"Tschick" als Bildungsroman?

Eine Analyse von Wolfgang Herrndorfs Meisterstück


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

26 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Der deutsche Bildungsroman

3. Tschick
3.1. Reise
3.2. Identität
3.3. Freundschaft, Adoleszenz und Sexualität
3.4. Elemente des Abenteuer- und Jugendromans?

4. Herrndorfs Sprache und Stil:

5. Fazit

Bibliographie:

1. Einleitung

Die hier vorliegende Arbeit widmet sich Wolfgang Herrndorfs 2010 erschienenen Roman Tschick, der in 24 Sprachen übersetzt und bereits in divergenten Bühnenstücken gezeigt wurde und der nun verfilmt wird. Zudem soll die Arbeit v.a. auf die Frage, ob Tschick als Bildungsroman gelten kann, Auskunft geben.

Zu diesem Zweck behandelt das erste Kapitel die Thematik des Bildungsromans im Allgemeinen und versucht, einen klaren Begriffsumriss herauszustellen und zu charakterisieren, an Hand dessen die Analyse des Romans im nachfolgenden Kapitel orientiert ist. Hier werden v.a. typische Elemente und Motiviken des Bildungsromans in Tschick herausgestellt und es wird zudem gezeigt, inwiefern der Roman vielleicht ebenfalls als Abenteuer-, bzw. Jugendroman zu klassifizieren ist. Im letzten Kapitel wird noch einmal auf den Sprachgestus im Roman und den Herrndorf'schen Stil eingegangen.

Alles in Allem sollen in dieser Arbeit nicht nur für den Bildungsroman typische Elemente in Wolfgang Herrndorfs Tschick herauskristallisiert und analysiert werden, sondern es sollen zudem auch eventuelle Ambiguitäten bei der Klassifizierung des Romans apostrophiert werden, wodurch zuletzt auch der einmalige Sprachstil Herrndorfs und das Potential solch (vielleicht) nicht luzid rubrizierbarer Literatur expliziert werden soll.

Zunächst jedoch einige kurze biographische Angaben zum Autor:

Wolfgang Herrndorf wurde am 12. Juni 1965 in Hamburg geboren und absolvierte ein Kunststudium. Nachdem er im Anschluss an sein Studium zunächst als Illustrator für u.a. das Satiremagazin Titanic tätig war, begann seine Karriere als Schriftsteller eher zufällig, während einer Tätigkeit beim Verlagswesen. Sein 2002 erschienener Debut-Roman In Plüschgewittern fand zwar zunächst noch wenig Anklang, doch bereits 2004 gewann Herrndorf bei einem Schriftsteller-Wettbewerb den Publikumspreis für eine Kurzgeschichte, die drei Jahre später nebst anderen in Diesseits des Van-Allen-Gürtels veröffentlicht wurde, und 2012 erhielt er sogar den Preis der Leipziger Buchmesse für sein 2011 publiziertes Werk Sand. 2010 erkrankte Herrndorf an einem Hirntumor und begann sein Leben und den aussichtslosen Kampf gegen die tödliche Krankheit in seinem Blog Arbeit & Struktur, der 2013 sogar als Roman erschien, zu dokumentieren. Im August 2013 nahm er sich nach langem Kampf gegen den Tumor im Alter von 48 Jahren in Berlin das Leben (Vgl.: Anonym: Wolfgang Herrndorf ist tot., 2013).

2. Der deutsche Bildungsroman

Der Begriff Bildungsroman lässt sich nur recht diffus definieren:

Der Typus des Bildungsromans entstand in Deutschland gegen Ende des 18. Jh. und thematisierte i.d.R. den Bildungs- und Werdegang „eines jugendlichen Protagonisten zumeist von der Kindheit bis zur Berufsfindung“ (Gutjahr 2007, S.07). Einer der ersten Bildungsromane seiner Zeit und der wohl bekannteste seiner Art ist Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, der laut Kohn gleichsam als „Ausgangspunkt des 'Bildungsromans' schlechthin und, was noch schwerer wiegt, […] [als] Maßstab und grundlegende[...][s] Paradigma dafür, was in seiner Folgezeit als 'Bildungsroman' bezeichnet werden kann und was nicht“ (Tiefenbacher 1982, S.12). Zwar werden auch moderne Bildungsromane oft (wenn nicht gar immer) mit ihrem „Vorläufer“ Wilhelm Meister verglichen, doch hat sich sich die Definition des Bildungsromans im Laufe der Zeit modifiziert:

„Goethes Werk zeigt menschliche Ausbildung in verschiedenen Stufen“, wie es der initialen Definition als Roman, „dem es 'auf allgemeine, reinmenschliche Bildung' ankommt“ und der „des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt“ und somit zugleich „des Lesers Bildung in weiterm [!] Umfange als jede andere Art des Romans, fördert“ – so Morgenstern –, entspricht (Kohn 1969, S.01-05). Das Hauptaugenmerk lag also bereits hier schon auf der inwendigen Geschichte der Heldenfigur, die sich quasi als modernere Figur einer Art neuen Rittertums – so Hegel – in verschiedenen Situationen, Stufen und Lebenslagen beweisen muss (Selbmann 1994, S.07-14).

„Gattungstypologischer Kern“ war – und ist in diesem Sinne immer noch – „die Entwicklungsgeschichte“ des „Protagonisten bis ins Erwachsenenalter […] als Weg der Selbstfindung und zugleich sozialen Integration […] über Konflikt- und Krisenerfahrungen“, wobei der Protagonist eine „Abfolge von Bildungssituationen“ durchläuft, indem er sein Können und Talent „unter Beweis […]stellt und die Realisierungsmöglichkeit von Lebensplänen [...]prüft“, während er „Selbstreflexions- und Reifungsprozess[e]“ durchlebt, d.h., der Begriff Bildungsroman meint in diesem Sinne die Darstellung des Prozesses der „Reifung eines Protagonisten, der in spannungsvoller Auseinandersetzung mit sozialen Ordnungen und der natürlichen Umwelt das Ziel verfolgt, eine seinen Wünschen angemessene und zugleich gesellschaftlich kompatible Lebensform zu finden“ (Gutjahr 2007, S.08). Insofern thematisiert der Bildungsroman das Bestreben nach Bildung und Identitätsfindung im Reifungsprozess des Älterwerdens und der Suche nach einem Lebenssinn. Zu beachten ist auch, dass der Protagonist meist männlich ist (Vgl.: Ebd.).

Neben der allgemeinen Handlung des Romans spielt also immer auch die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung des Protagonisten eine Rolle sowie auch alle sich darauf auswirkenden Faktoren. In diesem Zusammenhang sind auch typische Motive des Bildungsromans zu nennen, wie bspw. das Reisemotiv – und in diesem Konnex auch das Aufeinandertreffen und die Kontroverse mit anderen Figuren – und das Erleben von Abenteuern (Vgl.: Ebd, S.42f). Auf Grund dessen, dass der Bildungsroman die Geschichte eines Protagonisten, der nach Dilthey „in das Leben tritt“, sich stets auf der Suche nach divergenten Gegebenheiten (Liebe, Freundschaft, Lebenssinn, etc.) befindet und dabei mit der Welt konfrontiert wird „und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift und sich selber und seiner Aufgabe in der Welt“ gewiss zu werden vermag, thematisiert, sind ebenfalls Thematiken wie Dissensen mit dem Elternhaus und Erziehungsinstitutionen, erwachende Sexualität und (erste) erotische Erfahrungen, Situationen der „Selbsterprobung“ in divergierenden Situationen und gegebenenfalls „auch der Kontakt zum öffentlich-politischen Leben“, oftmals im Bildungsroman zu finden (Ebd., S.45f).

Alles in Allem geht es also v.a. um die Entwicklung und „Entfaltung des Individuums aus sich selbst heraus“ und im Kontext seiner Umwelt, weshalb Jacob es so formuliert, dass einem Roman dann „das Schema eines Bildungsromans zugrunde“ liegt, wenn er „letztlich zur Formulierung eines Lebensziels führt und dieses in der Lebensgeschichte eines exemplarischen Individuums [...] beglaubigend gestaltet ist“, d.h., es geht um die Darlegung von „Auseinandersetzung[en] des Individuums mit seiner Umwelt“, die „im idealen Fall auf die Selbstverwirklichung“ des Selbigen „zu einer umfassend gebildeten Persönlichkeit“ führt (Tiefenbacher 1982, S.13ff). Dass mit dieser Entwicklung sowohl positive Erfahrungen als auch Enttäuschungen verbunden sein können, ist quasi selbstredend, ist die Begebenheit, die der (typische) Bildungsroman erzählt, ja gleichsam die Fiktion einer realistisch denkbaren Lebensgeschichte; es ist (quasi) die Darstellung eines humanitären Entwicklungsschematas an Hand „innerer und äußerer Konflikte, deren Bewältigung dem Ich eine zunehmende Autonomie […] einbringt“ (Ebd., S.59f). Im sich im Laufe der Zeit veränderten Bildungsroman geht es dabei bei der Darstellung von Konflikten im Besonderen auch um den Einbezug aktueller und der entsprechenden Zeit angepasster Problematiken, d.h. der Bildungsroman entwickelte sich mit der Zeit „vom Gehalt her“ weiter, so wie sich auch die dargestellten Entwicklungsstadien des Individuums verändert haben, wodurch eine „zunehmende Komplexität“ und eine „intellektuelle Abstraktion der Gehalte“ entsteht, wobei die im – wenn man so möchte – modernen Bildungsroman beschriebenen Entwicklungsstadien insofern von den sozialen, politischen und technischen Neuerungen im Laufe der Zeit beeinflusst wurden, als dass sich auch die für das Individuum zu bewältigenden Situationen – und damit auch die Identitätsbildungsprozesse – gewandelt haben (Kohn 1969, S.43)1 ; der Kern des Bildungsromans bleibt jedoch identisch: „die epische Struktur des 'suchenden Helden', der versucht, etwas „Absolutes“ zu erreichen, wodurch der Bildungsroman in gewisser Weise immer auch einen utopisch und vielleicht unrealistischen anklingenden Beigeschmack bekommt (Ebd., S.88).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass – obwohl der Bildungsroman sich im Laufe der Zeit gewandelt und weiterentwickelt hat und „die Forschung [auch] bis heute nicht zu einer [eindeutigen] Lösung der 'Bildungsproblematik' gelangt ist“ (Ebd., S.02)–, die Erzählung der Entwicklungs-Story eines exemplarischen Heros quasi eine „epochenübergreifende, literaturgeschichtlich konstante Grundstruktur“ darstellt und dass sich zudem in gewisser Weise auch die Romanstruktur an sich „fortentwickelt, als mache [auch] die Geschichte des Bildungsromans selber einen Bildungsprozeß [!] durch“ (Selbmann 1994, S.17-31). In diesem Sinne ist es „entscheidendes poetologisches Kennzeichen des Bildungsromans“, dass „der Erzählprozess selbst als Bildungsprozess gefasst“ wird und der Bildungsroman „demnach nicht nur die Bildung eines Protagonisten zum Thema“ hat, sondern ebenfalls „diese Entwicklung durch spezifische narrative Strategien“ entfaltet (Gutjahr 2007, S.41). Zudem lässt sich hier interpretieren, dass die „Darstellung eines [solchen] über Höhen und Tiefen des Menschseins führenden Bildungsgangs [hin] zu einem gereiften, [quasi] vervollkommneten Individuum“ auch als „Erziehung seiner Leser“, bzw. als anregende und beispielhafte Lebensführung für diesen verstanden werden könnte (Tiefenbacher 1982, S.17), da er durch die Darstellung des Inneren des Helden und die damit verbundene Identifikationsmöglichkeit „mit seinem eigenen Inneren vertraut und gleichsam zu einem modernen, den Anforderungen der [entsprechenden] Zeit gewachsenen Menschen herangebildet“ wird (Gutjahr 2007, S.49). So gesehen stellt der Bildungsroman eine Art Handwerkszeug dar, um auch „der Problematik des [jeweils] zeitgenössischen Menschen Stimme zu verleihen“, da es sich im Großen und Ganzen „um die [quasi] zu versöhnende Polarität“ der Problematik „der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der jeweils geltenden Welt“ handelt (Tschirner 1989, S.47). Weiterhin beziehen sich alle dargestellten Ereignisse und Figuren i.d.R. auf irgendeine Weise auf den Protagonisten sowie die Erzählung der erlebten Ereignisse meist nicht nur aus der Perspektive des Selbigen (exemplarisch ist die Instanz des Ich-Erzählers), sondern zumeist auch chronologisch nachfolgt (Vgl.: Ebd., S.49). Abgesehen davon wird – v.a. in den moderneren Bildungsromanen – eine von sozialen Ungerechtigkeiten geprägten Gesellschaft repräsentiert, wodurch einzelne Problematiken, Situationen, etc. noch zusätzliche Komplexität erlangen, und es besteht zusätzlich die Möglichkeit, dass auf ein herkömmliches Happy-End verzichtet wird und stattdessen ein offenes Romanende steht (Vgl.: Ebd., S.177).

3. Tschick

Tschick erzählt die Geschichte von Maik Klingenberg, der zwar in sozial gehobeneren Verhältnissen, aber mit einer Alkoholikerin als Mutter und einem zu Wutausbrüchen und Gewalttätigkeit neigenden Vaters in zerrütteten Familienverhältnissen in Berlin aufwächst. Auch in der Schule ist Maik nicht sehr beliebt, sondern ein langweiliger Außenseiter, der daran jedoch gerne etwas ändern würde, um seiner großen Liebe Tatjana Cosic zu imponieren. Als der neue Schüler Andrej Tschichatschow in die Klasse kommt, ist Maik nicht mehr der einzige Außenseiter und nach einer Weile befreunden sich die beiden Jungen und begeben sich in einem gestohlenen Lada auf einen wilden und abenteuerreichen Road-Trip durch Deutschland, um einfach Mal was zu erleben.

3.1. Reise

Wie bereits konstatiert ist das Motiv der Reise oftmals in Bildungsromanen zu finden: Das suchende Ich begibt sich auf Reisen, um Antworten auf seine Fragen bzw. sich selbst, zu finden und wächst derweil an den ihm dabei begegnenden Aufgaben und entwickelt sich so weiter. „Gerade die Möglichkeit, [zahlreiche] Erfahrungen der realen Welt […] auf der Suche“ zu sammeln, „macht das Motiv der Reise […] [so] erfolgreich (Fisch 2001). D Erlebnisse während der Reise bieten die Potenzialität, den Erfahrungshorizont zu erweitern, da sie „dem Reisenden die Begegnung mit [...] Ausschnitten der Welt und den Einblick in die Bedingungen des Lebens“ ermöglichen (Ebd.).

Pauschal betrachtet sind die Gründe für eine Reise mannigfaltig: die Suche nach Antworten, das Sammeln von Erfahrungen, etwas Neues kennenlernen, die Loslösung vom Alltäglichen, oder auch nur die Sehnsucht und Neugier nach der Ferne und dem Fremden (Vgl.: Moenninghoff 2013, S.05). So beschließen auch Maik und Tschick einfach „Urlaub“ zu machen:

„'Und wenn wir einfach wegfahren?', fragte er. 'Was?' 'Urlaub machen. Wir haben doch nichts zu tun. Machen wir einfach Urlaub wie normale Leute. […] Der Lada und ab.' [...] 'Im Ernst', sagte ich. 'Nehmen wir mal an, wir machen das. […] Wo willst du denn überhaupt hin?' 'Ist doch egal.' 'Wenn man wegfährt, wär irgendwie gut, wenn man weiß, wohin.' 'Wir könnten meine Verwandtschaft besuchen. Ich hab einen Großvater in der Walachei.' […] Tatsächlich fing der Gedanke langsam an, mich zu beschäftigen. Aber kaum war Tschick gegangen, löste[...] sich […] alles […] in Nebel auf und verschwand[...], und zurück blieb ein elendes Gefühl […] und in diesem Moment hätte ich wirklich einiges dafür gegeben, in der Walachei zu sein oder sonst wo auf der Welt, nur nicht in Berlin“ (T, S.95-100).

[...]


1 Für den genaueren Zusammenhang mit Identität siehe nachfolgendes Kapitel.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
"Tschick" als Bildungsroman?
Untertitel
Eine Analyse von Wolfgang Herrndorfs Meisterstück
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Hauptseminar Literaturdidaktik
Note
1,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
26
Katalognummer
V320429
ISBN (eBook)
9783668195929
ISBN (Buch)
9783668195936
Dateigröße
447 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tschik, Herrndorf, Bildungsroman, Reise, Identität, Adoleszenz
Arbeit zitieren
Stefanie Weber (Autor:in), 2016, "Tschick" als Bildungsroman?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320429

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