Demokratie und Liberalismus. Spannungsverhältnis oder Harmonie?

Eine Betrachtung aus anarchistischer Sicht


Essay, 2013

7 Seiten


Leseprobe

Hört man sich in der derzeitigen Medien- und Politiklandschaft nach der politischen Tradition Deutschlands um, so trifft man nicht selten auf Aussagen, wie „Der deutsche Staat steht in der Tradition von Demokratie und Freiheit“, oder „Liberalismus und Demokratie waren seit Anbeginn die Grundpfeiler der BRD“. Vielen erscheint das Begriffspaar Demokratie und Freiheit beziehungsweise Liberalismus deshalb als Tautologie. Doch ist diese Kombination wirklich selbstverständlich und durchdacht, ja geschweige denn überhaupt widerspruchsfrei?

Für die Erschließung der Frage ist es zunächst einmal sinnvoll, die Begrifflichkeiten zu klären. Demokratie bezeichnet im heutigen Verständnis eine Regierungsform mit dem Anspruch, dass in ihr die Bevölkerung über sich selbst herrsche, genauer gesagt eine Minderheit im Namen der Mehrheit über die Gesamtheit des Volkes.

Unter Liberalismus hingegen versteht man allgemein die Idee, die Freiheit des einzelnen Individuums zu betonen und es gegen staatliche Gewalt abzuschirmen. Mit einiger Berechtigung könnte man auch schließen, dass dies einer Freiheit von Herrschaft entspricht. Da Demokratie eine Herrschaftsform beschreibt, tritt ein gewisses Spannungsverhältnis zur Freiheit bereits hier zutage: Ist es denn in einer Volksherrschaft denkbar und praktikabel, der kleinstmöglichen Minderheit – dem Individuum – allumfassenden Schutz zu gewährleisten, wie es das Gebot des Liberalismus verlangt?

Dass dem nicht so ist, lässt sich leicht anhand des folgenden Gedankenganges erkennen: Eine demokratische Abstimmung über die Vergewaltigung einer Frau würde heutzutage – zurecht – zwar nicht als Legitimation für jenes Verbrechen anerkannt werden, was überdies nicht schon immer selbstverständlich gewesen ist, wenn man beispielsweise der demokratischen Tötung Sokrates’ gedenkt. Allerdings genießt demokratischer Diebstahl in Form von staatlichen Zugriffsrechten auf privates Eigentum – auch „Steuern“ genannt – große gesellschaftliche Anerkennung. Zwischen einem herkömmlichen Raubüberfall und staatlicher Besteuerung besteht substanziell kein Unterschied, sondern maximal ein temporärer sowie quantitativer. Beide führen einen Güterabfluss herbei, dem der Betroffene selten zustimmt und der darum wenn nötig mit Gewalt durchgesetzt wird. Ferner beansprucht der Staat tendenziell mehr für sich als ein herkömmlicher Räuber und dies mit einer Regelmäßigkeit und Permanenz, die sich ein einfacher Verbrecher nicht erträumen würde.

Auf die moralische Natur eines demokratischen Staates kann auch folgendermaßen geschlossen werden: Wer der festen Überzeugung ist, dass seine Handlungen moralisch sind, hat keinen Grund dies zu verschleiern und verwendet für diese also auch klare Begriffe. Zum Beispiel würde kaum einer seine eigene Großzügigkeit als Verschwendungssucht titulieren. Demgegenüber vermeidet die Mafia tunlichst den Begriff der „räuberischen Erpressung“ und setzt stattdessen lieber auf „Schutzgeldzahlung“, was deutlich besseren Anklang findet. Weitet man jene Analogie auf das politische Feld aus, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass Regierungen sich ihrer lasterhaften Handlungen durchaus bewusst sein müssen, welche sie daher mithilfe von Wortschleiern wie „Steuern“, „soziale Gerechtigkeit“ oder „Rundfunkbeitrag“ zu verbergen versuchen, anstatt jemals deren klaren Entsprechungen „Enteignung“, „Umverteilung“ und „Propaganda-Zwangsfinanzierung“ im Mund zu führen.

Schließlich sollte auch bedacht werden, dass bis dato noch keine Demokratie ohne zwangsweise Enteignungen ausgekommen ist, sodass man zuspitzend fragen könnte: Wie kann Diebstahl jemals gleichbedeutend mit Freiheit sein?

Um Kritik gleich vorwegzunehmen sei noch hinzugefügt, dass es schlicht keine demokratische Entscheidung geben kann, die nicht gleichzeitig die Rechte mindestens eines Individuums verletzt, da stets kollektiv Beschlüsse gefasst werden, deren Einhaltung ebenso den Dissidenten aufgezwungen wird. Sogar bei Abstimmungen über den Verbraucherschutz etwa werden Andersdenkende verpflichtet, die Behörde zu finanzieren sowie den Verordnungen nicht zuwiderzuhandeln, selbst wenn dies nur einem selbst schaden würde.

Die Logik gebietet es zudem – entgegen häufiger Behauptungen –, dass Rechtsverletzungen allgemein auch nicht durch einen Mehrheitsentscheid moralisch gerechtfertigt werden können: Da selbst die demokratische Moral es für das Individuum untersagt, sich am rechtmäßigen Eigentum eines anderen zu vergreifen, kann der moralische Status der Handlung sich nicht einfach ins Gegenteil verkehren, indem der Betreffende jemanden mit der Ausführung der kriminellen Handlung beauftragt, anstatt sie selbst zu begehen. Wenn dies eine Mehrheit tut, ist es nichts weiter als eine massenhafte Anstiftung zu verbrecherischen Taten und keinesfalls eine moralische Handlung. Von einer ganzen Räuberbande ausgeraubt zu werden ist schließlich nicht legitimer als von einem Einzeltäter.

Darüber hinaus gelten für Träger von politischen Ämtern in demokratischen Gesellschaften andere moralische Gesetze als für denselben im Privaten. Der Ökonom und Philosoph Hans-Hermann Hoppe merkt dazu an: „Als staatliche Funktionsträger dürfen Personen Handlungen durchführen, die ihnen als bloßen Privatpersonen strikt – als kriminell – untersagt sind.“1

Würde man andererseits die oben erwähnte demokratischen Auffassung der Moral in das Privatrecht umsetzen, müsste ein Einbrecher vor seiner Tat zuerst die Nachbarschaft darüber abstimmen lassen und man würde womöglich schon im Kindergarten lehren, dass man einem anderen nur dann das Spielzeug wegnehmen dürfe, wenn die Kinder das mehrheitlich befürworten.

Auch Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek sieht es ähnlich und schreibt: „Übereinstimmung über die Teilung der Beute, die eine Mehrheit durch Überwältigung einer Minderheit gewonnen hat, oder darüber, wie viel Letzterer weggenommen werden soll, ist nicht Demokratie oder zumindest nicht ein Ideal der Demokratie, das sich moralisch rechtfertigen lässt.“2

Doch die Demokratieverehrer sind zahlreich und würden solch einen „banalen“ Vergleich ihres Heiligtums mit den Methoden einer Räuberbande kaum akzeptieren, weil sie den im demokratischen Prinzip inhärenten latenten Diebstahl nicht erkennen. Man stelle sich beispielsweise bloß einmal vor, man würde einem Durchschnittsbürger, direkt nachdem er eine Überweisung an das Finanzamt geleistet hat, konsequenterweise dieselbe Empathie und Hilfsbereitschaft entgegenbringen wie einem Menschen, der soeben Opfer eines Raubüberfalls wurde. Der Grad der Verblüffung könnte wohl nur von einem Dutzend Außerirdischer auf der Erde übertroffen werden.

Insofern soll uns die alleinige Betrachtung von moralischen Gesichtspunkten nicht für eine abschließende Beantwortung der Eingangsfrage genügen, obgleich sie hierzu aufgrund ihrer logischen Stringenz genau genommen durchaus geeignet wäre.

Sehen wir uns also einmal die demokratische Realität an: Bis auf sehr wenige Ausnahmen beanspruchen heutzutage alle Länder dieser Erde den Status einer demokratischen Regierung. Auch wenn der Wahrheitsgehalt einiger dieser Ansprüche sicher streitbar ist, zeigt es doch, dass die Demokratie weltweit in der Bevölkerung die größte Legitimität genießt. Sie zu kritisieren heißt ihr Gegenteil – die Diktatur – zu befürworten. Ein farbenfrohes Denken außerhalb von schwarz-weiß kommt einem gesellschaftlichen Tabu gleich. Gerne übersehen wird dabei jedoch, dass in beinahe allen Demokratien auch eine permanent hohe Arbeitslosigkeit vorherrscht, eine bürokratische Regulierungswut, die den Bürgern das Leben schwer macht, eine kontinuierlich ansteigende Staatsquote sowie Kriminalität, rasant zunehmende Staatsverschuldung und sinkender Wohlstand. Demokratie scheint also nicht so zu funktionieren, wie viele sich dies wünschen würden, und hat im Ergebnis eher wenig mit liberalen Vorstellungen gemein. Worauf sind diese Ineffizienzen folglich zurückzuführen und lassen sich diese gar mit noch mehr Demokratie beseitigen?

Eine Demokratie ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Machtposition in der Regierung rein theoretisch jedem Bürger offen steht. Was früher nur Mitgliedern von Adelsfamilien vorbehalten war, ist heute jedermann zugänglich; die Grenze zwischen Herrschern und Beherrschten ist fließend, infolgedessen der Widerstand gegen jene Herrschaft sowie gegen Eingriffe in das Eigentum gering, was mit der Illusion einhergeht, man selbst sei der Staat und könne dementsprechend eines Tages an der Herrschaft teilhaben. Regierung ist also nicht mehr quasi Privateigentum – wie in der Aristokratie –, sondern ein öffentliches Gut. Wozu jedoch Gemeinschaftseigentum führt, zeigt die Parallele der „Tragik der Allmende“ trefflich: Gemeinsam genutztes Weideland erzeugt für jeden Bauern den Anreiz, das Land möglichst schnell zu seinen eigenen Gunsten auszubeuten, d.h. abzugrasen, bevor ein anderer ihm zuvorkommt. Um den Erhalt der Weide kümmert sich hingegen niemand, weshalb diese verrottet.

Realexistierende Demokratien sehen ähnlich aus: Jede Regierung versucht, möglichst viel für sich selbst herauszuholen, ergo zu besteuern und Schulden zu machen, bevor sie in der nächsten Wahlperiode wieder abgewählt und von einer anderen abgelöst wird, die das Spiel von neuem beginnt. Langfristiges Denken ist somit fast nie zu erkennen, dagegen sind Verschwendung, Gier, Unehrlichkeit und Ineffizienz an der Tagesordnung. Da der Regierung ausschließlich die Verwaltung des öffentlichen Gutes zukommt, nicht jedoch der Besitz desselben, ist sie versucht, damit unwirtschaftlich umzugehen.

Um zudem die Chancen einer Wiederwahl zu erhöhen, ist es unerlässlich, diverse staatliche Leistungen für die Bürger zu versprechen, um die Wähler zu befriedigen, was gleichwohl nur durch Schulden zu finanzieren ist. Hayek beschreibt dieses Problem folgendermaßen: „Die heute praktizierte Form der Demokratie ist zunehmend ein Synonym für den Prozess des Stimmenkaufs und für das Schmieren und Belohnen von unlauteren Sonderinteressen, ein Auktionssystem, in dem alle paar Jahre die Macht der Gesetzgebung denen anvertraut wird, die ihren Gefolgsleuten die größten Sondervorteile versprechen, ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem der Politik hervorgebrachtes System mit einer einzigen allmächtigen Versammlung, mit dem Wortfetisch Demokratie belegt.“3

Die Tendenz zu einer hohen Zeitpräferenz ist für demokratische Regierungen somit erheblich stärker ausgeprägt als für einen Fürsten, der „sein“ Land über viele Jahrzehnte regiert und darauf angewiesen ist, die Qualität seiner „Steuerschafe“ zu erhalten, also deren Ausbeutung auf einem Minimum zu halten.

Im Übrigen ist auch die Idee der Demokratie nicht – wie oft behauptet – politisch beziehungsweise weltanschaulich neutral und kann es per definitionem gar nicht sein. Sie enthält vielmehr einen steinharten kollektivistischen Kern, laut dem auch jede noch so private Angelegenheit zum Politikum wird: Welche Glühbirne verwendet wird, wo geraucht werden darf, wie Kinder erzogen und gebildet werden sollen, wie man sich zu versichern hat, wann und ab welcher Lohnhöhe es gestattet ist zu arbeiten, ob man sich selbst durch Drogen schaden darf et cetera. Aussagekräftig ist diesbezüglich auch die Umschreibung des kolumbianischen Philosophen Nicolás Gómez Dávila: „Bei den demokratischen Wahlen wird darüber entschieden, wen zu unterdrücken statthaft ist.“4

Der Zwangskollektivierung ist prinzipiell kein Lebensbereich heilig, denn den Begriff „Demokratie“ nimmt man gerne so wörtlich wie möglich, eben eine „Herrschaft durch das Volk“.

[...]


1 Hoppe, 2012, S. 79.

2 Hayek und Kerber, 1996, S. 210.

3 Hayek, 1980, Bd. 3, S. 55.

4 Dávila, 1992, S. 75.

Ende der Leseprobe aus 7 Seiten

Details

Titel
Demokratie und Liberalismus. Spannungsverhältnis oder Harmonie?
Untertitel
Eine Betrachtung aus anarchistischer Sicht
Autor
Jahr
2013
Seiten
7
Katalognummer
V317750
ISBN (eBook)
9783668166653
ISBN (Buch)
9783668166660
Dateigröße
471 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
philosophie, demokratie, politik, politische theorie, herrschaft, anarchie, hoppe, anarcho-kapitalismus, freiheit, liberalismus, libertarismus, hayek
Arbeit zitieren
Tobias Zepf (Autor:in), 2013, Demokratie und Liberalismus. Spannungsverhältnis oder Harmonie?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/317750

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