Die Bedeutung der Sprache für die individuelle intellektuelle Entwicklung als Mensch zeigt sich auch in den nachfolgenden Zitaten: „Jede neue Sprache ist wie ein offenes Fenster, das einen neuen Ausblick auf die Welt eröffnet und die Lebensauffassung weitet“ (Frank Harris (1856–1931)). Und: „Je mehr Sprachen Du sprichst, desto größer bist Du als Mensch“ deutlich (Hammes-Di Bernardo 2008, S. 6).
Die Bundesrepublik Deutschland zieht aus verschiedenen Gründen wie zum Beispiel Wohlstand oder auch nur als kriegsfreie Zone zahlreiche Migranten an. Dies führt dazu, dass Deutschland weltweit eines der beliebtesten Zuwanderungsländer geworden ist. Aus diesem Grund wachsen immer mehr Kinder mehrsprachig auf, indem sie sowohl die Sprache der Eltern als auch Deutsch lernen. Viele dieser Eltern mit Migrationshintergrund sind jedoch unsicher, ob sie ihre Kinder zweisprachig erziehen oder aufwachsen lassen sollen. Sie fragen sich, welchen Einfluss die Zweisprachigkeit auf die Kinder hat und ob sie deren Entwicklung fördert, verzögert oder gar erschwert (vgl. Soultanian 2012, S. 7).
Mehrsprachigkeit ist weltweit sicherlich keine Ausnahme und auch circa ein Drittel der in Deutschland aufwachsenden Kinder ist bilingual. Nichtsdestotrotz wird die Fähigkeit, in zwei Sprachen zu kommunizieren, in der schulischen Praxis und der Gesellschaft tendenziell eher kritisch, wenn nicht sogar negativ gesehen. Kinder, die beispielsweise türkisch sprechen, werden in der Öffentlichkeit als Problemfälle wahrgenommen, da sie statistisch gesehen zu den Verlierern des Bildungssystems gehören. Der Kern des Problems liegt jedoch nicht in der Mehrsprachigkeit selbst, sondern im Umgang mit ihr. In Deutschland herrscht weiterhin überwiegend die Meinung, dass semilinguale Mehrsprachige und ihre Eltern selbst an der unterentwickelten sprachlichen Kompetenz schuld seien, da sie sich nicht integrieren wollen. De facto ist es dem Bildungssystem indes nicht gelungen, die sprachlichen Qualifikationen sowohl der Mutter- als auch der Zweitsprache so zu fördern, dass in beiden Sprachen ausreichende Fähigkeiten erworben werden (vgl. Belke 2012, S. 2).
Auf Basis dieser Überlegungen lautet das Thema dieser Arbeit: Stellt Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit eine Chance oder ein Risiko dar?
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Schlüsselwörter
1. Einleitung
2. Grundsätzliches zum Erstspracherwerb
2.1 Zum Begriff Sprache
2.2 Die Phasen des Spracherwerbs
2.3 Die Erstsprache als Fundament für den Erwerb der Zweitsprache
2.4 Die Rolle der Erstsprache für die Identitätsentwicklung
2.5 Zusammenfassung
3. Grundlagen zur Mehrsprachigkeit
3.1 Zum Begriff Mehrsprachigkeit
3.2 Fakten und Zahlen über Mehrsprachigkeit
3.3 Mehrsprachigkeit aus neurologischer Sicht
3.4 Familien- und Umgebungssprache
3.5 Starke und schwache Sprache
3.7 Zusammenfassung
4. Die Mehrsprachigkeit beeinflussende Faktoren
4.1 Art des sprachlichen Angebotes
4.2 Form der Förderung
4.3 Motivation und Emotionalität
4.4 Familiärer Sprachgebrauch
4.5 Alter bei Spracherwerbsbeginn
4.6 Zusammenfassung
5. Arten der Mehrsprachigkeit
5.1 Simultane versus sukzessive Mehrsprachigkeit
5.2 Natürliche versus gesteuerte Mehrsprachigkeit
5.3 Additive versus subtraktive Mehrsprachigkeit
5.4 Zusammenfassung
6. Pro und Kontra früher Mehrsprachigkeit
6.1 Vorteile der Mehrsprachigkeit
6.1.1 Steigerung der Kommunikationsfähigkeit
6.1.2 Interkulturelle Kompetenz
6.1.3 Bessere Berufschancen
6.1.4 Kognitiver Aspekt
6.1.5 Erhöhung der Aufmerksamkeitskontrolle
6.2 Nachteile der Mehrsprachigkeit
6.2.1 Sprachverweigerung
6.2.2 Doppelte Halbsprachigkeit
6.2.3 Sprachverlust bei Mehrsprachigkeit
6.2.4 Negativer Transfer beim Zweitspracherwerb
6.2.5 Kindlicher Sprachwechsel und Sprachmischungen
6.3 Zusammenfassung
7. Fazit
Literatur
Quellen
Abstract
Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit eine Chance oder vielmehr ein Risiko darstellt.
Das erste Kapitel beinhaltet die Einleitung mit einer allgemeinen Einführung in die Thematik.
Im nachfolgenden zweiten Kapitel werden grundsätzliche Überlegungen zum Erstspracherwerb sowie die Verknüpfungen von Erst- und Zweitsprache diskutiert. Hierbei wird explizit darauf eingegangen, wie wichtig die Erstsprache für alle weiteren Spracherwerbe ist.
Das dritte Kapitel enthält die Grundlagen zur Mehrsprachigkeit. Neben verschiednen Begriffsdefinitionen von Mehrsprachigkeit werden auch Fakten über diese aufgezeigt. Neurologische Grundlagen werden ebenso vorgestellt wie die Begrifflichkeiten Familien- und Umgebungssprache sowie starke und schwache Sprache. Zum Abschluss des Kapitels wird beschrieben, wie eine Zweitsprache von Kindern erlernt wird.
Der Erwerb von Mehrsprachigkeit erfolgt naturgemäß nicht losgelöst von Umweltfaktoren, die den Kompetenzerwerb maßgeblich beeinflussen. Die Art des sprachlichen Angebotes und die Form der Förderung sind wesentliche Bestandteile des vierten Kapitels. Zudem werden Motivation und Emotionalität, der familiäre Sprachgebrauch sowie das Alter bei Spracherwerbsbeginn thematisiert.
Die verschiedenen Arten der Mehrsprachigkeit mit gegensätzlichen Begriffspaaren werden im fünften Kapitel dargelegt.
Die Vorteile der Mehrsprachigkeit, die insbesondere in der Steigerung der Kommunikationsfähigkeit, der höheren interkulturellen Kompetenz und besseren beruflichen Chancen bestehen, werden im folgenden Kapitel erläutert. Weitere Vorteile wie verbesserte kognitive Fähigkeiten und eine erhöhte Aufmerksamkeitskontrolle stellen ebenfalls positive Aspekte der Mehrsprachigkeit dar.
Sprachverweigerung, doppelte Halbsprachigkeit oder Sprachverlust können hingegen Nachteile von Mehrsprachigkeit sein, ebenso wie ein negativer Transfer aus anderen Sprachen oder Sprachmischungen.
Ein abschließendes Fazit mit der Beantwortung der Eingangsfrage rundet diese Arbeit ab.
Zur besseren Lesbarkeit werden in dieser Arbeit personenbezogene Bezeichnungen, die sich zugleich auf Frauen und Männer beziehen, generell nur in einer der im Deutschen üblichen weiblichen oder männlichen Form angeführt, also z.B. „Wissenschaftlerinnen“ statt „WissenschaftlerInnen“ oder „Sprecher und Sprecherinnen“. Dies soll jedoch keinesfalls eine Geschlechterdiskriminierung oder eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zum Ausdruck bringen.
Schlüsselwörter
Mehrsprachigkeit, frühe Kindheit, Chance, Risiko, Lernerfolg, Um-weltfaktoren
1. Einleitung
Die Geschichte der Mehrsprachigkeit reicht bis weit in die Vergangenheit zurück. Bereits vor etwa sechstausend Jahren lebten bei den Akkadern und Sumerern zweisprachige Menschen, die sogar schon damals zweisprachige Lexika erstellten. Während dieser Epoche entstanden auch in Babylon und Assyrien königliche Sprachschulen, die es den Schülern ermöglichen sollten, innerhalb von drei Jahren eine Zweitsprache zu erlernen. Das Alte Testament beinhaltet ebenfalls bereits zahlreiche Kapitel über zweisprachige Individuen oder ganze Personengruppen. In diesen Aufzeichnungen werden auch die schon seinerzeit bestehenden sprachlichen Missverständnisse zwischen verschiedenen Kommunikationsteilnehmern anschaulich beschrieben (vgl. Triarchi-Hermann 2012, S. 12). Auch die Römer erkannten bereits die Vorteile der Mehrsprachigkeit. Aus diesem Grund ließen sie ihre Kinder durch griechische Sklaven in Fremdsprachen unterrichten (vgl. Abendroth-Timmer/Breidbach 2000, S. 11).
Wir leben in dem politischen Gebilde der Europäischen Union, in welchem die Menschen zahlreiche unterschiedliche Sprachen sprechen. Eine Kommunikation der verschiedenen möglichen Gesprächspartnerinnen untereinander ist jedoch nur möglich, wenn die Menschen eine gemeinsame Sprache sprechen und sich auf diese Weise verständigen können. Auch im Zuge des Zusammenwachsens der unterschiedlichen europäischen Völker ist Mehrsprachigkeit unabdingbar. Mit ihrer Hilfe ist es einfacher, sich in anderen Ländern zu integrieren und eine Bindung zu der dort bereits lebenden Bevölkerung herzustellen, da Sprachkompetenz stets mit einer interkulturellen Kommunikationsfähigkeit einhergeht (vgl. Nardon-Schmid 2010, S. 4, online).
Sprache eröffnet uns die Möglichkeit, unsere Gedanken und Gefühle anderen Menschen mitzuteilen und diese an unserem Leben teilhaben zu lassen (vgl. Jampert et al. 2005, S. 17). Das Erlernen von Sprachen ist demzufolge auch eine Notwendigkeit, um erfolgreich in der Welt agieren zu können. Inzwischen ist infolgedessen allgemein anerkannt, dass der Erwerb von Sprachkompetenz einen wichtigen Beitrag zum Bildungserfolg leistet (vgl. Albers 2009, S. 264).
Die Bedeutung der Sprache für die individuelle intellektuelle Entwicklung als Mensch zeigt sich auch in den nachfolgenden Zitaten: „Jede neue Sprache ist wie ein offenes Fenster, das einen neuen Ausblick auf die Welt eröffnet und die Lebensauffassung weitet“ (Frank Harris (1856–1931)). Und: „Je mehr Sprachen Du sprichst, desto größer bist Du als Mensch“ deutlich (Hammes-Di Bernardo 2008, S. 6).
Die Bundesrepublik Deutschland zieht aus verschiedenen Gründen wie zum Beispiel Wohlstand oder auch nur als kriegsfreie Zone zahlreiche Migranten an. Dies führt dazu, dass Deutschland weltweit eines der beliebtesten Zuwanderungsländer geworden ist. Aus diesem Grund wachsen immer mehr Kinder mehrsprachig auf, indem sie sowohl die Sprache der Eltern als auch Deutsch lernen. Viele dieser Eltern mit Migrationshintergrund sind jedoch unsicher, ob sie ihre Kinder zweisprachig erziehen oder aufwachsen lassen sollen. Sie fragen sich, welchen Einfluss die Zweisprachigkeit auf die Kinder hat und ob sie deren Entwicklung fördert, verzögert oder gar erschwert (vgl. Soultanian 2012, S. 7).
Mehrsprachigkeit ist weltweit sicherlich keine Ausnahme und auch circa ein Drittel der in Deutschland aufwachsenden Kinder ist bilingual. Nichtsdestotrotz wird die Fähigkeit, in zwei Sprachen zu kommunizieren, in der schulischen Praxis und der Gesellschaft tendenziell eher kritisch, wenn nicht sogar negativ gesehen. Kinder, die beispielsweise türkisch sprechen, werden in der Öffentlichkeit als Problemfälle wahrgenommen, da sie statistisch gesehen zu den Verlierern des Bildungssystems gehören. Der Kern des Problems liegt jedoch nicht in der Mehrsprachigkeit selbst, sondern im Umgang mit ihr. In Deutschland herrscht weiterhin überwiegend die Meinung, dass semilinguale Mehrsprachige und ihre Eltern selbst an der unterentwickelten sprachlichen Kompetenz schuld seien, da sie sich nicht integrieren wollen. De facto ist es dem Bildungssystem indes nicht gelungen, die sprachlichen Qualifikationen sowohl der Mutter- als auch der Zweitsprache so zu fördern, dass in beiden Sprachen ausreichende Fähigkeiten erworben werden (vgl. Belke 2012, S. 2).
Auf Basis dieser Überlegungen lautet das Thema dieser Arbeit: Stellt Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit eine Chance oder ein Risiko dar?
2. Grundsätzliches zum Erstspracherwerb
Zum Verständnis dieser Arbeit ist an dieser Stelle noch zwischen den Begriffen Erst- und Zweitsprache zu differenzieren: Die Erstsprache ist diejenige Sprache, die chronologisch zuerst erlernt wird. Als Synonyme werden in dieser Arbeit auch Mutter- und Familiensprache verwendet, wenngleich sich die Verfasserin der geringfügigen Abweichungen zwischen Erst- und Muttersprache bewusst ist. Alle zeitlich nach der Erstsprache gelernten Sprachen sind bei der Anwendung obiger Definition demnach Zweitsprachen (vgl. Krafft 2014, S. 9).
In diesem Kapitel erfolgt zunächst eine allgemeine Begriffserklärung der Sprache. Es wird beschrieben, in welchen Phasen der Spracherwerb vonstattengeht. Anschließend wird die unverzichtbare Rolle der Erstsprache sowohl für den Zweitspracherwerb als auch für die Identitätsentwicklung thematisiert.
2.1 Zum Begriff Sprache
„Sprache macht stark, sie eröffnet die Möglichkeit, sich einzubringen, Neues zu erforschen, miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen. Je früher Sprachbildung aktiv gefördert, aber auch gefordert wird, desto leichter wird es Kindern fallen, Sprachvermögen zu entwickeln und ihr Potenzial auf einem erfolgreichen Bildungsweg zu entfalten“ (Spengler 2010, S. 8).
Mithilfe von Sprache wird eine verschlüsselte Botschaft vom Sender an den Empfänger übermittelt, die dieser wiederum decodieren muss. Die Form der Übermittlung kann aus Worten Sätzen oder auch nur aus Lauten bestehen. Ebenfalls wichtig für das Verständnis sind die gewählte Betonung und die Sprachmelodie. Das Ausbilden der Sprache war auch ein entscheidender Bestandteil in der Evolutionsgeschichte für die Entwicklung des heutigen Menschen vom affenartigen Wesen zum Homo sapiens. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, Informationen an andere weiterzugeben, Gefühle oder Bedürfnisse zu äußern, Beziehungen zu knüpfen und diese aufrechtzuerhalten. Sprache ist ein Mittel der Kommunikation, welches sowohl verbal als auch nonverbal über Gesten, Mimik oder Körpersprache genutzt werden kann (vgl. Vollmer 2012, S. 90).
Mit etwas anderen Worten umschreibt Kühnle seine Auffassung vom Begriff Sprache folgendermaßen: „Sprache ist das umfassendste und differenzierteste Ausdrucksmittel des Menschen, zugleich die höchste Erscheinungsform sowohl des subjektiven wie auch des objektiven Geistes. Die Sprache hat sich aus Naturlauten entwickelt. Jeder Schrei ist schon eine Art Sprache. An der Verbesserung dieses wichtigen, wenn auch noch primitiven Verständigungsmittels arbeitete der Mensch, indem er den Schrei zu gestalten suchte“ (Kühnle 2006, S. 29).
2.2 Die Phasen des Spracherwerbs
Neugeborene können noch nicht mithilfe von Sprache kommunizieren. Sie erlernen diese Fähigkeit erst im Laufe ihres Entwicklungsprozesses. Aus diesem Grund ist es erforderlich, sich mit den verschiedenen Phasen des Spracherwerbs auseinanderzusetzen. In der Literatur werden zu diesem Thema verschiedene Ansätze vertreten; in diesem Teilkapitel wird der Schwerpunkt auf den Spracherwerbsprozess nach Vollmer gelegt, der zunächst beschrieben wird.
Vor der eigentlichen Entwicklung der Sprache findet bereits eine vorsprachliche Entwicklung beim Säugling statt. In den ersten Lebenswochen beschränkt sich diese jedoch ausschließlich auf das Schreien des Säuglings. Nach etwa sechs bis acht Wochen ist das Neugeborene in der Lage, zu gurren. Gleichzeitig entwickeln die neuen Erdenbürger ab dem zweiten Lebensmonat die ersten Formen des Lachens sowie weitere Laute. Nach circa einem halben Jahr setzt das Lallstadium ein. Im Gehirn werden von nun an die phonetischen Merkmale der Muttersprache verarbeitet sowie die ersten Wörter herausgefiltert. Es ist in diesem Stadium besonders wichtig, dass die Bezugsperson die Sprache über Emotionen an das Kind weitergibt, denn dieses wird ausschließlich bei einem emotionalen Bezug auf die ihm übermittelten Worte achten. Grundvoraussetzung für eine gute sprachliche Entwicklung ist somit die emotionale Hinwendung zu den Lernenden (vgl. Vollmer 2012, S. 91).
Die eigentliche sprachliche Entwicklung setzt Vollmer zufolge nach circa zehn Monaten ein. Hierbei unterscheidet er die nachfolgend genannten Phasen:
- Ab dem zehnten Monat: Ab diesem Alter beginnt die eigentliche Sprachentwicklung. Das Kind ist in der Lage, die ersten Wörter zu bilden. Der Inhalt einzelner Begriffe wird erkannt. Ohne noch selbst sprechen zu können, beginnen die Kinder, die Sprache zu verstehen.
- Ab dem 18. Monat: Das Kind kann die ersten Einwortsätze bilden. Der Wortschatz umfasst inzwischen ungefähr fünfzig Wörter und wächst schnell. In diesem Lebensalter werden Wörter für Objekte und Merkmale von Objekten erlernt. Fragen werden durch Betonung gebildet. Einfachste Sachverhalte können ausgedrückt werden, zum Beispiel „Ball“.
- Ab zwei Jahren: Die ersten einfachen Zwei- und Dreiwortsätze werden gebildet, jedoch noch ohne feste grammatikalische Strukturen. Sie bestehen häufig aus einfachen Substantiven, Verben oder Adjektiven. Die Verwendung von Artikeln oder Hilfsverben erfolgt noch nicht. Ein Beispiel hierfür ist „Papa schlafen“.
- Ab zweieinhalb Jahren: Das Kind ist inzwischen fähig, Mehrwortsätze zu bilden. Es kann sowohl seinen Namen als auch „ich“ sagen. Der zur Verfügung stehende Wortschatz hat sich deutlich erweitert.
- Ab drei Jahren: Der Wortschatz sollte inzwischen auf bis zu tausend Wörter erweitert sein. Nicht so leicht zu artikulierende Lautverbindungen wie zum Beispiel „kn“ oder „bl“ können inzwischen gemeistert werden. Es beginnt das Fragealter, in dem die Kinder immer wieder fragen: „Was?“, „Wieso?“, „Warum?“ Die Bildung einfacher Sätze einschließlich Nebensätzen ist möglich, wobei auch Sachen benannt und Fürwörter benutzt werden können. Mengenbegriffe wie „viel“ oder „wenig“ sowie Zeitbegriffe wie „gestern“ oder „morgen“ werden verwendet.
- Von vier bis fünf Jahren: Zusammenhänge können beschrieben und Präterita-Formen gebildet werden. Die grundlegenden Satzmuster können, auch wenn noch nicht alle grammatikalischen Regeln beherrscht werden, angewandt werden. Es erfolgt die erste Bildung von komplexeren Sätzen.
- Ab fünf Jahren: Sätze mit Haupt- und Nebensatz können sowohl grammatikalisch korrekt gesprochen als auch Laute und Lautverbindungen zutreffend artikuliert werden.
- Ab sechs Jahren: Es ist den Kindern jetzt möglich, sich differenziert auszudrücken und auch schwierigere Gedankengänge korrekt wiederzugeben. Geschichten können erzählt oder erfunden werden. Die Grammatik wird größtenteils sicher angewandt (vgl. ebd., S. 92).
Hinsichtlich des Erwerbs einer Zweitsprache wählen Berghoff und Mayer-König einen anderen und mehr pauschalierenden Ansatz in der Beschreibung der Phasen des Spracherwerbs. Nach ihnen verläuft der Prozess in vier Phasen: unbewusste Inkompetenz, bewusste Inkompetenz, bewusste Kompetenz und unbewusste Kompetenz. In der ersten Phase beherrscht ein Sprachen Lernender keine oder nur unbedeutende Elemente der Zweitsprache, ohne sich jedoch aktiv darüber bewusst zu sein, dass diese überhaupt existiert. Mit dem Erlernen weiterer Bestandteile der Zweitsprache wird ihm in der zweiten Phase zunehmend seine unzureichende Kompetenz in dieser Sprache bewusst. In diesem Stadium können infolge einer Fehlervermeidungsstrategie in der Anwendung der neuen Sprache Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Teilhabe auftreten. Mit dem Eintritt in die dritte Phase wächst das Bewusstsein darüber, dass die Sprache erworben werden kann. Das Kommunizieren in der Zielsprache ist möglich und wird genutzt, jedoch erfordert die Anwendung der Zweitsprache stets noch die volle Konzentration des Kindes. Mit der Anwendung der neu erlernten Sprache aus dem Unterbewusstsein heraus wird die vierte Phase erreicht, in welcher eine intensive Teilhabe an sozialen Prozessen und allen sonstigen mit der Sprache verbundenen Angelegenheiten möglich wird (vgl. Berghoff/Mayer-Koenig 2005, S. 38).
2.3 Die Erstsprache als Fundament für den Erwerb der Zweitsprache
Ein hoher Anteil der türkischen Schüler in Berlin weist erhebliche Schwächen in der deutschen Sprache auf, obwohl sie bereits mehrere Jahre dort zur Schule gehen. Steinmüller untersuchte daraufhin Ursachen dieser mangelnden Sprachkompetenz. In seiner Arbeit fokussierte er den Zusammenhang zwischen der vorhandenen Sprachkompetenz in der Muttersprache und den Kenntnissen des Deutschen. Die Studie brachte ein eindeutiges Ergebnis hervor: Je höher die Kompetenz in der Erstsprache, desto höher war sie im Durchschnitt auch in der Zweitsprache. Die Zahl der Kinder mit defizitären Deutschkenntnissen, die beispielsweise eine türkische Grundschule besucht hatten, war wesentlich geringer im Vergleich zu Schülern, die eine längere schulische Laufbahn in Deutschland hinter sich hatten. Der Autor führte dies darauf zurück, dass die türkischen Schüler in Deutschland in ein deutschsprachiges Umfeld kommen, noch bevor die Muttersprache im Alter von circa elf bis zwölf Jahren voll ausgebildet ist. Wenn das Formulieren und Verstehen komplexer und differenzierter Sachverhalte in der Muttersprache nicht erlernt wurde, ist es den Lernenden jedoch nicht möglich, diese Fähigkeiten in der Zweitsprache zu erwerben. Ähnliches wurde auch in Bezug auf ausländische Jugendliche, die in Deutschland eine Ausbildung absolvieren, festgestellt: Diejenigen Schüler, die erst spät aus ihrem Herkunftsland nach Deutschland gekommen waren und zu Beginn der Ausbildung größere sprachliche Schwierigkeiten hatten, waren in der Lage, ihre Sprachkompetenzen schnell zu erhöhen, und sie erzielten letztlich bessere Qualifikationen als Jugendliche, die den überwiegenden Teil ihrer Schulzeit in Deutschland verbracht hatten (vgl. Steinmüller 1987, online).
Sprache ist das entscheidende Mittel, um dem Menschen ein Verständnis der Welt zu ermöglichen und seine sozial-kulturelle Einbindung in eine Gesellschaft zu erschließen. Diese Einbindung findet regelmäßig über die Muttersprache statt, weil das Kind naturgemäß in dieser Sprache am meisten kommuniziert. Sobald jedoch die Verwendung der dominanten Sprache im Rahmen des Kindertagesstätten- oder Schulalltags unterdrückt wird, kann dies auch ein Stocken der Sozialisation zur Folge haben. In der Konsequenz schneiden Migrantenkinder in der Schule häufig schlechter ab als ihre monolingualen Altersgenossen, da ausschließlich in deren dominanter Sprache unterrichtet wird und das Migrantenkind in dieser Sprache noch nicht das alterstypische Niveau der Einheimischen erreicht hat. Als hilfreich zur Lösung dieses Problems hat sich erwiesen, Kinder möglichst lange in ihrer Muttersprache zu unterrichten, sodass sich die kognitive Entwicklung und Sozialisation altersgerecht vollziehen können. Auf diese Weise wird der Lernerfolg insgesamt und paradoxerweise auch in der schwächeren Sprache, welche die eigentliche Schulsprache darstellt, verbessert (vgl. Wode 2008, S. 102).
Auch Cummins belegt mit seiner Interdependenz-Hypothese, die auf der Untersuchung von Skuttnab-Kangas aufbaut, dass das Kompetenzniveau in der Zweitsprache zum Teil von den in der Muttersprache erworbenen Kenntnissen, die zum Zeitpunkt des Kontakts mit der Zweitsprache bestehen, abhängt. Je höher das Niveau der Erstsprache, desto höher wird auch das Level der zusätzlich erworbenen Sprachen sein. Es besteht mithin eine Wechselwirkung zwischen Erst- und Zweitsprache (vgl. Jampert 2002, S. 81).
2.4 Die Rolle der Erstsprache für die Identitätsentwicklung
Um deutlich zu machen, welche Rolle die Erstsprache für die Identitätsentwicklung des Einzelnen spielt, ist es notwendig, zunächst einmal den Begriff „Identität“ zu definieren. Eine Legaldefinition ist jedoch nicht existent, sodass verschiedene Auffassungen darüber bestehen, was Identität eigentlich bedeutet. Eine greifbare Definition wurde von Weber veröffentlicht. Für ihn besteht Identität in der Wechselbeziehung zwischen einem Gefühl des inneren Sich-Gleichseins und der Partizipation an charakterlichen Merkmalen, die für eine bestimmte Gruppe typisch sind. Hieraus ergibt sich die Personen- und Gruppenidentität (vgl. Weber 1995, S. 202).
Nach Janczak ist Sprache eines der wichtigsten Differenzierungsmerkmale für die Abgrenzung und Identifizierung einer Gruppenzugehörigkeit. Dies schließt auf der einen Seite diejenigen ein, die die Sprache sprechen, schließt auf der anderen Seite aber diejenigen aus, die der Sprache nicht mächtig sind. Der Autorin zufolge offenbart sich in der Sprache die Identität des jeweils sprechenden Individuums, das zudem durch die Sprache unendlich viele Möglichkeiten besitzt, seiner Identität Ausdruck zu verleihen (vgl. Janczak 2013, S. 36).
Ein wichtiges Element bei der Erziehung zur Mehrsprachigkeit insbesondere bei den Eltern oder Elternteilen mit Migrationshintergrund ist deren ethnische Identität, die sie naturgemäß an ihre Kinder weitergeben werden. Haben Spracherzieherinnen eine negative Grundhaltung gegenüber ihrem jetzigen Wohnsitzland, werden sie sicherlich weniger geneigt sein, ihren Nachkommen die Wohnsitzsprache und damit auch deren Identität zu vermitteln, als jemand, der sich in der neuen Heimat integriert hat und sich auch entsprechend integriert fühlt. Für das identitätsschaffende Erlernen der Erstsprache ist es somit wichtig, dass sich auch die Eltern mit dem Wohnsitzland identifizieren können (vgl. Mahlstedt 1996, S. 25).
Ab dem ersten Atemzug entwickelt das Baby eine Beziehung zu seiner Umwelt. Diese wiederum hat einen ganz entscheidenden Einfluss auf die kindliche Entwicklung. Die ersten Kontakte erfolgen im sensorischen Bereich über Berührungen. Schon bald eröffnet sich den neuen Erdenbürger auch die Möglichkeit der verbalen Kommunikation. Bereits in dieser frühen Phase des Lebens werden die Grundlagen für die Entwicklung der eigenen Identität gelegt. Diese Identitätsbildung erfolgt grundsätzlich zuerst im Umfeld der eigenen Familie und später auch in Einrichtungen wie zum Beispiel der Kindertagesstätte oder der Schule. Sie geht einher mit dem Erwerb der Erst- oder Familiensprache. Mithilfe der Sprache kann mit anderen kommuniziert werden. Je größer die Sprachkompetenz in der Umgebungssprache ist, desto mehr wird sich der Mensch, der diese Sprache spricht, der Gruppe zugehörig fühlen. Zudem ist für das Kind beim Erstspracherwerb eine unterstützende Rückkopplung durch seine Familie hilfreich, um mit dem Erlernten positive Assoziationen zu verbinden. Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Spracherwerb hinsichtlich der Bildung der sprachlichen und interaktiven Kompetenzen und gleichsam für den Identitätsbildungsprozess ist stets, dass das Kind eine Vertrauensperson hat, bei der es sich geborgen fühlt und der es mit Urvertrauen begegnen kann. Ein Gefühl des emotionalen Behütetseins und der Achtung der Persönlichkeit unterstützt letztlich sowohl die Sprach- als auch die Identitätsentwicklung (vgl. Hammes-Di Bernardo 2008, S. 9).
Die Menschen haben zu der Sprache, die sie als Erstes erlernen, in der Regel eine besondere emotionale Beziehung und verwenden sie, auch wenn sie in der Umwelt eine andere Sprache nutzen, regelmäßig im engsten Familien- oder Bekanntenkreis. Wörter, die als Kind vernommen wurden, oder Reime und Gedichte in der Erstsprache lösen eine positive Assoziationskette aus. Die Sprache identifiziert den Einzelnen auch als Mitglied einer bestimmten Gruppe, und sie wird als Mittel zur Bestimmung der eigenen und zur Abgrenzung von anderen kulturellen Identitäten verwendet. Demgegenüber besteht jedoch auch die Gefahr des Verlustes der eigenen Identität, wenn die Erstsprache im Wohnsitzland verboten ist oder schlicht nicht genutzt wird, weil sie gesellschaftlich nicht anerkannt ist. Das mit der Erstsprache verbundene Gefühl der Geborgen- und Vertrautheit geht gleichzeitig mit einem Teil der eigenen Identität verloren. Aussagen, die in einer Sprache freundlich oder aggressiv ausgedrückt werden, haben in einer anderen Sprache gegebenenfalls eine gänzlich andere Intonation oder können möglicherweise gar nicht übersetzt, sondern nur umschrieben werden. Zu ihrem Verständnis ist demnach nicht nur das reine Verstehen der Wörter, sondern auch der mit ihnen verbundenen Emotionen und Identitäten wichtig. Mit dem Wechsel der Sprache geht folglich auch immer ein Wechsel der inneren Einstellung einher (vgl. Küpelikilinc/Rieger 2004, S. 47 ff.).
2.5 Zusammenfassung
Sprache ermöglicht es dem Menschen, eine codierte Botschaft von einem Sender an einen Empfänger zu übermitteln. Verwenden beide denselben Code, ist eine Kommunikation möglich (vgl. Vollmer 2012, S. 90). Das Kind besitzt mit der Geburt alle Anlagen, um Sprache zu erlernen. Es verfügt zu diesem Zeitpunkt jedoch weder über die Fähigkeit, sich eindeutig zu artikulieren, noch kann es den Sinn der Worte verstehen. Im Laufe der Kindheit erwirbt es dann alle notwendigen Fertigkeiten, bis es mit circa sechs Jahren in der Lage ist, sich auch differenziert auszudrücken (vgl. ebd., S. 92). Eine wichtige Feststellung besteht darin, dass der Zweitspracherwerb unmittelbar mit der Fähigkeit, sich in der Erstsprache auszudrücken, verbunden ist. Falls ein Individuum die Erstsprache nicht ausreichend beherrscht, wird es auch nicht in der Lage sein, sich die Zweitsprache auf ausreichendem Niveau anzueignen (vgl. Jampert 2002, S. 81). Mit dem Erlernen der Erstsprache wird auch eine persönliche Identität erworben, die ein Individuum durch sein gesamtes Leben begleitet. Es entsteht eine emotionale Bindung an die Erstsprache, die im engsten Familien- und Freundeskreis und auch zur Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen genutzt wird (vgl. Janczak 2013, S. 36; vgl. Küpelikilinc/Rieger 2004, S. 47 ff.).
3. Grundlagen zur Mehrsprachigkeit
Um nachvollziehen zu können, was unter Mehrsprachigkeit verstanden wird, erfolgt zunächst eine Begriffserläuterung. Im Weiteren werden Fakten und Zahlen über die Verbreitung von Mehrsprachigkeit dargestellt. Die Vorgänge, die beim Spracherwerb im Gehirn ablaufen, werden umfassend erläutert, und der Unterschied zwischen Familien- und Umgebungssprache wird thematisiert. Nicht alle erlernten Sprachen werden in demselben Maße beherrscht und angewandt. Aus diesem Grund erfolgt eine Unterscheidung in starke und schwache Sprache. Abschließend wird noch die Art und Weise, wie Kinder eine Zweitsprache erlernen, beschrieben.
3.1 Zum Begriff Mehrsprachigkeit
Ein Vergleich der zur Verfügung stehenden Literatur legt nahe, dass Mehrsprachigkeit sehr differenziert betrachtet wird. Infolgedessen ist es nicht möglich, eine allgemeingültige Definition des Begriffes Mehrsprachigkeit zu zitieren. Die bestehenden Beschreibungen charakterisieren Zweisprachigkeit zudem jeweils mit divergierenden Merkmalen, die sich mitunter widersprechen. Insgesamt legen jedoch alle Definitionen dar, welche unterschiedlichen Fertigkeiten in mehr als einer Sprache beherrscht werden müssen, um als mehrsprachig zu gelten (vgl. Triarchi-Herrmann 2012, S. 14).
Die deutschsprachige Literatur verwendet nicht nur den Ausdruck Mehrsprachigkeit, sondern auch Zweisprachigkeit oder Bilingualität. All diese Termini werden jedoch synonym verwendet, sodass die Definition eines Begriffes auch auf die zuvor genannten anderen beiden Begriffe angewandt werden kann (vgl. Riehl 2014, S. 9).
Zu unterscheiden ist hiervon jedoch der Begriff Zweitspracherwerb. Er wird verwendet, wenn eine zweite Sprache nicht im frühen Kindesalter sozusagen „nebenbei“, sondern in der Schule bewusst, regelbegleitet und gesteuert erlernt wird (vgl. Herczeg 2006, S. 210).
Franceschini zufolge bedeutet Mehrsprachigkeit, dass gesellschaftlich oder institutionell bedingt ein individueller Gebrauch von mehreren Sprachen erfolgt. Die Sprachkompetenzen sowohl von Individuen als auch von Gruppen werden in verschiedenen Lebenssituationen beschrieben, in denen Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache in Kontakt treten und eine Konversation untereinander führen. In diese Betrachtung werden nicht nur offizielle Landessprachen miteinbezogen, sondern auch Regional-, Minderheiten- oder Gebärdensprachen. Mehrsprachigkeit wird auch als Oberbegriff verwendet, der sowohl alle Arten des Spracherwerbs im Laufe des Lebens als auch deren Nutzung im familiären, beruflichen oder institutionellen Bereich beinhaltet (vgl. Franceschini 2009, S. 27–61).
Sobald ein Individuum neben seiner Muttersprache mit einer weiteren Sprache konfrontiert wird und eine Kommunikation zustande kommt, ist es nach Zellerhoff mehrsprachig. Ihre Ausführungen beziehen sich auf mehr als ein Sprachengebilde. Dialekte werden dabei mit der Ausnahme, dass die dialektische Kommunikation in der Sprachumgebung eines Kindes nicht als Mehrsprachigkeit betrachtet wird, als Zweitsprache verstanden (vgl. Zellerhoff 2009, S. 35).
Eine weitere Definition der Mehrsprachigkeit bezieht sich sowohl auf die Fähigkeit, mindestens zwei Sprachen zu sprechen und zu verstehen, als auch auf die Fertigkeit, sie lesen und schreiben zu können. Soweit diese Qualifikationen vorhanden sind, sprechen Küpelikilinc und Ringler von Mehrsprachigkeit (vgl. Küpelikilinc/Ringler 2004, S. 29 ff.).
Andere Autoren wiederum sehen in der Funktionalität der Sprache die Grundlage für Mehrsprachigkeit. Ihnen zufolge ist sie bei Menschen gegeben, die regelmäßig in mehreren Sprachen kommunizieren (vgl. Bickes/Pauli 2009, S. 103). Auch Frigerio-Sayilir definiert Mehrsprachigkeit in diesem Sinne. Sie betrachtet diejenigen als mehrsprachig, die im alltäglichen Leben zwei oder mehr Sprachen abwechselnd benutzen (vgl. Frigerio-Sayilir 2007, S. 17).
Im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten Betrachtungsweisen halten es diverse Wissenschaftlerinnen für die Bezeichnung eines Menschen als mehrsprachig für erforderlich, dass er die Zweitsprache auf muttersprachlichem Niveau beherrscht (vgl. Triarchi-Herrmann 2012, S. 15). Ein Vertreter dieser stringenten Auslegung der Mehrsprachigkeit ist Blocher. Nach seiner schon vor mehr als hundert Jahren sehr eng gefassten Definition ist nur derjenige zweisprachig, bei dem ein Dritter nicht erkennen kann, welches seine Muttersprache ist und in welcher Sprache er leichter kommuniziert (vgl. Blocher 1909, zit. in Swift 1982, S. 17 ff.). Folgt man dieser These, wäre der Kreis der mehrsprachigen Personen sehr klein (vgl. Triarchi-Herrmann 2012, S. 15).
Eine derart enge Auslegung der Mehrsprachigkeit ist laut Riehl jedoch veraltet. Sie begründet dies damit, dass es für ein Individuum eher ungewöhnlich ist, eine gleichartige Situation in mehreren Sprachen zu erleben und zu bewältigen. Für sie – wie auch für einige zuvor genannte Autoren – besteht Zweisprachigkeit dann, wenn problemlos von einer zur anderen Sprache gewechselt werden kann. Ob und welche Sprache hierbei eine Dominanz entwickelt, ist nicht entscheidend. Indes differenziert sie noch zwischen schriftlicher und mündlicher Mehrsprachigkeit: Diejenigen, die eine zweite Sprache nur mündlich erlernen, werden naturgemäß insbesondere dann, wenn die Schriftzeichen der Zweit- von denen der Erstsprache abweichen, nicht in der Lage sein, ihre Gedanken orthografisch oder interpunktionell schriftlich korrekt zum Ausdruck zu bringen – diese Menschen sind entsprechend nur als mündlich, nicht jedoch als schriftlich mehrsprachig zu bezeichnen. Beispielhaft sei hier der Europäer genannt, der seit einiger Zeit in China lebt und sich inzwischen mündlich verständigen kann. Da er die chinesischen Schriftzeichen jedoch nicht kennt, verfügt er zwar über die mündliche, nicht jedoch über die schriftliche Zweisprachigkeit (vgl. Riehl 2006, S. 4 ff.).
3.2 Fakten und Zahlen über Mehrsprachigkeit
Die Bewohner von Mitteleuropa sprechen vielfach nur eine Sprache, sodass Mehrsprachigkeit für sie eher die Ausnahme darstellt. Global gesehen ergibt sich jedoch ein völlig anderes Bild: Die Mehrheit der auf unserem Planeten lebenden Menschen kann als mehrsprachig bezeichnet werden. Die Einwohner Afrikas zum Beispiel sprechen in der Regel neben ihrer Muttersprache noch die Sprachen von benachbarten Volksgruppen und häufig auch eine europäische Sprache. Dieses Beispiel lässt sich problemlos auf weitere Regionen der Erde übertragen (vgl. Riehl 2014, S. 9).
Infolge verstärkter Wanderungsbewegungen und zunehmender Mobilität steigt jedoch auch in Deutschland die Anzahl der mehrsprachigen Personen ständig an. Kinder von Migranten werden in Deutschland geboren oder gehen hier zur Schule und erwerben infolgedessen automatisch neben ihrer häuslichen noch eine zweite Sprache. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht Zahlen, die diese These belegen: Im Jahr 2012 wurden insgesamt 673.544 Kinder in Deutschland geboren, von denen 66.286 Eltern hatten, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, was einem Anteil von 9,84 Prozent entspricht. Bei 48.476 Neugeborenen hatte die Mutter und bei 43.038 der Vater keine deutsche Staatsbürgerschaft. Somit stammten insgesamt 13,59 Prozent der neuen Erdenbürger, die in Deutschland zur Welt kamen, von binationalen Eltern ab. Die inländische Gesamtgeburtenzahl der Jahre 2003 bis 2012 betrug 6.817.540. Die Zahl der in diesem Zeitraum geborenen Kinder ohne ein Elternteil mit deutscher Staatsangehörigkeit lag bei 342.775. Dies entspricht einem Anteil von 5,01 Prozent. 843.825 Neugeborene stammten in dieser Betrachtungsperiode von binationalen Eltern ab, was einem Anteil von 12,38 Prozent entspricht. Der relative Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund hat sich im Jahr 2012 in Relation zur zehnjährigen Vergleichsperiode erhöht. Somit ist erkennbar, dass der Anteil der mehrsprachig aufwachsenden Kinder in Deutschland stetig steigen wird, zumal in den genannten Zahlen die eingebürgerten Migranten als Deutsche erfasst werden. Würden sie als Menschen mit Migrationshintergrund erfasst, wären die relativen Werte der zweisprachig aufwachsenden Kinder noch höher (vgl. Statistisches Bundesamt 2014, online).
Im Jahr 2008 bestand die Europäische Union aus 27 Staaten. In diesen Ländern wurden insgesamt 25 verschiedene offizielle Landessprachen sowie zahlreiche sonstige Sprachen gesprochen, sodass in diesem Gebiet tatsächlich 438 verschiedene Sprachen existieren (vgl. Hufeisen 2008, online, S. 4).
Eine Übersicht über die Anzahl der zurzeit in der Welt gesprochenen Sprachen enthält die nachfolgende Tabelle:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Aufteilung der Sprachen in der Welt nach Regionen (vgl. Paul, Lewis/Simons, Gary/Fennig, Charles 2015, online)
Die Spalte Kontinent nennt den Erdteil, der den nachfolgenden Zahlen in der Betrachtung zugrunde liegt. In der Spalte Anzahl der lebenden Sprachen werden die Sprachen gezählt, die mindestens ein Mensch als Muttersprache spricht. Ausgestorbene oder nur als Zweitsprache verwendete Sprachen sind nicht erfasst. Die nächste Spalte gibt den Prozentanteil der gesprochenen Sprachen je Kontinent wieder. Die Einwohnerzahl beschreibt die Anzahl der Menschen, die eine dieser Sprachen des Kontinents als Erstsprache sprechen, unabhängig von ihrem tatsächlichen Wohnort. Eine Übereinstimmung der absoluten Anzahl der sprechenden Personen mit der tatsächlichen Einwohnerzahl der Erde ist nicht gegeben, da bei Erstellung der Daten eine statistische Ungenauigkeit von 4,0 Prozent akzeptiert wurde. Die rechte Spalte enthält die durchschnittliche Anzahl der Sprechenden einer Sprache (vgl. ebd.).
Die Tabelle zeigt, dass circa 4,0 Prozent der weltweiten Erstsprachen europäischen Ursprungs sind. Dies führt infolge der europäischen Kolonialisierung der Welt unter anderem zu dem Ergebnis, dass die europäischen Sprachen von mehr Menschen als Muttersprache gesprochen werden, als der Erdteil Einwohner hat. Auch die durchschnittliche Anzahl der die Sprache sprechenden Personen ist um ein Vielfaches höher verglichen mit den meisten anderen Regionen. Ein Blick in den Pazifikraum zeichnet ein vollständig anderes Bild: Im Schnitt sprechen dort nur etwas mehr als fünftausend Menschen eine Sprache, was auf die weit voneinander entfernt liegenden Inseln zurückzuführen ist, die das Herausbilden einer gemeinsamen Sprache unmöglich machten. In Asien wird eine Sprache von durchschnittlich 1,6 Millionen und in Afrika von durchschnittlich circa 380.000 Menschen gesprochen. Die Staaten dieser Kontinente haben jedoch kumuliert weniger Einwohner, als es die Addition der Zahl der Anwender einer Sprache vermuten lässt. Hieraus lässt sich schließen, dass die meisten Menschen mehrsprachig sein müssen (vgl. Riehl 2014, S. 10).
Auch in vielen Regionen Europas werden in einem Staatsgebiet mehrere Sprachen gesprochen. In Irland beispielsweise sind Englisch und Gälisch die offiziellen Landessprachen, im Baskenland wird baskisch und spanisch gesprochen. Darüber hinaus existieren in Europa noch ungefähr dreihundert weitere Sprachminderheiten, sodass auch für Europa angenommen werden kann, dass ein Großteil der Einwohner mehrsprachig ist (vgl. ebd.). Zusätzlich zu den beschriebenen mehrsprachigen Gemeinschaften haben immer mehr Menschen durch Aufenthalte im Ausland erweiterte Sprachkenntnisse in einer Zweitsprache erworben und nutzen diese im Alltag. All diese Menschen können nach Riehl als zweisprachig bezeichnet werden (vgl. ebd.).
Wie zuvor bereits erwähnt, sind die meisten Menschen auf der Erde je nach Definition mehr oder weniger zweisprachig. Tracy zufolge ist Mehrsprachigkeit „[…] weder ein unnatürlicher geistiger Zustand für das Individuum noch eine Ausnahme. Ganz im Gegenteil! Demographisch befinden sich die Einsprachigen in der Minderheit […], sofern es sie überhaupt gibt!“ (Tracy 2008, S. 49). Angesichts der heute über das Internet nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehenden Informationen und einer sehr weitgehenden Mobilität der Menschen ist es eher unwahrscheinlich, dass die in Deutschland lebende Bevölkerung nicht mit anderen Sprachen in Kontakt tritt. Im Zuge dieser Kontaktmöglichkeiten gelangen Wörter und Begrifflichkeiten in unser Sprachrepertoire, sodass im Grunde genommen jeder zumindest eingeschränkt mehrsprachig ist (vgl. ebd.).
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- Arbeit zitieren
- Yelena Rörig (Autor:in), 2016, Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Chance oder Risiko?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/316482
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