Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Wenn Arthur Schnitzlers Monolognovelle Fräulein Else im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Arbeit unter dem Gesichtspunkt eines Geldmotivs zu interpretieren ist, rekurrieren die Begriffe des Interpretaments auf zumindest dreierlei Problemkomplexe, die sich mit folgenden Fragestellungen kennzeichnen lassen: was ist Geld; was ist ein Motiv; wie oder als was ist ein Geldmotiv in der sog. 'Monolognovelle' Fräulein Else zu denken?
Die folgenden Ausführungen stellen den Versuch dar, in der dritten Frage eine Konkretisierung zu leisten, wobei die Gegenstände der beiden ersten nur insoweit theoretisch fundiert werden, als es sie geeignet macht, sich in der Darstellung des Themas als heuristisches Mittel umzusetzen. Die Darstellungsmethode beruht auf der Annahme, dass das Ich seinem inneren Antrieb nach im Geld ein Objekt zur Identifizierung vorfindet. Als Motiv wird zunächst die Quelle eines Drangs und als Geld ein dem subjektiven Drang vorstehendes Bild aufgefasst. Der Motivbegriff kommt zum Tragen, insofern von ihm her die Handlungsstruktur der Novelle aufgrund von Widersprüchen zu beschreiben ist, die im Geldbegriff angelegt sind. Dass das Geldmotiv aber in dieser Weise als Chiffre der Umsetzung eines inneren Drangs aufgefasst wird, trägt dem Umstand Rechnung, der im Begriff von der Monolognovelle enthalten ist.
Im ersten Teil wird eine Begründung für die eigentümliche Bezeichnung 'Monolognovelle' im Sinn des von Wolfgang Iser beschriebenen „funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur“ geliefert, wobei die Annahme gilt:
„Textmodelle stellen heuristische Entscheidungen dar. Sie sind nicht die Sache selbst, wohl aber verkörpern sie einen Zugang zu ihr. Der Text als die Sache ist niemals als solcher, sondern immer nur in einer bestimmten Weise gegeben, die durch das Bezugssystem entsteht, das zu seiner Erfassung gewählt worden ist.“[1]
Durch die Herleitung eines intertextuellen Bezugs der Novelle soll das Bezugssystem zur Erfassung des Textes und weiter der innere Monolog als Technik, wie die Novelle als Gattung plausibilisiert werden. Dieser erste Teil korrespondiert mit dem Schlussteil, in dem Bemerkungen zur Deutung der Novelle gemacht werden.
Der zwischen erstem Teil und Schlussteil stehende zweite Teil zerfällt in zwei Hälften, was seine Begründung darin findet, dass es als thematisch entscheidend angesehen wird, dass Else Dorsdays Bedingung „nicht ganz in der von (ihm) vorgesehenen Weise“[2] erfüllt. In der ersten Hälfte wird das Geldmotiv entworfen und aufgezeigt, was Dorsdays Bedingung eigentlich vorsah. In der zweiten Hälfte wird dargestellt, wie Else die Bedingungen erfüllt und zugleich von ihnen abweicht.
I. Die Monolognovelle und ihr heuristisches Bezugssystem
A. Der intertextuelle Bezug der Novelle
Die Monolognovelle Fräulein Else erschien im Oktober 1924. Ihre Handlung datiert früher. So konkret der Novellenablauf auch zeitlich dargestellt ist, eine Jahresangabe wird nicht gemacht. Schnitzler äußerte sich in einen Brief an Hans Jacob in einer vielsagenden Stelle zur Eingrenzung des Handlungsjahrs:
„Die Geburtsstunde der 'Else' liegt etwas weiter zurück meiner Empfindung nach als zwischen 1904-1924, ich habe meine Gründe anzunehmen, daß 'Fräulein Else' sich schon vor Ausbruch des Krieges vergiftet hat. Aber es kommen immer wieder neue auf die Welt, weder die Menschen noch die Menschheit hat sich verändert.“[3]
Schnitzler reagiert als Autor des Textes, auf den sich eine interpretatorische Mutmaßung Jacobs bezieht, indem er eine eigenartig vage Auskunft gibt, in der sich besonders eine Behutsamkeit für den subjektiven Anteil seiner Dichtung ausdrückt. Schnitzlers Aussage hinsichtlich der Fixierung des historischen Kontextes ist selbstredend. Zu demselben ist Dingfestes insoweit zu sagen, als die Empfindung Anteil an ihm hat. Das historische Ereignis ergibt sich durch eine rekursive Identifikation im Bewusstsein von den Trajektorien der gesellschaftlichen Empfindungen. Es stellt als chronologischer Wert die Manifestation eines Entwicklungsprozesses dar, wobei nach einem Beginn – der durch Vergiftung bewirkten Geburtsstunde des Fräulein Else als einer auf einer bestimmten Stufe entstandenen Bewusstseinsform gefragt wird. Eben deshalb kann es sein, dass von diesem Typus „immer wieder neue auf die Welt (kommen)“, worin in Anbetracht der ursprünglichen Vergiftung mutmaßlich jedoch nichts Tröstliches liegt. Die Behauptung ist nun, dass sich dieser Wert zur Entwicklung so verhält, wie das Symptom zum Krankheitsprozess und das auf einer anderen Ebene die Geburt der Bewusstseinsform des Fräulein Else mit der Erfindung nosologischen Wissens von der Hysterie gleichzusetzen ist. In dieser Lesart ist der vagen Andeutung des Briefzitats die Auskunft über eine intertextuelle Bezugnahme der Novelle auf eine andere Schrift und gleichzeitig eine Art Anleitung zu deren Verstehen zu entnehmen, die, wenngleich in den ersten Jahren nach ihrem Erscheinen nur wenig beachtet[4], durchaus mit einem konkreten Datum auch für den Beginn ihrer Rezeptionsgeschichte versehen ist: die von Josef Breuer und Sigmund Freud 1895 in einem Band veröffentlichten Studien über Hysterie.[5]
Die Verbindung zu dieser Schrift hat für diese Arbeit zunächst die Konsequenz einer symbolischen Lesart. Es wird jedoch ersichtlich, dass die Interpretation, die in der Novelle die Beschreibung eines 'Falls' von Hysterie sehen will, den novellistischen Sinn wohl nachgerade verfehlt. Es sei an dieser Stelle nur angedeutet, dass in der vorliegenden Arbeit die Annahme darauf hinausgeht, diese Deutungsmöglichkeit als eine Art Falle anzusehen, die Schnitzler dem Interpreten stellte. Am Ende wird auf diesen thematisch nur bedingt relevanten Punkt noch einmal ausdrücklich eingegangen.
Neben den Studien über Hysterie sind für die Deutung der von Schnitzler anhand der Figur Else dargestellten Geburt durch Vergiftung noch zwei andere Schriften Freuds von Belang, nämlich Jenseits des Lustprinzips und Massenpsychologie und Ich-Analyse. Der Titel dieser Arbeit rekurriert auf auf die Schrift Jenseits des Lustprinzips, mit der Freud neben den topischen und den dynamischen zum Dritten den „ökonomischen Gesichtspunkt“[6] in die psychoanalytische Theorie einführte. Der intertextuelle Bezug auf die Studien zur Hysterie ist vor allem zur Deutung formaler Aspekte von Fräulein Else entscheidend. Zur Auslegung des Inhalts werden aber insbesondere die beiden anderen genannten Schriften in Betracht gezogen.
B. Zur Technik des inneren Monologs
Schnitzler selbst nannte Fräulein Else eine Monolognovelle. Jürgen Zenke macht in Rekurs auf die Formkriterien der Novelle des 19. Jahrhunderts die Feststellung:
„Die unbegründete Zuordnung zur Gattung Novelle hat sich insbesondere für A. Schnitzlers Fräulein Else eingebürgert. Der Autor bezeichnete sie so, und die meisten Interpreten folgen ihm, ohne die Problematik zu erörtern. (…) Im Vordergrund steht dabei die speziellere Frage, wieweit der innere Monolog durch seine Umwandlung der Erzählperspektive noch ein novellistisches Erzählen ermöglicht.“[7]
Die Technik des inneren Monologs lässt eine Erzählinstanz formal-sprachlich außer Betracht kommen. Dass es die Instanz eines Erzählers gleichwohl geben muss, ist an der Tatsache der Novelle selbst evident, deren Möglichkeit nur unter der Bedingung seiner Existenz gegeben ist. Die Intentionalität auf die Ausdrucksgestalt der Novelle ist im Erzähler als ihrem Freisetzer gebunden. Martinez/ Scheffel nennen eine Rede eine Erzählung, „wenn diese Rede einen ihr zeitlich vorausliegenden Vorgang vergegenwärtigt, der als 'Geschehnis' oder 'Begebenheit' bestimmt werden kann.“[8] Wobei definitorisch zu modifizieren ist, dass die 'Vergegenwärtigung' eines Vorgangs dem Gedanken entspringt, aus dem sich Einzelnes aus dem Gesamt des Geschehnisses bzw. einer Begebenheit eingibt. Eine Rede kann also womöglich dann als Erzählung bezeichnet werden, wenn durch sie ein als Geschehnis oder Begebenheit bestimmter Vorgang im Sinne einer der Bestimmung gemäßen Vergegenwärtigung realisiert wird. Und eben diese Bestimmtheit ist notwendig durch einen Erzähler geleistet, ob er nun intra- oder extradiegetisch in Erscheinung tritt oder präsent ist, weil er sich durch die Anwendung einer Technik hinter deren Ergebnissen verbirgt.
Zweierlei Annahmen können getroffen werden: entweder, die Technik dient der Verhüllung des fiktionalen Charakters der Novelle, dem Kaschieren als Wahrheit, der makellosen Lüge; so diente sie als Mittel in der Hervorbringung einer Aussage. Oder aber die Technik selbst ist eine Aussage – über den fiktionalen Charakter des Faktischen, die Wahrheit des Kaschierens, die Allgegenwart der platten Lüge; so wäre die Technik eine Aussage, deren Ausdruck nur möglich ist, insofern ihre Referenz dasjenige ist, was zu ihrer nicht fähig ist: zur Wahrheit. Im zweiten Fall wäre Erzähler und Autor als eine Person aufzufassen. Doch woher kommt der Text, bzw. was ist er dann?
Die Aufzeichnungen, die sich dem Leser darbieten, sind weder die der Protagonistin, noch die einer extradiegetischen Erzählinstanz. Der Text stellt eine verdinglichte, festgefügte Form flüchtiger, gedanklicher und nicht geäußerter Vorgänge dar:
„Das, was als Aufzeichnung vorliegt, ist weder eine sprechende Stimme noch Geschriebenes, sondern Nichtgeäußertes – Aphonie und Agraphie, Stille und Unbeflecktheit.“[9]
Das Lesen des Textes ist als performativer Akt zu sehen, durch den der Text im Gedankengang als Lesersubjekt verobjektiviert wird.
C. Zur Novellengattung
In seiner 1905 erschienenen Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten bringt Freud zur Erläuterung der Witztechnik das Beispiel:
„Ein als Witzbold bekannter ärztlicher Kollege sagte einmal zum Dichter Arthur Schnitzler: 'Ich wundere mich nicht, daß du ein großer Dichter geworden bist. Hat doch schon dein Vater seinen Zeitgenossen den Spiegel vorgehalten.' Der Spiegel, den der Vater des Dichters, der berühmte Arzt Dr. Schnitzler, gehandhabt, war der Kehlkopfspiegel; nach einem bekannten Ausspruch Hamlets ist es der Zweck des Schauspieles, also auch des Dichters, der es schafft, 'der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen'“[10]
Schnitzler entnahm behufs seines Zwecks als Dichter seine Stoffe den Affären des Alltags.[11] Seine Aufmerksamkeit galt den Begebenheiten, die en passant geschehen und für gewöhnlich sofort wieder vergessen werden. Die Vertiefung des subjektiven Gehalts alltäglicher Momente widerspricht dem Diktum der Wirklichkeit, das Einzelschicksal des Fortkommens halber zu banalisieren. Insofern die Gesellschaft ihre Wirklichkeit in jedem ihrer Individuen ausmacht, gereicht Schnitzler ihr seine Dichtung als Spiegel, insofern sich in seinem Bild die „Verquickung von Individualschicksal und Gesellschaft“[12] vollzieht.
Es war väterliches Gebot, das Schnitzler dazu veranlasste, den Beruf des Arztes zu ergreifen. Dass er seine ärztliche Praxis später einstellte und sich ganz darauf versah, schriftstellerisch tätig zu sein, wird für ihn eine Gewissensfrage aufgeworfen haben.[13] Nun war es ein Gedanke, der zu den therapeutischen Prämissen der Psychoanalyse Freuds zählte, der sich für Schnitzler wie eine Lösung dieses möglichen Konflikts eingegeben haben mag: die kathartische Methode. Ihr Gedanke legte es nahe, dass Dichtung fähig sei, auf die Selbstheilungskräfte einer erkrankten Gesellschaft einzuwirken. Schnitzlers ärztliche Leistung als Dichter bestand in der Bereitstellung einer allgemeinen Hilfe zur Selbsterkenntnis. Allgemein war diese Hilfe, zum einen, weil sie in Buchform jedermann zugänglich war, zum anderen, weil ihrer Wirkungsabsicht die Vorstellung zu Grunde lag, dass jedermann die von ihr avisierten Kräfte der Vernunft und des Verstandes in sich trage. Freud sah in der Sprache „ein Surrogat für die Tat, mit deren Hilfe der Affekt nahezu ebenso abreagiert werden kann“[14] und durch sie die Möglichkeit
„die Störungen des menschlichen Seelenlebens zu verstehen, weil eine merkwürdige Erfahrung gezeigt hatte, daß hier Verständnis und Heilung beinahe zusammenfallen, daß ein gangbarer Weg von dem einen zum anderen führt.“[15]
Gattungsbezeichnung und Technik der Monolognovelle Fräulein Else sind so folgerichtig wie der Rückzug Freuds aus dem Gesichtsfeld seiner Patienten und seiner Platzierung auf einem Sessel über Kopf. Die Äußerlichkeit des Erzählers verzerrte bloß die Klarheit der textlich dargetanen Gedanken, machte es zu leicht, die eigene Betroffenheit als fingierte abzutun. Der Leser soll unverstellt Einblicke in sich selbst nehmen. Ohne dass ihm eine in der Erzählernatur repräsentiert gefundene, letztlich aber artifizielle Haltung dazu anhalten lässt, auf sittlich unstatthafte Gedanken mit Affektation und Übertragung zu reagieren.[16]
Zum einen setzt Schnitzler die von Hermann Bahr bereits 1891 im Sinn der Programmatik des „inneren Naturalismus“ geforderte literarische Technik der „psychologischen Monologie“ um, die „einsame, weltflüchtige Selbstgespräche“[17] darstellen sollte. Zum anderen knüpfte er an die „psychologische Erzählkunst“[18] Freuds an, der zu seiner „Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter gewohnt ist“[19], meinte:
„(...) es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.“[20]
Fräulein Else ist als ein nosologisches Substrat anzusehen, das im Begriff der Novelle zu Verständnis gebracht wird. Ihre figürliche Darstellung erfolgt nicht auf der intradiegetischen Ebene, sondern die Novelle selbst stellt ihre Figuration und ihr Inhalt die graphemische Umsetzung ihrer Engrammatik dar; symbolisch in Gestalt von Worten. Der Rezeptionsvorgang ist das Denken dieser Symbolik in actu. Das novellistische Ereignis ist als Emergenz des Rezeptionsvorgangs ein Erkenntnismoment des Rezipienten.[21] Wollte man im Sinn der Gattungsbezeichnung nach so etwas wie dem Falkenmotiv fragen, so könnte auf der intradiegetischen Ebene der Spiegel in Betracht kommen, insoweit angenommen wird, das über dem sich spiegelnden Körper ein Raubvogel kreist. Wie das zu verstehen ist, soll im Folgenden deutlich werden.
Wenn das Bild des räumlichen Arrangements in einer psychoanalytischen Sitzung in Übertragung auf die Rezeptionssituation des Schnitzlerschen Textes weitergedacht wird, so erschließt sich der Platz über Kopf als derjenige des Rezipienten. Für die Leserkonzeption ergibt sich daraus der Aspekt der Verantwortlichkeit. Einer Verantwortlichkeit, die der Rezipient für sich selbst zu übernehmen hat.
II. Inhaltsangabe
Der Leser erfährt von den Gedanken und den Wahrnehmungen der neunzehnjährigen Else T. in den letzten Stunden eines auf den 3. September fallenden Tages in einem Jahr des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Zeitpunkte der einzelner Ereignisse sind jeweils mehr oder weniger genau bestimmbar.
Else, Tochter eines Rechtsanwalts und Mitglieds der höheren Gesellschaft Wiens, verbringt auf Einladung ihrer Tante ihre „Ferialwochen“[22] im Fratazza, einem Berghotel auf dem Hochplateau der Palam, einer Berggruppe in den italienischen Dolomiten.
Im Moment des Beginns der Gedankenaufzeichnung verabschiedet sich Else von ihrem Vetter Paul und dessen Freundin Cissy Mohr vom gemeinsamen Tennisspiel, um an der Hotelrezeption einen ihr zuvor telegraphisch angekündigten Expressbrief ihrer Mutter entgegen zu nehmen.
Die Mitteilung des Telegramms lautet: wegen Veruntreuung von Mündelgeldern droht Elses Vater die Verhaftung, sollte er dem Staatsanwalt Fiala nicht innerhalb von zwei Tagen dreißigtausend Gulden aushändigen. Die letzte Hoffnung bestünde darin, dass Else den zeitgleich im Fratazza gastierenden Kunsthändler Dorsday bittet, alter Freundschaft wegen die säumige Summe als Darlehen zur Verfügung zu stellen.
Zwar widerwillig, doch aus Mitgefühl für ihren Vater und aus der Angst, bei dessen Inhaftierung als „Tochter eines Defraudanten“ stigmatisiert zu sein und zu verarmen, stellt sich Else dem Unterfangen und trägt die Bitte ihrer Eltern vor. Dorsday äußert zwar seine Betroffenheit, bleibt aber ein Agent des Homo oeconomicus. Er will der Bitte nur unter der Bedingung nachkommen, dass sich für ihn daraus eine Gelegenheit ergibt, die er vorweg ausgekostet haben möchte: „eine Viertelstunde dastehen dürfen in Andacht vor (Elses) Schönheit.“[23] Else solle sich ihm nackt zeigen. Bis nach dem 'Diner' habe sie Zeit sich zu überlegen, ob sie seinem Verlangen entsprechen wolle.
Das Gespräch löst in Else unmittelbar etwas aus. Sie stellt für sich fest: „Ich weiß nur, daß alles aus ist. Ich bin halbtot.“ Die Wahl, ob sie die Bedingung Dorsdays erfüllt, scheint ihr nicht gegeben zu sein. Dennoch handelt sie eigenwillig. Dorsdays Bedingung sieht den privaten, diskreten Rahmen vor, setzt ihn aber nicht als Bedingung. In der 'hochgemuten' Else kristallisiert sich die Vorstellung von der eigenmächtigen Zutat aus, ihre Zurschaustellung gleichwohl in Gegenwart Dorsdays unter den Augen aller Öffentlichkeit zu vollziehen.
Nur mit einem schwarzen Mantel bekleidet, den sie nur abzuwerfen braucht, um nackt dazustehen, begibt sie sich gegen Mitternacht auf die Suche nach Dorsday. Sie findet ihn im Musiksalon des Hotels, wo er einem Klaviervortrag von Schumanns „Karneval“[24] zuhört. Nachdem sie sich der Aufmerksamkeit einiger Anwesender versichert hat, streift sie den Mantel ab, fängt unbändig an zu lachen und fällt in Ohnmacht, ohne aber das Bewusstsein zu verlieren. Unter anderen ihre Verwandten eilen hinzu. Die Ohnmächtige bekommt mit, wie sie auf ihr Zimmer getragen und in ihr Bett gelegt wird. Während ihr Vetter Paul und dessen heimlich Geliebte Cissy noch im Zimmer sind, nimmt Else in einen unbemerkten Moment eine Überdosis des Schlafmittels Veronal ein. Mit dem Abdämmern ihres Bewusstseins endet die Novelle.
III. Hauptteil
A. Erster Teil
1. Entwurf des Geldmotivs
Es soll nun genauer herausgestellt werden, was unter einem Geldmotiv überhaupt zu verstehen ist. Es will nämlich scheinen, als ob das Geld als schlichtes Faktum betrachtet als Motiv nicht in Frage käme. Dass sich weitere Komponenten hinzugesellen müssten, um aus dem Geld ein Motiv zu machen, etwa die Komponente des Mangels. Doch dem ist nicht so. Denn gerade die Komponente des Mangels ist der Erscheinung des Geldes präponderant. Der Betrachter sieht das Geld in die Materie hinein, die für ihn und andere die Bedeutung trägt, Geld in seiner physischen Form zu sein, gleich gut, ob in Gestalt von Muscheln, Goldmünzen oder bedruckten Papierscheinen. Im Grundsatz „Quidquid recipitur, recipitur ad modum recipientis“ verbindet sich die mythische Figur des Midas mit dem Geld. Die Internalisierung des Bedürfnisses nach ihm konstituiert einen unstillbaren Wunsch als Invertierung eines fundamentalen Mangels, der durch nichts anderes als durch Geld, durch Geld aber schon gerade nicht zu stillen oder zu beheben ist.
Wenn einem Motiv, wie Elisabeth Frenzel postuliert, „eine movierende und amalgamierende Kraft“[25], bzw. eine „Spannung zur Umwelt, also eine dialektische Situation“[26] eignen soll, um als Motiv in Betracht zu kommen, so erscheint das Geld in Fräulein Else als ein geradezu idealtypisches. Einerseits durchdringt und bestimmt es als „durchaus konkretes, inhaltliches, situationsmäßiges Element“ „das Ganze des Stofflichen“, erscheint aber andererseits weder an irgend einer Stelle als Konkretum, als äußeres, die Sinne der Figuren affizierendes Reizobjekt, noch verbände sich mit ihm die Absicht seiner physischen Inbesitznahme. Das durch seine Wertaufbewahrungsfunktion gesetzte Geld ist dem vergänglichen Leben in Materie und Gehalt gewissermaßen über. Seine Herrschaft gründet jenseits der zeitlichen Grenzen einer menschlichen Existenz, vom Off her übt es sie aus. So ist auch das Motiv des Geldes durch seine Transzendenz strukturimmanent.
Wenn als Motiv zunächst der im Bild einer Sache ausgedrückte Beweggrund für die Handlung einer Figur gelten soll,[27] so stellt sich im Zusammenhang mit der Formeigenschaft der Monolognovelle die Frage nach der Quidität des im Geld sich darstellenden Motivs. Denn auf der diegetischen Ebene stellt sich Geld weder materiell dar, noch stünde es der narrativen Instanz als extradiegetisches Handlungsziel vor Augen. In Fräulein Else spielt das Geld ausschließlich eine imaginäre Rolle:
Zunächst ist es nicht Else, die mit Abschluss der Transaktion einen Geldeingang zu quittieren hätte. Die Mutter setzt in ihrem zweiten Telegramm den die Summe fast verdoppelnden Draufschlag von 20.000 Gulden fest, wie sich für Else der Gedanke an den Zahlungsempfänger in der leitmotivischen Wendung „Adresse bleibt Fiala“[28].
Seine besondere Funktion erfüllt das Geld hierbei nicht als Zirkulations-, bzw. Tauschmittel, sondern als „Zahlungs-, Kredit- und Wertaufbewahrungsmittel“[29]. Im Text wird diese Unterscheidung implizit getroffen. So wird im ersten Telegramm der Mutter zunächst der sechste und zwei Sätze später der fünfte September als Termin benannt, an dem „das Geld da sein“[30], bzw. „in Fialas Händen“ sein muss. Auszuhändigen ist hier ein Finanzinstrument zur Übertragung von Buchgeld; eines Zahlungsmittels, das als volkswirtschaftliches Aggregat dem Bargeld gegenübersteht. Im bargeldlosen Zahlungsverkehr ist die Geldschuld des Schuldners erfüllt, sobald dem Gläubigerkonto der geschuldete Geldbetrag gutgeschrieben ist. Und dieser Vorgang nimmt die Zeit von womöglich einem Tag in Anspruch.[31]
[...]
[1] Wolfgang Iser, Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur; in: Rainer Warning, Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 277.
[2] Arthur Schnitzler, Fräulein Else und andere Erzählungen, Frankfurt am Main 1995, S. 129.
[3] Michael Braunwarth; Richard Miklin; Susanne Pertlik u. a. (Hg.), Arthur Schnitzler. Briefe 1913-1931, Frankfurt am Main 1984, S. 369; Der am Beispiel des Briefzitats aufgezeigte intertextuelle Bezug der Novelle zur Freudschen Hysterieforschung entspricht der allgemein verbreiteten Auffassung; so meint auch Wunberg: „Die im Zusammenang mit der Titelfigur von Schnitzlers Fräulein Else (1924) immer wieder geltend gemachten Verbindungen zu den von der Hysterieforschung vorgetragenen Problemstellungen sind bekannt.“; siehe: Gotthart Wunberg, Arthur Schnitzler – oder über Kulturwissenschaften und Literaturwissenschaft; in: Konstanze Fiedl (Hg.), Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert, Wien 2003, S. 23.
[4] Innerhalb von 13 Jahren wurden nur 626 der 800 Exemplare umfassenden 1. Auflage der Studien über Hysterie verkauft; vgl.: Stavros Mentzos, Einleitung zu: Josef Breuer/ Sigmund Freud, Studien über Hysterie, Frankfurt am Main 1991, S.9.
[5] Vgl. ebd., S.8.
[6] Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, http://www.textlog.de/sigmund-freud-jenseits-des-lustprinzips.html [Zuletzt aufgerufen am 03.01.2016]
[7] Jürgen Zenke, Die deutsche Monologerzählung im 20. Jahrhundert, Köln 1976, S. 48.
[8] Matias Martinez/ Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München (7. Aufl.) 2007, S. 9.
[9] Mario Gomes, Gedankenlesemaschinen. Modelle für eine Poetologie des Inneren Monologs, Freiburg 2009, S. 13.
[10] Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten; http://gutenberg.spiegel.de/buch/-933/1 [zuletzt aufgerufen am. 03.01.2016]
[11] Vgl. Horst Althaus, Zwischen Monarchie und Republik. Schnitzler – Hofmannsthal – Kafka – Musil, München 1976.
[12] Bettina Matthias, Masken des Lebens – Gesichter des Todes (= Epistemata Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft; 256), Würzburg 1999, S. 138.
[13] Vgl. Hartmut Scheible, Liebe und Liberalismus. Über Arthur Schnitzler, Bielefeld 1996, S. 59f.
[14] Zit. nach: Dirk von Boetticher, Meine Werke sind lauter Diagnosen. Über die ärztliche Dimension im Werk Arthur Schnitzlers, Heidelberg 1999, S. 161.
[15] Zit. nach: ebd.
[16] In Freuds Schrift Zur Einleitung der Behandlung heißt es dazu: „Ehe ich diese Bemerkungen zur Einleitung der analytischen Behandlung beschließe, noch ein Wort über ein gewisses Zeremoniell der Situation, in welcher die Kur ausgeführt wird. Ich halte an dem Rate fest, den Kranken auf einem Ruhebett lagern zu lassen, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt. Diese Veranstaltung hat einen historischen Sinn, sie ist der Rest der hypnotischen Behandlung, aus welcher sich die Psychoanalyse entwickelt hat. Sie verdient aber aus mehrfachen Gründen festgehalten zu werden. Zunächst wegen eines persönlichen Motivs, das aber andere mit mir teilen mögen. Ich vertrage es nicht, acht Stunden täglich (oder länger) von anderen angestarrt zu werden. Da ich mich während des Zuhörens selbst dem Ablauf meiner unbewußten Gedanken überlasse, will ich nicht, daß meine Mienen dem Patienten Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mitteilungen beeinflussen. Der Patient faßt die ihm aufgezwungene Situation gewöhnlich als Entbehrung auf und sträubt sich gegen sie, besonders wenn der Schautrieb (das Voyeurtum) in seiner Neurose eine bedeutende Rolle spielt. Ich beharre aber auf dieser Maßregel, welche die Absicht und den Erfolg hat, die unmerkliche Vermengung der Übertragung mit den Einfällen des Patienten zu verhüten, die Übertragung zu isolieren und sie zur Zeit als Widerstand scharf umschrieben hervortreten zu lassen.“; http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-schriften-i-7123/17 [Zuletzt aufgerufen am 15.12.15]
[17] Jürgen Zenke, Die deutsche Monolognovelle im 20. Jahrhunder, ...a.a.O., S. 18.
[18] Zit. nach: Paul Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende (= Bd. IX, 1 der Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart), München 1998, S. 92.
[19] Zit. nach: Ebd.
[20] Zit. nach: Ebd., S. 91.
[21] So ist es auch zu verstehen, wenn die Schauspielerin Elisabeth Bergner, der in der Fräulein Else Verfilmung von Paul Czinner die Hauptrolle spielte, nach den Dreharbeiten meinte: "Ich habe gelernt, dass nichts auf der Welt falscher ist, als 'Fräulein Else' zu verfilmen oder im Theater zu spielen. Die Else ist etwas, was nur gelesen werden darf."; http://www.arte.tv/de/fraeulein-else/1003046,CmC=1003048.html [Zuletzt aufgerufen am 15.12.2015]
[22] Arthur Schnitzler, Fräulein Else und andere Erzählungen, ...a.a.O., S. 51.
[23] Ebd., S. 89.
[24] Ebd., S. 137.
[25] Elisabeth Frenzel, Vom Inhalt der Literatur. Stoff – Motiv – Thema, Freiburg im Breisgau 1980, S. 36.
[26] Ebd., S. 43.
[27] Vgl. Stichwort „Motiv“ in: Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart (4. verb. u. erw. Aufl.) 1964, S. 441.
[28] Arthur Schnitzler, ...a.a.O., S. 130.
[29] Stephan Schulmeister, Anmerkungen von Dr. Karl Marx zur wirtschaftlichen Entwicklung seit 1980; in: Paul Kellermann, Die Geldgesellschaft und ihr Glaube. Ein interdisziplinärer Polylog, Wiesbaden 2007, S. 29.
[30] Arthur Schnitzler, ...a.a.O., S. 55.
[31] Dass es sich um Buchgeld handelt, läßt sich nicht nur am augenscheinlichen Fehler im Telegramm der Mutter festmachen. Durch die chronologisch verdrehte Reihenfolge bilden die Datumsangaben mithin die in der Novelle an verschiedenen Stellen markierte Zahl 65: Else berichtet Dorsday von einem 65 jährigen Tennisspieler; Dorsday wohnt in Zimmer Nummer 65; das Hotel steht laut Dorsday in einer Höhe von 650 Metern über Null; Else zählt erst sechs, dann fünf Päckchen Veronal.