Die Mentalität des Wirtschaftswunderlands der 1950er und 1960er Jahre. Kritik an gesellschaftlicher Restauration in der Lyrik von Hans Magnus Enzensberger

Verschweigen, Vergessen und Vorwärtsdrängen


Hausarbeit, 2015

27 Seiten, Note: 12 (Bestnote in Dänemark)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Einführung in das Thema und Fragestellung
1.2 Struktur
1.3 Kommentar zur Themeneingrenzung und Werkauswahl
1.4 Methode und Theorie

2. Zeithistorischer Kontext: Die Nachkriegsgesellschaft der 50er und 60er Jahre

3. Gedichtanalysen
3.1 konjunktur
3.1.1 Form
3.1.2 Sprache und Stilistik
3.1.3 Interpretation
3.2 blindlings
3.2.1 Form
3.2.2 Sprache und Stilistik
3.2.3 Interpretation
3.3 middle class blues
3.3.1 Form
3.3.2 Sprache und Stilistik
3.3.3 Interpretation

4. Vergleich

5. Abschluss

Literaturverzeichnis

Anhang (Gedichte)

1. Einleitung

1.1 Einführung in das Thema und Fragestellung

Der 8. Mai 1945 markiert zweifellos einen der gravierendsten Einschnitte in der Geschichte, denn dieser Tag bedeutet das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Für Deutschland und seine damalige Bevölkerung stellte dieses Datum offenbar den Tag der Befreiung dar,1 der Eintritt des lang ersehnten Friedens. Doch ganz so einfach war das nicht, der 8. Mai hatte eine weitaus komplexere Bedeutung für dieses Land und diejenigen Menschen, die zwölf Jahre lang an das nationalsozialistische Regime glaubten und tatsächlich davon überzeugt waren, Deutschland könne und werde den Krieg gewinnen. Der 8. Mai war demnach für viele auch ein Tag der Niederlage und Enttäuschung, der beschämenden, bedingungslosen Kapitulation.

Dieser legendäre Tag markierte sowohl einen Bruch als auch Kontinuität. Der Krieg war aus, aber die überlebende deutsche Bevölkerung blieb bestehen. Was für eine Gesellschaft blieb zurück? Es herrschte eine Orientierungslosigkeit, denn die Zukunft der Deutschen war ungewiss;2 ohne jeden Übergang befand sich Deutschland in einem „politisch-kulturellen Vakuum“3. Von heute auf morgen gab es eine dunkle deutsche Vergangenheit, die angenommen, akzeptiert und vor allem hätte verarbeitet werden müssen.

In den folgenden Jahren ging alles ziemlich schnell, große geschichtliche Ereignisse überschlugen sich,4 und zugespitzt formuliert erblühte aus der deutschen Trümmerlandschaft schon bald ein Wirtschaftswunderland.5 Doch was war während der rasanten Zeit des Wandels mit der deutschen Bevölkerung und ihrer düsteren Vergangenheit geschehen? Wie hatte sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft6 im Laufe der nächsten Jahre entwickelt?

Viele Autoren haben diese Fragen zum Gegenstand ihrer Literatur gemacht, sie in ihren Werken thematisiert und zu klären versucht. Einige Schriftsteller - wie Hans Magnus Enzensberger - sind sogar noch einen Schritt weiter gegangen, sie haben die Entwicklung dieser Gesellschaft kritisiert und sich ihrer Literatur, ihrer Dichtung als Sprachrohr bedient, um ihrer Kritik Ausdruck zu verleihen.

In diesem Zusammenhang wäre es interessant, sich konkreten Gedichten dieses Literaten anzunähern. Hierbei stellt sich für mich die Frage: Wie und was kritisiert Hans Magnus Enzensberger in seinen Gedichten konjunktur, blindlings und middle class blues7 im Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit Vergangenheit und Gegenwart?

1.2 Struktur

Im Folgenden soll eine Analyse und Interpretation dreier Gedichte von Hans Magnus Enzensberger mit Fokus auf die gesellschaftskritischen Elemente vorgenommen werden.

Um zunächst einen Einblick in die deutsche Nachkriegsgesellschaft der 50er und 60er Jahre zu bekommen, soll zu Beginn die damalige zeitgeschichtliche Situation konzis dargelegt werden; dabei soll auf eventuelle Probleme eingegangen werden, mit denen diese Gesellschaft konfrontiert gewesen ist.

Anschließend folgen die Analysen und Interpretationen der Gedichte sowie ein kurzer Vergleich dieser.8 Inwiefern bestehen formale, sprachlich-stilistische und inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Ist eine Entwicklung erkennbar? Wo setzt Enzensberger seine Schwerpunkte?

Mit einer komprimierten Schlussfolgerung wird die Hausarbeit abgeschlossen.

1.3 Kommentar zur Themeneingrenzung und Werkauswahl

Der Begriff „Gesellschaftskritik“ soll den Leser als imaginären, aber omnipräsenten Wegbegleiter durch die hier vorliegende Arbeit führen, deshalb werden sowohl historisch-politische als auch sozialpsychologisch-kulturelle Überlegungen einbezogen; dennoch sollen die Gedichte Enzebergers stets im Vordergrund der Analyse stehen. Obgleich Hans Magnus Enzensberger eine sehr schillernde literarische Persönlichkeit ist,9 die bis heute unglaublich viel publiziert hat, werde ich mich ausschließlich mit den drei ausgewählten Gedichten auseinandersetzen.

Die Wahl ist auf die drei Gedichte konjunktur, blindlings und middle class blues gefallen, weil auf diese Weise jeweils ein Gedicht aus den Lyrikbänden verteidigung der wölfe (1957), landessprache (1960) und blindenschrift (1964) behandelt und hierdurch eine eventuelle Entwicklungstendenz festgestellt werden kann.

1.4 Methode und Theorie

Die hier anzuwendende wissenschaftstheoretische Methode ist eine hermeneutische, das heißt, dass die Analysen und Interpretationen in erster Linie mithilfe des eigenen Textverständnisses und einer subjektiven Analyse- und Aufnahmefähigkeit vorgenommen werden.10 Darüber hinaus werden die aus der textnahen Analyse („close reading“) gewonnenen Erkenntnisse mit denen der Sekundärliteratur verknüpft. Die Gedichtanalysen werden also sowohl anhand von literaturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen zur Ergründung Enzensbergers Lyrik als auch der eigenen intuitiven Erkenntnisfähigkeit getätigt. Diese Vorgehensweise ermöglicht ein vielfältigeres Verständnis der Gedichte, ohne jedoch unabänderliche oder definitive Resultate anzustreben.

2. Zeithistorischer Kontext: Die Nachkriegsgesellschaft der 50er und 60er Jahre

Hans Magnus Enzensbergers lyrisches Werk war und ist so eng mit den gesellschaftspolitischen Geschehnissen in Deutschland verbunden, dass ein gewisses -geringstenfalls lapidares - historisches Verständnis der 50er und 60er Jahre unerlässlich erscheint und einen Zugang zu den Gedichten erleichtern könnte.11 Bertolt Brecht hat einmal gesagt: „Man muß die Literatur nicht von der Literatur aus beurteilen, sondern von der Welt aus, zum Beispiel von dem Stück Welt aus, das sie behandelt.“12

Nach Kriegsende entschieden die alliierten Siegermächte, was fortan mit Deutschland geschehen würde. Schon bald etablierten sich zwei ideologische Fronten: die kommunistische Sowjetunion und der demokratisch-kapitalistische Westen, allen voran die USA, deren ideologischer Machtkampf u.a. auf deutschem Boden ausgetragen wurde; 1949 hatte der Kalte Krieg mit der Teilung Deutschlands seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.13 Dank der Währungsreform, des Marshallplans und der verhältnismäßig niedrig angesetzten Reparationsforderungen an Westdeutschland, stabilisierte sich die Wirtschaftslage in der Bundesrepublik ziemlich schnell. Für die Zeit von etwa 1950 bis 1973 sprach man sogar von einem sich abspielenden „Wirtschaftswunder“ in der BRD, was neben der politischen Blockkonfrontation das wichtigste „Ereignis“ der deutschen Nachkriegszeit darstellt. 14

Aus einer traumatisierten, in den Trümmern stehenden Nachkriegsbevölkerung entwickelte sich binnen weniger Jahre eine westdeutsche Wohlstandsgesellschaft. Es ist verständlich, dass diese massiven Veränderungen auch eminente gesellschaftliche Wandlungsprozesse zur Konsequenz haben würden.15 Westdeutsche Familien schafften sich im Laufe der fünfziger Jahre mehr langlebige Konsumgüter wie Radio- und Fernsehgeräte an, einige sparten auf ein Eigenheim. Hierbei wurden Ratenzahlungen oftmals vermieden, da diese als unsicher galten;16 „Das Streben nach Ruhe und Sicherheit der Westdeutschen hatte in den frühen fünfziger Jahren oberste Priorität.“17 Der von Konrad Adenauer proklamierte Leitsatz „Keine Experimente!“ wurde in vielerlei Hinsicht umgesetzt.18

Die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft der 50er und 60er Jahre war also eine Gesellschaft, die einen sehr rasanten, wirtschaftlichen Rehabilitierungsprozess durchlebte, dessen florierendes Endergebnis nicht mehr viel mit der dramatischen Ausgangslage der unmittelbaren Nachkriegszeit der 1940er Jahre gemein hatte.

Die Sozialpsychologen Alexander und Margarethe Mitscherlich schreiben der Nachkriegsgesellschaft in „Die Unfähigkeit zu trauern“ eine Tendenz zur Abstraktion zu, sie würden sowohl die Wirklichkeit, Wahrheit als auch die Vergangenheit „entwirklichen“, um sich nicht mit dem Geschehenen auseinandersetzen zu müssen.19 In dem Buch „Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern.“ von 1987 schreibt Margarethe Mitscherlich, dass eben diese Unfähigkeit zu trauern durch die ausschließliche Konzentration auf Konsum und Fortschritt für viele – wenn auch nur oberflächlich - kompensiert wurde.20

Zugespitzt formuliert könnte also festgehalten werden, dass der historische Identitätsverlust der deutschen Nachkriegsgesellschaft nach 1945 durch Wirtschafts- und Konsumideologie in der Adenauerära auszufüllen versucht wurde. Der Literaturwissenschaftler Walter Hinderer fasst dieses Phänomen prägnant zusammen: „so füllte die allgemeine Konsumfreudigkeit das nationale Identitätsvakuum.“21 Natürlich gab es nicht nur eine Art, wie in der Nachkriegszeit mit der Vergangenheit umgegangen wurde, dennoch kann mittlerweile behauptet werden, dass die Abwehrmechanismen, die Verdrängung der Vergangenheit im Gegensatz zur Aufarbeitung wohl überwogen.22

Enzensbergers frühe dichterische Schaffensperiode fällt also in eine Phase der wirtschaftlichen Konsolidierung und Westintegration, in der Konsum zum Leitmotiv der deutschen Nachkriegsgesellschaft wurde.23

3. Gedichtanalysen

Im vorangegangenen Passus wurde ein rudimentärer Einblick in die deutsche Nachkriegsgesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre vermittelt. Im Folgenden sollen nun die Analysen der drei Gedichte Enzensbergers mit Fokus auf die gesellschaftskritischen Elemente vorgenommen werden. Welche Aspekte der deutschen Nachkriegsgesellschaft werden in den Gedichten kritisiert? Wie gebraucht Enzensberger Form und Sprache, um seiner Kritik Ausdruck zu verleihen und auf welche Weise spielen diese Faktoren zusammen?

3.1 konjunktur

Das Gedicht konjunktur von Hans Magnus Enzensberger entstammt seinem ersten Lyrikband verteidigung der wölfe, welcher erstmals im Jahr 1957 erschienen ist. Dieser Gedichtband ist dreigeteilt in freundliche gedichte, traurige gedichte und böse gedichte, bei konjunktur handelt es sich um eines der bösen Gedichte.24

Es ist schwierig, vorab einführende Worte über den Inhalt dieses Gedichts zu formulieren, da das Ausgedrückte geradezu komplex und verworren erscheint.25 Dennoch kann aufgrund der vorhandenen Worte unvermittelt gesagt werden, dass es in konjunktur im weitesten Sinne darum geht, dass Angler eine unbekannte Gruppe mithilfe eines Köders anlocken (Strophe 1, Vers 1-4; S.2, V.9-10; S.4, V.23 u.26; S.5, V.29). In der ersten Strophe wird eben dieser „Lockversuch“ beschrieben, während aus der zweiten Strophe bereits hervorgeht, dass dieses Vorhaben geglückt zu sein scheint, denn der Haken schmeckt bereits nach Blut (S.2, V.9-10). In Strophe drei wird das Verhältnis zwischen den Anglern und der bisher noch nicht definierten Gruppe mit der Liebe eines Metzgers zu seiner Sau verglichen (S.3, V.21-22), was durch die Worte in der vierten Strophe nochmal verdeutlicht wird: „(…) sie weiden euch, sie warten.“ (S.4). In der fünften Strophe wird das Gedicht damit abgeschlossen, dass das „ihr“ geradezu darum bemüht ist, gefangen zu werden: „euch vor dem hunger fürchtend / kämpft ihr um den tödlichen köder.“ (S.5, V.28-29).

Näheres kann ohne eine tiefgreifendere Analyse nicht unmittelbar gesagt werden.

3.1.1 Form

Das Gedicht besteht aus fünf Strophen, welche jeweils drei bis zehn Verse beinhalten; insgesamt enthält konjunktur 29 Verszeilen. Auffällig ist, dass die Verslängen zwischen drei und acht Wörtern variieren, wobei einige Verse sogar ganze Sätze beinhalten (z.B. S.2, V.9; S.5, 27). Ein Reimschema ist hier nicht erkennbar, auch einzelne Reime sind in diesem Gedicht nicht vorhanden.

Obwohl kein Metrum ersichtlich ist, kann eine Form des freien Rhythmus wahrgenommen werden. Die parataktische Aneinanderreihung vieler Sätze wie: „ihr glaubt zu essen / aber das ist kein fleisch (…) das ist köder, das schmeckt süß“ (S.1, V.1,2,4) und die insgesamt 24 Interpunktionszeichen26 bewirken einen zuweilen stockenden, holperigen, aber auch dynamischen Rhythmus, der durch einige Enjambements verstärkt wird, wie z.B.; „vielleicht vergessen die angler/ die schnur (…)“ (S.1, V.5-6).

Wesentlich mehr Auffälligkeiten sind in Bezug auf die Sprache und Stilistik erkennbar, deren Herausarbeitung dazu dienen soll, sich der Essenz des Gedichts anzunähern.27

3.1.2 Sprache und Stilistik

Selbstverständlich können nicht alle sprachlichen Besonderheiten dargelegt werden, folgend wird eine Auswahl der relevantesten Merkmale thematisiert.

Zunächst kann ein Blick auf die Wortarten dazu verhelfen, den Zugang zu einem Gedicht zu erleichtern.28 In diesem Zusammenhang ist auffallend, dass kein konkretes lyrisches Ich genannt wird. Die Pronomen „ihr/euch“ (z.B. S.1, V.1,3) und „sie/ die Angler“ (bspw. S.3, V.20,21) stellen die beiden Seiten dar, um die es in diesem Gedicht geht. Die lyrische Erzählstimme bzw. das sprechende Subjekt positioniert sich nicht eindeutig, während es über diese beiden „Parteien“ spricht.29

In Bezug auf die Verben und Substantive fällt auf, dass auch diese gewissermaßen in zwei Kategorien von Wortfeldern eingeteilt werden können. Einerseits gibt es solche, die im übergeordneten Sinne mit Nahrungsmitteln, also Konsumgütern in Verbindung stehen, wie beispielsweise „essen“ (S.1,V.1), „füttern“ (S.1, V.3), „schmecken“ (S.1, V,4; S.2, V.9-10), „fasten“ (S.1, V.8), „fleisch“ (S.1, V.2), und „biscuit“ (S.2, V.9). Andererseits gibt es jene Wörter, welche die Stimmung des Gedichts aggressiv und hitzig erscheinen lassen, wie „reißen“ (S.2, V.11), „festkrallen“ (S.2, V.16-17), „weiden“ (S.4, V.26), „schlagen“ (S.5, V.27), „kämpfen“ (S.5, V.29), „blut“ (S.2, V.10) und „metzger“ (S.3, V.23). Sowohl die Zweiteilung der Pronomen in „ihr“ und „sie“ als auch die Unterteilung der Wortfelder in „Konsumgüter“ und „aggressiv-wirkende Wörter“ unterstreichen, dass es in diesem Gedicht zwei Fronten gibt, die sich klar und deutlich voneinander unterscheiden.

Enzensberger gebraucht einige sprachlich-stilistische Mittel, die uns das Gedicht näher bringen könnten. Zum Beispiel ist in der zweiten Strophe eine über vier Verse fortlaufende Alliteration erkennbar: „(…) biscuit / (…) blut/ (…) brühe/ (…) beresina!“ (S.2, V.9-12). Durch dieses stilistische Mittel wird Zusammengehörendes lautlich verknüpft und die Merkfähigkeit der Aussage erhöht. Unterbewusst werden diese vier Wörter nun miteinander in Verbindung gebracht, sodass etwas eigentlich Gutschmeckendes wie ein Biskuit mit etwas eher negativ Konnotiertem wie Blut und einer lauen Brühe vernetzt wird, um zuletzt auf Beresina, einen Fluss in Russland,30 zu verweisen.

Außerdem ist eine Anapher in der dritten Strophe augenfällig: „sie tragen zu euch die liebe des metzgers zu seiner sau./ sie sitzen (…) / sie weiden euch. / sie warten.“ Eine solche Anapher evoziert eine Verstärkung der Wirkung und präzisiert noch einmal die Kluft zwischen dem „sie“ und dem „ihr/euch“, darüber hinaus lässt die Wiederholung dieses Wortes das „sie“ schaudervoll und unheildrohend erscheinen.

Desweiteren sind Ellipsen wie zum Beispiel „gutes gedächtnis ziert die angler, alte erfahrung“ ersichtlich (S.3, V.19-20). Diese Auslassung von einzelnen Wörtern – unter anderem eines Finitums - erzeugt einen Eindruck von Eile, was wiederum gut zu dem in 3.1.1 beschriebenen Rhythmus passt.

Als letztes Beispiel für eine in diesem Gedicht vorhandene, sehr signifikante sprachliche Stilfigur, soll die in allen Strophen allgegenwärtige „Fischmetaphorik“ angeführt werden. Gleich zu Beginn werden die Bilder „angler“, „schnur“ und „köder“ eingesetzt (S.1, V.4-6), weiter geht es u.a. mit „haken“, „aus der lauen brühe reißen“ (S.2, V.9-11) und „weiden“ (S.4, V.26). Diese bildhaften Ausdrücke wirken gemeinsam wie ein komplex zusammengewobenes, aber durchaus durchdachtes Metaphernnetz31, das die Frage aufwirft: Geht es wirklich um Angler und Fische oder wird hier indirekt etwas ganz anderes angedeutet? Diesen Fragen soll nun in der Interpretation nachgegangen werden.

3.1.3 Interpretation

Die in diesem Passus vorgenommenen Deutungsversuche bauen auf die Abschnitte 3.1.1 und 3.1.2 auf. Die bisherigen Analyseergebnisse sollen dazu dienen, meine Behauptungen zu verifizieren; darüber hinaus wird auch Sekundärliteratur hinzugezogen, wenngleich diese bezüglich dieses Gedichts eher knapp bemessen ist. Zu Beginn muss allerdings gesagt werden, dass dem Lyrikband verteidigung der wölfe sozusagen als Vorwort eine Art Gebrauchsanleitung beigelegt ist, in welcher steht, dass die Gedichte als „Plakate, als Flugblätter“ verstanden werden sollen. Hiermit ist der öffentliche Charakter sowie der Rezeptionsanspruch der Gedichte ausgesprochen.32

[...]


1 „Der Tag der Befreiung“ ist eine Formulierung, die von Richard von Weiszäcker durch die Rede vom 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa geprägt wurde.

2 Herbert (2014): 546.

3 Schnell (2003): 62.

4 Eine detailliertere Darlegung der deutschen Nachkriegsgesellschaft der 50er und 60er Jahre folgt in Kap. 2.

5 Herbert (2014): 619.

6 Natürlich gab es keine homogene deutsche Nachkriegsgesellschaft im engeren Sinne. Dennoch können generelle Entwicklungstendenzen herausgearbeitet werden, vgl. Kap. 2.

7 In den jeweiligen Erstausgaben waren die Gedichte in konsequenter Kleinschreibung verfasst, in den aktuelleren Ausgaben dominiert zuweilen die Großschreibung. Diese Hausarbeit orientiert sich an den Erstausgaben, deshalb wird die Kleinschreibung übernommen.

8 Einzelne Vergleiche werden jedoch auch fortlaufend während der einzelnen Analysen vorgenommen.

9 Schlösser (2009): 7.

10 Vgl. zur hermeneutischen Analysemethode Schweikle (1990): 197-198 unter „Hermeneutik“.

11 Hinderer (1994): 235-236.

12 Op. cit. 12.

13 Herbert (2014): 549.

14 Op. cit. 619-620, 643.

15 Op. cit. 682-683.

16 Ebd.

17 Op. cit. 678.

18 Preuße (1989): 18.

19 Vgl. „Die Unfähigkeit zu trauern“ – eine skeptische Generation? In: Bark et al. (2002): 43-44.

20 Hinderer (1994): 121.

21 Op. cit. 24.

22 Behaupten u.a. Hinderer (1994): 116 und Herbert (2014): 696-697.

23 Preuße (1989): 17.

24 Alle drei Gedichte sind im Anhang enthalten.

25 Laut Michael Hoffmann ist es ein Merkmal der frühen Lyrik Enzensbergers, dass die Texte unmittelbar schwer verständlich sind. Vgl. Hoffmann (1994): 183.

26 Neun Kommata, acht Punkte, jeweils Kolons, Klammern und Ausrufungszeichen und ein Fragezeichen.

27 Helmut Schanze schreibt der Form in Enzensbergers Gedichten eher eine sekundäre Rolle zu, viel wichtiger sei Enzensberger der Inhalt. Vgl. Schanze (1988): 246.

28 Burdorf (1997): 135.

29 Ob die lyrische Erzählstimme sich aber indirekt positioniert, wird erst in 3.1.3 diskutiert.

30 Siehe auch „die Schlacht an der Beresina“, eine Schlacht zwischen Napoleon und dem russischen Zaren Alexander I 1812.

31 Auch „Metaphernfeld“ oder „metaphorische Konzeptualisierung“ genannt. Begriffe aus: Schröter (2009): 44.

32 Lampart (2013): 425. Auf die evtl. Intention des Verfassers wird in Punkt 4 noch näher eingegangen.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die Mentalität des Wirtschaftswunderlands der 1950er und 1960er Jahre. Kritik an gesellschaftlicher Restauration in der Lyrik von Hans Magnus Enzensberger
Untertitel
Verschweigen, Vergessen und Vorwärtsdrängen
Hochschule
Aarhus Universitet  (Ästhetik und Kommunikation)
Note
12 (Bestnote in Dänemark)
Autor
Jahr
2015
Seiten
27
Katalognummer
V320409
ISBN (eBook)
9783668193260
ISBN (Buch)
9783668193277
Dateigröße
480 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Note entspricht einer 1 in Deutschland (15 Punkte)
Schlagworte
mentalität, wirtschaftswunderlands, jahre, kritik, restauration, lyrik, hans, magnus, enzensberger, verschweigen, vergessen, vorwärtsdrängen, Nachkriegszeit, Nachkriegsdeutschland, Trümmerliteratur, Erinnerungskultur, Nationalsozialismus Nachkriegsdeutschland
Arbeit zitieren
Sina Eck (Autor:in), 2015, Die Mentalität des Wirtschaftswunderlands der 1950er und 1960er Jahre. Kritik an gesellschaftlicher Restauration in der Lyrik von Hans Magnus Enzensberger, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320409

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