Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Analyse des Evangelium Infantium: Mk 10, 13-16
2.1 Das Bild des Kindes in der Bibel
2.1.1 Das Kind im Alten Testament/im Judentum
2.1.2 Das Kind im Neuen Testament/im frühen Christentum
2.1.2.1 Das Kind in Mk 10, 13-16
2.2 Die Eschatologie des Reich Gottes im Markusevangelium
3. Mk 10, 13-16 im Kontext des gesamten Kapitels
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Ein Kinderherz ist aufgeschlossen und empfänglich für das Gute; es ist vertrauensvoll und kennt keinen Zweifel; es ist so demütig, dass ihm die sozialen Unterschiede fremd sind [] Es ist im Glauben stärker als ein Mann.1
Obwohl G. Mayer den Kindern in diesem Zitat in Glaubensfragen ein so unerschütterliches Vertrauen zugesteht, finden sich sowohl im Alten als auch im Neuen Testament reichlich wenig Bibelstellen, in denen jene eine tragende oder wichtige Rolle spielen. Natürlich wird immer wieder darauf hingewiesen, dass alle, die an Christus glauben und den Herrn als ihren Gott annehmen, Kinder Gottes sind2, jedoch sind damit nicht die Kinder in Bezug auf das Alter gemeint. Wie kann man also herausfinden, welche Stellung Kinder damals wirklich in der Gesellschaft in Bezug auf Gemeinden inne hatten? Wo in dem Neuen Testament, finden sich Hinweise darauf, wie Jesus den Jüngsten zugetan war? Schnell stößt man diesbezüglich auf die, häufig bei Taufen und Kinderkommunionen zitierte, Stelle im Markusevangelium3.
Mir gefiel dieses Thema sofort, da man als Lehrer begründen können sollte, wieso katholischer Religionsunterricht nicht nur Erwachsene etwas angeht. In Mk 10, 13-16 wird erklärt, was Kinder der Gemeinde beibringen können und was sie auf natürliche Weise mitbringen, um eine andere Perspektive auf den Glauben und die Glaubenspraxis eröffnen zu können.
Was diese Dinge sind, mit denen Kinder uns bereichern, wie sich das Bild des Kindes vom Alten zum Neuen Testament hin vielleicht verändert hat und welche Rolle Jesus und die Basileia dabei spielen, möchte ich in dieser Hausarbeit gerne klären.
Dazu werde ich zunächst die Textstelle selbst interpretieren. Dies wird vor allem im Hinblick auf Semantik, Wortfelder, das Amen-Wort und den Tun-Ergehen-Zusammenhang sowie den Sitz im Leben geschehen. Dann werde ich in zwei weiteren Kapiteln eine Nebeeinander- stellung der Kindsauffassung im Alten und Neuen Testament und somit im Juden- und Christentum vornehmen.
In einem weiteren Schritt werde ich die Eschatologie des Reich Gottes im Markusevangelium näher beleuchten, da dies in den ausgewählten Versen eine zentrale Rolle zu spielt. Anschließend werde ich den besprochenen Vers in seinem Gesamtkontext des Kapitels betrachten.
Daraufhin wird ein Fazit folgen, in dem ich meine Ergebnisse sichere und wiederhole und einen Ausblick auf mögliche anschließbare Themen geben werde.
2. Analyse des Evangelium Infantium: Mk 10,13-16
Vor allem im Neuen Testament hört man oft die Redensart „Alle sind wir Kinder Gottes“.
Dies scheint vergleichsweise noch einfach verständlich, da Gott als unser Schöpfer auch unser Vater ist, zu dem wir uns in Zeiten der Not wenden können und der uns beschützt, wie es archetypisch von Vaterfiguren erwartet wird. Auch die Verfasser des pseudepigraphischen Petrusbriefes benutzen das Motiv des Kindes in im ersten Petrusbrief. So schreiben sie, alle Gläubigen sollen wie quasimodogeniti, wie neugeborene Kinder, sein4. Während dort der Zusammenhang zwischen dieser Anforderung und dem Eintreten in das Reich Gottes nicht explizit ausgesprochen wird, ist dies im sogenannten Evangelium infantium im Markusevangelium der Fall. Dort wird allein auf sprachlicher Ebene eine hohe Kohärenzbildung geschaffen. Dies geschieht unter anderem durch die 12 Pronomina5 in dem recht kurzen Abschnitt. Des Weiteren herrscht durch die vermehrten Verben eine Dynamik6 innerhalb des Verses.
Doch gehen wir nun einmal in die Tiefe. In Mk 10,13-16 fällt bei Betrachtung des originalen, griechischen Textes der Aspekt der Zeitensprünge sofort ins Auge.
Es wird sowohl Gebrauch vom Präsens als auch vom Imperfekt und Aorist gemacht.
Besonders interessant ist es zu sehen, an welchen Stellen, welcher Tempus benutzt wurde. Da der Aorist eine Zeitform ist, die eine individuelle, einmalige und abgeschlossene Handlung beschreibt und gerade bei der Zurückweisung der Jünger der Kinder eingesetzt wird7, hat er eine große Aussagekraft.
Zwar sind bereits zuvor Kinder zu Jesus gekommen8, um sich segnen oder heilen zu lassen, jedoch wird hier deren Segnung zum ersten Mal wörtlich thematisiert. Die zurückweisende Haltung der Jünger, die durch den Einsatz von vehementen Adjektiven oder Verben unterstrichen wird9, wird also als einzigartige Handlung angesehen. Somit kann man davon ausgehen, dass die Jünger in Zukunft kein Kind mehr wegschicken werden und gleichsam ihre Lektion gelernt haben. Des Weiteren könnte es auch so gedeutet werden, dass durch Jesu Willkommenheißen die Zeit der Rechtslosigkeit und Unwichtigkeit des Kindes ein Ende finde, doch damit werde ich mich in Kapitel 2.1 noch näher auseinandersetzen. Die Jünger stehen hier für die alten Traditionen und Maßstäbe, mit denen man die Menschen damals unterschieden und bemessen hat. Die „Stellungnahme Jesu [will] das Festhalten der Jünger an Vorurteilen und Privilegien zurechtweisen“10. Doch Jesus bricht ein neues Zeitalter an, welches er in seinem Widerspruch den Jüngern und somit den veralteten Gesellschaftshierarchien gegenüber einleutet. Mit veraltet ist hier die jüdische Sicht auf Kinder gemeint, mit der sich ebenfalls noch auseinanderzusetzen ist (siehe Kap. 2.1.1). Das Präsens hingegen wird als Einleitung der Worte Jesu11 genutzt und macht somit abermals deutlich, dass das Neue bereits im „Hier und Jetzt“ anfängt. Es bedeutet aber auch, dass Jesus mit seinem vollen Wesen präsent ist und die Liebe zu den Kindern das wahre und echte Worte Christi ist.
Außerdem wird zu Beginn des Verses die Imperfektform benutzt. Da jene Zeitform, wie der Aorist auch, eine vergangene Handlung darstellt, könnte man nun sagen, dass die Segnung der Kinder auch nur eine einmalige Aktion gewesen ist. Jedoch wird diese Vergangenheitsform gleichsam auch in Vers 16 angewendet, womit sich eine Einheit zusammenfügt12, die im Folgenden noch zu untersuchen sein wird. Jedenfalls bedeutet die Wiederholung ebenfalls, dass Jesu Wirken und Dasein für die Menschen und somit auch die Fürsorge Gottes, von der Vergangenheit bis in die Zukunft hineinreicht und ins Unendliche wiederholt werden kann. Somit entsteht für einen Christen die genugtuende, wohltuende Gewissheit, dass Gott Vater und Sohn in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ungeachtet von Alter, Größe und Ansehen für uns da sein wird und seine Hand über uns hält.
Was auffällt ist, dass ebenfalls eine hohe Kohärenz gebildet wird, indem man diejenigen, die die Kinder zu Jesus bringen nicht als bestimmte Personen benennt13 und schon gar nicht namentlich erwähnt. Dies führt zu dem Schluss, dass jeder als ein Mensch agieren kann, der anderen vom Glauben an Christus erzählen kann und ihn auf diesem Weg begleiten und unterstützen kann. Somit erkennt man hier den Gedanken der Zeugenschaft, die offenbar nicht nur den Jüngern vorbehalten sein darf.
Während in Vers 13 und 16 Taten beschrieben werden, dominiert in den mittleren Versen die wörtliche Rede14. Dies kann so gedeutet werden, dass Jesu Wort in der Mitte der Gemeinde steht und das Bemühen um den Glauben (V. 13) von ihm belohnt wird (V.16).
Wo im Anfangsvers eine Intention Jesu verstanden werden kann, wird sie im letzten Vers vollführt15. Jesus möchte die Distanz zu den Kindern auflösen. Folglich kann man feststellen, dass noch in Vers 13 die Nähe zwischen Jesus und den Jüngern- da sie vermeintlich seinen Willen aussprechen und in seinem Namen handeln- und dadurch implizit auch zur Basileia, die durch Jesus erreicht werden kann, zu erkennen ist. Damit zeigt sich gleichfalls eine Distanz der Kinder zur Basileia, da diese nun einmal von den Jüngern als unwürdig empfunden und weggeschickt werden.
Jedoch sieht dieses Bild in Vers 15 ganz anders aus. Hier scheint eine Distanz zwischen den Jüngern und Jesus vorzuherrschen, die eine gleichzeitige Nähe zu den Kindern und eine Nähe der Kinder zur Basileia bedeutet16.
Ausdrücklich wird die Nähe zum Kind sogar als Voraussetzung für das Eintreten in das Reich Gottes besprochen. Aus dieser Satzstruktur mit Bedingung und Folge kommt man rasch auf den Gedanken an den Tun-Ergehen-Zusammenhang. Zum einen wird das Kommen zu Jesus mit der Basileia in Verbindung gebracht. Zum anderen wird aber auch das Kindlich-Werden zu einer Voraussetzung für das Eintreten der Gottesherrschaft gemacht. Somit liegt die Annahme des zukünftigen Heils in der Gegenwart und kann bereits im Wirken Jesu erfahrbar werden17. Wenn also das Wirken Jesu und somit seine Zustimmung zu den Kindern und die Aufforderung zu sein wie sie die Basileia erlebbar macht, so verleiht dies seinen Worten umso mehr Autorität. Des Weiteren geschieht dies durch die Amen-Formel, die außerdem als Aufruf verstanden werden kann: „Glaubt das, was ich sage! Glaubt!“
Bei einem Vergleich mit den anderen synoptischen Evangelien ist zudem im letzten Vers eine Auffälligkeit festzustellen. Wenn man davon ausgeht, dass die Zwei-Quellen-Theorie stimmt, dann haben sich die Autoren des Matthäus- und Lukasevangeliums nach dem Lesen des ältesten Evangeliums dazu entschieden, die Erzählung von der Segnung der Kinder beinahe vollständig zu übernehmen (siehe Mt 19, 13-15 und Lk 18, 15-17). Einen Aspekt, den sie jedoch verändert haben ist der Charakterzug des Unwillens. In den beiden anderen Evangelien fehlt dieser vollkommen. Es wird vermutet, dass jener nicht in das darzustellende Jesusbild gepasst hätte18 oder aber es gibt einen Unwillen der Autoren „den emotionalen Ausdruck auf Jesus“19 zu richten. Persönlich finde ich, dass weder der eine, noch der andere Grund triftig gewesen wären. Gerade weil man Jesus an einigen Stellen, wie zum Beispiel in Mk 15, 34 wo er zum Vater ruft, emotional sieht, empfindet man ihn näher. Da er Mensch geworden ist, sollte auch durch diverse dementsprechende Charaktereigenschaften immer wieder darauf hingewiesen werden, damit eine Nähe zu dem Sohn Gottes möglich und einfacher wird.
Wenn es den Autoren des Matthäus- und Lukasevangeliums jedoch darum ging den Unwillen außen vor zu lassen, so scheint mir dies ebenfalls unbegründet. Schon im Alten Testament wird deutlich, dass Gott sein Missfallen nicht für sich behält und nachdrücklich kundtut. Er ruft vehement zur Umkehr auf, wenn etwas nicht in seinem Willen und seinem Namen geschieht. Das muss er auch, weil der Mensch ein schuldhaftes Wesen ist, welches trotzdem durch die Gottesebenbildlichkeit den Auftrag erhalten hat, Gott auf Erden zu vertreten20. Somit ist dieser Charakterzug Jesu als Sohn Gottes nur gerechtfertigt und angebracht an der Stelle.
Was zudem auffällig ist, ist das Fehlen des Umarmens im Matthäusevangelium. Da der Segnungsakt in Lukas überhaupt nicht erwähnt wird, kann man diesen bei dieser kurzen Betrachtung beiseite lassen.
Mit diesem einfachen Streichen der Umarmung ergibt sich in den beiden Evangelien ein unterschiedliches Jesusbild. So wirkt es im Matthäusevangelium eher als sei es eine normale Segnung- man kann hier auch die Heilsgeschichten mit in den Blick nehmen- die keinen Unterschied zu den vorangegangenen oder noch folgenden Begegnungen Jesu mit der Gemeinde darstellt. Bei Markus dagegen erscheint es so, als nähme Jesus die Besonderheit und Schutzbedürftigkeit der Kinder wahr und wolle sie in besonderem Maße seine, auch körperliche, Liebe spüren lassen.
Ein Grund dafür könnte sein, dass man den Eindruck gewinnen oder behalten sollte, dass Jesus alle Menschen gleich viel liebt, wobei auch hier zu bedenken wäre, dass dies vielleicht früher ebenfalls schon die gängige Reaktion eines Erwachsenen auf ein Kind gewesen sein könnte, doch dieses Thema wird im nächsten Kapitel näher beleuchtet.
Kommen wir zum Schluss dieses Kapitels wieder zurück zu der Markusperikope und zu der Intention mit der die Autoren diese verfasst haben; dem sogenannten Sitz im Leben. Bezüglich des Evangelium Infantium gibt es hier grob gesagt zwei entgegengesetze Ansichten, die Bibelexegeten vertreten. Die eine Hälfte ist davon überzeugt, dass es sich hierbei um einen Text der Befürworter der Kindertaufe handelt. Einer, der diese Theorie vertritt und verbreitet hat ist Oscar Cullmann.
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1 Mayer, G.: Das Matthäusevangelium in religiösen Betrachtungen für das moderne Bedürfnis, Gütersloh 1908.
2 Vgl. Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Freiburg: Herder 2004, Röm 8,14; Joh 1,12; Gal 3,26; u.a.
3 Vgl. Die Bibel. Mk 10, 13-16.
4 Vgl. Peter Müller: In der Mitte der Gemeinde. Kinder im Neuen Testament. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1992, S.15.
5 Vgl. ebenda, S. 44.
6 Vgl. a.a.O.
7 Vgl. ebenda, S. 45.
8 Vgl. Die Bibel, Mk 5, 21 ff. und Mk 7, 24 ff.
9 Vergleiche dazu: Herders Einheitsübersetzung heißt es: „[…] [sie] wiesen [sie] schroff ab.“ und die luther´sche Übersetzung, wo es heißt: „Die Jünger aber fuhren sie an. “
10 Joachim Gnilka: Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Ostfildern: Patmos 1998, S. 81.
11 Vgl. Müller: In der Mitte der Gemeinde, S.44.
12 Vgl. a.a.O.
13 Vgl. a.a.O.
14 Vgl. ebenda, S. 45.
15 Vgl. Müller In der Mitte der Gemeinde, S. 47
16 Vgl. ebenda, S. 50.
17 Vgl. Gnilka: Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament, S. 81.
18 Vgl. ebenda, S. 80.
19 Müller: In der Mitte der Gemeinde, S. 53.
20 Vgl. dazu: Jürgen Moltmann: Gottesebenbildlichkeit