Die ägyptische Neo-Muslimbruderschaft - Legalisten wider Willen?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

A) Einleitung

B) Hauptteil
I) Entstehung der Neomuslimbruderschaft
i. „ğamāca al-iĥwān al-muslimīn“ - die Gemeinschaft der Muslimbrüder
ii. Die Spaltung der islamistischen Bewegung
a) Sayyid Quţb und der islamische Radikalismus
b) Der Konservativismus der Neomuslimbrüder – Wiederaufnahme des Missionskonzepts
II) Empirische Daten und interner Aufbau
i. Mitgliedschaft und Trägerschaft
ii. Organisationsstruktur und Führung
iii. Fraktionen
III) Die Muslimbruderschaft als sozio-politischer Akteur
i. Das legalistische Konzept
ii. Engagement innerhalb der Zivilgesellschaft
iii. Die Muslimbrüder als parlamentarische Opposition
IV) Das ğ ih ā d-Konzept
V) Die Politik des Staates
i. Die 70er Jahre
ii. Das Mubarak-Regime

C) Schlussbetrachtung: Die Neomuslimbrüder - „Legalisten wider Willen“?

Einleitung

Das Wappen zeigt „al-qur`ān al-karīm“, den erhabenen, den heiligen Koran umschlosssen von zwei gekreuzten Schwertern. Darunter sind die arabischen Worte „wa aciddū“ zu lesen: „und bereitet euch vor“. Auch dies ein Verweis auf den Koran, den Teil einer Sure[1], der in deutscher Übersetzung lautet: „So rüstet wider sie, was ihr vermögt an Kräften und Rossehaufen, damit in Schrecken zu setzen Allahs Feind und euern Feind und andre außer ihnen, die ihr nicht kennt, Allah aber kennt.“[2] Nun haben Wappen allegorischen Charakter. Sie vermitteln also bildhaft eine Aussage, die zumeist den Kern, die Maxime einer Gemeinschaft darstellt. Im Fall der Muslimbruderschaft nun scheint diese Maxime klar zu lauten: „Mit Schwert und Koran gegen die Ungläubigen, die Feinde Allahs!“.

Zeitsprung, es ist März 2004. In einem Raum des ägyptischen Journalistenverbands stellt die Führung der Bruderschaft ihre Vorstellungen zur Reform der ägyptischen Gesellschaft vor. Soziale Ungerechtigkeit, ineffektive Politik und technologische Rückschrittlichkeit werden als die Schwachpunkte des Systems bezichtigt, in 13 Artikeln wird die Liberalisierung und Pluralisierung des politischen Systems gefordert sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz und die Trennung von Militär und Staatsapparat. Die Religionsfrage taucht lediglich in Zusammenhang mit der angestrebten Wirtschaftsordnung auf, die auf islamischem Recht gründen soll, darüber hinaus in einem Artikel, der Glaubensfreiheit innerhalb der Gesellschaft postuliert.

Zwei Monate später. Dieselbe Führung ruft auf einer Großdemonstration zu Ehren des ermordeten Ħamas-Führers Yassin zum ğihād gegen Israel auf. Daraufhin werden die Muslimbrüder in Kommentaren als „Opportunisten“ bezeichnet, deren liberale Gesinnung nur Fassade sei, die dazu diene ihr eigentliches Ziel – die Übernahme der absoluten Macht und die Reislamisierung der Gesellschaft – zu verschleiern. Liberaler Modernismus gepaart mit militantem Fundamentalismus? Lassen sich solche scheinbar offensichtlichen Widersprüche tatsächlich miteinander vereinbaren? In der folgenden Arbeit werde ich versuchen, dieser Frage auf den Grund zu gehen.

I. Die Entstehung der ägyptischen Neo-Muslimbrüder

i) „ğamāca al-iĥwān al-muslimīn“ - die Gemeinschaft der Muslimbrüder

1928 von dem Volksschullehrer Haşan al-Bannā gegründet, war die „Gemeinschaft der Muslimbrüder“ ursprünglich eine religiös motivierte Organisation, die sich vor allem sozial engagierte. In Tradition islamistisch ausgerichteter Reformer wie Rašīd Riđā und Muħammad cAbdūh[3] stehend propagierte auch al-Bannā die Reislamisierung der als desolat konstatierten Gesellschaft. Im Zentrum seines Konzeptes stand jedoch nicht primär die Reform staatlicher oder gesellschaftlicher Institutionen. Für Bannā war es in erster Linie das Individuum, das es galt, durch erzieherische, soziale und ökonomische Aktivitäten zu islamischer Lebensweise zurückzuführen. Institutionelle Reformen waren zwar auch hier Ziel, der Weg allerdings führte über „ad-dacwa“ - die Missionierung der Gesellschaft. Wegen dieser praktischen Ausrichtung wird die Lehre al-Bannās, die eines konkret ausgearbeiteten ideologischen Unterbaus entbehrte, als aktivistisch bezeichnet. Dieser Pragmatismus, der ohne einen komplizierten ideologischen Unterbau auskam, fand schnell Anklang in der Bevölkerung. Im Laufe weniger Jahre bildete sich ein überregionales Netzwerk von Einzelzellen heraus, deren Hauptsitz sich ab 1933 in Kairo befand. In den vierziger Jahren stellte die Muslimbruderschaft eine straff hierarchisch aufgebaute Massenorganisation mit mehr als zwei Millionen Anhängern dar. Von diesem Zeitpunkt an begann die Gruppe nun auch immer mehr, zu konkreten politischen Ereignissen Stellung zu nehmen, was nicht selten in gewaltsamen Ausschreitungen endete. Zwar sprach al-Bannā sich wiederholt explizit dagegen aus, dass die Muslimbrüder eine primär politische Organisation darstellten, das Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Islamisierung implizierte jedoch schon in nuce politisches Engagement. Auch trat Bannā selbst schließlich zweimal bei Parlamentswahlen an. Im Zuge ihrer Einmischung in die Politik geriet die Muslimbruderschaft jedoch immer mehr auf Konfrontationskurs mit dem Staat. Dies fand im Winter 1949 seinen ersten Höhepunkt in dem Attentat auf Premierminister Nuqrašī sowie der zwei Monate später erfolgenden Ermordung Haşan al-Bannās. Innerhalb der Forschungsliteratur wird der frühe Tod al-Bannās als erste bedeutsame Zäsur gewertet, die den Auftakt bildete für den späteren Niedergang der Muslimbrüder. Als „unermessliche Tragödie“ bezeichnete ihn etwa Richard P. Mitchell, der mit seiner „Society of the Muslim Brothers“[4] das Standardwerk über die Geschichte der frühen Muslimbruderschaft verfasst hat. Eine der wesentlichsten Folgen dieses Ereignisses beschreibt der Arabist und Politikwissenschaftler Gilles Kepel. Es habe sich nach dem Tod Bannās ein „ideologisches Vakuum“ herausgebildet, in dem sich „geistige Strömungen ungezügelt artikulieren konnten, die zwar im Namen Bannas auftraten, sein doktrinäres Erbe aber auf unterschiedliche Art und Weise interpretierten“[5]. Der zweite und endgültige Einschnitt in der Geschichte der frühen Muslimbruderschaft erfolgte im Jahr 1954. Nach einem vorübergehenden Kooperationskurs mit dem Nasser-Regime ging die Gruppe in den 50er Jahren vor allem in Reaktion auf den anglo-ägyptischen Vertrag erneut in Oppositionshaltung. Nachdem bereits zwei Jahre vorher alle übrigen Parteien verboten worden waren, nutzte Nasser ein Attentatsversuch, welches er den Muslimbrüdern zuschrieb, um die Organisation zu zerstören und ihre Mitglieder in Konzentrationslagern zu inhaftieren. 19 Jahre sollte es dauern, bis diese Phase gesellschaftlicher Isolation für die Bruderschaft unter Sadat ein – wenn auch nicht andauerndes – Ende fand. Dass sie als „miħna“, „große Heimsuchung“, in den Sprachgebrauch der Anhängerschaft, einging[6], ist bezeichnend. Der Terminus verweist auf die Zeit der abbasidischen Khalifen, die im 9. Jahrhundert[7] unter Ausnutzung ihrer herrschaftlichen Gewalt versucht hatten, die Klasse der Religionsgelehrten, culamā`, zu entmachten und das religiös-ideologische Monopol auf sich zu konzentrieren – das Wort wird damit nicht nur zum Topos für ungerechte Machtausübung, es weist auch in mehrerer Hinsicht auf die Selbstsicht bzw. programmatische Ausrichtung der Bruderschaft. In Analogie zu den unterdrückten culamā` werden die inhaftierten Muslimbrüder als gerechte Opfer dargestellt, deren Streben (anders als im Fall des ungerechten Herrschers) nicht profaner Machtkumulation sondern der Deutung und Durchsetzung der in Koran und Sunna manifestierten göttlichen Gebote galt. Die Haftphase leitete für die Muslimbruderschaft in gewisser Weise einen Paradigmenwechsel ein. Als sie sich in den 70er Jahren begann, neu zu konstituieren, hatte sich sowohl der gesellschaftliche wie auch der diskursive Hintergrund geändert. Hinzu kam, dass die Gemeinschaft durch die nasseristischen Repressionen personal und strukturell extrem geschwächt war, so dass von der ursprünglichen Stärke der Gruppe nicht mehr viel übrig war. Gilles Kepel war es, der als erster versuchte, dieser Entwicklung gerecht zu werden, indem er für die re-formierte Organisation den Terminus der „Neomuslimbruderschaft“ einführte. Vor dem Hintergrund des empirischen und ideologischen Wandels der Muslimbrüder, der im Rahmen dieser Arbeit näher ausgeführt werden soll, meinte er deshalb, „dass die Bezeichnung „Muslimbrüder“ auf die Jama`at al Ikhwan al Muslimin beschränkt bleiben sollte“ und nannte die neue Organisation in der Folge „Neomuslimbrüder“. „Denn“, so Kepel, „wenn beide auch denselben Ursprung haben, so ist es doch unbestreitbar, dass im Laufe der Jahre ein großer Teil des gemeinsamen Erbes verloren gegangen ist“.[8] Beides, Ursprung und Wandel der Bruderschaft, wird Inhalt der folgenden Kapitel sein.

ii) Die Spaltung der islamistischen Bewegung

a) Sayyid Quţb und der islamische Radikalismus

Die Erfahrung der nasseristischen Konzentrationslager mit ihrer oft jahrzehntelangen gesellschaftlichen Isolation und der psychischen wie physischen Folter prägte die inhaftierten Islamisten in unterschiedlicher Art und Weise. Für einen Großteil von ihnen schien nicht nur das politische System des Nasserismus sondern die Gesellschaft in ihrer Ganzheit von Verderbtheit, von „Apostasie und Obszönität“[9] durchdrungen. Es gelte, so ihre Schlussfolgerung, nicht nur die ägyptische sondern jedwege menschengeschaffene Gesellschaftsform als ğahilīya[10] (Zeit der Unwissenheit) und ihre Mitglieder als kafīr (ungläubig) abzulehnen. Es ist dies das berüchtigte takfīr-Konzept, das vor allem auf Sayyid Quţb zurückgeht. Qutb, ursprünglich Mitglied der säkularen, nationalistischen Wafd-Partei, hatte während seines Amerikaexils zum Islam gefunden und sich nach seiner Rückkehr nach Ägypten den Muslimbrüdern angeschlossen. Er wurde wie die meisten unter Nasser verhaftet, fand jedoch wegen einer chronischen Krankheit, die ihn ans Bett fesselte, Gelegenheit zum Schreiben. Mit seinem Hauptwerk „Wegzeichen“[11], in dem er sich vor allem auf Abū l-Aclā al-Mawdūdī beruft, schuf Quţb Anfang der 60er Jahre eine Art ideologisches Manifest, das zum diskursiven Bezugspunkt für die meisten der radikalen, also revolutionär ausgerichteten, islamistischen Gruppen wurde. Wegen ihres unvollendeten Charakters (Quţb wurde 1965 im Zuge der zweiten Repressionswelle unter Nasser zum Tod verurteilt) erfuhr die Lehre auch innerhalb des islamistischen Radikalismus unterschiedliche Interpretationen, sodass für die achtziger Jahre die Existenz von mindestens 20 extremistischen Gruppierungen in Ägypten nachgewiesen ist[12]. Es soll an dieser Stelle kurz auf die ideologischen Grundprinzipien der Quţbschen Lehre hingewiesen werden, die von den meisten Gruppen geteilt werden.

Gemeinsam ist ihnen vor allem das Ziel der Reislamisierung durch radikale – in der Regel gewaltsame – Erneuerung des gesellschaftlichen Systems nach göttlichen Vorschriften, die in Koran und Sunna manifestiert gesehen werden. Die Durchführung dieser allumfassenden Revolution verlangt zunächst intensive Selbstreinigung und Vorbereitung der „Erleuchteten“, die sich zu diesem Zweck aus der Gesellschaft zurückzuziehen haben. Quţb bezeichnet diesen Rückzug als „hiğra“, womit er diskursiv an Koran und Sunna anschließt, in denen dieses Wort für den Auszug Muhammads aus dem als gottlos konstatierten Mekka nach Medina verwendet wird. Ziel dieser kontemplativen Phase ist die Ausbildung einer ideologischen „Vorhut“, der anschließend die Reislamisierung der ungläubigen Gesellschaft obliegt. Insgesamt stellt dieses Konzept einen klaren Bruch mit der Ideologie al-Bannās dar. Ziel ist nicht mehr die schrittweise Reform der unislamischen Teile einer grundsätzlich als legitim anerkannten Gesellschaft von innen heraus. Vielmehr wird ein allumfassender Umsturz durch bewaffneten Kampf (ğihād) angestrebt. Die Anhängerschaft dieses radikalisierten Teils der islamistischen Bewegung war im Durchschnitt sehr jung und stammte in der Regel aus der ländlichen bzw. kleinstädtischen Mittelschicht. Hanna Lücke weist darauf hin, dass die weit verbreitete Annahme, die Mitglieder radikaler Bewegungen hätten „entfremdet, marginal, anomisch oder in anderer Hinsicht abnorm“ zu sein, durch die Empirie widerlegt werde. „Wenn überhaupt abnorm“, schreibt sie, „so ist es der Hintergrund der untersuchten Aktivisten lediglich in positiver Hinsicht“. Diese müssten ihrem Persönlichkeitsprofil nach eher als junge „Musterägypter“ eingeordnet werden.

b) Der Konservativismus der Neomuslimbrüder – Wiederaufnahme des Missionskonzepts

Ein zweiter Teil der islamistischen Bewegung lehnte die Schlussfolgerungen Sayyid Quţbs ab. Aus der Erfahrung der staatlichen Übermacht zogen Anhänger dieser Richtung den Schluss, eine weitere Konfrontation mit dem Regime sei „selbstzerstörerisch und daher im Interesse des Islam und der islamischen Bewegung nicht zu verantworten“.[13] Anstelle der antagonistischen Haltung der radikalen Verbände vertraten sie in der Folge eine Strategie der Anpassung an die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie werden deswegen in den meisten sozialwissenschaftlichen Studien als „konservative“ Richtung eingeordnet, wobei gelegentlich zusätzlich zwischen einem weichen und einem harten Flügel unterschieden wird[14]. Als Vertreter des weichen islamistischen Konservativismus gelten dabei die al-Azhar-Gelehrten sowie – wie Gehad Auda etwas undifferenziert schreibt – „islamische Traditionalisten und moderne Islamisten“. Die Neo-Muslimbrüder hingegen repräsentieren die harte konservative Linie. 1973 unter Sadat neugegründet war die ideologische Ausrichtung dieser Gruppe in den 70er Jahren zunächst vor allem durch die Absetzung von den extremistischen Gruppierungen geprägt. Deutlich formuliert wurde dies erstmals in der Schrift „ducāt lā qudāt“ („Prediger, nicht Richter“), die der zweite Führer der Muslimbrüder Haşan al-Ħuđaybī Ende der 60er Jahre verfasst hatte. Explizit nur gegen die Lehre al-Mawdūdīs gerichtet, setzt sich al-Ħuđaybī hier indirekt vor allem mit Quţb auseinander. Er kritisiert dessen takfīr-Konzeption und betont, dass für die Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinde das wiederholte mündliche Bekenntnis ausreiche. takfīr im Sinne von Exkommunikation könne nur bei deutlicher und bewusster Übertretung göttlicher Gebote vorgenommen werden. Er spricht im Gegensatz zu Quţb nicht von gesellschaftlicher ğahilīya sondern individueller ğuhl[15]. Vom selben Wortstamm abgeleitet besteht zwischen beiden Ausdrücken ein erheblicher Bedeutungsunterschied: während ğahilīya in der modernen Kontextualisierung Quţbs die Konnotation von frevelhafter Gottlosigkeit und bewusster Ignoranz gegenüber dem Wort Gottes trägt, bezeichnet das Wort „ğuhl“ eine Unwissenheit, die nicht auf ein Verschulden des einzelnen Gläubigen zurückgeführt werden kann. Diese individuelle Unwissenheit der Menschen kann jedoch durch Erziehung und Mission behoben werden und genau darin besteht für al-Ħuđaybī, der hier direkt an die aktivistische Lehre Ħaşan al-Bannās anknüpft, die soziale Aufgabe einer islamistischen Bewegung. „ad-dacwa“ – die Mission – sollte also mit al-Ħuđaybī weiter im Zentrum des Engagements der Muslimbrüder stehen. Sein Konzept wurde von der neu gegründeten Muslimbruderschaft aufgegriffen, deren Führerschaft nach dem Tod al-Ħuđaybīs cUmar aţ-Ţilmisānī übernahm. Deutlich wurde dies etwa in dem Titel der organisationseigenen Zeitschrift „ad-Da´wa“. Sie erschien von 1976 bis 1981 regelmäßig und stellte nicht nur das mediale Sprachrohr der Gruppe dar, sondern auch ihr ideologisches Zentrum, vor allem da aţ-Ţilmisānī nicht nur als Führer der Organisation sondern auch als Chefredakteur von „ad-Da´wa“ fungierte. In dem Flügel der islamistischen Bewegung, die sich um diese Zeitschrift herum konstituierte, sah Gilles Kepel die neue Gemeinschaft repräsentiert. Es kann also als vorläufiges Fazit festgehalten werden, dass es mit Beginn der 70er Jahre vor allem die Auseinandersetzung und die Absetzung von dem islamistischen Radikalismus war, die die ideologische Entwicklung der Muslimbrüder prägte. Hier liegt ein grundlegender Unterschied zur ursprünglichen Gemeinschaft al-Bannās, unter dem die Muslimbrüder quasi die gesamte islamistische Bewegung Ägyptens repräsentierte. Diese Konkurrenzsituation bedeutete für die Muslimbrüder auf der einen Seite einen quantitativen Verlust von Anhängerschaft und verminderten Rückhalt innerhalb der Bevölkerung. Für die doktrinäre Ebene ließe sich als These konstatieren, dass es über die zunehmend diskursive Auseinandersetzung mit den Schriften Quţbs zu einer Rationalisierung und zu einer Systematisierung der Lehre der Muslimbrüder kam. Ein weiteres Merkmal der Neomuslimbruderschaft in der ersten Zeit die strukturelle Schwächung der Organisation, was sich unter anderem in einem Mangel an charismatischer Führerschaft niederschlug. Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer wertete dies als weiteren wesentlichen Unterschied zur Ursprungsgruppe, deren Stärke, so Krämer, in der „doktrinären Undurchsichtigkeit und der diktatorischen Führung“ gelegen habe und in dem Charisma al-Bannās, welches dieser „in hohem und für spätere Kritiker durchaus bedenklichem Maß“[16] besessen habe. Ideologie und Strategie der Bruderschaft werden im Verlauf der Arbeit ausgeführt[17]. Es sei aber schon an dieser Stelle angemerkt, dass beides vor allem auf der Konzeption des „schrittweisen Gesellschaftswandels von innen heraus“ aufbaute, die al-Bannā propagiert hatte. Hauptziel war die Islamisierung der Gesellschaft, der Weg dorthin führte einerseits über die Mission der Individuen und – auf der politischen Ebene – über die Einführung der šarīca. Immer wieder wurde in ideologischen Schriften der Bruderschaft betont, dass nicht die Person des Herrschers ausschlaggebend sei, sondern die Befolgung islamischer Prinzipien innerhalb des durch ihn geprägten Systems. Dieser Grundsatz ist eines der Hauptelemente des politischen Konservativismus der Neomuslimbruderschaft, der sich darin deutlich an der traditionellen Herrschaftsideologie der sunnitischen culamā` - in Ägypten vor allem durch die Gelehrten der al-Azhar vertreten - anlehnt.

Erster Führer – arabisch „muršid al-cāmm“[18] - der Neomuslimbruderschaft war der bereits erwähnte Rechtsanwalt cUmar aţ-Ţilmisānī. Nach dem Tod al-Ħuđaybīs im Jahr 1973 hatte in den ersten Jahren der Neugründung wie schon 1948 eine „kaiserlose Zeit“[19] geherrscht, die erst mit der offiziellen Ernennung aţ-Ţilmisānīs 1976 auch nach außen hin ein Ende fand[20]. Es gibt inoffizielle Stimmen, die behaupten, aţ-Ţilmisānī sei nicht viel mehr als eine „Gallionsfigur der alten Garde“ gewesen, der – gewählt wegen seines „verbindlich-urbanen Wesens“ – innerhalb der „autoritär und ohne jede interne Mitbestimmung (…) geführten Organisation jedoch nichts zu sagen hatte“[21] Es deutet sich hier an, was charakteristisch zu sein scheint für Studien, die sich mit den Neo-Muslimbrüdern beschäftigen - eine grundlegende Unsicherheit in Bezug auf die Interpretation des „Wesens“ der Organisation und der Gruppendynamiken in ihrem Innern. Es gibt kaum öffentlich zugängliche empirische Daten, die diesbezüglich ein objektives Datengerüst zur Verfügung stellen würden. Das gilt besonders für Angaben über die interne Machtstruktur sowie die Zahl und soziale Schichtung der Mitglieder oder Anhänger. Gudrun Krämer schreibt dazu: „Ein präzises Sozialprofil von Führung, Mitgliedern und Anhängern (…) läßt sich (…) nicht erstellen. Die Tatsache, dass sie nach wie vor illegal operiert, steht dem ebenso im Weg wie die Unzuverlässigkeit nationaler und lokaler Wahlergebnisse. Allen Versuchen ideologische Positionen und soziologische Faktoren zu verknüpfen, sind damit enge Grenzen gezogen.“[22] Inhalt des folgenden Kapitels wird es sein, Struktur und Aufbau der Neomuslimbruderschaft aus der Perspektive der 90er Jahre darzustellen. Dabei ist jedoch der oben beschriebene empirische Faktor in Betracht zu ziehen – ich war bei meiner Recherche auf Quellen angewiesen, deren Wahrheitsgehalt, vor allem im Fall der Internetquellen, nicht mit absoluter Sicherheit nachzuprüfen war.

II.Empirische Daten und interner Aufbau

i) Mitgliedschaft und Trägerschaft

Die Angaben zu konkreten Mitgliederzahlen schwanken extrem. Laut dem derzeitigen muršid Muħammad Mahdī cĀkif existieren zwar Mitgliederlisten, diese[23], so cĀkif, würden jedoch erst bei offizieller Zulassung der Bruderschaft als Partei veröffentlicht werden.[24] Die Schätzungen reichen von „einigen Tausend“ Mitgliedern über „100 000 Mitglieder und etwa 1 Million inoffizielle Anhänger“[25] bis zu „mehr als 2 Millionen Militanten, die in mehreren Tausend geheimen Zellen über das Land verteilt sind“[26]. Relative Einigkeit herrscht in der Forschung jedoch darüber, dass die Muslimbruderschaft sich von einer „sozialen Protestbewegung vor allem des städtischen Kleinbürgertums“[27] zu einer Organisation entwickelt hat, die Rückhalt in allen Gesellschaftsschichten, vor allem aber auch in der akademischen und unternehmerischen, also der wohlhabenden Mittelschicht findet. Von der Stärke dieses Rückhalts zeugen die von der Bruderschaft organisierten politischen Versammlungen und Demonstrationen, die regelmäßig große Menschengruppen mobilisieren. Ein besonders aussagekräftiges Zeichen setzten die Begräbnisse der letzten beiden Führer der Gemeinschaft. Im Fall Muşţafā Mašhūrs berichtete das den Muslimbrüdern nahe stehende Internetportal „Islam Online“, die Feierlichkeiten seien „von Menschenmassen aus ganz Ägypten“ besucht worden, die sich zu einem Zug von mehr als zehn Kilometern Länge formiert und die Slogans der Gruppe skandiert hätten. Die Website „Christian Science Monitor“ spricht von 100 000 Teilnehmern. Angesichts der Tatsache, dass es in den letzten Jahren unter Mubarak immer wieder zu Verhaftungen allein auf Grund von Mitgliedschaft bei den offiziell verbotenen Muslimbrüdern gekommen ist, sind Veranstaltungen wie diese mit einem gewissen Risiko für die Teilnehmer verbunden und erreichen dementsprechend selten Teilnehmerzahlen von mehr als ein paar Tausend[28]. Es gibt allerdings zwei Faktoren, die in den letzten Jahren wieder zu einer quantitativen Schwächung der Bruderschaft geführt haben. Erstens die repressiven Maßnahmen unter Mubarak und zweitens die Abspaltung der „al-wasaţ“-Gruppe im Jahr 1996. Letzteres soll zu mehreren Austrittswellen geführt haben, bei denen nach Angaben von „al-wasaţ“ bis zum Jahr 2000 etwa 200 Mitglieder die Muslimbrüderschaft verlassen haben.[29]

Um aktives Mitglied (cāmil) der Bruderschaft zu werden, müssen Anwärter eine dreijährige Probezeit absolvieren, in deren Anschluss sie in Anlehnung an die traditionell islamische „baica“[30] einen Treueeid auf den Führer leisten. Dieser lautet in der von Mitchell überlieferten Version:

„I contract with God … to adhere firmly to the message of the Muslim Brothers, to strive on its behalf, to live up to the conditions of its membership, to have complete confidence in its leadership and to obey absolutely, under all circumstances (fi`l-manshat wa `l-makra[31] ). I swear by God on that and make my oath of loyalty by Him. Of what I say, God is Witness.”[32]

Generell steht die Gemeinschaft nur Männern ab 20 Jahren offen. Parallel gründete die bereits erwähnte Zaynab al-Ġazālī eine Frauengemeinschaft – die Muslimschwestern. In der letzten Zeit kandidierten bei politischen Wahlen erstmals auch Frauen für die Muslimbrüder – ob diese allerdings auch offiziell Mitglieder der männlichen Gemeinde sind, ist nicht klar ersichtlich. Wahrscheinlich ist es – trotz eines programmatischen Wandels hin zu stärkerer Betonung von Frauenrechten - nicht.

[...]


[1] Sure 8 („al-anfāl“ – „Die Beute“), Vers 60.

[2] Übersetzung nach Max Henning.

[3] vgl. hierzu: Krämer, G.: „Gottes Staat als Republik“ S. 184 ff.

[4] Mitchell, Richard P. „The Society of the Muslim Brothers“, Oxford 1996.

[5] Kepel, G.: „Der Prophet und der Pharao“, S. 35/36.

[6] vgl. Krämer, S. 195/196.

[7] genauer: die Jahre 827 – 847, Beginn der mihna war die Erhebung der Erschaffenheit des Korans zum Staatsdogma durch al-Ma`mūn, vgl. hierzu etwa: Gerhard Endres: Der Islam; Eine Einführung in seine Geschichte, S. 57-67.

[8] Krämer, S. 113.

[9] vgl. Ramadan, Abdel A.: „Fundamentalist influence in Egypt“, S.

[10] koranischer Terminus, der sich auf die vorislamische arabische Gesellschaft bezieht

[11] arabisch: „macālim fi-ţ-ţarīq“

[12] Krämer verweist auf Studien, die für dieselbe Zeit 29 Gruppen konstatieren. S. 126.

[13] Krämer, S. 228.

[14] vgl. Auda, G.: „The ´Normalization` of the Islamic Movement in Egypt from the 70s to the early 90s“, S. 375f., sowie Ramadan.

[15] vgl. Kepel, G.: „Der Prophet und der Pharao“, S. 64ff.

[16] Krämer, S. 182.

[17] Kapitel III

[18] Der arabische Terminus bedeutet wörtlich übersetzt „Allgemeiner Führer“. Im Englischen wird meist der Begriff General Guide, teilweise Supreme Guide verwendet. Ich werde im folgenden den arabischen Begriff muršid benutzen.

[19] Krämer, S. 193.

[20] aţ-Ţilmisānī soll schon vorher inoffizieller Führer gewesen sein, was sich in seinem Amt als Herausgeber von ad-Da´wa gespiegelt hat. Vgl. hierzu Kepel

[21] Krämer, S. 230.

[22] Krämer, S. 229.

[23] Eine gute und übersichtliche Zusammenfassung bietet ein Online-Informationsprojekt der Universität Leipzig. Die hier

angegebenen Links decken sich oft, jedoch nicht in jedem Fall mit den von mir benutzten Quellen. Ich werde deshalb immer

direkt auf die Primärquelle verweisen, auch wenn auf einige Daten erst durch diese Seite gestoßen bin.

[24] cĀkif auf aljazeera.com: http://www.aljazeera.com/cgi-bin/news_service/middle_east_full_story.asp?service_id=38

[25] vgl. Endres, Jürgen: „Militanter Islamismus in Algerien und Ägypten“; http://www.uni-muenster.de/PeaCon/wuf/wf-

97/9730207m.htm

[26] Zenati Hassan in: “Middle East Online”, 18. 5. 2004. http://www.middle-east-online.com/english/egypt/?id=10012.

[27] Lüders, Michael in DIE ZEIT, 21.11.1997

[28] vgl.

[29] Kristianasen, Wendy: „Der Islam und die Moderne“ auf: eurozine.com, 11. 7. 2000 http://www.eurozine.com/article/2000-07-11-kristianasen-de.html

[30] In der bai´a (Huldigung) entboten die Gläubigen ursprünglich dem Khalifen Akklamation, Treue- und Gehorsamsversprechen. Sie bringt laut Gudrun Krämer symbolisch das islamische Konzept eines Gesellschaftsvertrags zwischen Herrscher und Gemeinde zum Ausdruck. (vgl. Krämer, S. 104-108)

[31] die wörtliche Übersetzung lautet: „an den Ursprüngen wie in der widerwärtigen Lage“, freier: „am Anfang wie in Zwangslagen“

[32] Mitchell, S. 165; Primärquelle: „Qanūn an-niŽām al-asāsī li-haycati l-iĥwān al-muslimīn al-cāmma“, September 1945 (= Grundlegendes Statut zur Ordnung der allgemeinen Gemeinschaft der Muslimbrüder)

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Details

Titel
Die ägyptische Neo-Muslimbruderschaft - Legalisten wider Willen?
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Veranstaltung
Religion und Moderne
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
27
Katalognummer
V31752
ISBN (eBook)
9783638326612
ISBN (Buch)
9783640360611
Dateigröße
496 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ich habe mich in der Arbeit grundsätzlich mit dem Phänomen des islamischen Fundamentalismus, seiner Entstehung und Entwicklung, auseinandergesetzt. Die ägyptische Muslimbruderschaft bot sich dabei als islamistische Ursprungsorganisation als empirisches Beispiel an. Ich habe den derzeitigen Aufbau und die politische Orientierung der Gruppe untersucht und mich vor allem mit der Frage befasst, wie deren legalistisch-moderate Ausrichtung einzuschätzen ist.
Schlagworte
Neo-Muslimbruderschaft, Legalisten, Willen, Religion, Moderne, Muslimbruderschaft, Muslimbrüder, Ägypten, Arabisch, Naher Osten, Islam
Arbeit zitieren
Cornelia Weinberger (Autor:in), 2004, Die ägyptische Neo-Muslimbruderschaft - Legalisten wider Willen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31752

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