Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Entwicklung der kindlichen Sprache
2.1 Der Entwicklungsbereich der Wahrnehmung
2.2 Voraussetzungen / Bedingungen für den ungehinderten Spracherwerb
2.3 Bestimmende Faktoren - familiäre Umwelt mit Interaktions- und
Sozialisationsprozessen
2.4 Ebenen der Sprachentwicklung
2.4.1 Die pragmatisch-kommunikative Ebene
2.4.2 Die phonetisch-phonologische Ebene
2.4.3 Die semantisch-lexikalische Ebene
2.4.4 Die syntaktisch-morphologische Ebene
2.4.5 Die Entwicklung des Sprachverständnisses
2.4.6 Die Entwicklung des Redeflusses
2.4.7 Die Entwicklung des Sprachgefühls
2.5 Zum zeitlichen Verlauf von Sprachentwicklungsprozessen
2.6 Zusammenfassung
3. Störungen der Sprachentwicklung
3.1 Der Begriff der Sprachentwicklungsstörung
3.2 Ausgewählte Erscheinungsformen
3.2.1 Störungen auf der phonetisch-phonologischen Ebene
3.2.2 Störungen auf der semantisch-lexikalischen Ebene
3.2.3 Störungen auf der syntaktisch-morphologischen Ebene
3.3 Zusammenfassung
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Fähigkeit, Sprache zu erwerben und Sprache zu gebrauchen, ist im Menschen angelegt. Der Erwerb der Sprache selbst ist ein Lern- und Entwicklungsprozess, der einerseits die Sprachfähigkeit als Anlage voraussetzt, andererseits aber weitgehend von der Umwelt des Kindes abhängig ist, d.h. sich nur in einer sprechenden Umgebung vollziehen kann. Sprechen lernen ist nicht die Leistung eines Kindes allein, sondern die Eltern haben einen ebenso wichtigen Anteil wie das Kind selbst. Sprache erlernt das Kind sicher auch über das Hören und Nachahmen von Sprachvorbildern, über Übung und Wiederholung. Nach KLEINERT-MOLITOR bedarf es aber zuerst vielfältiger und ausgewählter kommunikativer (Spiel-)Handlungsangebote, die aus sich heraus auf Versprachlichung drängen und in denen Sprache beobachtbar wird (vgl. dies. 1988, S.112). Die Sprache entwickelt sich langsam und in einer bestimmten Abfolge. Das Kind muss bestimmte Entwicklungsprozesse durchlaufen, um über die Fähigkeiten zu verfügen, Sprache erwerben und anwenden zu können. Fehlen die sprachlichen Anregungen und sozialen Kontakte zwischen Eltern und Kind, so kann es zu Störungen der Sprache kommen (vgl. SCHINDLER, dgs e.V. / Internet). Das heißt nicht, dass allein die Eltern für spezifische Sprachentwicklungsstörungen ihrer Kinder verantwortlich sind. Ganz sicherlich ist die Sprachentwicklungsstörung multikausal bedingt.
Sprachentwicklungsstörungen treten in ihrer Bedeutung neben anderen im Kleinkindalter auftretenden Beeinträchtigungen häufig in den Hintergrund und finden deshalb nicht die notwendige Beachtung. Sie sind nicht als isolierte, einseitige Störungen zu sehen. Die individuelle Sprachentwicklung ist, wie erwähnt, vielmehr ein Produkt der Auseinandersetzung des Kindes mit den Menschen und Gegenständen seiner Lebenswelt und damit ein Teil seiner gesamten Persönlichkeitsentwicklung. Sprachentwicklungsstörungen sind demnach komplexe Beeinträchtigungen, auf die die Umwelt wesentlichen Einfluss hat und die in einem Wechselverhältnis zu anderen Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung stehen. Hierzu gehören: Wahrnehmung, Motorik, Kognition, Emotion und Soziabilität.
2. Die Entwicklung der kindlichen Sprache
„Um (Sprache) zu lernen, genügt es nicht, einfach das Material zur Verfügung zu haben [...]. Wir müssen entdecken, was notwendig ist, um das System zum Funktionieren zu bringen.“
NOAM CHOMSKY
2.1 Der Entwicklungsbereich der Wahrnehmung
Nach den Untersuchungen PIAGETs entwickelt sich die Sprache und mit ihr die begriffliche Intelligenz aus der sensomotorischen, also der vorsprachlichen Intelligenz (vgl. PIAGET & INHELDER 1996, S.15 ff.). Die Entwicklung der Sprache beruht auf der Ausbildung von Wahrnehmung und Motorik. Voraussetzung für den Spracherwerb ist, dass die sensomotorischen Fähigkeiten ein gewisses Entwicklungsniveau erreicht haben. Leistungen, die entwicklungsmäßig einer höheren Stufe entsprechen, erscheinen erst dann, wenn genügend Leistungen vorhanden sind, die entwicklungsmäßig einer tieferen Stufe entsprechen. Das bedeutet, dass ein direkter hierarchischer Zusammenhang zwischen einzelnen Entwicklungsstufen besteht. Eine komplexere Leistung wird erst dann beobachtbar, wenn das Kind ein gewisses Ausmaß an einfacheren Leistungen erworben hat. Wahrnehmungsleistungen beginnen sich bereits auf einer früheren Stufe zu entwickeln als die Sprache. Daraus kann gefolgert werden, dass angemessene Wahrnehmung die Voraussetzung für die Sprachentwicklung ist. Auch SZAGUN hat den Zusammenhang von Sensomotorik und ersten sprachlichen Bedeutungen in der kindlichen Entwicklung untersucht und kommt zu der abschließenden Bewertung, dass eine recht gute Korrespondenz zwischen sensorischen Vorstellungen und sprachlichen Bedeutungen festgestellt werden kann. „Im Sinne einer genetischen Erklärungsweise kann man sagen, dass die Haupterrungenschaften der sensomotorischen Intelligenz eine Vorbedingung der sprachlichen Bedeutungen sind“ (SZAGUN 1996, S.92).
„Wahrnehmungsschwierigkeiten bei sprachgestörten Kindern sind daher grundlegender als die Sprachstörungen selbst. Fortschritte sprachgestörter Kinder im Verlauf einer Therapie betreffen daher zuerst vorsprachliche, sensomotorische Leistungen“ (WIRTH 2000, S.129).
Mit zunehmendem Lebensalter und Entwicklungsniveau verliert die Wahrnehmung im Gesamtkontext der Entwicklungsbereiche an Bedeutung. Ihre Dominanz zeigt sich jedoch in Konfliktsituationen. „Widersprechen sich Informationen verschiedener Sinneskanäle, wird immer der visuellen Wahrnehmung gefolgt“ (PIEPER 1979, S.41).
Die Begriffe „Sensomotorik“ und „Psychomotorik“ sind Ausdruck dieser Auffassung, dass Wahrnehmung und Bewegung als Einheit zu verstehen sind, die sich mit den jeweiligen Umweltbedingungen ändern.
2.2 Voraussetzungen / Bedingungen für den ungehinderten Spracherwerb
Sprache kann nicht isoliert betrachtet werden, da sie in einem komplizierten Beziehungsgefüge zu anderen Entwicklungsdimensionen steht, d.h. die Entwicklung der Sprache verläuft nicht getrennt von der Entwicklung anderer Fähigkeits- und Leistungsbereiche. Ebenso reagiert sie auf vielfältige positive und negative Umwelteinflüsse und -angebote.
Damit Sprache sich entwickeln kann, müssen unter anderem organische Voraussetzungen gegeben sein. Dazu gehören ein funktionsfähiges Gehirn mit intakten Nervenbahnen und die beiden Gehirnzentren Broca- (Sprachmotorik) und Wernicke- (sensorisches Sprachzentrum zur Entschlüsselung empfangener Symbole). Außerdem sind für den ungestörten Spracherwerb ein Atmungs-, Stimm- und Lautbildungsapparat sowie ein intaktes Gehör unerlässlich.
Eine weitere Bedingung für den Spracherwerb wird durch eine altersgemäße motorische Entwicklung gegeben. Die Kontrolle über Bewegungen der Körperteile, die für das Sprechen zuständig sind, ist, neben einer exakten Sinneswahrnehmung der von außen auf das Kind einströmenden Reize (Gehörtes, Gesehenes), aber auch solcher Sinnesreize (z.B. „Spüren“), die Information über die Lage einzelner Körperteile geben, ausschlaggebend. Sie gelingen nur durch Inanspruchnahme gut funktionierender sensomotorischer Systeme, das heißt bei entwickelter Integrationsfähigkeit des Gehirns (vgl. Brand 1988, S.97).
Das Kind benötigt eine gute Figur-Grund-Wahrnehmung, vor allem im auditiven Bereich. Diese Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt sich durch die Bewegung bereits in sehr frühem Alter. Aus den bisher genannten Vorbedingungen für den Spracherwerb, die nur einige von vielen sind, wird deutlich, wie eng und grundlegend die Verbindungen zwischen Bewegung und Sprache sind.
Weiterhin spielen psychische Fähigkeiten, die für die Verarbeitung von Informationen zuständig oder Voraussetzung für Konzentration oder Aufmerksamkeit sind, eine wichtige Rolle.
Die soziale Atmosphäre, in der das Kind sprachliche Anregungen erhält und sich angenommen fühlt, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weshalb sich das folgende Kapitel hauptsächlich daran orientiert.
2.3 Bestimmende Faktoren - familiäre Umwelt mit Interaktions- und Sozialisationsprozessen
Der kindliche Spracherwerb erfolgt im Rahmen des vorschulischen Sozialisationsprozesses, bei dem neben sprachlichen Regeln auch nonverbale und emotionale Ausdrucksmöglichkeiten als situativ angemessene Kommunikationsmuster erlernt werden. Dieser Prozess der stufenweisen Integration in die Sprachgemeinschaft vollzieht sich zunächst innerhalb der unmittelbaren familiären Umwelt. Nach und nach erweitert sich diese unter Hinzunahme des erweiterten sozialen Umfeldes. Dabei tritt eine Vielzahl an intervenierenden Variablen auf.
Im Rahmen dieses Sozialisationsprozesses erweist sich die Familie als wesentlicher Faktor bei der Vermittlung von grundlegenden sprachlichen und sozialen Verhaltensformen. Durch das wechselseitige Agieren des Kindes mit seiner Bezugsperson entwickeln sich spezifische Kommunikationsstrukturen, die zur Basis für differenzierte Strategien der Realitätserschließung werden.
Von großer Bedeutung für die spätere soziale, emotionale und sprachliche Entwicklung, ist der bereits unmittelbar nach der Geburt sich wechselseitig bedingende Dialog bzw. die frühkindliche Interaktion zwischen Mutter (Vater) und Neugeborenem (Mutter-Kind-/Vater-Kind- Dyade).
„Bereits in den ersten Lebensmonaten ist die Kontaktaufnahme durch eine wechselseitige Beeinflussung und eine kreisförmige Gegenseitigkeit gekennzeichnet, die aufeinander abgestimmt erscheint. Charakteristisch für den Ablauf ist ein Aktivitätszyklus, bei dem sich das Kind verbal oder nonverbal äußert und die Mutter kommentierend darauf eingeht“ (JOCHENS 1979, zit.n. GROHNFELDT 1993, S.29).
Insgesamt bedient sich die Mutter bzw. bedienen sich die unmittelbaren Bezugspersonen im Umgang mit dem Kind vereinfachter Sprachmuster. Unbewusst wird dabei langsamer und mit deutlicher Artikulation gesprochen. Es werden kürzere und syntaktisch einfachere Sätze bei veränderter Wortwahl und Stimmlage verwendet.
Während dieser ganzen Entwicklungsphase ist der Aufbau von Urvertrauen ein zentraler Aspekt. Die Bezugsperson muss für das Kind unmittelbar verfügbar sein und ihre Reaktion muss als konstant und einheitlich erlebt werden. Ansonsten kann das Kind aus Gründen von Trennungsangst in seiner emotionalen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung stagnieren. Diese Angst kann durch die Fähigkeit der Mutter vermieden werden, das sich lösende Kind jederzeit in die vertraute Geborgenheit aufzunehmen. Die das selbständige Wachstum des Kindes gestattende, als beglückend und einfühlsam erlebte Dyade des Kindes mit seiner Bezugsperson vermittelt damit die Sicherheit, die zur Voraussetzung für notwendige Ablösungsprozesse in der weiteren Entwicklung wird.
Hier stellt sich die Frage, inwieweit prinzipiell ein Zusammenhang zwischen bestimmten Familienstrukturen und dem Auftreten von Sprachentwicklungsstörungen bestehen könnte.
Dies ist jedoch nur eine, für mich allerdings bedeutende Facette im komplizierten Beziehungsgefüge Sprache.
Im Verlauf der Arbeit wird der Aspekt der Interaktion u.a. bei BRUNER, aber auch im Zusammenhang mit den Prinzipien der Integrierten Sprach- und Bewegungstherapie von OLBRICH nochmals aufgegriffen.
2.4 Ebenen der Sprachentwicklung
Der ganzheitlich ablaufende Vorgang des Erlernens der kindlichen Sprache wird im allgemeinen in vier verschiedene Sprachebenen unterteilt, die als aufeinander bezogene Teilbereiche bei der Entwicklung komplexer Strukturen unterschieden werden.
Die im folgenden angesprochenen Bereiche des Spracherwerbs vollziehen sich als integrativ und strukturell miteinander verbundene Prozesse, die zeitlich synchron ablaufen. Es bilden sich gegenseitige Bedingungsgefüge und aufeinander aufbauende Verbindungen, aus denen die einzelnen Teilbereiche sich lediglich schwerpunktmäßig absetzen lassen.
Auf allen vier Sprachebenen geht das Sprachverständnis der Sprachproduktion voraus.
Lange bevor das Kind ein Gespräch führen kann, werden ihm grundlegende Anreize dazu vermittelt.
2.4.1 Die pragmatisch-kommunikative Ebene
Die pragmatisch-kommunikative Ebene ist den anderen Sprachebenen übergeordnet. Sie verweist darauf, dass das Kind nicht nur Sprache im Sinne eines Zeichen- und Regelsystems erlernt, sondern letztlich die Fähigkeit zu einer situationsadäquaten Kommunikation erwirbt.
Das „Sich-Mitteilen“ und „Sich-Austauschen“ mit anderen Personen und später das Erzählen von Erlebtem geschieht von Beginn an in altersgemäßer Weise. Dieser Bereich des Spracherwerbs umfasst die gesamte Anwendung der sprachlichen und nicht-sprachlichen Kenntnisse (Mimik und Gestik).
Nach GRIMMkönnen drei Teilbereiche unterschieden werden. Es handelt sich um die Sprechhandlungen, die als sozial akzeptierte Kommunikationsformen ausgeführt werden, um zu bitten, zu befehlen und zu versprechen. Weiterhin gibt es Konversationshandlungen. Sie beinhalten gesprächssteuernde Prinzipien, wie beispielsweise das Wissen, wann man einen Faden aufgreifen kann oder wann man zu schweigen hat. Drittens geht es um den Diskurs, der das Wissen umfasst, wie man eine Geschichte erzählt, in welcher Weise neue Informationen gegenüber alten hervorgehoben werden oder auch, wann der Gebrauch des definierten gegenüber dem infiniten Artikels angebracht ist (vgl. GRIMM 1999, S.17).
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