Was du heute kannst verschieben, das lass ruhig bis morgen liegen. Prokrastination im schulischen Kontext


Bachelorarbeit, 2012

52 Seiten, Note: 1,7

Ole Görlich (Autor:in)


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Abgrenzung Prokrastination
2.1.1 Akademische Prokrastination
2.1.2 State- und Trait-Prokrastination
2.2 Prävalenz
2.3 Korrelierende Personenmerkmale
2.4 Kognitive, affektive und behaviorale Merkmale von Prokrastination
2.4.1 Handlungsvorbereitung und Handlungsplanung
2.4.2 Selbstwirksamkeitdefizite und Attributionsstile
2.4.3 Konkurrierende Aktivitäten und Konditionierung
2.5 Depressivität
2.5.1 Abgrenzug Depressivität
2.5.2 Rumination
2.5.3 Zusammenhang zwischen Prokrastination und Depressivität
2.6 Angst
2.6.1 Abgrenzung Angst
2.6.2 Leistungs- und Prüfungsgsangst
2.6.3 Zusammenhang zwischen Angst und Prokrastination
2.7 Schulunlust
2.8 Forschungsfragen und Hypothesen

3 Methoden
3.1 Vorbereitung und Durchführung der Untersuchung
3.2 Untersuchungsstichprobe
3.3 Instrumente

4. Ergebnisse
4.1 Reliabilität
4.2 Verteilung der Konstrukte
4.3 Geschlechtsspezifische und alterspezifische Unterschiede in Bezug auf Prokrastination
4.4 Korrelationen der Konstrukte

5. Diskussion und Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Das Hinauszögern einer Hausarbeit oder einer wichtigen mündlichen Prüfung sowie das Aufschieben einer bedeutsamen Lebensentscheidung sind weit verbreitete Verhaltensmuster, die für das einzelne Individuum häufig mit negativen Konsequenzen verbunden sein können. Diese Beispiele illustrieren ein alltägliches Phänomen, dass als Prokrastination bzw. umgangssprachlich als Aufschieberitis bezeichnet werden kann. Diese sogen. Aufschieber generieren immer wieder Gründe, warum eine gewisse, tendenziell unangenehme, Handlung nicht ausgeführt werden sollte. Dieses Verhaltensmuster kann nicht als schlechte Angewohnheit charakterisiert, als Kavaliersdelikt bezeichnet oder mit unzureichenden Zeitmanagement erklärt werden, sondern sei vielmehr als eine Arbeitsstörung einzuordnen (vgl. Reinhardt, 2008).

In den letzten Jahren wurden im internationalen Rahmen das Phänomen der Prokrastination grundlegend erforscht, vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum. Dabei lag der Fokus oftmals auf der akademischen Prokrastination, d.h. auf dem Aufschiebeverhalten während des Studiums. Aus diesem Umstand könnte die Folgerung gezogen werden, dass Prokrastination im akademischen Bereich häufiger vorkäme oder negativere Konsequenzen nach sich zöge, als bspw. im Arbeits- oder Sozialleben. Die Fokussierung kann jedoch vielmehr damit erklärt werden, dass Prokrastination bei Studierenden trivialer festzustellen und zu untersuchen sei, da die Anforderungen des Lernens und die Vorbereitungen auf Prüfungen einen homogeneren Prozess folgen (vgl. Rist, Engberding, Patzelt & Beißner, 2006).

Nach Schouwenburg, Lay & Ferrari (2004) lassen sich zwei Zielrichtungen der aktuellen Forschung konstituieren. Auf der einen Seite die Prokrastinations-tendenz, welche als Verhaltensdisposition verstanden wird und auf der anderen Seite der Prokrastionationsprozess, welcher das Aufschieben von Verhaltensmustern determiniert. Ausgehend von der Annahme, dass eine Pro-krastinationstendenz analog zu anderen (stabilen) Persönlichkeitsmerkmalen, wie bspw. Extraversion und Offenheit existiert, könnte diese Disposition schon im Kindes- und Jugendalter vorliegen. Der Prokrastinationsprozess bietet ebenfalls Hinweise auf die Existenz von problemhaften Vermeidungsverhalten bei Heranwachsenden, da dieser sich nach Ferrari, Johnson, McCown & William (1995) als erlernter Prozess manifestieren könnte.

In der wissenschaftlichen Literatur wird das Hochschulstudium als eine „typische biografische Übergangs- oder Transformationsphase“ (Seiffge–Krenke, 1994, S.29) beschrieben. Bedingt durch biologische, soziale und psychische Veränderungen innerhalb dieser Phase, kann dieses zu Belastungen führen, welche durch Kumulation die Ausbildung von dysfunktionalem Verhalten begünstigt (vgl. Seiffge–Krenke, 1994). Unabweisbar könnte die Begrifflichkeit der Pubertät in einem (teilweise) konvergenten Rahmen beschrieben werden. Ebenfalls sei diese Phase anfällig für die Entstehung von psychischen Störungen (vgl. Eggers, Fegert & Resch, 2003). Folglich könnte der Ausgangspunkt von Prokrastination auch innerhalb der Pubertät begründet sein.

Unzureichende schulische oder akademische Leistungen werden häufig als Zeichen von Faulheit, Untätigkeit oder mangelndem Ehrgeiz gesehen, diese Etikettierung erscheint jedoch in der heutigen Zeit als unzulänglich (vgl. Helmke & Schrader, 2000). Somit bietet dieser Aspekt einen abschließenden Hinweis auf Prokrastination im Kindes- und Jugendalter.

Abgeleitet von den oben vorgestellten Prämissen, soll im Rahmen dieser Arbeit Prokrastination im schulischen Kontext untersucht, analysiert und evaluiert werden. Trotz der relativ hohen Verbreitung dieses Phänomens, finden sich keine wissenschaftlichen Untersuchungen hinsichtlich der Existenz und Relevanz im Kindes- und Jugendalter. Im Fokus dieser Arbeit steht daher die Frage, inwieweit dysfunktionales Aufschiebe- und Vermeidungsverhalten innerhalb der untersuchten Stichprobe (Schüler und Schülerinnen im Alter von 13 bis 16 Jahren) existiert. Ebenfalls, im Interesse dieser Arbeit, steht der Zusammenhang von Prokrastination zu Angst und inwieweit speziell manifeste Angst und Prüfungsangst eine Rolle für ein Aufschiebeverhalten spielt. Des Weiteren soll der Zusammenhang von Prokrastination zu Depressivität einbezogen werden, da innerhalb der relevanten Fachliteratur mögliche Relationen konstituiert werden.

Im folgenden Kapitel wird ein Überblick über den für die Fragestellung relevanten theoretischen Hintergrund (Kapitel 2) gegeben, aus denen Fragestellungen und Hypothesen abgeleitet werden. Nach einer methodischen Darlegung der Untersuchung (Kapitel 3), werden die Ergebnisse (Kapitel 4) der erhobenen Studie berichtet, diskutiert und abschließend zusammengefasst (Kapitel 5).

2. Theoretischer Hintergrund

Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit erwähnt wurde, liegt der Fokus der Prokrastinationsforschung primär auf dem dysfunktionalem Aufschiebe- und Vermeidungsverhalten während des Studiums. Dieser Sachverhalt impliziert, dass Theorien, Modelle, Hypothesen und Studien sich fokussiert auf den akademischen Kontext beziehen. Dessen ungeachtet dienen diese als Grundlage des theoretischen Hintergrundes dieser Arbeit. Dieser Umstand be-zieht sich ebenfalls auf die Ableitung relevanter Fragestellungen und Hypothesen. Aus wissenschaftstheoretischer Sichtweise könnte dieses Vorgehen durchaus kritisiert werden, da zwischen Schülern (Schülerinnen) und Studenten (Studentinnen) sowie den Institutionen Schule und Universität elementare Unterschiede bestehen. Legitimation erhält dieses Vorgehen jedoch zum einen aus der Gegebenheit, dass bisher keine empirische Forschung in Bezug auf Prokrastination im schulischen Kontext existiert und zum anderen, aus vergleichbaren Lernprozessen sowie institutionellen Analogien.

Einführend soll die Begrifflichkeit der Prokrastination abgegrenzt und nachfolgend in den akademischen Kontext eingeordnet werden. Weiterführend soll die Merkmalsstabilität betrachtet, unterschiedliche Prävalenzen aufgezeigt und korrelierende Personenmerkmale vorgestellt werden. Anschließend werden charakteristische Merkmale von Prokrastinationstendenzen in den Dimensionen Affekt, Verhalten und Kognitionen vor dem Hintergrund organisationaler und selbst-regulatorischer Defizite der betroffenen Individuen diskutiert. Ins-besondere spezifische Dysfunktionalitäten in der Handlungsplanung und Handlungsausführung sollen anhand vorliegender empirischer Befunde in die Diskussion eingebunden werden. Die beiden darauf folgenden Abschnitte befassen sich mit der Interaktion zwischen Prokrastination und Konstrukten, der Angst bzw. Depressiviät. Abschließend werden Forschungsfragen und Hypothesen vorgestellt.

2.1 Abgrenzung Prokrastination

Das Wort Prokrastination leitet sich aus dem lateinischen Verb procrastinare ab und kann mit auf morgen verschieben übersetzt werden (vgl. Langenscheidt, Großes Schulwörterbuch Lateinisch-Deutsch, 2009). Besondere Verwendung fand das Verb procrastinare im militärischen Jargon der Römer i.S.e klugen Verschiebens von Handlungen (vgl. Scharder & Helmke, 2000). Folglich kann eine durchaus positive Konnotation im ursprünglichen Sinne unterstellt werden. Seine heutige, generell negative Konnotation erhielt das Wort Prokrastination mit Beginn der industriellen Revolution in der Mitte des 18. Jahrhunderts (vgl. Steel, 2007; Helmke & Schrader, 2000). Eine Begründung dessen, könnte in den enormen ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit liegen. Der britische Gelehrte Samuel Johnson (1751) beschrieb Prokrastination als „one of the general weaknesses, which, in spite of the instruction of the moralists, and the remonstrances of reason, prevail to a greater or less degree in every mind” (Johnson, 1751 zitiert nach Steel, 2007, S. 7).

Nach Sichtung der entsprechenden Fachliteratur kann postuliert werden, dass eine nicht homogene Vielheit von Definitionen zur Begrifflichkeit der Prokrastination in der heutigen Zeit existiert (vgl. Steel, 2007), die sich im Besonderen durch den gewählten Definitionskontext unterscheiden. Im Folgenden soll eine möglichst präzise sowie kontextlose Abgrenzungs-perspektive aufgezeigt werden.

Nach Helmke & Schrader (2000) kann Prokrastination als „Dysfunktionales Aufschieben, Verschieben oder Vermeidungsverhalten“ (Helmke & Schrader, 2007, S. 207) einer als dringlich bzw. wichtig erachteten Aufgabe oder Entscheidung abgegrenzt werden, was sich sowohl auf den verspäteten Beginn als auch auf die rechtzeitige Beendigung beziehen kann (vgl. Ferrari & Tice, 2000). Rist et al. (2006) sehen in diesem Zusammenhang Prokrastination als „eine Störung der Selbststeuerung, an der affektive, kognitive und motivationale Faktoren beteiligt sind“ (Rist et al., 2006, S. 64). Insbesondere unter dem Aspekt eines habituellen Aufschiebeverhaltens, können diese Verhaltenstendenzen für das Individuum mit negativen Konsequenzen oder individuellen Kosten verbunden sein. Prokrastination kann zu einer Verminderung der Arbeitseffizienz und einer daraus resultierenden unterdurchschnittlichen Arbeitsleistung führen (vgl. Milgram, Dangour & Ravi, 1992). Für die betroffenen Personen hat Prokrastination affektive Konsequenzen, die in ihrer Intensität variieren können. Die Variationsbreite affektiver Beeinträchtigungen kann sowohl ein Gefühl des verminderten Wohlbefindens als auch Schuldgefühle und Misserfolgsängste umfassen (vgl. Milgram et al., 1992; Solomon & Rothblum, 1984). Des Weiteren berichten chronische Prokrastinierer von der Empfindung eines geringem Selbstwertes, unzureichendem Selbstvertrauen und einer schwach ausgeprägten Selbst-kontrolle (vgl. Ferrari & Tice, 2000).

Die bisher betrachtete Abgrenzungsperspektive führt zu einer unverhältnismäßigen Gewichtung der negativen Konnotation von Prokrastination, d.h. insbesondere funktionale Aspekte dieser Verhaltens-tendenzen werden vernachlässigt. Chu & Choi (2005) betonen, dass Prokrastination, unter funktionalen Gesichtspunkten, durchaus eine sinnvolle Strategie der Aufgabenbewältigung repräsentieren könnte. Als Beispiel sei die Priorisierung von Arbeitsaufgaben zur Vermeidung stressinduzierender Aufgabenüberlappungen genannt. In Verbindung mit Stress kann Prokrastination jedoch auch Energetisierungsprozesse anstoßen und das Aufschiebeverhalten die Funktion einer performance enhancing strategy übernehmen (Steel, 2007, S. 22). Diese zu beobachtenden Verhaltensmuster sind nicht dysfunktional ausgerichtet, sondern führen zu einer Steigerung der Arbeitseffizienz: Stress, i.S.e. funktionalen Motivators, kann eine qualitative Verbesserung der individuellen Arbeitsleistungen bewirken (vgl. Ferrari et al., 1995; Tice & Baumeister, 1997). Diese Perspektive impliziert eine subjektive Komponente der Prokrastination, d.h. Aufschiebetendenzen müssen nicht zwangsläufig einen individuellen Leidensdruck hervorrufen. Silver (1974) formuliert diesen Sachverhalt treffend als „one person´s feelings of putting off a task might be someone else´s version of punctuality“ (Silver, 1974 zitiert nach Ferrari et al., 1995, S. 5).

Des Weiteren könnte Prokrastination als Gegensatz zum Aktionismus gesehen werden, gerade in Bezug auf Situationen mit einer unzureichenden Informationsbasis. Das Individuum kann ggf. durch das bewusste Verschieben von Handlungen oder Aktionen weitere Informationen innerhalb des situativen Kontext gewinnen. Im Zuge dessen, könnte die Erfolgswahrscheinlichkeit der Handlungen oder Aktionen steigen und somit ein größerer Nutzen für das Individuum generiert werden(vgl. Milgram & Tenne, 2000).

Abschließend kann konstatiert werden, dass Prokrastination (in seiner negativen Konnotation) durch vier zentrale Elemente charakterisiert werden könnte: Prokrastination ist demnach das Aufschieben oder Hinauszögern einer Aufgabe mit hoher persönlicher Relevanz, wobei dieses Verhalten von einer Verminderung der Arbeitseffizienz und dem Auftreten negativer affektiverZustände begleitet wird.

2.1.1 Akademische Prokrastination

In Verbindung mit Prokrastination im akademischen Kontext, kann die im vorherigen Abschnitt aufgezeigte Abgrenzungsperspektive in die Definition von Solomon & Rothblum (1984) überführt werden, demnach ist Akademische Prokrastination die selbstberichtete Tendenz „(a) to nearly always or always put off acedmic taks, and (b) to nearly always or always experienced problematic levels of anxiety associated with procrastination“ (S. 503). Als typische akademische Aufgaben seien beispielhaft das Lernen für Klausuren, das Schreiben von Hausarbeiten, die Vorbereitung von Präsentationen oder die Vereinbarung von Terminen mit Dozenten genannt. Zusammenfassend kann akademische Prokrastination, einer einfachen Arbeitsdefinition von Helmke & Schrader (2000) folgend, als „Prokrastination im Bereich des akademischen Lernens“ abgegrenzt werden (Helmke & Schrader, 2000, S. 207). Abgeleitet aus den bisherigen Ausführungen und mit Hinblick auf den schulischen Kontext, soll Prokrastination als dysfunktionales Aufschiebe- oder Vermeidungsverhalten von Lernaktivitäten und schulischen Aufgaben verstanden werden.

Aus den bisherigen Abgrenzungsperspektiven lässt sich zusammenfassend ableiten, dass Prokrastination ein komplexes Problemverhalten darstellt. Inwieweit maladaptive Aufschiebe- oder Vermeidungstendenzen zeitlich stabil sind, soll im folgenden Abschnitt betrachtet werden

2.1.2 State- und Trait-Prokrastination

Der Sachverhalt, ob Prokrastination als überdauernde und stabile Persönlichkeitsdisposition (Trait) zu verstehen ist, oder vielmehr als zeitlich begrenzte und situationsspezifische Verhaltensweise (Stait), ist bisher ungeklärt. Beide Sichtweisen werden in der fachwissenschaftlichen Literatur vertreten. Einige Autoren beschreiben Prokrastination aufgrund ihrer Forschungsarbeit als eine Persönlichkeitsdisposition (Trait), welche sich zeitlich stabil in unterschiedlichen Kontexten und Situationen manifestiert (vgl. Ferrari et al., 1995). Demgegenüber stehen Ansätze, die Prokrastination als vorübergehendes und aufgabenspezifisches Verhalten (State) betrachten. Schouwenberg (1995) verweist in diesem Zusammenhang besonders auf die Dringlichkeit einer Aufgabe, d.h. das Aufschiebeverhalten kann in Abhängigkeit von der Zeit varriieren. Im Zuge dessen, hat sich die Begrifflichkeit der State-Prokrastination teilweise bei einigen Autoren (bspw. Schouwenberg, 1995; Helmke & Schrader, 2000) etabliert. Kritisch betrachtet ist die Verwendung dieser Begrifflichkeit jedoch nicht korrekt. Diese begründet sich darin, dass ein State im eigentlichen Sinne einen aktuellen Zustand beschreibt, d.h. einen zeitlich eng begrenzten Raum. Trotz dieser definitorischen Unzulänglichkeit kann dieser Ansatz nicht konkret abgewiesen werden, da die mittlerweile vielfältigen und teilweise populärwissenschaftlichen Interventionsmaßnahmen, Prokrastination als ein veränderbares und vorübergehendes Verhaltensmuster betrachten.

Helmke & Schrader (2000) belegen in ihren Studien, durch den Einsatz unterschiedlicher Messinstrumente, dass durchaus beide Sichtweisen Legitimation besitzen. Sie berichten über einen mittleren Zusammenhang zwischen State - und Trait-Prokrastination (r = .59 bzw. r = .48). Um beide Ansätze zusammen zu führen, könnte konstatiert werden, dass Prokrastination zwar durchaus als eine Persönlichkeitsdisposition zu sehen ist, diese jedoch von situationsspezifischen Variablen moderiert wird. Hinsichtlich dieser Überlegungen konnte Schouwenberg (1995) belegen, dass das Auschiebe- und Vermeidungsverhalten der Studierenden abnahm, je näher eine Prüfung rückte. Aus diesem Sachverhalt kann gefolgert werden, dass der Zeitpunkt einer Erhebung einen großen Einfluss auf die Ergebnisse hat. Dieses könnte zu den teilweise divergenten Prävalenz führen, welche im folgenden Abschnitt dargestellt werden.

2.2 Prävalenz

Innerhalb der wissenschaftlichen Fachliteratur existiert eine große Variationsbreite bzgl. der Prävalenz von Prokrastination. Wie bereits im vorherigen Abschnitt beschrieben, könnte dieses aus unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten resultieren. Gleichfalls könnten divergente Stichproben sowie der Einsatz differenter Messinstrumente eine Erklärung bieten. Daher sollen ausgewählte Prävalenzen im Folgenden eingebracht werden, die bezogen auf die Zielsetzung dieser Arbeit relevant erscheinen.

Untersuchungen im akademischen Kontext von Ellis & Knaus (1977) zeigen, dass circa 80-95 Prozent der befragten Studierenden schon einmal studienbezogene Handlungen aufgeschoben haben. Die Aussagekraft von solch einer Zahl kann jedoch angezweifelt werden, da tendenziell jeder Studierende ein gewisses Maß an prokrastinierenden Verhalten während des Studiums zeigt. Neuere Studien beziffern, dass circa 20-25 Prozent der Studierenden von habituellen Prokrastinationstendenzen betroffen sind, dabei schildern die Studierenden u.a. signifikante Beeinträchtigungen der allgemeinen Lebensqualität und des akademischen Fortschritts. Diese Beeinträchtigungen umfassen bspw. ein erhöhtes Stressniveau oder prokrastinationsbedingte negative Auswirkungen auf die Noten (vgl. Solomon & Rothblum, 1984; Ferrari et al., 1995; Day, Mensink, & O´Sullivan, 2000; Steel, 2007). Zusammen-fassend kann abgeleitet werden, dass Prokrastination unter Studierenden ein weit verbreitetes Phänomen ist.

Im klinischen Kontext berichten circa 15-20 Prozent der Gesamt-bevölkerung über problematische Verhaltensmuster im Zusammenhang mit dem Aufschieben bzw. Hinauszögern von wichtigen Arbeitsaufgaben (vgl. Harriott & Ferrari, 1996; Onwuegbuzie, 2000). In diesem Zusammenhang berichtet O´Brien (2002), dass nahezu alle Betroffenen ihr Verhalten ändern möchten, gerade in Bezug auf die Reduktion der negativen Konsequenzen.

Inwieweit demographische Faktoren eine Rolle spielen, wurde bisher nicht betrachtet. Innerhalb der Fachwissenschaft wird der Einfluss demographischer Faktoren unterschiedlich bewertet. Im Vordergrund stehen dabei die Variablen Alter und Geschlecht. Teilnehmer (Teilnehmerinnen) entsprechender Studien in Bezug auf Prokrastination im akademischen Kontext waren zwischen 19 und 30 Jahren alt. Demgemäß lassen sich keine Aussagen über das Kindes- und Jugendalter treffen. In theoretischer Hinsicht sollte es mit zunehmenden Alter eines Individuums zu einer Reduktion von prokrastinierenden Verhalten kommen. Dieses könnte mit der Entwicklung von Bewältigungsstrategien und mit dem Erkenntnisgewinn aus Lernerfahrungen begründet werden (vgl. O´Donoghue & Rabin, 1999). Kongruente Ergebnisse hinsichtlich dieser theoretischen Überlegung finden Beswick, Rothblum & Mann (1988). Sie belegen, dass jüngere Studierende (unter 21 Jahren) signifikant mehr prokrastinieren als Ältere (über 21 Jahren). Dem widersprüchlich gegenüber-stehen neuere Studien von Watson (2001) sowie Ferrari, O´Callaghan und Newbegin (2005), die keine signifikanten Unterschiede bzgl. des Alters feststellen konnten. Geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich ebenfalls nicht einwandfrei identifizieren. Während in einer Studie von Helmke & Schrader (2000) Männer signifikant höhere Werte in Bezug auf Prokrastination aufwiesen, finden bspw. Ferrari et al. (2005) keinen belegbaren Zusammenhang. Eine abschließende Bewertung kann somit aufgrund der inkonsistenten Ergebnisse bzgl. der vorgestellten demographischen Faktoren nicht vor-genommen werden.

Abschließend sei anzumerken, dass nicht nur die Identifizierungen von Prävalenzen im Vordergrund der aktuellen Prokrastinationsforschung stehen, sondern auch die Interaktion zwischen Prokrastination und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen. Diese soll im Folgenden näher betrachtet werden.

2.3 Korrelierende Personenmerkmale

Neben einer geringen Selbstwirksamkeit können andere kovariierende Personenmerkmale die Handlungsrealisierung, bspw. das Lernen, erschweren. Johnson & Bloom (1995) untersuchten, mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen Prokrastination korreliert: Der Big-Five-Faktor Gewissenhaftigkeit weist einen signifikant negativen Zusammenhang zu Aufschiebe- oder Vermeidungsverhalten auf (r = - .72) und der Faktor Neurotizismus einen geringen positiven (r = .18). Die Autoren folgern daraus, dass prokrastinierende Studierende wenig selbstdiszipliniert, leistungsmotiviert, pflichtbewusst, impulsiv und vulnerabel seien könnten. Ergebnisse von Helmke & Schrader (2000), die Trait-Prokrastination mit weiteren Merkmalen korrelierten, weisen in die gleiche Richtung: Prokrastinierer zeigen vermehrt eine Lageorientierung (r = .69) mangelnde Planungs- und Zeitmanagementfähigkeiten (r = - .53) sowie wenig Studieninteresse (r = - .42). Helmke & Schrader (2000) sehen in diesen Befunden ein Cluster, welches möglicherweise als mangelnde Selbstkontrolle bezeichnet werden könnte.

Nach Rothblum, Solomon & Murakami (1986) geht Prokrastination mit schlechteren Studiennoten einher (r = -.22). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob dysfunktionales Aufschiebe- und Vermeidungsverhalten oder mangelnde Intelligenz für die schlechteren Studiennoten verantwortlich ist. Zwischen Intelligenz und Prokrastination finden Ferrari et al. (1995) geringe signifikante Korrelationen. Tice & Baumeister (1997) hingegen belegen keinen signifikanten Zusammenhang. Einige Autoren (bspw. Ferrari et al., 1995; Tice & Baumeister, 1997) folgern daraus, dass Prokrastination und nicht mangelnde Intelligenz für schlechtere Studienleistungen verantwortlich sei. Diese Generalisierung erscheint nicht vollkommen widerspruchsfrei, gerade in Bezug auf die möglichen funktionalen Aspekte der Prokrastination (vgl. performance enhan-cing strategy, Abschnitt 2.1)

Zusammenfassend lässt sich konstituieren, dass die in diesem Abschnitt betrachteten Persönlichkeitsmerkmale sowohl Ursachen, Folgen als auch charakteristische Begleiterscheinungen von Prokrastination seien könnten.

2.4 Kognitive, affektive und behaviorale Merkmale von Prokrastination

Prokrastination kann signifikante Defizite in den Handlungsbereichen der Aufgabenauswahl, Aufgabenplanung, der Aufgabenrealisierung sowie der antizipativen und retrospektiven Kompetenzbewertung (Selbstwirksamkeits-defizite) umfassen. Des Weiteren können auch externe und situationale Variablen als Effektgrößen betrachtet werden. Nachfolgend werden diese Merkmale skizziert und in den Gesamtkontext der akademischen Prokrastination eingebunden.

2.4.1 Handlungsvorbereitung und Handlungsplanung

Ein substantielles Merkmal der Prokrastination sind volitionale Defizite, die als Intention-Action-Gap charakterisiert werden können. Kennzeichnend für prokrastinationsorientiertes Verhalten ist eine Diskrepanz zwischen Handlungs-intentionen und der tatsächlichen Handlungsausführung. In diesem Sinne kann Prokrastination auch als selbstregulatorische Dysfunktionalität verstanden werden, die sich in Form einer fehlenden Handlungsaktivierung bzw. eines frühzeitigen Handlungsabbruches manifestiert. Insbesondere der Aspekt des ansteigenden Handlungsdruckes ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung: Aktivität wird häufig solange vermieden, bis dem Individuum keine Aufschiebeoptionen mehr verbleiben (bspw. Abgabetermine, Klausurtermine) (vgl. Ferrari et al., 1995).

Die empirische Befundlage der Prokrastination, im Kontext akademischer Lernprozesse impliziert, dass es für Prokrastinierer charakteristische Kompetenzdefizite in den Bereichen der präaktionalen Lernphase (Handlungs-planung) geben könnte. Insbesondere die sinnvolle Strukturierung von Lerninhalten und die Anwendung von zielführenden Lernstrategien ist für die Betroffenen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die Antizipation einer angemessenen und realistischen Zeitplanung, als auch die Ausgestaltung von adäquaten Subzielen der Handlungsausführung (betreffend der Lernaufgabe) sind möglicherweise bei Prokrastinierern beeinträchtigt (vgl. Helmke & Schrader, 2000; Steel, 2007). Diese Phänomene lassen sich beispielhaft an zwei Gegenpolen der Aufgabenplanung illustrieren: Prokrastinierer tendieren entweder zu einer exzessiven Zeitplanung oder initiieren keinerlei Planungs-aktivitäten. Werden äußerst detailreiche Planungsprozesse angestoßen, so können diese für den Prokrastinierer eine funktionale Komponente besitzen: Zielführend ist die Vermeidung von aversiven Lernaktivitäten im Sinne eines self-handycappings (vgl. Helmke & Schrader, 2000; Ferrari et al., 2000).

Ergänzend zu den oben skizzierten Beeinträchtigungen im Bereich der Handlungsantizipation, begleiten defizitäre kognitive und behaviorale Muster den Prozess der Handlungsausführung. Der erfolgreiche Aufgabenvollzug wird einerseits durch eine hohe Sensitivität, in Bezug auf den Arbeitsprozess begleitende Ablenkungsfaktoren, determiniert, andererseits entwickeln Prokrastinierer, im Verlauf der Aufgabenbewältigung, häufig Selbstzweifel betreffend der Realisierbarkeit der Lernaufgabe (vgl. Steel, 2007, Schwarzer, 1996; Helmke & Schrader, 2000). Diese sogen coping-doubts könnten als dysfunktionale Coping-Strategien, nach dem Prinzip Entspannung durch Vermeidung, aktivitätshemmend wirken und zum Abbruch von Lernaktivitäten führen (vgl. Berglas, 1978, Schwarzer, 1996). Diese Präferenz ist möglicher-weise funktional orientiert: Das Aufschieben oder Vermeiden aversiver Lerntätigkeiten könnte kurzfristig zu einer Reduzierung akuter affektiver Belastungsfaktoren (bspw. Stress) führen. Über einen längeren Zeithorizont betrachtet könnte diese Tendenz jedoch gegenteilig wirken: Das Prokrastinationsverhalten wird zum Belastungsfaktor und führt zu einem überdurchschnittlichen Anstieg des individuellen Stressniveaus bzw. zu einer Intensivierung negativer Affekte, wie bspw. Schuldgefühle (vgl. Helmke & Schrader, 2000; Tice & Baumeister, 1997).

2.4.2 Selbstwirksamkeitdefizite und Attributionsstile

Nach Helmke & Schrader (2000) können Auffälligkeiten im Zusammenhang mit den individuellen Lernerfahrungen von Prokrastinierern identifiziert werden. Die Autoren argumentieren vor dem Hintergrund sogenannter „negativer Lernbilanzen“ (Helmke & Schrader, 2000, S. 208), dass Misserfolge in der Lernhistorie des einzelnen Individuums unmittelbare Auswirkungen auf eine Prokrastinationsneigung haben könnten. Die Lernanstrengungen der Vergangenheit werden als nicht erfolgreich bewertet und implizieren eine Reduktion der subjektiv empfundenen Selbstwirksamkeit. Diese (irrationalen) Überzeugungen, über notwendige Kompetenzen, im Zusammenhang mit der Aufgabenbewältigung nicht zu verfügen, könnten eine Hemmung der Handlungsaktivitäten bzw. einen frühzeitigen Handlungsabbruch bedingen (vgl. Steel, 2007; Helmke & Schrader, 2000). Zimmermann (2002) konzipiert diesbezüglich konstruktive und destruktive Strategien der Regulierung negativer Lernerfahrungen. Adaptive Kognitionsmuster, im Sinne eines der Lernerfahrung nachgelagerten affirmativen Reflexionsprozesses, forcieren die Veränderung ungeeigneter Lernstrategien und Lernmethoden mit dem Ziel, alternative Lernstrategien zu entwickeln. Eine Tendenz zur Vermeidung selbstwert-bedrohlicher Situationen, die häufig von dysfunktionalen Bewertungsprozessen begleitet wird, kann demgegenüber als defensive Strategie charakterisiert werden. In diesem Zusammenhang konstatiert Steel (2007), dass Widerstände und Hindernisse im Verlauf der Lernaktivität bei Prokrastinierern oftmals einen Impuls zum Handlungsabbruch auslösen. Salomon & Rothblum (1984) begründen diese Selbstwirksamkeitsdefizite mit prokrastinationstypischen Attributionsmustern, die tendenziell eine Generalisierung negativer Lern-erfahrungen auf zukünftige Lernaktivitäten bedingen. Einerseits werden erfolgreiche Lernanstrengungen von Prokrastinieren externalen Faktoren (Glück, Zufall) zugeschrieben, andererseits erfolgt oftmals eine zeit- und situationsstabile Attribution fehlgeschlagener Lernaktivitäten auf zukünftige Lerntätigkeiten.

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Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Was du heute kannst verschieben, das lass ruhig bis morgen liegen. Prokrastination im schulischen Kontext
Hochschule
Technische Universität Dortmund
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
52
Katalognummer
V319726
ISBN (eBook)
9783668208193
ISBN (Buch)
9783946458821
Dateigröße
509 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prokrastination, Aufschieberitis, Aufschiebeverhalten, Depressivität, Schule, Pädagogik, Psychologie
Arbeit zitieren
Ole Görlich (Autor:in), 2012, Was du heute kannst verschieben, das lass ruhig bis morgen liegen. Prokrastination im schulischen Kontext, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/319726

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