Soziologische Konzepte zur Modernisierung. Essay zu Hartmut Rosas "Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektive der Gegenwart"

Der große Run durch die Zeit, Faktoren der Be- und Entschleunigung unserer Gesellschaft


Essay, 2013

13 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Inhaltsanalyse
Die drei Akzelerationsdimensionen
Das Paradoxon des Zeitmangels
Die drei Beschleunigungsmotoren
Die fünf Phasen der Entschleunigung
Die Verzeitlichung der Zeit

2. Textimmanente kritische Diskussion
Aspekte, welche noch offen bleiben
Erweiterung des soziologischen Verständnisses

3. Textübergreifende Diskussion und Verortung im Seminar
Abschließende Gedanken

1. Inhaltsanalyse

Hartmut Rosa (* 15. August 1965 in Lörrach) ist ein deutscher Soziologe und Politikwissenschaftler, der an der Friedrich-Schiller-Universität Jena lehrt. Er beschreibt in seinem Buch „Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektive der Gegenwart“ drei Dimensionen der Beschleunigung in unserer Gesellschaft durch welche Modernisierung stattfindet. Durch die These der sozialen Akzeleration, die unterschiedliche Formen der Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung und Instrumentalisierung erlaubt, erklärt und definiert er massive substantielle Umbrüche in institutioneller und kultureller Ausprägung. Für Rosa ist die Beschleunigung die Grundlage der Modernebestimmung, denn durch sie begründet sich die Homogenität und Heterogenität der Moderne und der Modernisierung (vgl. S. 141 f). Zu beachten bleibt allerdings, dass die These nicht zeigen soll, dass sich in unserer Gesellschaft einfach alles beschleunigt. Zudem lässt sich die Behauptung Modernisierung sei gleichzusetzten mit Beschleunigung nur aufrecht erhalten, wenn sich zeigen lässt, dass die Beschleunigungskräfte die Beharrungs- und Verlangsamungstendenzen in der Moderne systematisch und gleichzeitig kategorial überwiegen. Die Dimensionen der sozialen Akzeleration beziehen sich zum Einen auf die steigende Geschwindigkeit technischer Prozesse, weiter auf die hohen sozialen Veränderungsraten und zum Dritten auf das Gefühl der knappen Zeit, das dadurch entsteht, dass man mehr Dinge in weniger Zeit tun möchte oder tun muss und daher das Handlungstempo erhöht.

Die drei Akzelerationsdimensionen

Die erste Dimension nennt er die technische Beschleunigung, die infolge der technischen Prozesse und Entwicklungen entsteht. Durch den technischen Fortschritt, durch Elemente der industriellen und digitalen Revolution findet eine technische und maschinelle Erhöhung des Tempos der Produktions-, Kommunikations- und Transportprozesse statt. Die schnellere Fortbewegung, welche immer mehr möglich wird, führt zu einer Art „Raumschrumpfung“, denn die Bedeutung von Raum ergibt sich in hohem Maße durch Zeit und Mühe, derer es bedarf, um ihn zu durchqueren. Die Orte „wachsen näher zusammen“, indem man sie in immer kürzerer Zeit problemlos erreichen kann. Dadurch entsteht auch eine Veränderung in der Beziehung zur Dingwelt. Die Tatsache, dass die Produktzyklen immer kürzer werden, beeinflusst auch den sozialen Wandel. Durch eine „ortlose“ Kommunikation, die ebenfalls durch den technischen Fortschritt möglich wurde, löst sich die Identität aus den sozialen Orten und Räumen (vgl. S. 144 f).

Die zweite Dimension des sozialen Wandels ist von der technischen Beschleunigung strikt zu unterscheiden. Sie bezieht sich auf das Tempo, mit dem sich Praxisformen und Handlungsorientierungen einerseits und Assoziationsstrukturen und Beziehungsmuster andererseits verändern. Als Beispiel für die soziale Beschleunigung sind zum Einen Parteiprogramme, welche alle zwei Jahre erneuert werden, statt wie bisher alle vier Jahre oder immer schneller wechselnde Modeerscheinungen zu nennen (vgl. S. 145 ff).

Hermann Lübbe erfand dazu ein abstraktes theoretisches Konzept der „Gegenwartsschrumpfung“ (vgl. Erikson (2001), S. 97). Die Gegenwart ist der Zeitraum der Dauerhaftigkeit und Stabilität. In der Vormoderne war die Gegenwart dadurch geprägt, dass Erfahrungsraum und Erwartungshorizont deckungsgleich waren. In dieser Zeit sind Schlüsse bezüglich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft möglich. Ab der Moderne allerdings, also ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, beginnt eine Art Gegenwartsschrumpfung durch das Auseinandertreten von Erwartungshorizont und Erfahrungshorizont infolge zunehmender sozialer und kultureller „Verhaltensgeschwindigkeit“. Die Beschleunigung des sozialen Wandels kann also als Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrungen und Erwartungen gesehen werden (vgl. S. 146).

Die dritte Dimension der Beschleunigung bezieht sich auf das individuelle Lebenstempo. In unserer Gesellschaft findet eine Steigerung der Zahl an „Handlungs- oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit infolge einer Verknappung von Zeitressourcen“ (S. 147) statt. Eine paradoxe Angelegenheit, da eigentlich angesichts der technischen Beschleunigung ein Einsparen des Lebenstempos möglich wäre. Unterscheiden lässt sich das Paradoxon in eine objektive und subjektive Komponente. Objektiv entsteht die Beschleunigung des Lebenstempos durch eine Erhöhung der Handlungsgeschwindigkeit und einer gleichzeitigen Verringerung der Pausen zwischen den Aktivitäten. Subjektiv ist die Erhöhung des Lebenstempos in einer Zunahme der Empfindung von Zeitnot und -druck zu sehen, sowie in der Angst davor, nicht mehr mitzukommen. Erklären lässt sich dieses Gefühl nur durch die damit einhergehende quantitative Mengensteigerung (vgl. 147 f).

Das Paradoxon des Zeitmangels

Das Paradoxon ist allerdings nur scheinbar. Es löst sich bei der Betrachtung dadurch, dass die korrespondierende Quantitätssteigerung höher ist, als die Akzelerationsrate. Als Beispiel dafür dient die Erfindung der E-Mail. Benötigte die Erstellung eines Briefes früher zum Beispiel eine halbe Stunde kann man nun eine E-Mail in einer viertel Stunde erstellen. Diese Tatsache wird als Akzelerationsrate bezeichnet. Statt jedoch nun zwei E-Mails in der Zeit, in der man früher einen Brief geschrieben hätte, will man vier E-Mails schicken, was einer Quantitätssteigerung entspricht. Dies jedoch bedarf insgesamt einem Mehrbedarf an Zeit (vgl. S. 148).

Das Medium beziehungsweise Schmiermittel dieser dreidimensionalen Beschleunigung ist das Geld. Zeit ist Geld. Warum wurden immer schneller arbeitende Maschinen erfunden? Um Zeit zu gewinnen. Es wurde daran gearbeitet schneller und mehr zu produzieren, zu transportieren und zu kommunizieren. Der Kapitalismus verlangt nach einer Gewinnmaximierung und hat dabei als oberstes Ziel die Beschleunigung. Wobei anzumerken bleibt, dass Beschleunigung nicht gleich Fortschritt bedeutet. Produktion und Konsumtion nähern sich in einer Endlosschleife immer weiter an.

Die drei Beschleunigungsmotoren

Rosa sieht zusätzlich drei Beschleunigungsmotoren in der Ökonomie, der Kultur und in der Differenzierung. In der Kultur findet sich der Beschleunigungsmotor parallel zum ökonomischen Beschleunigungsmotor. Es entstand ein Handelsnetz, wodurch kapitalistisches Wirtschaften ausgebreitet werden konnte. Gleichzeitig fand eine Rationalisierung in der Gesellschaft statt. Das Weltbild wurde immer mehr so zu sagen entzaubert und die Vernunft nahm den entscheidenden Stellenwert ein. Es wurde zunehmend nach Kriterien der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit beurteilt und das menschliche Handeln immer mehr losgelöst vom Geheimnisvollen und Unberechenbaren oder Mystischen.

Zudem wurde das Zeitmanagement ein zentrales Thema in der Gesellschaft. Um Beruf, Familie und Freunde, Freizeit und Hobbys unter einem Hut zu bringen, ist es immer mehr unerlässlich geworden, rationalisiert und effizient mit der Zeit umzugehen, was wiederum einen Motor für die Beschleunigung in unserer Gesellschaft darstellt. Der dritte Motor besteht für Rosa in der Differenzierung. Die Differenzierung schafft die Rahmenbedingungen der sich beschleunigten Gesellschaft, indem sie die freie Entfaltung teilsystemischer Eigenlogiken ermöglicht. Der Staat befreit zudem die Wirtschaft von Schranken, indem dieser zum Beispiel die Zeit, die Währung oder das Rechtssystem vereinheitlicht.

Die fünf Phasen der Entschleunigung

Den Dimensionen und Motoren der Beschleunigung der Moderne stellt Rosa die fünf Phasen der Entschleunigung gegenüber. Zum einen gibt es anthropologische und natürliche Geschwindigkeitsgrenzen, wie beispielsweise des Gehirns, des Körpers oder der Reproduktion von Rohstoffen und Entschleunigungsoasen, also Orte an welche die Zeit so zu sagen stehen geblieben ist, wie exemplarisch Sekten oder gewisse Praxisformen. Zum anderen kommt es zu so genannten Verlangsamungen oder Entschleunigungsphänomenen, wie beispielsweise im Straßenverkehr zu Staus oder beim Menschen zu Depressionserkrankungen. Die vierte Phase besteht für Rosa darin, dass intentionale Bemühungen zur Bewussten Entschleunigung und Verlangsamung stattfinden. Geeignete Orte dafür sind beispielsweise Klöster oder Meditationskurse. Zudem sind immer wieder kulturelle, gesellschaftliche und strukturelle Erstarrungs- und Kristallisationsprozesse zu finden (vgl. S. 148 ff).

Die Verzeitlichung der Zeit

Durch das Tempo des sozialen Wandels kommt es zu einer Wahrnehmungsveränderung der sozialen Wirklichkeit. So wird Veränderung nicht mehr als „Wandel fester Strukturen“, sondern als „fundamentale und potentiell chaotische Unbestimmtheit“ wahrgenommen. Die Dynamisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, beispielsweise der Gegenwartsschrumpfung, führt zu einem Umbruch in der individuellen und kollektiven Zeiterfahrung (vgl. S. 158 ff). Vor allem in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts fand eine Entzeitlichung der Geschichte statt, die dazu führte, dass die Geschichte nicht mehr als ein politisch beschleunigbarer, dynamischer Prozess erfahren wird, sondern sie nimmt die Form eines statischen Raumes von sich abspielenden Geschichten an. Auf die Politik wirkt sich diese Wandlung insofern aus, als dass sie ihre dynamische Kraft eingebüßt hat und keine irreversiblen Entwicklungen mehr postulieren, sondern nur noch reversible Alternativen; der Bewegungscharakter ist somit erschöpft ( vgl. S. 161 f). Allerdings wird der schnelle politische und gesellschaftliche Wandel als sogenannter „rasende r Stillstand“ (S. 162) erfahren, da eine Richtungsbestimmung weitgehend fehlt. Es wird eine Wahrnehmung eines Endes jeglicher Entwicklung wach.

Rosa spricht von einer Verzeitlichung und Entzeitlichung der kulturellen Zeit- und Geschichtserfahrung, der Politik und der individuellen Lebensperspektive und Identitätsform. Der Anspruch beispielsweise auf eine demokratisch-politische Gesellschaftsgestaltung steht im engen Zusammenhang zur Verzeitlichung der Geschichte. Je mehr sich jedoch die geschichtliche Entwicklung beschleunigt, desto weniger hat man den Eindruck, dass man selbst etwas gestalten kann. Politik wird zum Schrittmacher der gesellschaftlichen Entwicklung, die einen gleichsam unabweisbaren Gestaltungsauftrag erhält. Progressive Politik zielt nicht mehr nur auf den Fortschritt des sozialen Wandels ab, sondern eher auf die Entschleunigung, damit ein politischer Steuerungsanspruch aufrecht erhalten werden kann (S. 163 ff).

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Details

Titel
Soziologische Konzepte zur Modernisierung. Essay zu Hartmut Rosas "Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektive der Gegenwart"
Untertitel
Der große Run durch die Zeit, Faktoren der Be- und Entschleunigung unserer Gesellschaft
Hochschule
Universität Augsburg  (Soziologisches Institut)
Veranstaltung
Soziologie und Politikwissenschaft
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
13
Katalognummer
V316952
ISBN (eBook)
9783668157460
ISBN (Buch)
9783668157477
Dateigröße
404 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kulturen der Moderne, Soziologische Perspektive der Gegenwart, Hartmut Rosa, Akzelerationsdimensionen, Akzelerationsdimension, Beschleunigungsmotoren, Paradoxon des Zeitmangels, Entschleunigung, Verzeitlichung der Zeit
Arbeit zitieren
Conni Endres (Autor:in), 2013, Soziologische Konzepte zur Modernisierung. Essay zu Hartmut Rosas "Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektive der Gegenwart", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/316952

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