Die Soziologie, vor allem der Sozialkonstruktivismus, eine der vielen Strömungen innerhalb konstruktivistischer Positionen, beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Wissen und Wirklichkeit. Dabei gehen die Wissenssoziologen davon aus, dass eben das Wissen die Ursache für die Konstruktion einer Wirklichkeit sei.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, dieses Verhältnis näher zu bestimmen, wobei eine Perspektivenerweiterung auf den Gegenstand vollzogen wird. Durch die Erweiterung kommt es zur Berücksichtigung der kommunikativen Erzeugung der sozialen Wirklichkeit. Sie bildet demnach den Schwerpunkt und den linguistischen Rahmen dieser Arbeit und wird dadurch konkretisiert, dass empirisch untersucht wird, welches Bild die deutschen Printmedien vom Islam erzeugen. Dieser Ansatz scheint insofern von Bedeutung zu sein, als dass er eine eventuelle Parallele zum Judenbild im Dritten Reich ermöglicht. Sind die Muslime in Deutschland die neuen Fremden, die durch modernere Formen der Mediengestaltung stigmatisiert werden?
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Der Konstruktivismus und seine Wirklichkeitsbestimmungen
3 Wirklichkeitskonstruktion und Massenmedien
3.1 Die verzerrte Wirklichkeit in den Medien
3.2 Die Wirklichkeit als mediale Konstruktion
3.3 Die Inszenierung einer Realität
4 Darstellung der islamischen Welt: Das Islambild der Medien
4.1 Fallstudie
4.2 Forschungsstand
4.3 Daten und Methoden
4.4 Kontrastive Betrachtung: Bedeutung und Konzepte
4.4.1 Fatwa
4.4.2 Dschihad
4.4.3 Salafismus
4.4.4 Scharia
4.5 Ergebnisse
5 Fazit
Anhang
Verwendete Literatur
Online-Quellen
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
Das heutige globale Zeitalter wird vor allem durch den gesellschaftlichen Pluralismus geprägt. Menschen mit unterschiedlichen kulturellen aber auch religiösen Hintergrün- den treffen zur gleichen Zeit, ja am gleichen Ort aufeinander, und schaffen somit ein Nebeneinander von ungleichen Lebensweisen. Jede Lebensweise steht für sich allein und beeinflusst das Denken und Verhalten der Menschen, die nach ihr leben. Die Sicht auf die Dinge ist deshalb zwischen den einzelnen Gruppen oder Individuen einer Ge- sellschaft niemals gleich. Eine andere Wahrnehmung auf die Welt wird erzeugt, was sich beispielsweise daran zeigen lässt, dass die einen Fleisch essen, während andere überzeugte Veganer sind und sich darüber hinaus noch für die Rechte von Tieren ein- setzen. Diese Disparität ruft häufig aber auch Probleme hervor; es scheint so, als ob die interkulturelle Begegnung tatsächlich einen spannungsgeladenen Annäherungsversuch darstellt, weshalb interkulturelle Kompetenzen immer wichtiger zu werden scheinen.
Vor allem das 20. Jh. hat uns mit dem Nationalsozialismus deutlich vor Augen führen können, dass man in dieser Zeit selbst zu Methoden der Repressionsausübung zurück- gegriffen hat, um jede Form der kulturellen aber auch ethisch-religiösen Vielfalt im Keim zu ersticken. Das Ziel war unter anderem die Errichtung einer homogenen Gesell- schaft, was für die heutige Soziologie eine Utopie darstellt. Im Dritten Reich war es insbesondere das ausgeklügelte mediale Konzept, unter der Leitung von Joseph Goeb- bels, das die Menschen in eine Art Massenhysterie versetzte. Die NS-Propaganda schaffte es durch Bild und Klang den Juden als Untermenschen darzustellen. Somit wurde ein verzerrtes, wenn nicht sogar monströses Konstrukt von einer Minderheit ge- schaffen, die es zu beseitigen galt, da sie die Fremden waren. Dieses Bild, welches ge- schaffen wurde, blieb jedoch nicht einfach nur ein Bild, auf das man flüchtig schaute, sondern es formte das gesamte Denken und Verhalten der Menschen jener Zeit. Ihre Sicht auf die Dinge war folglich die einzig wahre Sichtweise auf die Wirklichkeit und ihr Wissen über die Juden zum größten Teil das Erzeugnis der von Goebbels geführten Propagandamaschinerie. Die Menschen im Dritten Reich orientierten sich also an den Medien, die die Informationsgeber von gezielt ausgewählten Themen waren. Informati- onen formten das Wissen des Einzelnen, und das Wissen formte schließlich die Sicht auf die Welt. Die Soziologie, vor allem der Sozialkonstruktivismus, einer der vielen Strömungen innerhalb konstruktivistischer Positionen, beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Wissen und Wirklichkeit. Dabei gehen die Wissenssoziologen davon aus, dass eben das Wissen die Ursache für die Konstruktion einer Wirklichkeit sei. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, ebendieses Verhältnis näher zu bestimmen, wo- bei eine Perspektivenerweiterung auf den Gegenstand vollzogen wird. Durch die Erwei- terung kommt es zur Berücksichtigung der kommunikativen Erzeugung der sozialen Wirklichkeit. Sie bildet demnach den Schwerpunkt und den linguistischen Rahmen die- ser Arbeit und wird dadurch konkretisiert, dass empirisch untersucht wird, welches Bild die deutschen Printmedien vom Islam erzeugen. Dieser Ansatz scheint insofern von Bedeutung zu sein, als dass er eine eventuelle Parallele zum Judenbild im Dritten Reich ermöglicht. Sind die Muslime in Deutschland die neuen Fremden, die durch modernere Formen der Mediengestaltung stigmatisiert werden?
Für die Beschäftigung mit dem Sozialkonstruktivismus soll es nicht um eine einfache Beschreibung wissenssoziologischer Ansätze gehen, sondern um eine Kritik an seiner erkenntnistheoretischen Vorstellung, vor allem im Hinblick auf dessen Relativismus. Meine Kritik will ich durch folgende Thesen begründen:
1.Die unterschiedlichen Meinungen zu bestimmten Themen legen Zeugnis dafür ab, dass es die eine Wirklichkeit nicht geben kann.
2.„Jede Wahrnehmung bedeutet nämlich unvermeidlich die Ausblendung einer
gewaltigen Restwelt auch möglicher Wahrnehmungen“ (Pörksen 2011, 20), und dennoch werden uns Wirklichkeiten in absoluter Form dargestellt.
3.Die Medien reduzieren die Wahlmöglichkeiten, wodurch dem Individuum eine größere Entscheidungsfreiheit genommen wird. Selbstverantwortlich handeln ist demnach nicht möglich.
4.Nicht die Tatsache einer Einschränkung der Wahlmöglichkeiten ist hier ent- scheidend, sondern vielmehr der Verstoß gegen die Maxime der Qualität.
5.Durch die öffentliche Meinung wurde für die relative Wirklichkeit kein Platz ge- schaffen.
6.Eine subjektive Wirklichkeit kann es nicht geben, da das Wissen die Ursache der Wirklichkeitskonstruktion ist, sich im Einzelnen jedoch nicht selbstgeneriert, wodurch eine Wissensinstitution erforderlich ist.
7.Nicht durch die Interaktion zwischen den Individuen entstehen Wirklichkeits- konstruktionen, sondern durch Institutionen die Wissen erzeugen und auferle- gen. Nur das auferlegte Wissen ist im Interaktionsprozess involviert.
8.Demnach wird die Wirklichkeit durch signifikante Andere repräsentiert.
Falls die Thesen stimmen, kann geschlussfolgert werden, dass die Medien - sie gehören in meiner Arbeit zu den signifikanten Anderen - durchaus einen erheblichen Einfluss auf die Wirklichkeitsbildung haben. Für die Beschäftigung mit dem Islam würde dies bedeuten, dass jede Wahrnehmung auf diese abrahamitische Weltreligion durch die Medien lenkbar und beeinflussbar wäre. Um demnach herauszufinden, welche Wahr- nehmungsmuster existieren, muss das Augenmerk auf die Nachrichten deutscher Print- medien gelegt werden. Hierfür wird untersucht, in welcher thematischen Peripherie der Islam in diesen Medien auftaucht.1 Da bereits im Mittelalter islamfeindliche Paradig- men existierten und die Anschläge am 11.September zu einer neuen und für unsere Ge- genwart ungeheuerlichen Konjunktur der Islamophobie führten, lautet die These für den empirischen Teil dieser Arbeit: Der Islam wird ausschließlich in die thematische Nähe von Terror und Gewalt gerückt, wodurch ein verzerrtes Bild geschaffen wird.
Um auf die Thesen genau eingehen zu können, wird die Untersuchung auf vier Ebe- nen erfolgen. Auf der ersten Ebene wird durch die Vorstellung des Konstruktivismus eine erste Einführung in das Thema gegeben. Dabei werden die verschiedenen Richtun- gen innerhalb dieser erkenntnistheoretischen Theorie aufgezeigt, wobei im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand der Sozialkonstruktivismus die Quintessenz bildet. Auf der zweiten Ebene wird daraufhin der Sozialkonstruktivismus in den medialen Kontext gerückt, wodurch ersichtlich werden soll, inwieweit die Medien etwas mit Wissen und Wirklichkeit zu tun haben. Nach der Durchleuchtung des medialen Aspektes wird auf der dritten Ebene - Kapitel 3 - der Übergang in den empirischen Teil vollzogen. Dies geschieht durch die Schaffung eines Zugangs in sowohl synchrone als auch diachrone Hintergründe zum Islambild und seiner Repräsentation im Europa der Frühen Neuzeit und Gegenwart. Hierzu soll das Islambild der Medien den Schwerpunkt bilden. Die Be- rücksichtigung des Forschungsstandes im Anschluss darauf soll Informationen darüber geben, was bisher zum Thema bekannt ist. Was trägt die bisherige Forschung demnach zur Beantwortung der Forschungsfragen bzw. zur Forschungsthese bei? Um den linguistischen Anspruch dieser Arbeit gerecht zu werden, werden vier Begriffe, die oft im Fo- kus standen und mit dem Islam in Verbindung gebracht wurden, ausgewählt. Folgende vier Begriffe sind gemeint: Fatwa, Dschihad, Salafismus und Scharia. Vor allem die Beschäftigung mit Bedeutungskonzepten zu Beginn der empirischen Untersuchung er- möglicht eine effektivere Überprüfung der zuletzt genannten These. Wenn nämlich von einer Verzerrung die Rede ist, müsse man zwangsläufig davon ausgehen, dass es eine eigentliche Bedeutung gebe, die durch eine zweite ersetzt wird. Diese Abweichung stellt demnach die Verzerrung oder auch Entzerrung der eigentlichen Bedeutung des Begrif- fes dar. Ob dieser Ansatz linguistisch haltbar ist, soll durch die Arbeit ebenfalls unter- sucht werden.
2 Der Konstruktivismus und seine Wirklichkeitsbestimmungen
Wie bereits die Überschrift suggerieren soll, existiert im Konstruktivismus nicht die eine Wirklichkeitsbestimmung, sondern es existieren vielmehr die vielen Wirklichkeits- bestimmung(en). Dieser Plural lässt also erahnen, dass man innerhalb dieser Erkenntnis- theorie von vielen Varianten ausgehen muss. Wie für jede Entwicklung üblich ist, gibt es auch im Hinblick auf den Konstruktivismus eine Art Gründungsdokument, wodurch sich die anfängliche Phase bestimmen lässt. Diese Phase ist auf das Jahr 1970 datiert und wurde durch den Aufsatz Biology of Cognition des chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana bestimmt (vgl. Pörksen 2011, 13). Maturana schlägt in einer ein- dringlichen Sprache vor, „den Prozess des Erkennens aus einer biologischen Perspekti- ve zu betrachten, den Philosophen gewissermaßen die Erkenntnisfrage abzunehmen“ (Pörksen 2011, 13). Demnach existiert die Realität2 nicht beobachterunabhängig, son- dern wird erst durch diesen Erkennenden - also den Beobachter - erzeugt. Denn: „Al- les, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ (Maturana 1998, 25). Aus dieser Leitformel kann geschlossen werden, dass jeder Akt des Erkennens auf den Kon- struktionen eines Beobachters beruht, weshalb man nun nicht mehr von einer punktge- nauen Übereinstimmung der eigenen Wahrnehmungen mit einer externen Wirklichkeit sprechen kann.
Nachdem Maturanas Aufsatz, wie bereits genannt wurde, 1970 das erste Mal erschien, fand man ein paar Jahrzehnte später seine zentralen Grundgedanken in unterschiedlichen Disziplinen wieder, wie in der Medien- oder Literaturwissenschaft, der Soziologie oder Politikwissenschaft, der Psychologie oder sogar in der Pädagogik (vgl. Pörksen 2011, 14). Trotz der Unterschiede, die aus der Tatsache resultieren, dass jede Disziplin einen anderen Zugang in die Thematik eröffnet, schlägt Weber eine Definition vor, die die zentrale Gemeinsamkeit der Disziplinen hervorhebt, und an dieser Stelle angeführt werden soll, da sich in seiner Definition eine Variable wiederfindet, die eine Schlüssel- rolle in dieser Arbeit einnimmt. In seiner Definition sieht Weber den Konstruktivismus nämlich als Versuch zu klären, „wie eine Instanz/ein Ort/eine Einheit X eine Wirklich- keit Y oder mehrere Wirklichkeiten hervorbringt“ (Weber 2002, 24) Vor allem die In- stanz X, die in der Definition als Variable auftritt, kann durch bedeutungsvolle Konstan- ten eingesetzt werden, wie durch Sprache, Individuum, Gruppe, Gesellschaft oder durch die Konstante Medien. Die Zusammenfügung der Überlegungen Maturanas und der Definition Webers können in die folgende und neue Leitformel münden: Alles, was gesagt wird, wird von einer Instanz X gesagt. Vor allem der kulturalistische Konstrukti- vismus beschäftigt sich mit der Konstruktion von Wirklichkeit via Sprache, Kommuni- kation, Medien, Kultur und Gesellschaft; ein Ansatz der im nächsten Kapitel noch näher durchleuchtet wird. Naturalistische Konstruktivisten beschäftigen sich hingegen mit der Konstruktion von Wirklichkeit via Wahrnehmung, Gehirn, Bewusstsein oder Kognition (vgl. Weber 2002, 23). Diese zwei genannten Epistemologien lassen sich weiterhin ver- schiedenen Schulen der Philosophie, der Psychologie und der Kommunikationstheorie, der Kybernetik, der Biologie bzw. der Neurobiologie und der Wissenssoziologie zuord- nen. Nach Auffassung von Pörksen (2011, 16) werden die Unterschiede in den Sphären konstruktivistischen Denkens genau dann deutlich, wenn man präziser darauf achtet, welche Richtung mit welchen Begriffen und „auf welcher disziplinären Grundlage die Konstruktion von Wirklichkeit untersucht wird“ (Ebd., 16). Wo liegen also die Unter- schiede? An dieser Stelle möchte ich vier Richtungen3 benennen und kurz darauf einge- hen, wofür die einzelnen Orientierungen stehen (vgl. Pörksen 2011, 16-20):
1. Philosophisch belesene Konstruktivisten sagen, dass sich ein Bild von einer menschenunabhängigen Realität gar nicht machen ließe, da alles, was sich sagen lässt, von den eigenen Wahrnehmungs- und Begriffsfunktionen bestimmt sei.
2. Die psychologische Begründung des Konstruktivismus geht davon aus, dass stets verschiedene, individuelle Interpretationen der einen Welt, deren Vorhersage- kraft unterschiedlich bewertet werden muss, existieren.
3. Biologisch bzw. neurobiologisch belesene Konstruktivisten sind der Ansicht, dass nur ein geringer Teil der äußeren Reize, die uns erreichen, in die Einheits- sprache neuronaler Impulse transformiert werden.
4. Wissenssoziologisch orientierte Konstruktivisten fragen sich hingegen, „wie eine selbstproduzierte Sozialordnung entsteht und wie sich eine gesellschaftliche Re- alität allmählich zu festen sozialen Arrangements erhärtet, die dann als statisch erfahren werden“ (Pörksen 2011, 20).
Auffallend dabei ist, dass jede Richtung von einer Erzeugung der Wirklichkeit ausgeht, deren Grundlage eine dynamische Kraft ist. Diese dynamische Kraft wird beispielsweise dadurch generiert, dass die Welt nicht einfach da ist, sondern erst durch eine individuelle Interpretation - davon geht der psychologische Standpunkt aus - erbaut wird. Folgender Kurzdialog soll diesen Ansatz konkretisieren:
A: Ich sehe das jedoch anders.
B: Wie jetzt? Wir sehen doch beide das gleiche, oder?
Folgt man diesem kurzen Dialog, könnte man sich zusätzlich vorstellen, dass beide Ge- sprächspartner den gleichen Gegenstand oder Sachverhalt der außersprachlichen Wirk- lichkeit beobachten, und dennoch unterschiedliche Sichtweisen darauf haben. Sie inter- pretieren also ihre Realität anders, obwohl sie zur gleichen Zeit und am gleichen Ort den gleichen Gegenstand oder Sachverhalt beobachten. Es muss demnach davon ausge- gangen werden, dass lebende Systeme tatsächlich „ein Netzwerk von internen und zir- kulär verwobenen Produktionsprozessen bilden“ (Pörksen 2011, 19), weshalb ge- schlussfolgert werden könnte, dass das Erkennen einen internen Prozess darstellt, der sich von Individuum zu Individuum unterscheidet. Ob dieser Erklärungsansatz aus- reicht, muss bezweifelt werden. Denn:
Wirklichkeit entsteht […] im Gefüge der Gesellschaft - und das heißt, dass der Einzelne als eine durch diese Gesellschaft und die ihn umgebende Kultur formbare Entität gesehen werden muss. Er beobachtet mit den Augen seiner Gruppe, sieht die Welt vor dem Hintergrund seiner Herkunft, ist eben gerade keine Monade, sondern in jedem Fall beeinflussbar, extrem empfänglich für Außeneindrücke (Pörksen 2011, 20).
Pörksen beschreibt hier, nach der Vorstellung sozialkonstruktivistischer Ansätze, den Einzelnen als in jedem Fall beeinflussbar und extrem empfänglich für Außeneindrücke. Vor allem die bereits angeführte Definition von Weber könnte diesen Ansatz stützen, und zwar genau dann, wenn man die entsprechenden Instanzen als Einflussfaktor neh- men würde. Die Medien wären also die Brille durch die der Einzelne auf die Wirklich- keit schaut oder sie wären zumindest jene Instanz, die dem Einzelnen suggeriert, wie er auf die Wirklichkeit zu schauen hat.4 Auch hinsichtlich des philosophischen Zweiges des Konstruktivismus, sehe ich einige konzeptuelle Schwachstellen. Fraglich ist näm- lich, ob es ausreicht, nur vom Individuum abhängige Wahrnehmungs- und Begriffs- funktionen in die Überlegung einfließen zu lassen, da die Sprache zwar von unter- schiedlichen Individuen benutzt wird, dennoch auch einen Raum der kommunikativen Annäherung schafft. Diese Annäherung setzt voraus, dass in einer Gesellschaft die Wahrnehmungs- und Begriffsfunktionen so angewendet werden, dass sie jeder versteht. Die Allgemeinverständlichkeit führt wiederum dazu, dass ein Prozess der Vereinheitli- chung ins Laufen gebracht wird.5
Wie sieht es nun mit dem Konstruktivismus und seinen Wirklichkeitsbestimmungen aus? Gibt es die eine exakte Bestimmung der Wirklichkeit? Das zweite Kapitel hat uns zeigen können, dass sich konstruktivistisches Denken in unterschiedlichen Disziplinen breit gemacht hat, weshalb eine klare Bestimmung nicht gegeben werden kann, da dies zu einer Eingrenzung des Gegenstandes führen würde. Trotz der unterschiedlichen Richtungen innerhalb dieser Erkenntnistheorie möchte ich, bevor ich dann zum Sozialkonstruktivismus komme, den zentralen Gedanken, der von allen konstruktivistischen Strömungen geteilt wird, an dieser Stelle anführen:
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen nicht länger ontologisch gemeinte Was-Fragen, sondern epistemologisch zu verstehende Wie-Fragen. Zielpunkt der Erkenntnisbemühungen ist eine Umorientierung vom Sein zum Werden, vom Wesen einer Entität zum Prozess ihrer Entstehung. Es sind die Bedingungen, die eine Wirklichkeit erzeugen und überhaupt erst hervorbringen, die interessieren. Nichts gilt aus einer solchen Perspektive als unveränderlich und gegeben, alles kann auf seine besondere Entstehungsgeschichte zurückbezogen und aus ihr heraus erklärt werden. Wirklichkeit gilt als Resultat von Konstruktionsprozessen (Pörk- sen 2011, 21).
Der Konstruktivismus hat also den Abschied von absoluten Wahrheitsvorstellungen und einem emphatisch verstandenen Objektivitätsideal herbeigerufen. Dieser Abschied soll- te dazu führen, dass sich die eine Wirklichkeit in eine Vielzahl von Wirklichkeiten ver- wandelt, wodurch ein besonderes Interesse an der Differenz und der Pluralität von Wirklichkeitskonstruktionen zustande kam (vgl. Pörksen 2011, 23). Schlägt man an dieser Stelle eine Brücke zur Einleitung zurück, erscheint vor allem der Aspekt der Plu- ralität von Wirklichkeitskonstruktionen als notwendige Entwicklung, um die Phänome- ne einer multikulturellen Gesellschaft besser nachvollziehen zu können, da diese Ge- sellschaftstypen eben als Sinnbild von Pluralität gelten. Offen bleibt jedoch, inwiefern konstruktivistische Konzepte tatsächlich in der praktischen Welt Anwendung finden. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass uns durch die Medien Wirklichkeiten in absoluter Form dargestellt werden, obwohl jede Wahrnehmung unvermeidlich die Aus- blendung einer gewaltigen Restwelt auch möglicher Wahrnehmungen bedeutet.6 Dieser mediale Dogmatismus, von dem hier die Rede sein soll, muss jedoch kritisch betrachtet werden, da die einmalige Positionierung zu einem bestimmten Thema eine womöglich natürliche Entwicklung darstellt. Mediale Institutionen würden nämlich höchstwahr- scheinlich gerade dann an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sich täglich oder wöchent- lich komplett neue Meinungen generieren. Das heißt, dass die Meinung X, die zum Zeit- punkt Y vertreten wurde, erst den Zeitraum Z durchlaufen muss. Durch den Zeitraum Z, den es zu durchlaufen gilt, etablieren sich jedoch Meinungen zu festen Größen. Diese festen Größen gelten dann als statische Paradigmen, die wiederum zu absoluten Formen der Wirklichkeit führen. Für die empirische Untersuchung wird es deshalb von Bedeu- tung sein, den Zeitraum Z zu bestimmen, wenn nicht sogar erst einmal zu definieren. Welche Informationen gibt uns der Sozialkonstruktivismus über die Generierung einer Wirklichkeit unter Berücksichtigung zusätzlicher Instanzen?
„Im Jahre 1969 kam in Deutschland ein Buch mit dem merkwürdigen Titel Die ge- sellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit heraus“ (Abels 2009, 18). Geschrieben wurde es von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, für die die großen Ideologien und Weltanschauungen nicht mehr die zentralen Gegenstände waren, sondern vielmehr die Analyse der Alltagswelt und der Wahrnehmungsweisen der an der Gesellschaft teil- nehmenden Individuen in den Vordergrund rückte. Für beide Soziologen war Interakti- on derjenige Begriff, der den Paradigmenwechsel herbeiführen sollte, da ihrer Meinung nach die Wirklichkeit eine Konstruktion sei, an der jedes Individuum beteiligt ist (vgl. Abels 2009, 19). Was fließt jedoch genau in den Interaktionsprozess? Berger und Luckmann gehen diesbezüglich davon aus, das Wissen eine Interaktion und somit die Teilnahme an der Konstruktion einer Wirklichkeit erst ermöglicht. Wissen und Wirklichkeit sind demnach die Schlüsselbegriffe der Wissenssoziologie, die sie fernab semantischer Finessen wie folgt bestimmen:
Für unsere Zwecke genügt es, die „Wirklichkeit“ als Qualität von Phänomenen zu definieren, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind - wir können sie ver- aber nicht wegwünschen. „Wissen“ definieren wir als die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben (Berger/Luckmann 1969, 1).
Obwohl die Wirklichkeit aus wissenssoziologischer Sicht eigentlich erst erzeugt werden muss, wird sie gemäß dem angeführten Zitat als statisches Gebilde beschrieben, da man sie als Qualität von Phänomenen definiert, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden ist. Die Bedeutung des Einzelnen scheint durch diesen Ansatz relativiert zu werden. Auch im Hinblick auf das Wissen, als entscheidende Ursache für Wirklichkeitskon- struktionen, heißt es bei Abels weiter (vgl. 2009, 19), dass das gesellschaftliche Wissen nicht nur soziale Regeln festhält, sondern sie auch setzt. Ein Festhalten an Regeln im- pliziert aber gleichzeitig ein Ausbleiben von Einflussnahme, weshalb die Interaktion durchaus zur Etablierung von Wirklichkeiten beitragen kann, ab dem Zeitpunkt der festgelegten sozialen Regeln jedoch verschwindet. Bezieht man nun erneut die Überle- gungen von Berger/Luckmann (1969, 16) mit ein, so „bildet dieses Wissen [also] die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe.“ Das Wissen und die somit resultierende soziale Wirklichkeit - hier verstanden als statisches Gebilde - zeigen auf, dass dem Einzelnen im Erzeugungsprozess von Wirklichkeit nicht viel Spielraum gegeben wird. Besonders aufschlussreich hierfür ist der Blick auf das sogenannte Allerweltswissen, das sich in Äußerungen wie Das weiß doch jeder! zeigt (vgl. Abels 2009, 24). Mit dieser Aussage nimmt man Bezug auf eine festgelegte Norm oder auf eine Ansicht, die jeder in der Gesellschaft teilt. Dies bedeutet also, dass die Konstruktion einer Wirklichkeit nicht nach Belieben und aus dem Moment heraus erzeugt werden kann, sondern hierfür Institutionen benötigt werden, also eine Instanz X7. Folgende Grafik soll den Prozess der Wirklichkeitskonstruktion veranschaulichen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Der Prozess der Wirklichkeitsgenerierung
Die Entwicklung hin zur Konstruktion einer Wirklichkeit soll durch den hinteren Pfeil dargestellt werden, der den Prozess des Formens versinnbildlicht. Dieser Pfeil beginnt bei der Instanz X, geht über das Wissen und endet schließlich bei der Wirklichkeit, die vom Wissen erzeugt wird; ein Wissen, welches wiederum durch die Instanz X geformt wurde, und somit die erste Ursache8 darstellt, da das Wissen nie selbstgenerierend sein kann.9 Für die Grafik kann also festgehalten werden, dass sich das Wissen nach wis- senssoziologischer Vorstellung von Individuum zu Individuum unterscheidet. Wenn sich das Wissen jedoch unterscheidet führt dies automatisch zur sogenannten Relativität der Wirklichkeit bzw. gesellschaftlichen Relativität, da dass, was für einen vatikani- schen Ordensbruder wirklich ist, für einen amerikanischen Geschäftsmann nicht wirk- lich zu sein braucht. Diese Annahme ist natürlich nicht neu, da sie bereits vom Vorsokratiker Protagoras formuliert wurde. Für Protagoras gehörte die Wahrheit nämlich „zu den relativen Dingen […], weil alles, was ein Mensch sich vorstellt oder meint, in Hin- sicht auf diesen auch wirklich wahr sei“ (zit. in: Capelle 1935, 327). In Hinblick auf die spätere Beschäftigung mit den Medien besteht das Problem jedoch darin, dass in gewis- sen Kontexten von keiner Relativität mehr die Rede sein kann. Was ein Mensch näm- lich meint, gehört nur dann zu den relativen Dingen, wenn es ein neues und aus ihm stammendes Wissen ist. Wenn es nicht aus ihm stammt, so ist eine Instanz X dafür ver- antwortlich, die folglich als Wissensverteiler für viele andere dient. Aus einer relativen Wirklichkeit würde dann eine absolute Wirklichkeit entstehen. Auch im Hinblick auf die eigene wissenssoziologische Systematik wird der Ansatz einer relativen Wirklich- keit nicht gestützt; vor allem, wenn wir erneut auf das Allerweltswissen verweisen. Die- ses Allerweltswissen würde nämlich dazu führen, dass das, was für mich wahr ist, auch für mein Gegenüber wahr ist, vorausgesetzt, man lebt in der gleichen Gesellschaft. Zu dieser Übereinstimmung der Meinungen würde Nietzsche womöglich folgende Worte wählen, um auf diese Art des Konsens mit allen anderen zu reagieren: „Die Wahrneh- mung, dass ich mit anderen übereinstimme, macht mich leicht misstrauisch gegen das, worüber wir übereinstimmen“ (Nietzsche o. J., 366). Die Benennung des Allerweltswis- sens ist insofern von Bedeutung, da es zur Alltagswelt gehört, also der intersubjektiv geteilten, primär sinnkonstitutiven Welt. „An sie sind die Handelnden körperlich ge- bunden, sie ist die Welt, in der das Erleben in vollwachem Zustand die stärkste Be- wusstseinsspannung aufweist“ (Loenhoff 2011, 145). Da die Handelnden körperlich an ihr gebunden sind, besteht zwischen Individuum und Alltagswelt die größte Interdepen- denz, wenn nicht sogar eine einseitige Abhängigkeit des Individuums von der Alltags- welt. Dass sie die primär sinnkonstitutive Welt ist, zeigt sich erneut daran, dass zwi- schen den Mitgliedern einer Gesellschaft ein gemeinsames Wissen vorhanden ist, wodurch das Allerweltswissen an Bedeutung gewinnt; auch im Hinblick auf die Beant- wortung der in der Einleitung angeführten Thesen. Vor allem durch die Tatsache, dass die Alltagswelt außerhalb aller Zweifel steht, liegt folgender Schluss nahe: Eine soziale Wirklichkeit wird nicht durch die Interaktion der Individuen gewonnen, sondern primär durch ein auferlegtes Wissen: dem Allerweltswissen. Dieses gemeinsame Wissen kon- stituiert sich fernab kritischen Denkens und gehört zur Alltagswelt. „Über ihre einfache Präsenz bedarf sie keiner zusätzlichen Verifizierung. Sie ist einfach da - als selbstver- ständliche, zwingende Faktizität“ (Berger/Luckmann 1969, 26). Darüber hinaus ist sie die Welt des Wirkens10, „der Kommunikation und des hantierenden Umgangs mit den Dingen (Loenhoff 2011, 145). Man darf an dieser Stelle jedoch nicht vergessen, dass neben der Alltagswelt weitere Wirklichkeiten existieren, die jedoch als umgrenzte Sinn- provinzen gesehen werden und somit nur als Wirklichkeiten zweiter Ordnung gelten. Zu diesen Sinnprovinzen gehört etwa die Welt des Spiels, des Theaters und des Traums oder jene der Phantasie, der Kunst, der Wissenschaft und der Religion (vgl. Loenhoff 2011, 147). Auf die Welten des Traums bzw. die der Phantasie möchte ich im nächsten Kapitel näher eingehen. Bevor jedoch das Augenmerk auf diese weitere Sinnprovinz gelegt werden soll, möchte ich kurz anreißen, wieso sich der Mensch nach Meinung der Wissenssoziologen überhaupt eine Wirklichkeit konstruiert. Bisher konnte man nur er- fahren, wie Realitätsgebilde erzeugt werden.
Wieso erzeugt der Mensch also eine Wirklichkeit? Innerhalb des Sozialkonstruktivis- mus geht man davon aus, dass der Mensch ein Mängelwesen ist, „[…] dessen Instink- tarmut und organische Unspezialisiertheit ihm im Gegensatz zum Tier keine artspezifi- sche Umwelt sichert“ (Loenhoff 2011, 147). Der Mensch wird dadurch in ein labiles Verhältnis zur Umwelt gestellt, wodurch sich folglich die Notwendigkeit der Kompen- sation und Stabilisierung ebendieses labilen Zustandes ergibt. Die genannte Kompensa- tion und Stabilisierung kann der Mensch jedoch nicht aus seiner ambivalenten Innen- welt und seinen weitgehend ungesteuerten Antrieben beziehen, „[…] sondern [nur] durch äußeren Halt einer durch Objektivationen strukturierten, freilich von ihm selbst erschaffenen kulturellen Welt“ (Ebd., 147). Wir können also demnach festhalten, dass sich die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit als Prozess versteht, der von einer Weltoffenheit in eine relative Geschlossenheit der Weltverhältnisse führt. Das heißt, dass jeder Einfluss von Außen als Abweichung von den eigenen Verhältnissen gesehen wird. Diese Abweichung führt zu Aussagen wie Er ist Fremd im Land oder Dieser Fremde kann sich in unsere Weltverhältnisse einfach nicht integrieren. Das Fremde11 uneingeschränkt zu akzeptieren, würde automatisch zum Verlust der eigenen sozialen Ordnung führen, also der eigenen sozialen Wirklichkeit. Durch diesen Ansatz kann gerechtfertigt werden, dass sich eine Gesellschaft auch dadurch stabilisieren kann, indem sie ihre Eigenheiten und ihre sozialen Ordnungen hervorhebt. Im Hinblick auf die empirische Untersuchung sollte man sich jedoch Fragen, zu welchen Mitteln gegrif- fen werden darf, um die eigene Wirklichkeitskonstruktion hervorzuheben. Gehören eventuell auch Verunglimpfung und Verspottung von Fremden zu den Mitteln?
Der Mensch erzeugt zwar aufgrund einer biologischen Auferlegung seine Wirklich- keit, die kulturspezifischen Formen sozialer Ordnung können jedoch nicht aus den glei- chen biologischen Fakten abgeleitet werden; eine Tatsache, die sich an den unterschied- lichen Gesellschaftsmodellen zeigen lässt, die von Kulturkreis zu Kulturkreis variieren. Halten wir nun die wichtigsten Punkte nochmals fest, kommen wir zu folgenden neuen Ansätzen:
1. Eine subjektive Wirklichkeit kann es nicht geben, da das zur Konstruktion der Wirklichkeit benötigte Wissen immer das Wissen der Instanz X.
2. Dass das Wissen der Instanz X die soziale Wirklichkeit konstruiert, zeigt sich am Allerweltswissen.
3. Das Allerweltswissen ist notwendig, da sich der Mensch nur so eine stabile Umwelt sichern kann.
4. Dieses Wissen führt aber zwangsläufig zu einer Grenzziehung, die die Benen- nung des Fremden erst möglich macht.
Die angeführten Punkte veranschaulichen das bereits in der Einleitung genannte Prob- lem der kulturellen Disparität. Nicht das einfache Vorhandensein einer multikulturellen Gesellschaft erscheint als problematisch, sondern die biologische Auferlegung, die, so die Ansicht der philosophischen Anthropologie, aufzeigt, wieso sich der Mensch eine Wirklichkeit aufbauen muss. Damit scheint sich zu bestätigen, dass „insbesondere die Konfrontation mit anderen Gesellschaften und deren symbolischen Sinnwelten eine Gefährdung der eigenen Wirklichkeit darstellt“ (Loenhoff 2011, 150). Was Loenhoff hier nicht genauer definiert, sind die anderen Gesellschaften. Sind damit Gesellschaften in der Gesellschaft gemeint, die auch unter den Begriff Parallelgesellschaft fallen, oder doch eher Staaten, die als Repräsentanten eigener und souveräner Gesellschaften fungieren?
Da eine zu intensive Beschäftigung mit gesellschaftlichen Strukturen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wird im nächsten Kapitel eine Verbindungsstelle zwi- schen dem bereits vorgestellten Sozialkonstruktivismus und seiner Etablierung im me- dialen Kontext geschaffen werden. Werden Wirklichkeiten von den Medien nur insze- niert?
3 Wirklichkeitskonstruktion und Massenmedien
Sobald Medienskandale die Öffentlichkeit beschäftigen, „wird […] einem breiten Pub- likum bewußt, daß die Sicherheit der Fakten prekär ist“ (Schmidt 1994, 3). Vor allem die Tatsachen, dass die Medien in allen modernen Gesellschaften zu einem entschei- denden Faktum geworden sind und als Wirklichkeitsgeneratoren sui generis gelten, las- sen Fragen nach der medialen Objektivität und Inszenierung zu. Im welchem Verhältnis stehen Medien und Wirklichkeit zueinander? Wie bereits die Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus gezeigt hat, beschäftigten sich bereits die antiken Philosophen mit der Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit. Zu diesem Zweck schien es als nur sinnvoll, die Komplexität des Themas durch eine klare Schwerpunktsetzung zu verein- fachen. Demnach wurde der Fokus auf den Sozialkonstruktivismus gesetzt, der, wie die vorherigen Kapitel aufzeigen konnten, das Wissen als Ursache von Wirklichkeitskon- struktionen sieht. Die Fokussierung erfolgte jedoch nicht aufgrund einer zwangsläufigen Vereinfachung des Themas, sondern weil die Medien in dieser Ausarbeitung als jene Instanzen gesehen werden, die die erste Ursache im Konstruktionsprozess der Wirklich- keit darstellen.12
Im folgenden Kapitel soll es deshalb um die Frage nach dem Zustandekommen von Wirklichkeit in der Mediengesellschaft gehen, „[…] denn es steht wohl außer Zweifel, daß das Bild der Welt, wie es in unseren Köpfen besteht und wie es letztlich unser Han- deln leitet, in einem hohen Maße von den Massenmedien13 geprägt ist“ (Burkart 2002, 270).
3.1 Die verzerrte Wirklichkeit in den Medien
Wie verhalten sich Medien und Realität zueinander? Bereits vor über 100 Jahren wurde festgestellt: „Our newspapers do not record the really serious happenings, but only the sensations, the catastrophes of history“ (Speed 1893, 710). Was an Speeds Aussage irri- tieren mag, ist, dass gewisse Sensationen oder die Katastrophen der Geschichte für ihn als nicht really serious happenings gelten, wobei diese doch gerade hervorgehoben und durchaus als ernst eingestuft werden müssten. Dieses Ergebnis schien zur damaligen Zeit jedoch insofern von Bedeutung gewesen zu sein, da es aus einer der wohl ersten empirischen Untersuchungen zu diesem Thema resultierte. In den Folgejahren bzw. ersten Jahrzehnten nach Speed hat sich die Kommunikationsforschung weiterhin darum bemüht, der Frage nachzugehen, „[…] ob Medien die Realität angemessen wiedergeben oder ob es sich dabei um eine unzutreffende Verzerrung handelt“ (Burkart 2002, 271). Schulz kam diesbezüglich zu folgendem Schluss:
Die Berichte der Medien sind oft ungenau und verzerrt, sie bieten manchmal eine ausgesprochen tendenziöse und ideologisch eingefärbte Weltsicht. Die in den Medien dargebotene Wirklichkeit repräsentiert in erster Linie Stereotype und Vorurteile der Journalisten, ihre professionellen Regeln und politischen Einstellungen, die Zwänge der Nachrichtenproduktion und die Erfordernisse medialer Darstellung. Sie lässt nur bedingt Rückschluss zu auf die physikalischen Eigenschaften der Welt, die Strukturen der Gesellschaft, den Ablauf von Ereignissen, die Verteilung der öffentlichen Meinung (Schulz 1989, 139).
Schulz weist darauf hin, dass sich Journalisten unter anderem von eigenen politischen Einstellungen leiten lassen und somit gegen den journalistisch-ethischen Grundsatz der Objektivität verstoßen; ein Ansatz, auf den später noch eingegangen wird. Außerdem, so scheint es, ist der Journalist nicht frei, sondern wird durch die Zwänge der Nachrich- tenproduktion beeinflusst. Dieser Ansatz legt wiederum den Schluss nahe, dass inner- halb medialer Instanzen, die auch zu den sozialen Gruppen gehören, übergeordnete Hie- rarchien existieren. Das heißt, dass im Hinblick auf die Berichterstattung und deren Publikation willkürliche Mechanismen existieren. Bezüglich der anscheinenden Verzer- rung von Medien sei an dieser Stelle „[…] an die von der deutschen Illustrierten Stern (im April 1983) als Weltsensation angepriesene Entdeckung der Tagebücher Adolf Hit- lers, die sich später als Fälschung entlarven mußten“, erinnert (Burkart 2002, 271). Ori- entiert an diesen ersten Ansätzen aus der Kommunikationsforschung kann davon ausge- gangen werden, dass die Rezipienten durchgängig einer verzerrten Medienrealität aus- geliefert sind. Diese Medienrealität entspricht also nicht der objektiven Wirklichkeit
[...]
1 Eine nähere Beschreibung der empirischen Untersuchung erfolgt im fünften Kapitel.
2 Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Begriffe Wirklichkeit und Realität im Folgenden stets als Synonyme verwendet werden.
3 Ich werde im Folgenden nur auf vier Richtungen eingehen, da diese mit dem Schwerpunktbereich - also dem Sozialkonstruktivismus - korrelieren.
4 Ob die Medien die Wirklichkeit tatsächlich erzeugen, soll im Verlaufe der Arbeit sukzessive erarbeitet werden. Dennoch lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass selbst der Sozialkonstruktivismus bereits erste Ansätze dafür liefert, dass die Medien die Ursache für das Wissen sind.
5 Ich möchte diesen Prozess der Vereinheitlichung im nächsten Kapitel anhand eines Ansatzes von Berger und Luckmann nochmals durch eine Erläuterung näher bestimmen.
6 Siehe hierzu die zweite These, die in der Einleitung - Kapitel 1 - aufgeführt wurde.
7 Siehe dazu die Definition Webers im zweiten Kapitel.
8 Da sie die erste Ursache im Prozess ist, wurde sie farblich hervorgehoben.
9 In den Arbeiten zur Psychoanalyse von Freud erfährt man etwas von der sogenannten ödipalen Phase. „Freud hat gezeigt, wie das Kind [in dieser Phase] mit der elterlichen Autorität allmählich deren Welt- sicht übernimmt und sie zur Maxime seines Handelns macht. Freud nennt das die Entstehung des Über-Ich“ (Abels 2009, 28). Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass es eine absolute Souveränität des Geistes nicht geben kann. Während der Vater in dieser ödipalen Phase der Repräsentant der gesell- schaftlichen Normen ist, müssen nach dieser Phase neue Instanzen auftreten, die als Vermittler von Werten und Wahrheiten fungieren. Vor allem im Hinblick auf die Vermittlung von Wahrheiten sehe ich die Medien als Schlüsselinstanzen in diesem Prozess des Übernehmens.
10 Einer der geistigen Vorläufer der Wissenssoziologie war Sigmund Freud, der den Begriff der psychi- schen Realität geprägt hat. Nach Freud lässt sich die psychische Realität als eine phantasierte Wirk- lichkeit verstehen, die das Denken und Handeln der Betroffenen massiv beeinflusste. Das heißt: „Die Wirklichkeit ist vielleicht nicht wahr, aber sie wirkt“ (Abels 2009, 27). Demnach muss die Ansicht, dass nur die Alltagswelt auf den Menschen wirkt, kritisch betrachtet werden, da nicht nur sie das Den- ken und Handeln der Menschen beeinflusst.
11 Das Fremde versteht sich in diesem Kontext als Fremd im Sinne einer kulturellen, religiösen oder auch ethnischen Andersartigkeit. Für die Arbeit von Bedeutung wären bspw. Muslime in Deutschland.
12 Siehe dazu die Grafik auf Seite 9.
13 Unter Massenmedien sind all jene Kommunikationsmittel gemeint, „[…] über die durch Techniken der Verbreitung und Vervielfältigung mittels Schrift, Bild und/oder Ton optisch bzw. akustisch Aussagen an eine unbestimmte Vielzahl von Menschen vermittelt werden“ (Burkart 2002, 171). Mit dem Termi- nus Massen sollen jedoch keine massenpsychologischen oder kulturkritischen Assoziationen hervorge- rufen werden. Die Masse ist, wie bereits angeführt, eine unbestimmte Vielzahl von Menschen.
- Arbeit zitieren
- Mario-Francisco Zodl (Autor:in), 2014, Soziale Wirklichkeit(en) und ihre kommunikative Erzeugung. Sprachwissenschaftliche Grundlagen und empirische Untersuchungen zur Darstellung des Islam in deutschsprachigen Printmedien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/319840
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