Wie wichtig ist Achtsamkeit in der familiären Kindererziehung? Eine Untersuchung zur subjektiven Sicht der Eltern


Masterarbeit, 2015

132 Seiten, Note: 5.5 (Schweiz)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Achtsamkeit
2.1 Geschichte der Achtsamkeit
2.1.1 Achtsamkeit oder Sati
2.1.2 Achtsamkeit im Buddhismus
2.1.3 Achtsamkeit in der Wissenschaft
2.2 Definitionsversuche.
2.2.1 „Nichturteilend, nichtkognitiv und gegenwartszentriert“?
2.2.2 Achtsamkeit gleich Aufmerksamkeit?
2.2.3 Selbstbezüglichkeit
2.3 Achtsamkeit in der Erziehung (-sgeschichte und -swissenschaft)
2.3.1 Definition (-sprobleme)
2.3.2 Das Modell von Duncan, Coatsworth und Greenberg
2.3.3 Zusammenfassung und Diskussion.

3. Kindererziehung
3.1 Familie und Erziehung
3.1.1 Blick in die Entwicklungsgeschichte
3.1.2 Das Konstrukt Familie.
3.1.3 Erziehung und deren Ziele.
3.2 Einflussfaktoren erfolgreicher familiärer Erziehung
3.2.1 Strukturelle Merkmale.
3.2.2 Prozessmerkmal Bindungsqualität
3.2.3 Zusammenfassung und Diskussion.

4. Method(-ologische) Grundlegung
4.1 Datenerhebung
4.1.1 Offenes Leitfadeninterview
4.1.2 Interviewaufbau
4.2 Fallauswahl und Feldzugang
4.2.1 Zur Fallzahl
4.2.2 Fallauswahl
4.2.3 Rekrutierung und Postskriptum der Interviewsituationen
4.3 Datenauswertung.
4.3.1 Datenaufbereitung
4.3.2 Auswertungsmethode
4.3.3 Grounded Theory
4.4 Methodenüberblick

5. Ergebnisse
5.1 Die Fälle.
5.1.1 Fall A – Manuela A
5.1.2 Fall B – Britta B
5.2 Achtsamkeit
5.2.1 Explizite Achtsamkeit
5.2.2 Implizite Achtsamkeit
5.2.3 Vergleich.
5.3 Einbezug der Rahmenbedingungen
5.3.1 Zeit
5.3.2 Weitere Rahmenbedingungen
5.3.3 Fazit

6. Diskussion
6.1 Inhaltliche Diskussion.
6.1.1 Subjektive Bedeutung von Achtsamkeit
6.1.2 Duncans Modell
6.1.3 Struktur- und Prozessunterscheidung
6.1.4 Bindungstheorie
6.2 Strukturelle Diskussion
6.2.1 Fallzahl und Fallauswahl
6.2.2 Datenerhebung und Datenauswertung

7. Fazit und Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Noch 148713 Mails checken, wer weiss was mir dann noch passiert, denn es passiert so viel. Muss nur noch kurz die Welt retten und gleich danach bin ich wieder bei Dir…“ (Tim Bendzko 2011, online).

Der moderne Mensch ist ständig beschäftigt. Wie es im Lied von Tim Bendzko heisst, kann so viel passieren. Was im Songtext einerseits nach Spannung und Abenteuer klingt, birgt andererseits auch eine tiefe Melancholie, ein Gefühl des Versagens (vgl. Kleber 2013, S. 2). Denn, wie gerne wäre der Protagonist des Liedes doch dabei gewesen! Doch irgendetwas hält ihn davon ab. „Ich wär so gern dabei gewesen, doch ich hab viel zu viel zu tun, lass uns später weiter reden […]“ (Bendzko 2011, online). Der Druck, die Welt retten zu müssen, raubt ihm die Zeit, er ist „spät dran“ – und geht weg, obwohl er weiss, dass sie, die von ihm angesprochene Person, seiner nicht entbehren kann. Er verspricht, gleich zurück zu sein: „Ich muss jetzt los. […] Und gleich danach bin ich wieder bei dir“ (ebd.). Tim Bendzko legt die widersprüchliche Sehnsucht dar, im Moment präsent sein zu wollen, „bei dir“, und dennoch am Puls der Zeit zu sein, mitzuhalten, nichts zu verpassen, den Anforderungen gerecht zu werden sowie die Angst davor, dass, sollte man es nicht schaffen, die Welt untergehen werde.

Es ist kaum ein Zufall, dass dieses Lied nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz unter den besten Fünf in den Charts gelandet ist – es trifft den Nagel des Zeitgeistes auf den Kopf und spiegelt eine Realität wieder, in der wir uns alle mehr oder weniger wiedererkennen (vgl. Sadofsky 2012, online).

Wer kennt das nicht, das ständige Mails checken, das geistige Durchgehen der Einkaufsliste während der Autofahrt und das gleichzeitige Entziffern der neuesten Reklameschilder, das Telefonieren während des Einkaufens, das Hören der Nachrichten während des Abwaschens, das Abwägen der Pro- und Contras des nächsten Firmenauftrages und das Helfen bei den Hausaufgaben?

Achtsam zu sein, „bei dir“ zu sein, ist, gerade in der heutigen Zeit, nicht immer einfach. Achtsamkeit bedeutet vollkommen gegenwärtig zu sein und wird auch definiert als „absichtsvolle Aufmerksamkeit auf das bewusste Erleben im gegenwärtigen Moment“ (vgl. Kabat-Zinn 2013, S. 5). Es handelt sich dabei um die „Fähigkeit, sich des gegenwärtigen Geisteszustandes bewusst zu sein“ und die Aufmerksamkeit absichtsvoll auf den gegenwärtigen Moment zu lenken (vgl. Richard 2013, S. 50-53). Diese Fähigkeit spielt, wie im obigen Beispiel erwähnt, nicht nur eine Rolle, wenn es darum geht, beim Autofahren einen Unfall zu vermeiden, sondern auch im Umgang mit den eigenen Kindern, in diesem Beispiel bei der gemeinsamen Besprechung der Hausaufgaben.

Achtsamkeit ist erst seit kurzer Zeit Thema in der Erziehung. Ihre eigentliche Geschichte reicht jedoch lange zurück. Achtsamkeit hat eine so lange Tradition, dass es nicht möglich ist, über sie zu sprechen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sie findet ihren Ursprung im fünften Jahrhundert v. Chr. im Nordosten Indiens, wo Siddharta Gautamo, Buddha genannt, die Philosophie und Meditationspraxis des Buddhismus ins Leben rief. Im Zentrum seiner Lehre, die „dharma“ genannt wird, und somit im Mittelpunkt aller klassischen Systeme der buddhistischen Meditation, steht die Übung der Achtsamkeit (vgl. Bodhi 2013, S. 39). Ende der 80er-Jahre hat Jon Kabat-Zinn die in der buddhistischen Tradition entwickelte Technik der Achtsamkeit als Konzept im Rahmen eines Anti-Stressprogrammes in die Wissenschaft eingeführt und somit erstmals säkularisiert (vgl. Assmann 2013, S. 59). Dies geschah mit ausserordentlichem Erfolg. Achtsamkeitsbasierte Trainingsprogramme haben sich nicht nur effektiv im Einsatz gegen persönliches Stresserleben gezeigt, sondern auch gegen Depressionen und Angstzustände (vgl. Van der Oord, Bögels & Peijinenburg 2011, S. 140). In der Psychotherapie wird Achtsamkeit, laut Hayes (2004, S. 5), deswegen sogar als „dritte Welle“ der Verhaltenstherapie gesehen. Achtsamkeit kann demnach erlernt werden. Achtsamkeitsbasierte Interventions- und Präventionsprogramme werden deshalb nicht bei Stress-, Schmerz- oder Angstpatienten, sondern neuerdings auch in interpersonellen Settings, wie etwa zur Erhaltung einer hohen Qualität in der Klienten-/Patientenbeziehung oder in Ehetherapien, genutzt. Auf diesen Wegen hat Achtsamkeit bereits Einzug in zahlreiche Pflege- und Gesundheitsberufe sowie in die Psychologie und Medizin gehalten. In Amerika wird seit Kurzem im Zusammenhang mit Achtsamkeit und Erziehung von „Mindful Parenting“ gesprochen. Im deutschsprachigen Raum ist dies jedoch noch kaum ein Thema. „Achtsamkeit als Bildungskonzept, als pädagogische Methode oder als Haltung von Lehrkräften ist in der Erziehungswissenschaft bislang kaum untersucht worden“ (Elsholz & Keuffer 2013, S. 149). Einige Erziehungswissenschaftler/-innen bzw. Gesundheitswissenschaftler/-innen und Philosoph/-innen gehen aber von einem grossen Potenzial und Nutzen von Achtsamkeit in der Sozialen Arbeit und Kindererziehung aus (vgl. bspw. Lützenkirchen 2004/Van der Oord, Bögels & Peijinenburg 2011/Duncan, Coatsworth & Greenberg 2009/Elsholz & Keuffer 2013).

In psychologischen Kontexten wird Achtsamkeit oftmals definiert als: „Paying attention in a particular way: On purpose, in the present moment and nonjudgementally“ (Kabat-Zinn 1994, S. 4). Achtsamkeit wird darüber hinaus als eine besondere Art des Aufmerksam- seins definiert: absichtsvoll, im gegenwärtigen Moment und ohne zu werten.

In Übereinstimmung mit Lützenkirchen (2004) wird im Rahmen der vorliegenden pädagogischen Arbeit davon ausgegangen, dass es sich bei Achtsamkeit um mehr als eine Meditationsübung, nämlich um eine innere Haltung, handelt. Diese kommt in zwei Richtungen zum Ausdruck: Sie richtet sich sowohl gegen das Innen als auch gegen das Aussen (vgl. S. 27). Achtsamkeit zeigt sich nicht nur im intrapersonellen Erleben, sondern auch in interpersonellen Interaktionen. Die psychologische Definition, bei der das intrapersonelle Erleben im Fokus steht, eignet sich daher nur begrenzt für den pädagogischen Diskurs. Da der pädagogische Diskurs in diesem Themengebiet noch kaum fortgeschritten ist, erfordert diese Arbeit eine eigene Begriffsklärung. Die verschiedenen bestehenden Definitionsansätze werden in Kapitel 2.2. diskutiert, um in Kapitel 3.1.1. einen Vorschlag für eine Definition im Kontext der Kindererziehung bzw. Eltern-Kind-Beziehung zu entwerfen.

Historisch gesehen hat Achtsamkeit in der Erziehungsgeschichte heute einen Höchststand an Bedeutung erreicht. Diese Entwicklung lässt sich auch in der Wissenschaft beobachten – das Thema breitete sich in den letzten Jahren rasant aus. Seit 1990 steigen die Publikationen exponentiell und inzwischen ist ein eigener Wissenschaftszweig zum Thema „Mindfulness“ entstanden. Dennoch wurde das Thema in der Erziehung(-swissenschaft) bisher noch kaum aufgegriffen. Es stellen sich daher Fragen nach der Umsetzung, nach den Anwendungsmöglichkeiten und der Wirksamkeit von Achtsamkeit in der Familie und Erziehung:

Trägt eine gesteigerte Achtsamkeit der Eltern zu einer entwicklungsförderlichen Erziehung bei? Wie müssten Präventions- und Interventionsprogramme in diesem Kontext aussehen? Können die wissenschaftlich nachgewiesenen Effekte der achtsamkeitsbasierten Trainingsprogramme über nationale Grenzen auf den Bereich der Kindererziehung übertragen werden? Wo liegen Möglichkeiten und Grenzen von achtsamkeitsbasierten Weiterbildungen für Eltern?

Dabei handelt es sich jedoch nicht um Fragen, die im Rahmen einer Masterarbeit zu beantworten sind. Wichtig für diese Fragen ist es jedoch, zu verstehen, was für eine Bedeutung Achtsamkeit in Familien zukommt oder zukommen könnte. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich dabei auf die Untersuchung der Perspektive der Eltern. Andere Perspektiven, wie bspw. die der Kinder, werden dabei ausgeschlossen. Die Fragestellung dieser Arbeit lautet deshalb:

Welche subjektive Bedeutung messen Eltern Achtsamkeit in der innerfamiliären Kindererziehung bei?

Der Begriff „Bedeutung“ hat laut Duden (2013) zwei Bedeutungen. In diesem Zusammenhang deutet sie zum einen auf die Erfassung des begrifflichen Inhaltes bzw. des Sinns von Achtsamkeit und andererseits auf dessen Belang und die Tragweite hin (vgl. online). Die Forschungsfrage zielt dementsprechend einerseits auf eine Rekonstruktion des subjektiven Begriffsverständnisses, das Eltern von Achtsamkeit haben, und andererseits auf die Rekonstruktion des Sinnes und der Bedeutsamkeit bzw. des Stellenwertes von Achtsamkeit in der Kindererziehung. Des Weiteren wird von Familie als einem sich ständig verändernden sozialen Konstrukt ausgegangen. Nach Peuckert (2007) wird Familie im Rahmen dieser Arbeit als Lebensform gesehen, welche mindestens ein Kind und einen Elternteil umfasst, wobei diese aufgrund von Solidarität und persönlicher Verbundenheit dauerhaft zusammengehörig sind (vgl. S. 36). Auf die traditionelle Unterscheidung zwischen Erziehung und Sozialisation, wie sie bspw. Hurrelmann (2002) trifft, wird verzichtet. Stattdessen wird von einem Verständnis, wie es Schneewind (2008) vorschlägt, ausgegangen. Erziehung schliesst dabei sowohl intentionale als auch nichtintentionale Prozesse mit ein und kann somit gleichgesetzt werden mit Sozialisation (vgl. S. 256). Wenn über „Kindererziehung“ geschrieben wird, sind dementsprechend alle sozialisatorischen Prozesse gemeint, einschliesslich der Vorgänge, derer sich die Eltern nicht bewusst sind (vgl. Kap. 3.1.).

Da die Fragestellung dieser Arbeit eine Rekonstruktion subjektiver Perspektiven und Bedeutungszuschreibungen erfordert, wurde sie mittels qualitativer Erhebungs- und Auswertungsverfahren bearbeitet.

Zur Beantwortung der Fragestellung wurden offene Leitfadeninterviews mit Elternteilen geführt. Im ersten Teil wurden die Befragten dazu angeregt, Situationen und Abläufe aus dem Familienalltag zu erzählen und zu schildern, bevor sie in einem zweiten Teil zu ihrer Einschätzung von Achtsamkeit befragt wurden (vgl. Kap. 4.1.). Der beschränkte Umfang sowie das Ziel dieser Arbeit und die deshalb gewählte qualitative Methode schlossen es aus, eine grosse Fallzahl zu untersuchen. Es wurden zwei Interviews geführt und ausgewertet. Die Interviews wurden mit Elternteilen mit einem oder mehreren Kindern, welche vorwiegend zu Hause betreut werden, auf Schweizerdeutsch durchgeführt. Die Auswahl und Vermittlung der Interviewpartner erfolgte durch den Bekanntenkreis der Forscherin. Die interviewten Personen haben über gemeinsame Freunde der Forscherin vom Projekt erfahren und sich freiwillig bei dieser gemeldet. Gemeldet haben sich zwei Mütter und ein Vater, welche die Forscherin vorher nicht persönlich kannte. Interviewt wurden sie in der chronologischen Reihenfolge ihrer Anmeldung, weshalb beide untersuchten Interviews von Frauen stammen (vgl. Kap. 4.2.).

Die verschriftlichten Interviews wurden mittels der Grounded Theory analysiert. Das heisst, es wurden, ausgehend vom Datenmaterial, Konzepte und Kategorien gebildet, welche anschliessend, unter Einbezug der bestehenden theoretischen Erkenntnisse zum Thema Achtsamkeit, zueinander in Beziehung gesetzt wurden, um eine Theorie über die Bedeutung von Achtsamkeit aus der geschilderten Sicht der Elternteile zu erhalten (vgl. Kap. 4.3.). Eine ausführlichere Beschreibung der Datenerhebung, der Fallauswahl und des Feldzuganges sowie der Datenauswertung ist in Kapitel 4 vorzufinden.

Die vorliegende Masterarbeit ist grob wie folgt aufgebaut: Nach dieser Einleitung, dem ersten Kapitel, werden in einem ersten Theorieteil (Kap. 2 & 3) die für die Fragestellung zentralen Themen Achtsamkeit und Familie und Erziehung eingeführt. Als Zweites folgt die Darlegung der methodischen Überlegungen und Vorgehensweise (Kap. 4), bevor die Ergebnisse dargestellt und vor dem theoretischen Hintergrund diskutiert werden (Kap. 5 & 6).

Kapitel 2 widmet sich dem Begriff und Konzept „Achtsamkeit“ und befasst sich sowohl mit dem Ursprung von Achtsamkeit im Buddhismus, Achtsamkeit in der westlichen Wissenschaftstradition einschliesslich des Forschungsstandes sowie der Übertragung des Achtsamkeitskonzeptes auf den Erziehungskontext. Massgeblich für dieses Kapitel ist die Literatur des emeritierten amerikanischen Medizinprofessors Jon Kabat-Zinn sowie weiterer Psychologen, Religionswissenschaftler und buddhistischer Gelehrter.

Kapitel 3 widmet sich dem Thema Familie und Erziehung. Im Rahmen dessen wird anfangs ein Überblick über die historische und noch lange nicht abgeschlossene Entwicklungsgeschichte der Kindererziehung gegeben, Die Begriffe Erziehung und Familie werden vor diesem gesellschaftlich-historischen Hintergrund vorgestellt und erläutert (vgl. Kap. 3.1.). Anschliessend wird Bezug genommen auf einige ausgewählte Theorien zum Thema kindliche Entwicklung im Kontext der familiären Kindererziehung. Dabei wird nach dem Modell von Baumert, Watermann und Schümer (2003) zur Erfassung der familialen Herkunft zwischen Struktur- und Prozessmerkmalen unterschieden (vgl. S. 46). Dementsprechend wird in einem ersten Teil auf Befunde zum Zusammenhang von strukturellen Merkmalen von Familie und kindlicher Entwicklung eingegangen und im zweiten Teil auf Zusammenhänge kindlicher Entwicklung mit prozessualen Merkmalen. Dabei wird insbesondere die Bindungstheorie von Bowlby vorgestellt (vgl. Kap. 3.2.).

Kapitel 4 dokumentiert die methodologischen und methodischen Überlegungen sowie die gewählten empirischen Methoden, die zur Fallauswahl, zur Durchführung der Leitfadeninterviews sowie zur Analyse des gewonnen Datenmaterials gebraucht wurden.

Die Ergebnisse werden im darauffolgenden fünften Kapitel dargestellt. Eine theoretische Einbettung und Diskussion der Ergebnisse in enger Verknüpfung mit den eingangs dargestellten Theorien findet im ersten Teil des sechsten Kapitels in der inhaltlichen Diskussion statt, in deren Rahmen auch die Forschungsfrage beantwortet wird. Im zweiten Teil desselben Kapitels, der strukturellen Diskussion, werden der Verlauf der Forschung und der Einfluss des Forschungsdesigns auf die Ergebnisse kritisch reflektiert.

Im Schlussteil (Kap. 7) werden diese zusammenfassend dargestellt, die gesamte Arbeit und das methodische Vorgehen kritisch reflektiert und abschliessend, im Ausblick, offene Fragen für weitere Forschungsarbeiten zum Thema formuliert.

2. Achtsamkeit

2.1 Geschichte der Achtsamkeit

2.1.1 Achtsamkeit oder Sati

Wer kennt das nicht: Ständig wiederkehrende Gedanken, Vorstellungen, Ängste, Erinnerungen oder Sorgen? Das in der Einleitung beschriebene Gefühl, noch 148713 Mails abrufen und die Welt retten zu müssen, gepaart mit dem Verlangen, im Moment bei sich zu sein. „Unser Geist wird häufig von allen möglichen Gedanken und Vorstellungen fortgetragen. Manchmal verweilen wir in der Vergangenheit, dann planen wir die Zukunft, alles läuft durcheinander. Abgelenkt, zerstreut und verwirrt entfernen wir uns von der unmittelbaren Wirklichkeit vor uns“ (Ricard 2013, S. 49). Achtsamkeit ist das genaue Gegenteil davon. Achtsamkeit bedeutet vollkommen gegenwärtig zu sein und wird auch definiert als „absichtsvolle Aufmerksamkeit auf das bewusste Erleben im gegenwärtigen Moment“ (vgl. Kabat-Zinn 2013, S. 5). Es handelt sich dabei um die „Fähigkeit sich des gegenwärtigen Geisteszustandes bewusst zu sein“. Deshalb wird Achtsamkeit auch als „Zustand vollkommener Einfachheit“ beschrieben, wobei das Ziel darin besteht, seine Gedankenwelt und mit ihr schliesslich die Gefühlswelt und Emotionen unter Kontrolle zu behalten (vgl. Richard 2013, S. 50-53).

Mit dem Wort „Achtsamkeit“ oder im Englischen „Mindfulness“ wird das Wort „sati“ aus der Sprache Pali bzw. „smriti“ das Synonym in Sanskrit, in dem die älteste vollständige Sammlung buddhistischer Texte geschrieben ist, übersetzt (vgl. Wallace 2013, S. 21/Bodhi 2013, S. 43). Der Oxford English Dictionary (2014) definiert Achtsamkeit „mit Verweis auf Yoga-Philosophie und Buddhismus“ als „im Moment vollständig gegenwärtig sein, während man sich dieser Gegenwärtigkeit bewusst ist und die volle Aufmerksamkeit darauf richtet“ (online). Sucht man nach der deutschen Übersetzung von „Mindfulness“ im online Wörterbuch LEO (vgl. online), so schlägt es „Achtsamkeit“ oder „Aufmerksamkeit“ vor. Umgekehrt, bei der Übersetzung von „Achtsamkeit“ in die englische Sprache, werden folgende Substantive zur Übersetzung angeboten: Attentiveness, care, mindfulness und regardfulness (ebd.). Dies kann als erster Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Begriff keineswegs eindeutig zu bestimmen ist.

Das Pali-Wort „sati“ hatte ursprünglich die Bedeutung „Gedächtnis“ (vgl. Bodhi 2013, S. 37). Das als Synonym geltende Wort in Sanskrit, „Smriti“, wird im Sanskrit-Wörterbuch in entsprechender Übereinstimmung übersetzt als „Erinnerung, Rückbesinnung, Gedenken, in Erinnerung rufen…Gedächtnis“ (vgl. Monier 2005, S. 140). Nach Wallace (2013) beinhaltet Achtsamkeit nach dem buddhistischen Verständnis daher „die Fähigkeit zur Erinnerung, etwas im Gedächtnis zu behalten und nicht zu vergessen“ (vgl. S. 21). Jedoch gibt es auch kritische Stimmen, die zu bedenken geben, dass bereits Buddha diesem alten Begriff in seinen Lehren eine neue Bedeutung gegeben hätte (vgl. Bodhi 2013, S. 37). Der Gründer der Pali Text Society Rhys David (1910) war der Erste, der sati mit „Achtsamkeit“ übersetzt hat. Er sah von Anfang an die neue Konnotation, die das Wort über die Zeit bekommen hatte und sah die Bedeutung mehr in „sich ins Bewusstsein rufen“ und „Gewahrsein“ (nach Bodhi 2013, S. 44).

Wallace (2013) betont die Notwendigkeit der Berücksichtigung, dass es nicht die „eine“ richtige Definition gibt. Es gibt keine Sprache, in der sich ein Wort aus sich selbst heraus definiert – erst durch gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse und vor einem Kontext wird die Bedeutung vergeben (vgl. S. 21). So überrascht es nicht, dass eine ganze Reihe weiterer Definitionen und Auslegungen der buddhistischen Lehren koexistieren. Im Deutschen kann „achtsam“ umgangssprachlich auch „schonend, vorsichtig, behutsam, sorgsam, rücksichtsvoll oder fürsorglich“ bedeuten (vgl. Bodhi 2013, S. 57).

Die wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Achtsamkeit vermitteln leicht den Eindruck widerspruchsfreier Definitionen. Vor allem in der im Westen entstandenen und verbreiteten Literatur zu Achtsamkeit werden in den Definitionen immer dieselben Eckpunkte, auf die in Kapitel 2.1.3. näher eingegangen wird, genannt. Je weiter die Forscherin mit ihren Recherchen vorankam und je mehr sie sich mit den Texten der buddhistischen Gelehrten befasste, desto mehr Kontroversen um den Begriff bzw. die Lehre „sati“, übersetzt als „Achtsamkeit“, tauchten dabei auf. In der medizinischen und psychologischen Gesundheitsforschung scheint es eine stille Übereinkunft darüber zu geben, wie Achtsamkeit aufzufassen ist. Obwohl in allen wissenschaftlichen und therapeutischen Publikationen immer wieder auf die buddhistischen Wurzeln verwiesen wird, scheinen sie sich nicht ohne weiteres mit der ursprünglichen buddhistischen Auslegung von Achtsamkeit zu decken, wobei anzumerken ist, dass es „die“ buddhistische Auslegung auch gar nicht gibt, da sich über viele Jahrhunderte verschiedene Strömungen herausgebildet haben (vgl. Fisher 1997, S. 126). Der Verweis bzw. die Ableitung der Definition aus dem Buddhismus ist insofern wichtig, als in den Trainings- und Interventionsprogrammen die entsprechenden Übungen und Techniken Verwendung finden bzw. Verwendung finden sollten.

Um ein Verständnis für die verschiedenen Definitionen von Achtsamkeit zu entwickeln und daraus eine eigene, dem Gegenstand angemessene Definition zu formulieren, werden im ersten Teil dieses Kapitels die verschiedenen Perspektiven auf das Thema erläutert. Dazu gehören auf der einen Seite die über Jahrtausende entwickelte buddhistische Tradition (Kap. 2.1.2) und auf der anderen Seite die klinische, wissenschaftliche Epistemologie (vgl. Williams & Kabat-Zinn 2013, S. 11/ Kap. 2.1.3). Im zweiten Teil wird die psychologische Definition unter Einbezug buddhistischer Gelehrter und Religionswissenschaftler kritisch diskutiert (Kap. 2.2.), um Achtsamkeit schliesslich vor dem Hintergrund pädagogischer Kontexte vorzustellen (Kap. 2.3.).

2.1.2 Achtsamkeit im Buddhismus

Buddha, der erkannt hat, dass alles Geschaffene vergänglich ist, mahnte zur unablässigen Achtsamkeit. „Die Buddha-Natur ist – vor allem anderen – Achtsamkeit. Die Übung der Achtsamkeit ist die Übung, den Buddha im gegenwärtigen Moment zu Leben zu erwecken. Sie ist der wahre Buddha“ (Thich Nhat Hanh 2000, S. 181). Achtsamkeit ist der bedeutendste Teil des bekanntesten Systems der buddhistischen Meditation, der sogenannten „Satipatthana“, und steht bei allen klassischen Systemen der buddhistischen Meditation im Zentrum (vgl. Bodhi 2013, S. 37ff.). Jedoch muss betont werden, dass Achtsamkeit im Buddhismus mehr ist als eine reine Meditationsübung. „Achtsamkeit ist eine universale Haltung, ihre eigentliche Realisierung findet im Alltag statt und nicht in der isolierten Übungssituation auf dem Meditationskissen“ (Imm 2009, S. 31).

Die Lehre von Buddha, die als „dhamma“ bezeichnet wird, besteht nicht aus einer Reihe von Lehrsätzen, an die man glauben soll, vielmehr handelt es sich um Grundsätze und Übungen, die den Menschen von Leid befreien und auf der Suche nach Glück unterstützen sollen. Achtsamkeit erhält einen besonderen Stellenwert, da Buddha sie in den Achtfachen Pfad und als die vierte der vier edlen Wahrheiten in seine Lehre aufnahm. Die Reden des Buddha wurden vier Jahrhunderte lang mündlich bewahrt und von einer Generation zur nächsten Generation der Rezitatoren überliefert, bevor sie schliesslich in der sogenannten frühen Sammlung, dem Pali-Nikaya, verschriftlicht wurden (vgl. Bodhi 2013, S. 39). Der bekannteste Text über die Achtsamkeitspraxis, das „Satipatthana-Sutta“, beginnt mit einem Ausruf, der sowohl das Ziel als auch die Methode der Achtsamkeitsübung beschreibt:

„Der einzige Weg ist dies, o Mönche, zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Schwinden von Schmerz und Trübsal, zur Gewinnung der rechten Methode, zur Verwirklichung des Nibbana, nämlich die vier Grundlagen der Achtsamkeit. Welche vier? Da weilt, o Mönche, der Mönch beim Körper in Betrachtung des Körpers, … bei den Gefühlen in Betrachtung der Gefühle, … beim Geist in Betrachtung des Geistes, …. Bei den Erscheinungen in Betrachtung der Erscheinungen, eifrig, wissensklar und achtsam […]“ (Bodhi 2013, S. 40f nach DN (Digha-Nikaya 22.1 (II 290; LDB 335)).

Achtsamkeit wird darin als Methode zur Überwindung von Schmerz und Trübsal und zur Erreichung des Nibbana beschrieben. Achtsamkeit kommt in vier Bereichen zum Ausdruck, nämlich beim Köper, den Gefühlen, dem Geist und den Erscheinungen. Diesen soll „eifrig, wissensklar und achtsam“ begegnet werden. Achtsamkeit ist somit „die menschliche Haltung“ gegenüber diesen Objekten (vgl. Bodhi 2013, S. 49). „Eifrig“ bezeichnet die Stärke, die Energie und Motivation, mit der die Achtsamkeit ausgeübt wird. Achtsamkeit und Wissensklarheit werden ausserdem in einen unmittelbaren Zusammenhang gesetzt. Achtsamkeit (sati) und Wissensklarheit (sampajanna) werden häufig zusammen gebraucht, wobei Achtsamkeit als „klares Gewahrsein des Feldes der Erscheinungen“ beschrieben wird, während Wissensklarheit das kognitive Element bildet, durch welches das Feld interpretiert und die Phänomene in einen sinnvollen Kontext gesetzt werden (vgl. a.a.O. 2013, S. 42).

Der Buddhismus ist im Norden von Indien, wo der reiche Fürstensohn und Begründer Siddharta Gautama, der später Buddha („der Erwachte“) genannt wird, gelebt und gelehrt hat, entstanden. Seit der Entstehung im fünften Jahrhundert v. Chr. hat sich die buddhistische Lehre (dharma) weit verbreitet. Nach Sri Lanka verbreitete sich die Religion entlang der Flussläufe in Ostasien bis nach China, Japan, Kambodscha, Laos, der Mongolei, Myanmar, Südkorea, Taiwan, Thailand, Tibet und Vietnam aus. Der Buddhismus unterscheidet sich ganz grundlegend von anderen Religionen, weil kein Gott oder keine Götter angebetet werden. Im Zentrum steht die selbst erlangte Erkenntnis, „das Verständnis des eigenen Geistes, der Dinge und der Natur“. Es wird davon ausgegangen, dass sich jedes Leben in einem endlosen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt (Samsara) befindet. Ziel der Lehre ist es, diesen Kreislauf zu durchbrechen, das Leiden zu beenden und in völlige Ruhe (Nibbana) einzutreten. Deswegen und aufgrund der im Folgenden erläuterten Anpassungsfähigkeit wird der Buddhismus oftmals vielmehr als eine Denktradition oder Philosophie denn als Religion aufgefasst. Die ursprünglichen Lehren von Buddha sind schwer zurückzuverfolgen und nur teilweise überliefert, sodass sich die buddhistischen Lehren der Kultur und den ihr innewohnenden Bedürfnissen in den verschiedenen Regionen angepasst haben (vgl. Pawlak 2014, online). Der Pali-Kanon ist die älteste zusammenhängende überlieferte Fassung der Lehrreden des Buddha. Er wird auch „Dreikorb“ genannt, weil er aus drei Teilen besteht, zu denen auch das Abbidharma gehört. Praktisch alle heute bestehenden buddhistischen Traditionen berufen sich darauf. Dennoch unterscheiden sie sich und widersprechen sich teils sogar. Dies liegt daran, so Dunne (2013), dass zwar jede buddhistische Tradition dieselbe Reihe älterer Texte als massgeblich annimmt, aber: „[…] selbst, wenn diese Texte scheinbar die Praxis oder Philospohie der eigenen Tradition widersprechen, kann ein geschickter Kommentator einen Weg finden, um die neue Tradition mit den älteren Texten zu versöhnen“ (S. 127). Dies erklärt auch die Kontroverse um die Begriffsfassung von Achtsamkeit, welche in Kapitel 2.3. noch eingehender erläutert wird.

Der Buddhismus hat sich immer wieder gewandelt und weite Strecken zurückgelegt. Jedoch stehen diese, laut Bodhi (2013), in keinem Vergleich zur kürzlichsten Etappe. Die buddhistische Meditation wurde aus ihrem traditionellen Kontext der buddhistischen Lehre und des Glaubens herausgelöst und „in eine säkularisierte Kultur gebracht, in der pragmatische Ziele im Vordergrund stehen“. Sie dient nach wie vor dazu, den Menschen zu helfen, sich zu befreien. Neu geht es aber nicht mehr darum, den Kreislauf von Tod und Leben zu durchbrechen, sondern es geht um die Befreiung von Belastungen durch finanziellen Druck, Stress, psychologische Störungen oder stressvolle Beziehungen (vgl. S. 65).

2.1.3 Achtsamkeit in der Wissenschaft

Achtsamkeit ist Ende der 80er-Jahre vom inzwischen emeritierten amerikanischen Professor Jon Kabat-Zinn als Anti-Stressprogramm in die Wissenschaft eingeführt worden (vgl. Assmann 2013, S. 59). Dr. Kabat-Zinn, der ursprünglich Molekularbiologie studiert hatte, legte mit seiner Arbeit den Grundstein für den heutigen Erfolg des Konzeptes Achtsamkeit im Westen. Er hat die buddhistische Lehre der Achtsamkeit Ende der 70er-Jahre für die Wissenschaft fruchtbar gemacht und setzte die Übungen zur Unterstützung von Patienten im klinischen Bereich als Ergänzung konventionell-medizinischer Behandlungsmethoden ein.

Kabat-Zinn entwickelte das achtsamkeitsbasierte Interventionstraining mit dem Namen MBSR, ausgeschrieben Mindfulness-Based-Stress Reduction, und verfolge damit ursprünglich das Ziel, das Leiden von chronisch erkrankten Personen zu lindern (vgl. Assmann 2013, S. 59): mit ausserordentlichem Erfolg. Achtsamkeitsbasierte Trainingsprogramme haben sich nicht nur effektiv im Einsatz gegen persönliches Stresserleben, sondern auch als hilfreich gegen Depressionen und Angstzustände gezeigt (vgl. Van der Oord, Bögels & Peijinenburg 2011, S. 140). MBSR ist mittlerweile zwar nicht mehr das einzige, jedoch nach wie vor das bekannteste und wissenschaftlich meistuntersuchteste achtsamkeitsbasierte Programm der Welt.

Während sich das Forschungsgebiet in den frühen 1980er bis in die späten 1990er-Jahre nur recht langsam entwickelte und die Anzahl der jährlich pulizierten Forschungsarbeiten ungefähr gleich blieb, stieg das wissenschaftliche Interesse und die Forschung zum Thema Achtsamkeit Ende der 1990er-Jahre exponentiell[1] (vgl. dazu auch Abbildung 1). Es wird erwartet, dass diese Steigerung auch weiterhin anhalten wird (vgl. Williams & Kabat-Zinn 2013, S. 9).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Diagramm der jährlichen Publikationen zum Thema Achtsamkeit für den Zeitraum von 1980 bis 2013. Black, D.S. 2014, S. 487

Zunächst stammten die Publikationen vor allem aus der behavioralen Medizin, inzwischen beschränken sich das wissenschaftliche Interesse und die Aktivitäten aber nicht mehr nur auf diesen Bereich. Vor allem die Neurowissenschaft, die klinische Psychologie und die Gesundheitspsychologie bringen jedes Jahr zahlreiche neue Erkenntnisse ans Licht. Insgesamt sind es zur Zeit über 3000 Studien, die die Wirksamkeit von Achtsamkeit untersuchen und grösstenteils bestätigen (vgl. Mindfulness Research Guide, online), wobei anzumerken ist, dass nicht alle dieser Untersuchungen gleich hochwertig sind und es sich bei vielen um Studien rein explorativer Art handelt. Inzwischen existieren jedoch auch einige Metaanalysen, welche unter Einbezug zahlreicher repräsentativer Studien bestätigen, dass MBSR einen positiven Effekt auf die mentale Gesundheit hat und einer breiten Gruppe von Individuen helfen kann, mit ihren klinischen und nichtklinischen Problemen umzugehen (vgl. bspw. Chiesa & Serretti 2009, S. 593/Grossmann, Niemann Schmidt und Wallach 2004, S. 35). Achtsamkeitstraining hat sich als wirksam bei Stress und Depressionen, Konzentrationsstörungen, auffälligem Verhalten, Schmerz und Angststörungen und im Umgang mit Aggressionen erwiesen (vgl. bspw. Van der Oord, Bögels & Peijinenburg 2011, S. 140).

Es konnte ausserdem nachgewiesen werden, dass Achtsamkeitstraining zuträglich ist für die Regulation von Neuromodulatoren körperlicher Entspannung und dass es auf diese Weise Stresshormone abbaut. Von besonderer Bedeutung für Achtsamkeit im pädagogischen Diskurs und für diese Arbeit ist der Nachweis des positiven Einflusses von Achtsamkeitstraining auf die Fähigkeit, erfolgreich soziale Beziehungen und das Empathievermögen aufrechtzuerhalten (vgl. Lazar 2013, S. 71).

Aktuelle Forschungsreviews zeigen, dass Effekte in verschiedensten Forschungsbereichen gezeigt werden konnten: im Gehirn und Immunsystem, in Beziehungen und im klinischen sowie in weiteren Bereichen (vgl. Flaxman & Flook 2008, S. 1-6). Inzwischen existiert eine grosse Online-Datenbank, genannt MRG, ausgeschrieben Mindfulness Research Guide, auf der alle wissenschaftlichen Publikationen, Messmethoden und Interventionen aufgeführt werden. Im monatlich erscheinenden Bericht Mindfulness Research Monthly wird kontinuierlich über die aktuell publizierten Artikel zu achtsamkeitsbasierten Interventionen, Korrelationsstudien, Methoden, Reviews und Trials informiert (vgl. MRG, online).

Inzwischen ist das Interesse an Achtsamkeit nicht mehr auf den behavioralen Medizinbereich beschränkt. Das Interesse an Achtsamkeit wächst vor allem in den Bildungsbereichen, wie der Grundschulbildung, der Realschulbildung und der universitären Bildung, aber auch in der Justiz, in der Wirtschaft und bei Menschen in Führungspositionen wird wachsendes Interesse beobachtet (vgl. Williams & Kabat-Zinn 2013, S. 9). Gut vorstellbar ist deshalb auch die Nutzung des Konzeptes in pädagogischen Kontexten, wie der familiären Kindererziehung. Voraussetzung für jede theoretische und empirische Untersuchung ist eine für die Pädagogik passende Definition von Achtsamkeit. Da pädagogische Kontexte immer auch durch eine interaktive Komponente bestimmt sind, reicht eine Definition, wie sie Psychologen verwenden, bei der das Individuum im Fokus steht, nicht aus. Allerdings ist dies basierend auf der buddhistischen Philosophie auch nicht die einzig denkbare Definition, welche anschlussfähig an die buddhistischen Grundsätze und Übungen ist. Deshalb wird im Folgenden die psychologische Definition dargestellt und anhand buddhistischer Gelehrter und Religionswissenschaftler kritisch diskutiert, um sie an den pädagogischen Kontext anzupassen.

2.2 Definitionsversuche

2.2.1 „Nichturteilend, nichtkognitiv und gegenwartszentriert“?

Gemeinsam ist den meisten Definitionen von Achtsamkeit, dass sie von Achtsamkeit als Zustand bewusster Wahrnehmung des Momentes ausgehen. Achtsamkeit zeigt sich dementsprechend durch „erhöhte Wachheit und Präsenz im Hier und Jetzt“ (vgl. Lützenkirchen 2004, S. 27). Viele Definitionen aus der Psychologie stimmen mit der bekannten Definition von Jon Kabat-Zinn (1994) überein, in der Achtsamkeit definiert wird als „Paying attention in a particular way: On purpose, in the present moment and nonjudgmentally“ (S. 4). Darin wird neben der Wachheit, Präsenz und Absicht die damit einhergehende Zurückdrängung von Bewertungen eingeschlossen. Diese Ergänzung der Übersetzung durch „Aufmerksamkeit“, durch nichturteilendes Gewahrsein findet sich auch in zahlreichen weiteren westlichen Begriffserklärungen, wie bspw. der folgenden von Napoli, Krech und Holley (2005):

„Mindfulness is the cognitive propensity to be aware of what is happening in the moment without judgement or attachement to any particular outcome” (S. 99).

Ebenso findet sich dieses Element in der vielfach zitierten und weitverbreiteten Definition von Bishop und seinem Forschungsteam Lau, Shapiro, Carlson, Anderson, Carmody, Segal, Abbey, Speca, Velting und Devins (2004):

„Allgemein verstanden wird Achtsamkeit als eine Art nicht-kognitives, nicht-urteilendes, gegenwartszentriertes Gewahrsein beschrieben, in dem Gedanken, Gefühle oder Körperempfindungen, die im Feld der Aufmerksamkeit auftauchen, erkannt und akzeptiert werden – so, wie sie sind“ (S. 232).

Fast alle psychologischen oder medizinischen Therapieprogramme und ein Grossteil der bisherigen wissenschaftlichen Studien stützen sich in ihren Definitionen auf diesen Kern und charakterisieren Achtsamkeit als gegenwärtiges, nichturteilendes und nichtkognitives Gewahrsein. Allerdings gibt es auch viele kritische Einwände und Gegenargumente gegen ein solches Verständnis von Achtsamkeit als gegenwärtig, nichturteilend und nichtkognitiv. Diese basieren auf den buddhistischen Quellentexten, bspw. haben der buddhistische Gelehrte Bhikku Bodhi, der Religionswissenschaftler Georges Dreyfus und Andrew Olendzki entsprechende Argumente in ihren Aufsätzen im Sammelband von Williams und Kabat-Zinn (2013) dargelegt. Ihre Argumentation, die auf dem Pali-Kanon und den Texten des Abbidharma basiert, soll im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden, um ein erweitertes und alternatives Verständnis von Achtsamkeit zu ermöglichen.

Bhodi (2013) hält zwei wichtige Tatsachen über Achtsamkeit fest, wobei sich die eine auf die objektive Seite und die andere auf die subjektive Seite von Achtsamkeit bezieht. In objektiver Hinsicht hält er fest, dass Achtsamkeit „die selbstreflexive Beobachtung der eigenen Erfahrung“ beinhaltet. Zur subjektiven Seite von Achtsamkeit zählt er die Tatsache, dass Achtsamkeit Teil eines Prozesses ist, im Laufe dessen sich die unmittelbare Beobachtung eines Objektes wiederholt (vgl. S. 41). Achtsamkeit umfasst demnach mehr als nur den gegenwärtigen Moment, da sie in einen Prozess eingebunden ist. Auch Dreyfus (2013) ist der Ansicht, dass Achtsamkeit sowohl für die Gegenwart als auch für die Vergangenheit relevant sei. Er behauptet, dass die „bewahrende Fähigkeit“ des Geistes das Hauptmerkmal von Achtsamkeit darstelle. „Diese bewahrende Fähigkeit ermöglicht es dem Geist, ein Objekt im Feld der Aufmerksamkeit zu halten und sich auch später daran zu erinnern“ (S. 73). Er argumentiert weiter, dass diese Fähigkeit eng mit dem Arbeitsgedächtnis, das erhaltene Informationen bewahrt und versteht, zusammenhängt (vgl. a.a.O., S. 83).

Was die objektive Seite betrifft, so ist Achtsamkeit seiner Meinung nach nicht nur, wie vielfach von Psychologen beschrieben wird, die nichtkognitive „bottom-up“-Erfahrung im Wahrnehmungsprozess, bei welcher die Informationen rein und unverarbeitet durch die Sinne weitergeleitet werden, sondern sie beinhaltet ebenso einen reflexiven Moment, bei dem die „top-down“-Verarbeitung bewusst wahrgenommen wird. Bodhi (2013) bezeichnet die in der populären Literatur verbreitete Beschreibung von Achtsamkeit als Form des Gewahrseins, ohne „Unterscheidungsfähigkeit, Bewertung und Urteil“ als problematisch, da dies, aus seiner Sicht, zu einer „verzerrten Sicht der Praxis von Achtsamkeit“ führen könne. Zwar gesteht er ein, dass es sicherlich Übungssituationen gebe, in denen die Bewertung und das Urteil losgelassen werden müssten, um jedoch die ursprüngliche Bedeutung zu erfüllen, müsse derjenige, der achtsam sein möchte, auch urteilen können (vgl. S. 48ff.).

„Das heisst, dass derjenige, der Achtsamkeit übt, manchmal mentale Qualitäten und beabsichtigte Handlungen bewerten und beurteilen, und sich in absichtsvolles Handeln begeben muss. Zusammen mit der Rechten Sicht ermöglicht Achtsamkeit dem Übenden, heilsame Qualitäten von unheilsamen Qualitäten, gute Taten von schlechten Taten, förderliche Geistezustände von schädlichen Geisteszuständen zu unterscheiden“ (Bodhi 2013, S. 50).

Achtsamkeit muss von rechter Absicht geleitet sein, wobei diese auf Objektivität, Güte und Nichtverletzen zielt. Ausserdem werden drei Faktoren erwähnt, in denen man achtsam sein sollte: In der Rede, wie man spricht, im Handeln, wie man sich verhält, und in der Lebensführung als Ganzem. Zudem, wie bereits erwähnt, sollte sie mit rechter Anstrengung einhergehen und somit versuchen, das Unheilsame zu beseitigen und das Heilsame zu fördern (vgl. a.a.O., S. 59). Es handelt sich also um eine Fähigkeit, mittels derer zwischen negativen und positiven Qualitäten unterschieden werden kann (vgl. Dreyfus 2013, S. 85). Nur auf diese Weise, konstatiert Bodhi, kann Achtsamkeit eine Basis für „korrekte Weisheit“ bilden und „die Wurzeln des Leidens“ beseitigen (ebd.). Nur als Anfangsübung ist es natürlich bedeutsam, die Dinge zuerst zu erkennen, und zwar so wie sie sind, ohne zu urteilen, um überhaupt erst ein unverzerrtes Bild der Realität zu erhalten (vgl. a.a.O., S. 63).

In einem Punkt stimmt Bodhi (2013) mit Bishop et al. überein, indem er Achtsamkeit ebenfalls als „klares Gewahrsein des Feldes der Erscheinungen“ beschreibt. Jedoch macht er dazu einige Ergänzungen. Er leitet, wie im vorherigen Kapitel dargestellt, unter Nutzung des Pali-Kanons ab, dass, je stärker die Achtsamkeit wird, desto mehr Wissensklarheit hinzukommt. Wissensklarheit (sampajanna), das kognitive Element, ist in den ursprünglichen buddhistischen Beschreibungen unmittelbar mit Achtsamkeit (sati) verknüpft. Während der Mensch durch Achtsamkeit die Natur und Eigenschaft der Phänomene klar erkennt, setzt er diese durch Wissensklarheit in den richtigen Kontext (vgl. S. 42). In anderen Passagen des Pali-Kanons wird Wissensklarheit auch als „reflektierendes Erkennen“ beschrieben, welches vier Funktionen innehat. In diesen geht es um das Erkennen der Bedeutung und des Zwecks der eigenen Handlungen, die Reflexion der Wahl der Mittel, den Fokus auf das Objekt sowie darum, die Dinge „in ihrer wahren Natur“ zu erkennen (vgl. a.a.O., S. 64f.). „Mit dem Fortschritt der Praxis wird die Wissensklarheit immer wichtiger und entwickelt sich schliesslich zur direkten Einsicht (vipassana) und Weisheit (panna)“ (a.a.O., S. 42). Wichtig ist, sich an dieser Stelle nochmals daran zu erinnern, dass Achtsamkeit im Buddhismus nie für sich alleine steht, sondern nur in der westlichen Wissenschaftstradition isoliert von anderen Faktoren betrachtet wird. Dies betont auch der Religionswissenschaftler Dreyfus (2013), der davor warnt „das buddhistische Verständnis von Achtsamkeit“ isoliert zu vermitteln (vgl. S. 75).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die klassischen psychologischen Definitionen von Achtsamkeit aus Sicht von buddhistischen Gelehrten und Religionswissenschaftlern sehr kritisch zu beurteilen sind, weil sie, durch ihre Charakterisierung von Achtsamkeit als nichturteilend und gegenwartszentriert, nicht unbedingt mit den ursprünglichen buddhistischen Quellen, wie dem Pali-Kanon, übereinstimmen. In vielen Publikationen und Vorträgen wird Achtsamkeit mit Aufmerksamkeit erklärt. Inwiefern dies kritisch zu betrachten ist, wird im Folgenden dargestellt und diskutiert.

2.2.2 Achtsamkeit gleich Aufmerksamkeit?

In der Literatur wird zur Beschreibung von Achtsamkeit häufig auch der Begriff der Aufmerksamkeit zu Hilfe genommen. Wie bereits beschrieben wurde, wird der englische Begriff „Mindfulness“ nebst Achtsamkeit oft auch mit Aufmerksamkeit übersetzt (vgl. LEO online). Der Begriff der Aufmerksamkeit kann, nach Bodhi (2013), als pädagogisches Hilfsmittel in einer Anleitung für die Kultivierung von Achtsamkeit in der Anfangsphase hilfreich sein. Wenn damit jedoch Achtsamkeit selbst beschrieben werden soll, ist dies aus verschiedenen Gründen problematisch. Zum einen wird das vielseitige Spektrum von Achtsamkeit, in dem Aufmerksamkeit nur eine von vielen mentalen Eigenschaften ist, betont. Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang genannt wird, beruht auf der klassischen buddhistischen Terminologie, in der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auseinandergehalten werden sollen. Im Gegensatz zu Aufmerksamkeit entsteht Achtsamkeit nicht spontan, sondern durch absichtsvolle Anstrengung. Es handelt sich um eine Qualität, welche erlernt und kultiviert werden muss. Ausserdem hat sie eine ethische Funktion inne und ist „Teil des Strebens das Unheilsame zu überwinden und das Heilsame zu entwickeln“. Aufmerksamkeit ermöglicht aber Achtsamkeit erst. Dies ist vor allem bei den Übersetzungen ins Deutsche gut erkennbar, die Bodhi, nach dem Brockhaus Wörterbuch (2011, S. 36), für achtsam vorschlägt. Diese lauten „schonend, vorsichtig, behutsam, sorgsam, rücksichtsvoll, fürsorglich“ (vgl. S. 51-55). Um diesen Beschreibungen gerecht zu werden, bedarf es eines gewissen Masses an Aufmerksamkeit als Voraussetzung, welche auf das Objekt gerichtet ist. Aufmerksamkeit alleine führt allerdings zwar zu stärkerem, aber auch zu einem schmaleren Fokus. Achtsamkeit hingegen erweitert die Bandbreite dieses Fokus‘ (vgl. Dreyfus 2013, S. 88). Olendzki (2013) und weitere Autoren, vor allem die, die sich in ihren Studien intensiver dem Buddhismus zuwenden, unterstützen diese Ansicht, derzufolge Achtsamkeit mehr beinhaltet als nur Aufmerksamkeit.

„Achtsamkeit ist nicht nur eine erhöhte Aufmerksamkeit, sondern sie ist Aufmerksamkeit, die überzeugt, wohlwollend, ausgeglichen und von Grund auf heilsam ist“ (S. 112f.).

Im Vergleich zu Aufmerksamkeit zeichnet sich Achtsamkeit also durch einen breiteren Fokus und eine andere Absicht, die als „wohlwollend und heilsam“ beschrieben wird, aus.

2.2.3 Selbstbezüglichkeit

Des Weiteren stellt sich die Frage, wie zu Beginn des Kapitels bereits angedeutet, auf wen sich diese Achtsamkeit bzw. die absichtsvolle Aufmerksamkeit richtet.

Im Rahmen des MBSR, der psychologischen Trainingsprogramme und Interventionsstudien, bezieht sich die Achtsamkeit auf die eigene Person, d.h. sie ist selbstbezüglich. Im Zentrum steht die „Fähigkeit, sich des gegenwärtigen Geisteszustandes bewusst zu sein“. Deshalb wird Achtsamkeit auch als „Zustand vollkommener Einfachheit“ beschrieben, wobei das Ziel darin besteht, seine Gedankenwelt und mit ihr schliesslich die Gefühlswelt und Emotionen unter Kontrolle zu behalten (vgl. Richard 2013, S. 50-53). Achtsamkeit ist in diesem Zusammenhang unmittelbar verknüpft mit einer zweiten Fähigkeit des Geistes, welche auch als „Introspektion“ bezeichnet werden könnte, in anderen Publikationen aber auch „klare Einsicht“, „volle Bewusstheit“ oder „Wachsamkeit“ genannt wird. Introspektion ist eine Bewusstheit, mit der wir uns selber wahrnehmen. Mit „uns“ können unter anderem der eigene Körper, die eigenen Gedanken, der Atem oder die Gefühle gemeint sein. Achtsamkeit ist die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf einen Moment oder einen Gegenstand, während Introspektion quasi die Funktion der Qualitätskontrolle übernimmt. Wandert die Aufmerksamkeit ab, wird man unachtsam, so wird dies mittels Introspektion registriert und kann somit korrigiert werden. Die Kombination von beidem scheint also durchaus hilfreich und ergänzend (vgl. Wallace 2013, S. 22-25).

Eine solche Definition ist in psychologischen Settings, in denen das Individuum und sein Leiden, die Depression, der Stress oder der Schmerz, im Zentrum stehen, durchaus sinnvoll. Sie stösst aber an ihre Grenzen, wenn man Achtsamkeit auf einen pädagogischen Kontext, in dem es immer auch um die Interaktion zwischen Menschen geht, übertragen möchte.

Lützenkirchen (2004) stellt fest, dass es sich bei Achtsamkeit um eine innere Haltung handelt, die in zwei Richtungen, nämlich sowohl nach innen, als auch nach aussen, zum Ausdruck kommt (vgl. S. 27). Will man Achtsamkeit in pädagogischen Settings betrachten, so ist, im Gegensatz zur Psychologie, nicht nur die erste, sondern auch die zweite Richtung, in der sich Achtsamkeit nach aussen hin ausdrückt, von Bedeutung. Während innere Achtsamkeit die Entwicklung eines „bewussten geistigen und spirituellen Wachstums“ beinhaltet, drückt sich äussere Achtsamkeit durch praktiziertes „Mitgefühl, Hinwendung, liebevolles Verhalten und Achtung gegenüber allen Lebensformen“ aus. Man könnte auch sagen, Achtsamkeit setzt sich somit aus einem individuellen und einem kollektiven Aspekt zusammen (vgl. Lützenkirchen 2004, S. 27).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ein Konsens unter den Psychologen zur Definition von Achtsamkeit besteht, der Achtsamkeit als eine Form gegenwärtiger, nichturteilender und damit einhergend nichtkognitiver Wahrnehmung beschreibt. Der Fokus liegt zudem auf dem Individuum und auf der nach innen gerichteten Achtsamkeit. Es geht um die bewusste Wahrnehmung eigener Gefühle oder Körperempfindungen, die im Feld der Aufmerksamkeit auftauchen. Die nach aussen gerichteten Aspekte der Achtsamkeit, in denen nicht das Selbst im Zentrum steht, werden ausgeklammert. Achtsamkeit ist also vorwiegend selbstbezüglich.

Jedoch konnte auch aufgezeigt werden, dass Achtsamkeit, basierend auf den buddhistischen Quellen, keineswegs ausschliesslich gegenwärtig, nichturteilend, nichtkognitiv und selbstbezüglich ist. Es stellt sich nun die Frage, wie Achtsamkeit im Rahmen dieser Arbeit, im pädagogischen Kontext, erfasst werden soll.

2.3 Achtsamkeit in der Erziehung (-sgeschichte und -swissenschaft)

2.3.1 Definition (-sprobleme)

In der Pädagogik ist der Diskurs um Achtsamkeit noch sehr neu und bisher kaum vorhanden. Der Begriff „Mindful Parenting“ tauchte zum ersten Mal in einem praxisorientierten Buch von Jon Kabat-Zinn und seiner Frau Myla Kabat-Zinn (1997) auf. In der Wissenschaft wurde Mindful Parenting von Dumas (2005) wieder aufgegriffen, der diese als einen Weg beschreibt, wie automatisierte Verhaltensschemata in der Eltern-Kind-Interaktion durchbrochen werden können. Kabat-Zinn und Kabat-Zinn (1997), Dumas (2005) und Race (2014), die dieses Jahr einen Elternratgeber mit dem Titel „Mindful Parenting“ veröffentlichten, und auch das Forschungsteam um Duncan (2009), sind überzeugt davon, dass Achtsamkeit eine Möglichkeit für die Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung bietet. Es stellt sich natürlich für zukünftige, gross angelegte Forschungsprojekte die Frage, ob der vielfach nachgewiesene Erfolg von achtsamkeitsbasierten Programmen in verschiedensten Kontexten auf den Bereich der Kindererziehung bzw. auf die Eltern-Kind-Beziehung übertragen werden kann. Dafür gilt es aber zunächst einmal, den Begriff der Achtsamkeit für die Pädagogik zu klären. Aufgrund des Mangels an bestehenden Definitionen von Achtsamkeit in einem interaktionalen Kontext, hat die Forscherin einen eigenen Vorschlag für eine Definition, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit verwenden werden soll, entwickelt.

Von psychologischer Seite wurde Achtsamkeit definiert als: „Paying attention in a particular way: On purpose, in the present moment and nonjudgmentally“ (Kabat-Zinn 1994, S. 10). Bei Achtsamkeit in der Kindererziehung geht es im Speziellen aber um paying attention to your child in a particular way. Also darum, gegenüber dem eigenen Kind auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: absichtsvoll, gegenwärtig und urteilslos. Inwiefern dies absichtsvoll und urteilslos ist, darauf wird noch eingegangen. Zunächst kann festgehalten werden, dass es sich um die mentale Anwesenheit bzw. Geistesgegenwärtigkeit mit Fokus auf das Kind im gegenwärtigen Moment handelt. Achtsamkeit kann daher in diesem Kontext nicht mehr ausschliesslich selbstbezüglich sein, sondern ist sowohl nach innen als auch nach aussen, auf das Kind, gerichtet. Diese Definition der Achtsamkeit als eine Aufmerksamkeit auf das Kind, wobei die Aufmerksamkeit sich gleichzeitig auf den gegenwärtigen Moment bezieht, beinhaltet in den meisten Fällen, dass die Mutter auch physisch beim Kind anwesend ist. Im Unterschied zu reiner Aufmerksamkeit geschieht dies aber nicht spontan oder per Zufall, sondern mit Absicht. Somit zeichnet sich Achtsamkeit in der Kindererziehung durch den Fokus auf das Kind, d.h. durch die mentale Anwesenheit, die Gegenwärtigkeit und damit einhergehend die physische Anwesenheit, die dahinter stehende absichtsvolle Herbeiführung, aus.

Dabei wurde in Anlehnung an die buddhistischen Quellen (vgl. Kap. 2.2.2./Olendzki 2013, S. 112f.) weiter bestimmt, dass es sich dabei um eine wohlwollende Absicht handeln muss. Im Unterschied zur Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind zeichnet sich Achtsamkeit gegenüber dem Kind also durch die innewohnende Absicht aus, welche als „wohlwollend und heilsam“ beschrieben wird. Des Weiteren unterscheidet sich Achtsamkeit von Aufmerksamkeit, in Anlehnung an die buddhistischen Quellen (vgl. Kap. 2.2.2./Bodhi 2013, S. 52), durch einen breiteren Fokus. Das bedeutet in diesem Kontext, dass zwar das Kind im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, die Situation und der Kontext, in dem sich dieses befindet, aber mit in den Fokus genommen werden. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass Achtsamkeit in diesem Kontext nicht nur die mentale Aufmerksamkeit, sondern auch das geäusserte Verhalten bzw. die drei Faktoren ‚Rede‘, ‚Handeln‘ und ‚Lebensführung‘ dem Kind gegenüber mit einschliesst (vgl. Kap. 2.1.2.). Aufmerksamkeit ist somit zwar eine notwendige Bedingung für Achtsamkeit, jedoch keine ausreichende Bedingung.

Nun stellt sich noch immer die Frage, inwiefern Achtsamkeit in der Kindererziehung urteilslos ist oder sein kann und soll. Während in der Psychologie Achtsamkeit per Definition als urteilslos beschrieben wird, behaupten andere, vorwiegend nichtpsychologische Autoren, dass dies nicht der ursprünglichen Bedeutung von Achtsamkeit entspreche (vgl. Kap. 2.2.1./Bodhi 2013, S. 48ff.). Bodhi schreibt, dass der, der Achtsamkeit übe, manchmal mentale Qualitäten und beabsichtigte Handlungen bewerten und beurteilen und sich in absichtsvolles Handeln begeben müsse. Dabei sei die Unterscheidung zwischen heilsam und unheilsam, gut und schlecht von Bedeutung (vgl. Bodhi 2013, S. 50). Der Forscherin zufolge ist es im vorliegenden Kontext weder möglich noch sinnvoll, das Kriterium der Urteilslosigkeit, der psychologischen Definition entsprechend, uneingeschränkt beizubehalten. Praktiziert ein Vater oder eine Mutter Achtsamkeit ihrem Kind gegenüber aus wohlwollender Absicht heraus, so ist dies kaum denkbar, ohne zu urteilen. Um der Verantwortung, die das Elternteil gegenüber dem noch unmündigen Kind hat, gerecht zu werden, gehört es unter anderem mit dazu, sich ein Urteil darüber zu bilden, was dem Kind gut oder schlecht tut. Es ist jedoch sicherlich sinnvoll, seinem Kind im gegenwärtigen Moment urteilslos zu begegnen und es als das anzunehmen, was es ist, das heisst, nicht vorschnell über seine Person oder sein Verhalten zu urteilen, sondern erst einmal zu akzeptieren, wie es sich im gegenwärtigen Moment verhält. Und erst dann darauf zu reagieren.

An einem Beispiel veranschaulicht würde dies bedeuten, dass, wenn das Kind schlechte Noten nach Hause bringt, das Kind nicht als faul oder dumm verurteilt wird, sondern dass die Note zunächst einmal zur Kenntnis genommen wird ohne zu urteilen. Damit wird das Kind erst einmal so angenommen wie es ist. Ausserdem kann durch diese neutrale Distanz die Gesamtsituation, in der sich das Kind befindet, besser miteinbezogen werden und es kann bspw. wahrgenommen werden, dass die Lernbedingungen zu Hause nicht optimal sind oder dass das Kind Prüfungsangst hat. In diesem Beispiel wird auch die Erweiterung der Aufmerksamkeit (vgl. Kap. 2.2.2.) sowie die Bildung des Urteils über die Situation deutlich.

Achtsamkeit in der Kindererziehung kann zusammengefasst werden als:

Aufmerksamkeit auf das Kind auf eine bestimmte Weise Weise: Absichtsvoll, gegenwärtig und urteilslos bzw. nicht verurteilend.

Die Absicht zeichnet sich dadurch aus, dass sie wohlwollend ist und die Gegenwärtigkeit wird festgelegt als mental sowie physisch. Die Urteilslosigkeit bezieht sich auf das Kind und den jetzigen Moment, der unvoreingenommen angenommen werden soll.

Diese Achtsamkeit findet einerseits im Bereich der Gedanken, Gefühle und Körperempfunden statt und kommt andererseits im Verhalten und Umgang mit dem Kind bzw. der Rede, dem Handeln und der Lebensführung als Ganzem zum Ausdruck.

Wie in der Einleitung beschrieben, fehlt bis anhin eine gezielte empirische Evidenz zur Rolle von Achtsamkeit in der Eltern-Kind-Beziehung und in Erziehungsprozessen (vgl. Duncan, Coatsworth & Greenberg 2009, S. 255). Achtsamkeit in Erziehungsprozessen wurde bisher wissenschaftlich noch kaum untersucht (vgl. Elsholz & Keuffer 2013, S. 149). Zur Zeit existieren nur einzelne quantitative Studien explorativer Art mit einer äusserst geringen Teilnehmerzahl. Davon sind alle in treatment settings, d.h. Interventionsstudien, die jedoch grösstenteils ohne Vergleichsgruppen durchgeführt wurden (vgl. bspw. Sing et al. 2006/Dawe & Harnett 2007/Altmaier & Maloney 2007 nach Duncan et al. 2009, S. 263). In diesen gibt es jedoch Hinweise auf positive Effekte von Achtsamkeitstrainings auf den Alltag bzw. auf die Eltern-Kind-Interaktion. Einerseits, weil es sich um explorative Interventionsstudien handelt, die von den psychologischen Prämissen und keinem interaktiven Verständnis von Achtsamkeit ausgehen. Andererseits wird aufgrund des beschränkten Umfangs der Arbeit an dieser Stelle darauf verzichtet, die Studien vorzustellen.

Um das Forschungsfeld voranzubringen, braucht es nach Duncan et al. (2009) noch mehr theoretische Modelle zur Achtsamkeit in der Kindererziehung. Zwar schlagen sie auch selbst eines vor, auf das im folgenden Kapitel eingegangen wird, jedoch sind sie der Überzeugung, dass es, basierend auf den bestehenden Achtsamkeitstheorien, noch andere alternative Modelle geben sollte (vgl. S. 265).

„Mindfulness theories describe other dimensions that might plausibly fit into an alternative model of mindful parenting. More, not fewer, theoretical models will ultimately help to stimulate empirical and applied science“ (ebd.).[2]

Dabei erachten es Duncan et al. (2009) als wichtig, einerseits spezifische Dimensionen von Achtsamkeit in der Kindererziehung zu beschreiben und andererseits auch mögliche positive und negative Folgen und Zusammenhänge von Achtsamkeit aufzudecken. Das Modell soll ihres Erachtens nach in ein Interventionsprogramm mit klaren Übungen und Richtlinien überführt werden, welches empirisch in einem Pre-Post-Test mit Kontrollgruppe geprüft werden kann (vgl. S. 265). Dabei werden als Basis die Übungen gebraucht und adaptiert, die über Jahrtausende hinweg in der buddistischen Tradition entwickelt worden sind. Somit basiert die Herausarbeitung von Modellen der Achtsamkeit in der Kindererziehung auf der Annahme, dass durch die in der Tradition des Buddhismus entwickelten Übungen Achtsamkeit gezielt gefördert und in diesem Kontext schliesslich im Rahmen von Elterntrainings vermittelt werden kann. Dass dies grundsätzlich durchaus möglich ist, haben der grosse Erfolg von MBSR und später entwickelte, vergleichbare achtsamkeitsbasierte Programme in anderen Kontexten gezeigt. Der erste Schritt in eine solche Richtung besteht, wie bereits erwähnt, in der Aufstellung theoretischer Modelle. Das erste und bisher einzige bestehende Modell wurde 2009 von Duncan, Coatsworth und Greenberg erstellt. Dieses soll im Folgenden vorgestellt werden.

2.3.2 Das Modell von Duncan, Coatsworth und Greenberg

Das amerikanische Forscherteam Duncan, Coatsworth und Greenberg (2009) geht davon aus, dass erhöhte Achtsamkeit Eltern dabei helfen kann, innezuhalten und einzelne erlebte Momente im grösseren Kontext der langfristigen Eltern-Kind-Beziehung zu sehen sowie die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen, während sie selber ein gewisses Mass an Selbstregulation ausüben und dadurch in ihren Handlungen weise Entscheidungen treffen (vgl. S. 256). Diese Aussage wurde sinngemäss aus dem Englischen übersetzt[3]. Duncan und ihre Kollegen (2009) nehmen des Weiteren an, dass insbesondere durch die Erhöhung der Selbstregulation das automatische Handeln vermindert werden kann und so Kreisläufe automatisierten Handelns durchbrochen werden können. Als automatisierte Handlungen werden dabei gelernte Angewohnheiten und Abläufe angesehen. Auf dieses Thema kann jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden.Duncan et al. schlussfolgern daraus jedoch, dass Eltern, die achtsamer sind, eine zufriedenere Eltern-Kind-Beziehung erleben und Kreisläufe automatisierten Verhaltens besser durchbrechen können (vgl. S. 256). Basierend auf der theoretischen und empirischen Literatur sowie den bestehenden Interventionsprogrammen leiten sie ein fünfdimensionales theoretisches Modell zur Achtsamkeit in der Kindererziehung ab. „Mindful Parenting“ besteht dabei aus den folgenden fünf Dimensionen: 1. aufmerksames Zuhören („listening with full attention“) 2. unvoreingenommene Akzeptanz seiner Selbst und des Kindes („nonjudgemental acceptance of self and child“) 3. emotionale Bewusstheit seiner Selbst und des Kindes („emotional awareness of self and child“) 4. Selbstregulation („Self-regulation in the parenting relationship“ und 5. Mitgefühl für sich Selbst und das Kind („Compassion for self and child“) (vgl. a.a.O., S. 259).

Beim ersten Punkt verknüpfen sie Achtsamkeit mit Zuhören mit voller Aufmerksamkeit. Dabei geht das Zuhören über das Hören der gesprochenen Wörter hinaus. Es schliesst auch das Wahrnehmen des Gesprächsinhaltes, des Tonfalls, des Gesichtsausdruckes und der Körpersprache mit ein. In der zweiten Dimension geht es darum, das Kind und sich selber unvoreingenommen zu akzeptieren. Gemeint ist die Akzeptanz von Eigenschaften und Verhalten im jetzigen Moment. Sie weisen jedoch darauf hin, dass dies nicht bedeutet, dass fehlbares Verhalten gebilligt werden solle. Dass die Eltern sich sowohl der eigenen Emotionen als auch der ihres Kindes bewusst sind, macht die dritte Dimension aus. Emotionale Bewusstheit wird beschrieben als Basis von Achtsamkeit, worauf die anderen Dimensionen aufbauen. Ebenso erachten sie Selbstregulation, die vierte Dimension, als integralen Bestandteil von Achtsamkeit in der Kindererziehung, denn nach ihrer Vorstellung beinhaltet achtsames Elternverhalten, dass diese eine Pause einlegen, bevor sie reagieren. Zuletzt beinhaltet Achtsamkeit in der Kindererziehung aktives Mitgefühl sowohl sich selber als auch dem Kind gegenüber (ebd.). Definiert wird Mitgefühl, laut Duncan et al. (2009), nach Lazarus (1994), die dieses als ein Gefühl beschreibt, das den Wunsch enthält, das Leiden zu mindern. Das Mitgefühl sich selber gegenüber wird vor allem als auf die Rolle als Eltern bezogen beschrieben. So kann man durch Mitgefühl sich selber gegenüber die durch nicht erreichte Elternziele entstandenen Selbstvorwürfe leichter fallen lassen, was sich wiederum positiv auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirkt (vgl. S. 259ff.).

Nach diesem Modell beinhaltet Achtsamkeit in der Kindererziehung also sowohl intrapsychische als auch interpersonale Prozesse. Sie gehen davon aus, dass, wenn Eltern mehr Achtsamkeit in die Eltern-Kind-Interaktion einbringen, die Eltern schliesslich ruhiger und mit grösserer Konsistenz agieren und in grösserer Übereinstimmung mit ihren Zielen handeln, wobei sich dies gleichzeitig positiv auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirkt. Diese wird gestärkt durch mehr Vertrauen, grössere Flexibilität, weniger Elternstress und eine weisere Wahl der elterlichen Strategie. Dass das gezielte Üben von Achtsamkeit solche Effekte nach sich ziehen könnte, schlussfolgern sie in ihren theoretischen Überlegungen durch den Einbezug diverser pädagogischer und psychologischer Theorien.

2.3.3 Zusammenfassung und Diskussion

Der Anstieg des Interesses an Achtsamkeit, einer buddhistischen Haltung und buddhistischen Meditationsübungen, und ihren möglichen Anwendungen in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft zeigt die Konvergenz von zwei unterschiedlichen Epistemologien bzw. Erkenntnisinteressen: „Die empirische westliche Wissenschaft und der Empirismus der meditativen und auf Bewusstsein basierenden Disziplinen der damit einhergehenden Bezugssysteme, die sich über Jahrtausende entwickelt haben“ (Williams & Kabat-Zinn 2013, S. 11).

Eine Frage, die sich stellt, ist die nach der Angemessenheit der Säkularisierung, der Herauslösung von Achtsamkeit aus ihrem traditionellen Kontext. Es handelt sich dabei um eine Frage, die im Rahmen dieser Arbeit nicht ausreichend beantwortet werden kann. Der Buddha selbst äussert sich wohlwollend zu diesem Thema, indem er den Standpunkt einnimmt, dass es das höchste Ziel sei, Leiden zu lindern; wenn die buddhistische Tradition in irgendeiner Weise dazu beitragen könne, dann könne dies nicht schlecht sein. Und auch weitere bekannte buddhistische Gelehrte befürworten und unterstützen solche nichttraditionellen Anwendungen der Achtsamkeit aus demselben Grund (vgl. Bodhi 2013, S. 38). Ausserdem ist es wichtig, zu sehen, dass, wenn vom „Buddhismus“ die Rede ist, nie „die“ Lehre gemeint sein kann, weil viele unterschiedliche buddhistische Lehren koexistieren. Wie Maex (2013) festhält, ist der Buddhismus selbst ein „Prozess der ständigen Neuformulierungen in Übereinstimmung mit den gegenwärtigen Bedürfnissen der Menschen, denen wir begegnen“ (S. 304). Deswegen ist es auch nicht abwegig, wenn Achtsamkeit im pädagogischen Diskurs anders aufgefasst wird als im psychologischen. Im psychologischen Diskurs wird Achtsamkeit nur auf sich selber bezogen, ist also selbstbezüglich und wird oftmals als nichturteilend und nichtkognitiv definiert. In der Pädagogik und spezifischer im Kontext der Kindererziehung liegt der Fokus auf einer Interaktion, somit muss diese Definition angepasst werden.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde Achtsamkeit in der Kindererziehung deshalb als Aufmersamkeit gegenüber dem Kind in einer spezifischen Art und Weise bestimmt: gegenwärtig, absichtsvoll und urteilslos bzw. nichtverurteilend, wobei dies sowohl eine mentale als auch eine physische Gegenwärtigkeit beinhaltet, die Absicht wohlwollender Art sein muss und die Urteilslosigkeit sich auf das Kind und den gegenwärtigen Moment bezieht. Diese Definition wurde anhand der Analyse und Symbiose des buddhistischen und des psychologischen Diskurses hergeleitet (vgl. Abbildung 2).

An diesem Punkt stellen sich aber natürlich auch noch weitere Fragen, z.B.: Welche Gefahren birgt dieses Konzept oder dessen Übertragung und Dekontextualisierung dieser ursprünglich buddhistischen Tradition auf säkulare Anwendungsgebiete? Welche potentiellen negativen Wirkungen bringt es mit sich? Was geschieht, wenn sich Achtsamkeit als angesehenes Forschungsfeld etabliert – und die Motivation nicht mehr aus „der inneren Essenz und dem transformativen Potenzial“ der Achtsamkeit kommt? Antworten auf diese und ähnliche Fragen können zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben werden. Sie liegen ausserhalb der Möglichkeiten dieser Arbeit. Dennoch soll darauf hingewiesen werden, da es wichtig ist, diese Aspekte vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte von Achtsamkeit zu beachten und potentielle Gefahren achtsam zu beobachten (vgl. Williams & Kabat-Zinn 2013, S. 13).

Zur Veranschaulichung und als Überblick folgt eine vereinfachte Tabelle, in der die drei beschriebenen Denkrichtungen bzw. Praxisfelder dargestellt werden. Aus graphischen Gründen wurde auf die Quellenangaben verzichtet. Alle aufgeführten Stichpunkte beziehen sich auf die in dieser Arbeit, in Kapitel 2, dargestellten Theorien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Vereinfachter zusammenfassender Überblick über Achtsamkeit in den verschiedenen Praxisfeldern. Eigene Darstellung

3. Kindererziehung

3.1 Familie und Erziehung

3.1.1 Blick in die Entwicklungsgeschichte

Das Thema der vorliegenden Arbeit lautet „Achtsamkeit in der familiären Kindererziehung“. Neben der Frage, was „Achtsamkeit“ bedeutet, stellt sich auch die Frage danach, wie „familiär“ und „Erziehung“ zu verstehen sind und wie es aus pädagogischer Sicht dazu gekommen ist, dass Achtsamkeit im Kontext der familiären Erziehung zu einem Thema werden konnte.

„Wie können Kinder sich entwickeln? Worauf haben Kinder Anrecht? Was brauchen Kinder? Was wollen Kinder?“ Dies sind die zentralen Fragen, mit denen sich der Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz[4] aus dem Jahr 2012, verfasst von Wustmann Seiler und Simoni, (vgl. S. 1),beschäftigt. Der Orientierungsrahmen gilt als das Referenzdokument für die frühe Kindererziehung und -Bildung in der Schweiz (ebd.). Dass diese Fragen überhaupt gestellt werden und dass ein solches Dokument existiert, ist aber keineswegs so selbstverständlich, wie es im ersten Augenblick den Anschein haben mag. Es ist das Resultat einer jahrhundertelangen Entwicklung. Die Überzeugung, dass Kinder ein Recht auf Erziehung und Bildung haben, verbreitete sich in Europa erst im Lauf des letzten Jahrhunderts. Diese Entwicklung wird als Voraussetzung für eine Diskussion über Achtsamkeit in der Kindererziehung gesehen. Die Verbreitung dieser Überzeugung geht einher mit einer Zunahme an Achtsamkeit. Deswegen wird im ersten Teil dieses Kapitels ein Blick in die Entwicklungsgeschichte von Erziehung, die zugleich auch die Entwicklungsgeschichte von Achtsamkeit in der Erziehung darstellt, geworfen (vgl. Kap. 3.1.1.).

Wie sich zeigen wird, sind die Begriffe „Familie“ und „Erziehung“ bzw. deren inhaltliche Bedeutung massgeblich durch den historischen Kontext bestimmt. Durch gesellschaftlichen Strukturwandel ändern sich auch ständig Bedingungen, Faktoren und Merkmale einer gelingenden Lebensführung, einer „guten“

[...]


[1] Das von David S. Black (Institute of Prevention Research, University of Southern California) erstellte Diagramm basiert auf den Ergebnissen der Suche nach dem Begriff „Achtsamkeit“ in der Inhaltsangabe und den Schlüsselwörtern der Datenbank ISI Web on Knowledge, wobei die Suche auf Veröffentlichungen mit englischer Inhaltsangabe beschränkt war.

[2] Eine deutsche Übersetzung dieser Definition könnte, nach der Forscherin, wie folgt lauten: Achtsamkeitstheorien beschreiben weitere Dimensionen, welche in ein alternatives Modell zu Achtsamkeit in der Kindererziehung passen könnten. Mehr, nicht weniger, theoretische Modelle werden schliesslich helfen, die empirische und angewandte Wissenschaft vorwärtszubringen.

[3] Im englischsprachigen Original heisst es: „Incorporating mindful awareness into parenting interactions can allow parents to stop and fundamentally shift their awareness in order to view their present-moment parenting experience within the context oft he long-term relationship that they have with their child, as well as attend to their child`s needs, while exercising self-regulation and wise choice in their actions“ (Duncan, Coatsworth & Greenberg 2009, S. 256).

[4] Der Orientierungsrahmen ist ein gemeinsames Projekt der UNESCO und des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz, erarbeitet vom Marie Meierhofer Institut, geschrieben von Corina Wustmann Seiler und Heidi Simoni. Es ist auf der Grundlage der Studie von Frau Prof. Margit Stamm (2009), Grundlagenpapier des Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz (2012), und einer eigens durchgeführten Delphi-Befragung mit Erziehungsexpertinnen und Experten aller verschiedenen Ebenen (vgl. S. 16) verfasst worden.

Ende der Leseprobe aus 132 Seiten

Details

Titel
Wie wichtig ist Achtsamkeit in der familiären Kindererziehung? Eine Untersuchung zur subjektiven Sicht der Eltern
Hochschule
Universität Zürich  (Insitut für Erziehungswissenschaft)
Veranstaltung
Lehrstuhl für Ausserschulische Bildung und Erziehung
Note
5.5 (Schweiz)
Autor
Jahr
2015
Seiten
132
Katalognummer
V320303
ISBN (eBook)
9783668279896
ISBN (Buch)
9783946458906
Dateigröße
2478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ausserschulische Bildung und Erziehung, Eltern, Familie, familiäre Erziehung, Achtsamkeit
Arbeit zitieren
Sonja Gross (Autor:in), 2015, Wie wichtig ist Achtsamkeit in der familiären Kindererziehung? Eine Untersuchung zur subjektiven Sicht der Eltern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320303

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