Theorie und Realität: Eine Untersuchung von Hannah Ahrendts Thesen über Konzentrationslager auf Basis von Erfahrungsberichten ehemaliger Häftlinge im Gulag


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Hannah Arendt über Konzentrationslager und die Geschichte des Gulag
1.1. Hannah Arendt über Konzentrationslager
1.2. Das GULAG

2. Belegung von Arendts Thesen durch Erfahrungsberichte

3. Entkräftung von Ahrendts Thesen durch Erfahrungsberichte

Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Mit ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Systeme“[1] lieferte Hannah Ahrendt ein monumentales Werk ab, in dem sie auch ausführlich auf die Bedeutung der Konzentrationslager für totalitäre Systeme eingeht. Der Vergleich der Nazi-KZ's mit dem Gulag der Sowjetmacht muss jedoch differenziert betrachtet werden: Während Nazideutschland nicht mehr existierte und ehemalige KZ-Häftlinge ohne Angst vor Verfolgung von ihren Qualen berichten konnten, war Stalins Diktatur in der Sowjetunion noch gegenwärtig. Überlebende des Gulag waren nach der Entlassung zur Verschwiegenheit verpflichtet[2] und wurden meist in zivilisationsferne Gegenden der Sowjetunion verbannt. Die Beschlüsse der Moskauer Lagerhauptverwaltung über Lebens-, Arbeitsbedingung, usw. hatten wenig mit dem Alltag im Gulag zu tun, so dass man sich kaum darauf verlassen konnte, um Rückschlüsse auf die Bedingungen in den „Arbeitsbesserungslagern“ zu ziehen.

Die Angst vor erneuter Verfolgung brachte die Opfer des Gulag bis in die 1980er Jahre zum Schweigen. Seit dem Ende dieser Dekade, während der Zeit der Perestroika, berichteten viele Zeitungen über Verfolgte des staatlichen Terrors. Das Interesse der Bevölkerung erreichte ihren Höhepunkt nach der Veröffentlichung des Buches „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn 1990, ebbte wenige Monate später aber wieder merklich ab. In jener Zeit begann Meinhard Stark mit seinen Forschungen für das Buch „Frauen im Gulag“. Bis 2002 interviewte er Frauen, die zwischen 1936 und 1956 im Gulag inhaftiert waren und bereit waren, über ihre Leidensjahre im Lager und in der Verbannung zu berichten. Darüber hinaus forschte er in freigegebenen Archiven der Administration ehemaliger Lagerkomplexe. Kein Buch davor hat sich so umfassend mit dem Lageralltag der Frauen beschäftigt. Dabei sind die Erfahrungsberichte dieser Frauen doch von besonderem Interesse, da Frauen in vielerlei Sicht den gleichen Qualen des physisch stärkeren Geschlechts ausgesetzt waren, aber eben aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Psyche auch mit ganz speziellen Problemem konfrontiert wurden: Vergewaltigungen, Menstruation oder Geburten während der Haft, um nur einige zu nennen.

Mit dieser Hausarbeit soll untersucht werden, inwieweit das geschilderte Erlebte und die aus dem Durchsuchen alter Archive gewonnenen Informationen in dem Buch von Meinhard Stark mit dem eher theoretischen Kapitel „Konzentrationslager“ aus Hannah Arendts Buch übereinstimmt. Dazu werden in Kapital eins zunächst die Funktion der KZ's im Totalitarismus, die Arendt ihnen zuschreibt, näher beleuchtet. Anschließend wird auf die Entstehung und die Geschichte des Gulag eingegangen. Nachdem die Grundlagen geschaffen sind, werden in Kapitel zwei die theoretischen Aussagen von Arendt, soweit möglich, durch Erfahrungsberichte belegt. Im dritten Kapitel werden schließlich diejenigen Thesen untersucht, die überspitzt formuliert sind oder zu stark verallgemeinert werden, jedoch einer differenzierteren Betrachtung benötigen.

Rostock, Oktober 2004

1. Hannah Arendt über Konzentrationslager und die Geschichte des Gulag

1.1. Hannah Arendt über Konzentrationslager

Hannah Arendt bezeichnet die KZ's als Laboratorien der totalitären Systeme. In ihnen wird untersucht, was überhaupt möglich ist, um schließlich „den Beweis dafür zu erbringen, dass schlechthin alles möglich ist“ und Menschen total beherrschbar sind.[3] Die Häftlinge sollen auf einen Zustand reduziert werden, in dem sie auf mögliche Eingaben von außen immer gleich reagieren. Die Entwicklung der Menschen zu „Reaktionsbündeln“ in den Lagern soll durch absoluten Terror erreicht werden.

Ein weiteres Ziel totaler Systeme ist die Abschaffung der Spontaneität als menschliche Eigenschaft, da spontane Menschen für totalitäre Systeme schlichtweg überflüssig sind[4]. Die Mittel dazu werden in den Konzentrationslagern, die die konsequenteste Institution totaler Systeme darstellen, entwickelt und getestet.

Den Weg zur totalen Herrschaft über Menschen unterteilt Arendt in drei Stufen. Als erstes erfolgt die Tötung der juristischen Person.[5] Dabei wird dem Häftling beigebracht, dass er keine Rechte hat und sich an kein Gericht wenden kann, dass sein Anliegen ernsthaft bearbeitet. Dazu gehört auch die Konfrontation der politischen und unschuldigen Insassen mit Gewaltverbrechern im Lager. Der zweite Schritt ist die Tötung der moralischen Person.[6] Das wird erreicht, indem man die Opfer selbst zu Tätern macht und ihnen administrative Aufgaben im Lager erteilt, so dass sie einen gewissen Einfluss auf den schmalen Grat zwischen Leben und Sterben haben. Die letzte Stufe in der Produktion „lebender Leichname“[7] ist die Zerstörung der eigentümlichen Individualität des Menschen.[8] Die Mittel zum Raub der menschlichen Würde sind vielfältig und sehr wirksam.

Als Ergebnis erhält man ein „Exemplar der Tierart Mensch“. Damit ist dann auch der Beweis erbracht, dass man die Seele eines Menschen töten kann, ohne zwangsläufig auch seinen Körper zu zerstören. Diesen entseelten, jeglicher Spontaneität beraubten Kreaturen ist es egal, ob sie morgen leben oder tot sind. Ist diese Apathie hergestellt, ist der Transformationsprozess, den das totale System für alle Menschen vorsieht, erfolgreich verlaufen.

1.2. Das GULAG

Gulag (russisch Г лавное У правление Лаг ерей, G lavnoje U pravlenije Ispravitelno-trudovych Lag erej) steht für Hauptverwaltung der Lager.

Der Führer der russischen Revolution, Lenin, befahl bereits 1918 die Einrichtung von Konzentrationslagern für „Verdächtige“. Aus Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten wurden anfangs auch Kirchen und Klosteranlagen genutzt, um „die Sowjetrepublik vor ihren Klassenfeinden zu schützen“ und diese zu isolieren.[9] Nach dem Bürgerkrieg wurden viele der improvisierten Lager aufgelöst und die zunehmend professionalisierte sowjetische Haft- und Lagerpolitik sah vor, zukünftig Haftorte in wenig besiedelten Gebieten zu errichten. Im Vordergrund stand bis Mitte der 1920er Jahre viel mehr die Umerziehung und „Besserung“ der Häftlinge, als die wirtschaftliche Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Um Lager- und Wachpersonal einzusparen, wurden immer häufiger Funktionshäftlinge eingesetzt, die niedere Positionen der Häftlingsverwaltung übernahmen.

Am 7. April 1931 erließ das Sowjetregime das Statut über die „Besserungsarbeitslager“. Die neue Haftintention „Besserung durch Arbeit“ läutete die Ära der Ausbeutung der Insassen ein. Die Höhe der Essensrationen war von der Erfüllung des Arbeitssolls abhängig. Zwischen September 1931 und April1933 realisierten Häftlinge den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals. Der Bau, der in dieser Größenordnung erstmals nur durch Zwangsarbeit errichtet wurde, war in den Volkswirtschaftsplan der UdSSR integriert und zeigte dem Sowjetregime, was mit Zwangsarbeit überhaupt möglich ist.

Die offizielle Statistik nannte 1930 ca. 180000 Gefangene. Fünf Jahre später waren es bereits annähernd 800000.[10] Neue wirtschaftliche Aufgaben und stetig steigende Häftlingszahlen verlangten nach einer Neuorganisation der Besserungsarbeitslager. So enstand aus dem bisher zuständigen Sicherheitsorgan (OGPU) das Volkskommisariat des Innern (NKWD). In ihm vereinigten sich Instanzen der Staatssicherheit, des Innern und einer eigenen Gerichtsbarkeit. Es galt fortan als eines der wichtigsten Machtinstrumente Stalins. Noch im selben Jahr wurde die Hauptverwaltung der Lager (Gulag) beim NKWD gegründet. Ihr unterstanden sämtliche Gefängnisse und Lager der UdSSR. Dem Gulag selbst unterstanden verschiedene Abteilungen, die für spezielle Aufgaben verantwortlich waren (Lagerpersonal, Spionage, Hygiene, Kultur,...). Obwohl die Lagerkomplexe nie wirklich effizient arbeiteten, wurde auf dem Rücken der Zwangsarbeiter ein nicht unbedeutender Beitrag zur Urbanisierung und Inustrialisierung in der Sowjetunion geleistet. Dazu wurde die Lagerhauptverwaltung von Anfang an in die Vorgaben der sowjetischen Fünfjahrpläne eingebunden.

Mitte 1938 waren im Gulag bereits über 2 Millionen Menschen inhaftiert. Zu den größten Lagerkomplexen[11] zählte das „Nord-Östliche Besserungsarbeitslager“ (Sewwostlag)[12] im Gebiet des Flusses Kolyma. Die dort inhaftierten Menschen wurden zum Abbau der größten Goldvorkommen in der SU eingesetzt. Schätzungen zufolge gingen jedes Jahr annähernd 30% der Häftlinge an den unerträglichen Haftbedingungen zugrunde. Weitere große Lagerkomplexe waren in den Gebieten Kotlas, Uchta, Petschora und Workuta. Im Uchtpetschlag leisteten Hundertausende Häftlinge Zwangsarbeit in der Kohle und Erdölförderung. Mit einer durchschnittlichen Belegungsstärke von 40000 Häftlingen zählt auch das Siblag (Sibirskii ITL) in der Nähe von Nowosibirsk zu den größten Lagerkomplexen des Gulag. Ein weiterer Lagerkomplex, den Alexander Solschenizyn als „Provinzhauptstadt des Gulag“[13] bezeichnet, war das „Karagandinsker Arbeitsbesserungslager“ (Karlag) in der kasachischen Steppe. Anfangs noch in den Zelten der Nomaden, später in Lehm- oder Holzhütten, durchlitten dort 800000 Menschen ihre Haft. Vermutlich 10% der Häftlinge überlebten die Haft nicht. Insgesamt entstand ein riesiges Lagersystem mit mindestens 476 Lagerkomplexen.

[...]


[1] Die englische Originalfassung „Origins of Totalitarianism “ erschien 1951

[2] Stark, Meinhard: „Frauen im GULAG“, S. 470

[3] Arendt, Hannah: „Elemente und Ursprünge totaler Systeme“, S. 676

[4] Ebenda, S. 698

[5] Ebenda, S. 687ff

[6] Ebenda, S. 692ff

[7] Ebenda, S. 692

[8] Ebenda, S. 694ff

[9] Stark, Meinhard: „Frauen im Gulag“, S. 29

[10] Ebenda, S. 31

[11] Meist bestehend aus einem Hauptlager und mehreren Nebenlagern, Produktionsabschnitten, Außenstellen, usw.

[12] 1940: ca. 200000 Häftlinge

[13] http://home.t-online.de/home/guemuell/russland/gulag.html

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Details

Titel
Theorie und Realität: Eine Untersuchung von Hannah Ahrendts Thesen über Konzentrationslager auf Basis von Erfahrungsberichten ehemaliger Häftlinge im Gulag
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften)
Veranstaltung
Theorie und Praxis totalitärer Herrschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V31662
ISBN (eBook)
9783638325882
ISBN (Buch)
9783638917919
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Hausarbeit versucht herauszufinden, inwiefern sich die theoretischen Thesen von Hannah Arendt über Konzentrationslager durch Erfahrungsberichte ehemaliger Häftlinge in russischen KZs (Gulag) belegen lassen. Die dabei untersuchten Erfahrungsberichte stammen aus dem Buch "Frauen im Gulag" von Meinhard Stark.
Schlagworte
Realität, Thesen, Häftlinge, Gulag, Praxis, Herrschaft, Konzentrationslager, Stalin, Hanna Ahrendt, Theorie, Erfahrungsberichte, Meinhard Stark, Totalitarismus, Frauen
Arbeit zitieren
Stefan Erl (Autor:in), 2004, Theorie und Realität: Eine Untersuchung von Hannah Ahrendts Thesen über Konzentrationslager auf Basis von Erfahrungsberichten ehemaliger Häftlinge im Gulag, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31662

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