Ist der Protagonist Gregor Husum "Angeklagter" und "Richter" zugleich? Über die Schuld im Roman "Fegefeuer" von Robert Flinker


Hausarbeit, 2014

12 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Einsamkeit in der Gesellschaft und der Bezug zum Autor

3. Die persönliche Entwicklung des Protagonisten

4. Gregors Verhältnis zu seiner Schuld

5. Schlusswort

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Roman „Fegefeuer“ von Robert Flinker, erschienen im Jahre 1968, wird die Geschichte des Kaufmanns Gregor Husum erzählt. Mitten in der Nacht wird dieser vom Rechtsanwalt Demeter Osterei geweckt und darüber informiert, dass gegen ihn eine Untersuchung in die Wege geleitet wurde. Diese Untersuchung beginnt mit einem Verhör Husums, welches Aufschluss über die Beziehung zu seinem bereits vor zwölf Jahren verstorbenen Vater geben soll. Gregor Husum ist sich zunächst keiner Schuld bewusst, doch durch die Konfrontation mit seiner Vergangenheit beginnt er, über sein Leben nachzudenken und seine zwischenmenschlichen Beziehungen zu reflektieren. Die Untersuchungen der geheimnisvollen Institution werden derweil vorangetrieben und führen schließlich zur Anklage. Durch das Nachdenken über sein Leben und die Ausführungen der Institution wird sich Gregor nach und nach seiner Schuld bewusst, die nicht etwa in strafrechtlichen Verstößen besteht, sondern in persönlichem Versagen und Handlungen innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen, die als moralisch unwürdig betrachtet werden könnten.

Interessant ist besonders die Entwicklung, die der Protagonist im Verlauf des Romans durchmacht. Zu Beginn noch überzeugt von seiner Unschuld, findet man ihn am Ende tot in seiner Wohnung auf, was den Eindruck entstehen lässt, er sei sich seiner Schuld so sehr im Klaren gewesen, dass er seinen Tod als einzige gerechte Strafe und Befreiung zugleich gesehen habe. Das Zugeständnis seiner eigenen Schuld bestätigt schon der Titel des Romans. Denn ein „Fegefeuer“ ist laut Duden „ein Ort der Läuterung, in dem die Verstorbenen ihre lässlichen Sünden abbüßen, bevor sie in das Reich Gottes eingehen.“1

Im Folgenden soll also der Prozess analysiert werden, in welchem Gregor Husum seine Schuld anerkennt und inwiefern man ihn als Richter und Angeklagten zugleich sehen kann. Des weiteren werde ich auf den Hintergrund und die Situation des Autors eingehen, um die dargestellten Verhältnisse im Roman besser zu durchschauen.

2. Die Einsamkeit in der Gesellschaft und der Bezug zum Autor

Als Gregor Husum eines Nachts vom Läuten der Hausglocke erwacht, ist der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kommt, es handle sich um einen „verspätete[n] Heimkehrer“, der sich einen „schlechten Scherz“ erlaube. „Wer sollte denn auch nachts an seiner Tür läuten? Freunde besaß er nicht, und mit den Verwandten - soweit er sie nicht völlig aus den Augen verloren hatte […] - verbanden ihn nur lose Beziehungen.“2 Bereits in den ersten Sätzen des Romans wird der Leser mit dem einsamen Leben des Protagonisten Gregor Husum konfrontiert. Er pflegt keinerlei Beziehungen außer die des alltäglichen Lebens, die rein geschäftlicher Natur sind. Dieses Verhalten mag tief in seiner Kindheit verankert liegen, denn sein Vater, Leander Husum, führte seinerzeit ein ähnlich einsames Dasein. Gregor erinnert sich daran, nachdem er von Herrn Osterei nach ihm gefragt wurde. Im zweiten Kapitel des Buches heißt es:

„Die Angst vor dem Vater - das war es, was seine Kindheit beherrscht hatte. Wenn der Vater morgens fortging, so empfand man es wie ein erleichtertes Aufatmen […]. Mittags, wenn der Vater heimkam, war dann wieder alles aus. Schweigend setzte man sich an den Tisch, schweigend wurde das Mahl verzehrt, keiner der Brüder wagte es, ein Wort zu sprechen, und selbst die Mutter blieb jetzt stumm.“3

Dieses Schweigen, was in seiner Kindheit geherrscht hatte, findet der Leser nun auch in Gregors gegenwärtigem Leben. Auch die Beziehungen zu den Beamten in seinem Geschäft sind so oberflächlich, dass Gregor am Tag der Hausdurchsuchung beim Anblick seines ältesten Mitarbeiters gar feststellen muss, ihm vorher noch nie ins Gesicht gesehen zu haben. Stattdessen hat er in Gesprächen „immer nur in die Akten geschaut.“4 Während der Kaufmann sich also kaum um seine Mitmenschen und soziale Kontakte schert, bemüht er sich umso mehr um geschäftliche Dinge. Schon damals in der Schule, erklärt Gregors ehemaliger Lehrer und gegenwärtiger Beamter seines Geschäft, sei er „so gewesen, wie ein Schüler zu sein hat […]: folgsam auf den kleinsten Wink und stets bemüht, den Willen des Lehrers zu vollführen.“5 Dabei musste er in Kauf nehmen, bei seinen Mitschülern kein besonders hohes Ansehen zu genießen.6 Doch ist der Protagonist nicht der Einzige, der für die Thematik der Einsamkeit und der fehlenden zwischenmenschlichen Beziehungen steht. Auch andere handelnde Personen werden nur oberflächlich dargestellt, über deren soziale Kontakte - sofern welche bestehen - wird nichts erzählt. Auf den Punkt bringt dieses Gefühl der bärtige Mann aus dem Wirtshaus, in dem Gregor nicht vermag, seinen Bruder zu erkennen: „Der Mensch ist immer allein, […] er ist überhaupt nur da, um allein zu sein. Nur solange er im Mutterleib lebt, ist er es noch nicht, aber wenn er einmal ans Licht kommt, dann ist es zu Ende mit der Gemeinsamkeit.“7 Mit dieser Aussage trifft er die Grundstimmung des Jahrhunderts auf den Punkt, die scheinbar nicht ganz unabhängig von der Einstellung des Autors selbst entstand. Denn Flinker beschreibt diese in seiner psychologischen Studie als „das Gefühl des Einsamseins, draussen zu stehen, sich harmonisch dem Leben und den Menschen nicht anpassen zu können, vom Leben vergessen, von den Menschen verlassen zu sein.“8 In „Fegefeuer“ lässt er „jede Gestalt eine andere Form der Entfremdung und Entwurzelung des Individuums“9 verkörpern. Alle handelnden Personen „erleben ein Gefühl der Selbstentfremdung, sie befinden sich auf der Flucht aus der Gegenwart und deuten die fehlende Verbundenheit mit den Mitmenschen als individuelle Schuld.“10 Beharrt Gregor Husum anfangs so sehr darauf, nicht gegen das Gesetz verstoßen zu haben, erkennt er schließlich doch seine Schuld an, die keine Straftat ist, sondern eine Art menschlichen Versagens. Denn die Welt, in der Gregor lebt, ist eine „in der die Normen der bestehenden Wirklichkeit nicht mehr gültig sind.“ Stattdessen wird er „mit einem Gericht konfrontiert, das mit den staatlichen Behörden nichts zu tun hat.“11 Denn „nicht auf die Tat kommt es an, sondern auf die Schuld, und schuldig wirst du in dem Augenblick, in welchem das Böse in dein Herz tritt, du brauchst es nicht einmal zu denken“12, erklärt der Gerichtsbeamte Huzzel. Die Darstellung trifft ganz die wesentlichen Phänomene des 20. Jahrhunderts, „die Vertiefung der Widersprüche zwischen Individuum und Gesellschaft, die sich in Entfremdung, Verdinglichung, Vereinsamung des Einzelnen durch den gesellschaftlichen Mechanismus konkretisieren.“13 Mit diesen kam Flinker selbst stark in Berührung, denn als Angehöriger der deutschsprachigen jüdischen Bevölkerung, gehörte er einer Minderheit an, die mit dem Gefühl nationaler Marginalität zu kämpfen hatte.14 Hinzu kommt sein Doppelleben als Schriftsteller und Nervenarzt. Beschäftigt in psychiatrischen Kliniken lernte er „die Kraftlosigkeit des kleinen Menschen vor verschiedenen offiziellen Machtinstanzen, vor den undurchsichtigen Gesetzen und Zirkularen“15 kennen, welche sich dementsprechend auch in seinen Werken widerspiegelt. So kann die Totalität des „hohen Gerichts“ im Roman nicht verwundern.

3. Die persönliche Entwicklung des Protagonisten

Die Entwicklung von Gregor Husum setzt ein, nachdem er vom Rechtsanwalt Osterei nach der Beziehung zu seinem Vater ausgefragt wurde. Gleich im nächsten Kapitel des Romans begibt er sich gedanklich auf eine Reise in die Vergangenheit und erinnert sich an seine Kindheit und an seinen Vater. Denn der einzigen Anhaltspunkt für den Grund der Untersuchung gegen ihn ist die Beziehung zu seinem Vater. Zunächst ist er sich sicher, dass an dieser Beziehung nichts strafbar gewesen sei, doch schon im nächsten Gedanken fragt er sich, ob sein Verhalten gegenüber dem Vater nicht doch manchmal „ungehörig oder gar strafbar“16 gewesen sei. Diese Frage stellt den Anfangspunkt für die Entwicklung des Protagonisten dar. Ab hier beginnt Gregor, mit den Menschen in seinem Umfeld über sich zu sprechen und Dinge aus seiner Vergangenheit gar zu hinterfragen. Am nächsten Morgen trifft er anstatt auf sein gewohntes Hausmädchen auf deren Schwester, die - wie sich schnell herausstellt - die ehemalige Krankenschwester seines Vaters war. Gregor fragt sie nun über seinen Vater und die Verhältnisse im Krankenhaus aus und erkennt schließlich die Grausamkeit, die dort geherrscht haben muss. Er empfindet jetzt sogar Mitleid mit seinem verstorbenen Vater: „So also hat mein armer Vater seine letzten Lebenswochen verbracht, und ich habe nichts davon geahnt.“17 Lydia eröffnet ihm daraufhin, es wäre damals besser gewesen, den Vater nach Hause zu nehmen um ihn dort in aller Ruhe sterben zu lassen. Gregor stimmt das nachdenklich und der Leser bekommt das Gefühl, er beginne erstmalig, an seinen persönlichen Handlungen zu zweifeln.

[...]


1 Duden

2 Flinker, Robert: Fegefeuer. Olten/Freiburg im Breisgau 1983, S.7

3 Ebd., S. 19-20

4 Ebd., S. 62

5 Ebd., S. 63

6 Vgl. ebd., S. 65

7 Flinker, Robert: Fegefeuer, S. 180

8 Flinker, Robert: Jakob Haringer. Eine psychopathologische Untersuchung ü ber die Lyrik. Mit Hinweisen auf Hermann Hesse und Max Hermann. In: Archiv für Psychiatrie. Berlin 1938, S. 350

9 Chitanu, Sorin: Kafka und Flinker. In: Andrei Corbea/Michael Astner (Hgg.): Kulturlandschaft Bukowina. Studien zur deutschsprachigen Literatur des Buchenlandes nach 1918. Iaşi 1990, S. 230

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Flinker, Robert: Fegefeuer, S. 108

13 Chitanu, Sorin: S. 230

14 Rychlo, Petro: Metamorphosen des „Hohen Gerichts“: Robert Flinkers Fegefeuer als literatisches Pendant zu Franz Kafkas Der Prozess. In: Germanoslavica Nr. 1 (2011), S. 24

15 Ebd.

16 Flinker, Robert: Fegefeuer, S. 18

17 Ebd., S. 45

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Ist der Protagonist Gregor Husum "Angeklagter" und "Richter" zugleich? Über die Schuld im Roman "Fegefeuer" von Robert Flinker
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Germanistik)
Veranstaltung
Kleine europäische Literaturlandschaften
Note
2,3
Jahr
2014
Seiten
12
Katalognummer
V316853
ISBN (eBook)
9783668157187
ISBN (Buch)
9783668157194
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fegefeuer, Robert Flinker, Gregor Husum, Schuld
Arbeit zitieren
Anonym, 2014, Ist der Protagonist Gregor Husum "Angeklagter" und "Richter" zugleich? Über die Schuld im Roman "Fegefeuer" von Robert Flinker, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/316853

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