Von dem Stolze zur Zärtlichkeit und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung. G. E. Lessing und die Theorie der Schauspielkunst


Mémoire de Maîtrise, 2013

80 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Aufklärung und Theater
2.1 Das Prinzip der Natumachahmung
2.2 Literarisierung des Theaters
2.3 Systematisierung der Schauspielkunst

3 Gotthold Ephraim Lessing und die Theorie der Schauspielkunst

4 Literaturästhetische und wirkungsästhetische Aspekte
4.1 Natur und Täuschung
4.2 Das Schöne und das Hässliche
4.3 Die Empfindung des Zuschauers

5 Lessings Dramentheorie
5.1 Die moralische Aussage
5.2 Das bürgerliche Trauerspiel
5.3 Das bürgerliche Lustspiel
5.4 Das Individuelle und das Allgemeine der Charaktere

6 Lessings Theorie des körpersprachlichen Ausdrucks
6.1 Der Spielmodus
6.1.1 Der selbstvergessene Schauspieler nach Pierre Rémond de Sainte-Albine
6.1.2 Der Reflexionsschauspieler nach Francesco Riccoboni
6.2 Schauspieler mit Empfindung und Verstand - Lessings Position
6.2.1 Die Regeln der körperlichen Beredsamkeit
6.2.2 Darstellung der Leidenschaften
6.2.3 Schauspieler und Dichter

7 Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Kunst gibt mehr als der Verstand: sie ermöglicht eine Erfahrung und Erkenntnis der sinnlichen Einheit der Wirklichkeit, die sich in der künstlerischen Produktion menschlicher Reflexion darbietet.1

Das 18. Jahrhundert markiert eine bedeutsame Entwicklung des deutschen Thea­ters. Während es zunächst vornehmlich der Belustigung und Entlastung des Pub­likums dient, ändert sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich seine Funktion. Im Zuge der Aufklärung und der Herausbildung eines neuen, vernunft­orientierten Welt- und Menschenbildes wächst unter den Intellektuellen das Be­wusstsein für das Theater und seine Möglichkeiten als öffentliches Medium. An­gefangen mit den Reformbemühungen Johann Christoph Gottscheds, die Schau­spielkunst enger an die Dramenvorlage zu binden, setzt sich immer mehr die Auf­fassung durch, dass das dramatische Werk seine Wirkung erst durch die Theater­vorstellung vollends entfalten kann. In der Frühaufklärung sind Dramatik und Schauspielkunst in Deutschland noch stark der sich am französischen Klassizis­mus orientierenden Regelpoetik verhaftet. Um die Mitte des Jahrhunderts bricht dann eine Diskussion um den natürlichen schauspielerischen Ausdruck aus, der sich an einer empirischen Auslegung der Natur orientiert. So beschäftigen sich Theoretiker und Theaterinteressierte unter Heranziehung unterschiedlicher Ge­sichtspunkte mit der theatralischen Vorstellung. Sie alle haben ein Ziel vor Au­gen: Die Schauspielkunst von den Fesseln des französischen Klassizismus zu be­freien, sie als eine die Natur nachahmende Kunstfertigkeit zu ergründen und ihr ein würdiges Ansehen zu verschaffen.

In Deutschland leistet allen voran Gotthold Ephraim Lessing mit seinen theoretischen Ansätzen einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Thea­ters. Inspiriert von den theoretischen Werken englischer, italienischer und franzö­sischer Autoren, setzt er sich in seinen Arbeiten mit verschiedenen Aspekten der Dramenproduktion und der Theaterpraxis auseinander. Sein Anliegen besteht zum einen darin, die Schauspielkunst im Sinne der empirischen Natürlichkeit neu zu definieren. Zum anderen bemüht er sich, das Theater als eine Institution zur Ver­breitung aufklärerischer Ideen zu etablieren und ihm eine wichtige Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen. Aufbauend auf den Reformbemühungen Gottscheds verfolgt Lessing die Idee der Literarisierung des Theaters weiter. Er geht davon aus, dass das Drama und die Theatervorstellung eine sich gegenseitig ergänzende Einheit bilden. Dabei fungiert der dramatische Text für ihn in doppelter Hinsicht als notwendiger Teil der Bühnenaufführung: Zum einen bestimmt er den inhaltli­chen Rahmen der Theatervorstellung, zum anderen beeinflusst er aktiv die Kunst des Schauspielers, von dem die Umsetzung der literarischen Vorlage erwartet wird.

Lessing gilt zweifellos als wichtigster Dramatiker und Dramentheoretiker der Epoche der Aufklärung in Deutschland. Zeit seines Schaffens widmet er sich dem Theater. Neben dem Verfassen eigener Dramenstücke beschäftigt er sich eingehend mit der Gattung Drama und der theatralischen Vorstellung. Dennoch sind seine Abhandlungen zum Theater nicht in einer Arbeit konzentriert. Aus Les­sings Vorhaben, ein systematisches Regelwerk für den Schauspieler zu verfassen, ist nur ein Fragment, Der Schauspieler, hervorgegangen. Seine theatertheoreti­schen Ausführungen verteilen sich in Form zahlreicher Ansätze, Gedanken und Bemerkungen über sein gesamtes Oeuvre.

Vor diesem Hintergrund verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, aus Les­sings vielfältigen theatertheoretischen Ausführungen eine kohärente Theorie der Schauspielkunst zu filtrieren und in Bezug zu seinen dramentheoretischen Ansich­ten zu setzen. Zu diesem Zweck sollen Lessings Betrachtungen in einen Gesamt­zusammenhang gebracht und dargestellt werden. Dabei wird die Analyse der ein­zelnen Teilbereiche bewusst auf das für eine Gesamttheorie und deren Implikatio­nen Wesentliche beschränkt. Die Bezugnahme auf die Rezeption Lessings in der Sekundärliteratur soll eine dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit dienende Rolle spielen, im Zentrum der Analyse werdenjedoch die Schriften Lessings selbst ste­hen. Detailliert untersucht werden insbesondere die Hamburgische Dramaturgie, Laokoon und der Briefwechsel über das Trauerspiel. Anstatt eines chronologi­schen Vorgehens soll die Analyse dabei anhand bestimmter inhaltlicher Kriterien erfolgen. Aufgrund des Einzelcharakters der relevanten Textpassagen scheint nur diese Verfahrensweise geeignet, um einen kohärenten Gesamtzusammenhang in Lessings Schauspieltheorie erkennbar zu machen.

Lessing setzt sich in seinen Schriften von der französischen Klassik ab, de­ren Vorbildfunktion für das deutsche Theater in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun­derts insbesondere von Johann Christoph Gottsched proklamiert wurde. Das Pri­märinteresse dieser Arbeit ist nicht auf eine Gegenüberstellung mit der Theater- theorie Gottscheds oder anderen zeitgenössischen Ansätzen gerichtet. Es wird aber davon ausgegangen, dass Lessing seine eigene Position stets über eine be­wusste Form dialektischer Abgrenzung entwickelt. Viele Aspekte in Lessings theoretischen Ausführungen gewinnen gerade dann an Relevanz, wenn man sie vor dem Hintergrund seiner Zeit, und insbesondere vor dem Hintergrund Gott­scheds sieht. Eben dieses zu tun, und Lessings Werk zugleich einzuordnen in sei­nen historischen Kontext, darauf zielt das zweite Kapitel dieser Arbeit ab. Dabei soll zunächst die Situation des deutschen Theaters in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts skizziert werden. Der Schwerpunkt liegt hier auf einer kurzen Zu­sammenfassung der Theatertheorie Gottscheds, wobei insbesondere diejenigen Elemente hervorgehoben werden, die im weiteren Verlauf der Arbeit im Zusam­menhang mit Lessings Position relevant sind. Mit dem dritten Kapitel soll eine kurze Einführung in Lessings theoretische Abhandlungen folgen. Die anschlie­ßenden Kapitel bilden den Hauptteil der Arbeit. Sie sollen dem Vorhaben nachge­hen, Lessings Theorie der Schauspielkunst als ein literaturästhetische, dramenthe­oretische und schauspielpraktische Elemente umfassendes System zu erschließen. Die einzelnen Teilbereiche werden zwar einzeln betrachtet, geltenjedoch nicht als systemisch geschlossen, sondern bedingen und ergänzen sich gegenseitig.

Für Lessing gehört das Theater zum „Reiche des Schönen“. Gleichzeitig strebt er eine auf einer Vorstellung von Naturwahrheit basierende Täuschung des Zuschauers an. Die drei Komponenten - Schönheit, Wahrheit und Wahrnehmung des Zuschauers - bilden den ästhetischen Rahmen für Lessings theatertheoretische Betrachtungen. Vor diesem Hintergrund stellt sich einerseits die Frage, wie die Begriffe Schönheit und Wahrheit in Lessings Theorie definiert werden. Anderer­seits soll gefragt werden, auf welchem Prinzip die Täuschung der Zuschauer auf­baut. Diesen Fragestellungen soll Kapitel vier nachgehen. Das darauffolgende Kapitel geht von der Annahme aus, dass Lessing den dramatischen Text als unab­dingbares Element der Theatervorstellung betrachtet. Basierend auf seinen Ausei­nandersetzungen mit den klassischen Dramengattungen sollen hier sein eigenes Dramenmodell und dessen wichtigste Komponenten skizziert werden. Inhärent ist hier erstens die Frage, auf welche Weise der moralische Sinn an den Zuschauer2 3 vermittelt werden kann. Und zweitens stellt sich die Frage, wie der Dramentext konzipiert werden muss, um die beabsichtigte moralische Wirkung zu erzielen.

Lessings Schriften zeichnen sich durch einen engen Bezug zur praktischen Kunst des Schauspielers aus. Während die textliche Komposition der Theatervor­stellung ihre inhaltliche Komponente liefert, ist der Schauspieler für die adäquate Übermittlung dieser Inhalte verantwortlich. Lessing ist davon überzeugt, dass ge­wisse Rührungen beim Zuschauer erst durch das Sichtbarwerden des Textes er­zeugt werden können. Insofern bildet für ihn die schauspielerische Umsetzung den Schlüssel zur angestrebten Wirkung. Ausgehend von dem damaligen Diskurs zum Schauspielmodus befasst sich das sechste Kapitel eingehend mit Lessings Ausführungen zur Schauspielkunst. Hier stellen sich ganz praktische Fragen, die in ihrer Relevanz bis heute nichts an Aktualität verloren haben: Inwiefern ist Schauspielkunst erlernbar? Was bildet den Ausdruck des Schauspielers? Und muss der Schauspieler die Emotionen seiner Rollenfigur nachempfinden, um glaubhaft spielen zu können?

2 Aufklärung und Theater

Die Theaterlandschaft des 18. Jahrhunderts wird zunächst durch zwei elementare Formen gebildet - das Hoftheater und das Improvisationstheater der Wanderbüh­nen. Die Vorstellungen auf den Hofbühnen werden in dem von Kriegen zerrütte­ten Deutschland noch völlig vom französischen Paradigma dominiert. Aufgeführt werden überwiegend französische Stücke und die italienische Oper, gespielt von französischen und italienischen Schauspieltruppen. Nach barocker Tradition in der Bühnengestaltung und Kostümierung gilt der Reiz der theatralischen Vorstel­lung dem Visuellen. Die auf der prachtvoll eingerichteten Bühne dargebotene schauspielerische Leistung wird auf eine von der antiken rhetorischen Tradition geprägte Kunst des theatralischen Vortrags reduziert. Die Deklamation ist dem Alexandrinervers der Schauspielstücke verpflichtet. Gestik und Gebärdensprache beschränken sich auf eine possenhafte Darstellung. Parallel zum Hoftheater er­freut sich noch bis ins späte 18. Jahrhundert das von zunächst noch umherziehen-4 5 den Schauspieltruppen praktizierte Stegreiftheater großer Beliebtheit.6 7 Hier waltet das „Geschrey des Hanswurst und seiner Kameraden auf der Bühne“.5 Sinn und Zweck des Improvisationstheater besteht lediglich in der Volksbelustigung.8 Das Improvisatorische, auf den Überraschungseffekt gerichtete Spielen aus dem Steg­reif verlangt den Akteuren keine besonderen Fertigkeiten ab. Die umherwandern­den Komödianten, welche selten einen festen Wohnsitz besaßen, erfreuen sich ohnehin keines großen Ansehens bei der Bevölkerung. Und die Schauspielerei wird von der Gesellschaft wie eine dem Handwerk ähnliche Tätigkeit betrachtet.

Mit dem Aufkommen der Aufklärung ändern sich allmählich die Ansprüche an die Literatur- und Kunstproduktion und somit auch die Einstellung zum Thea­ter. Neben dem Appell, die Komödianten durch die Errichtung stehender Bühnen von ihrem Wanderdasein zu befreien, findet auch auf der theatertheoretischen Ebene ein Umdenken statt. Unter der Prämisse, aus der Schaubühne einen Ort zu machen, „wo die Tugend und die Weisheit gelehret werden sollen“, mehren sich bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts Versuche, die Schauspielkunst zu systema­tisieren und ihr einen höheren Stellenwert zu verschaffen.9 Angefangen mit Jo­hann Christoph Gottscheds literaturästhetischen Überlegungen vollzieht sich im Laufe des Jahrhunderts sowohl in dem Verständnis vom Wesen der Schauspiel­kunst als auch im Spielmodus selbst ein Wandel. Basis für die Veränderungen bilden dabei insbesondere die Suche nach einem natürlich-wahren schauspieleri­schen Ausdruck und die Forderung einer Verknüpfung von Theatervorstellung und Textvorlage.10

2.1 Das Prinzip der Naturnachahmung

Der Auslöser für das zunächst auf der theoretischen Ebene aufkommende Um­denken war das Streben nach mehr Natürlichkeit, das den literatúr- und kunsttheo­retischen Diskurs des 18. Jahrhunderts vor allem in seiner ersten Hälfte prägte und zu einem Überdenken der gesamten Kunst- und Kulturproduktion geführt hat.11 Diese Hinwendung zur Natur und damit zur realen Welt korrespondierte mit der Herausbildung eines neuen Welt- und Menschenbildes, welche bereits am Aus­gang des 17. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Inspiriert von den Werken franzö­sischer und englischer Autoren wurde in die philosophische Diskussion die Kate­gorie der Vernunft eingeführt, mit deren Hilfe das Weltbild relativiert wurde. „Denn es bildete sich mehr und mehr die Überzeugung heraus, dass die Welt eine vernünftig eingerichtete Ordnung ist, die folglich auch von der Vernunft, über die jeder Mensch [...] von Natur aus verfügt, unmittelbar eingesehen werden kann.“12 Die barocke Vorstellung einer von Gott erschaffenen weltlichen Ordnung hatte zunächst Bestand, dem Menschen wurde jedoch eine neue Rolle zugeschrieben. So sollte er nicht mehr als eine passive Figur von der Einsicht in die Ordnung der Welt ausgenommen sein. Vielmehr wurde ihm nun die Fähigkeit zugesprochen, diese Ordnung - ausgestattet mit dem Prädikat der Vernunft - zu verstehen.

Die jenseitsorientierte, von religiösen Vorstellungen geprägte Weltbetrach­tung des Zeitalters des Barock wurde durch eine Beobachtung der realen Welt ersetzt. Dieser philosophisch-gesellschaftliche Paradigmenwechsel führte zwangs­läufig zu einem veränderten Verständnis der Kunst. Nun fähig die Weltordnung einzusehen soll sich der Künstler gänzlich der Wirklichkeit hinwenden und diese in seiner Darstellung wieder sichtbar machen. Demgegenüber stand der für das Zeitalter des Barock typische Glaube an die von Gott erschaffene Ordnung der Welt. Der Mensch vermochte diese zwar mit seinen Sinnen wahrzunehmen, da jedoch davon ausgegangen wurde, dass die Sinne täuschen, war es ihm nicht mög­lich, diese Ordnung zu erschließen. Der Darstellungsmodus des barocken Theaters manifestiert den Kontrast zwischen der trügerischen weltlichen Schönheit und der Sehnsucht nach dem Jenseits. So sind für das Theater des Barocks Schilderungen des prallen Lebens genauso präsent, wie düstere Beschreibungen der Endlichkeit der Welt.13 Spätestens mit der philosophischen Abhandlung des Franzosen Charles Batteux,’ Die Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, wurde die Natur zum Gegenstand der Kunst erklärt, mehr noch, sie wurde über die Kunst erhoben, welche stets auf ihre Nachahmung bedacht war:

Alle Künste sind [...] in allem, was sie wirklich künstliches an sich haben, nichts, als eingebildete Dinge, [...] die ein Abdruck und eine Nachahmung des Wahren sind. Aus dieser Ursache hört man überall rufen, daß man die Natur nachahmen müsse, [...] und daß diejenigen Arbeiten endlich Meisterstücke der Kunst genannt zu verden verdienen, welche die Natur so gut nachahmen, daß man sie für die Natur selbst ansieht.14 15

Die Natur bekommt damit die Funktion eines Vorbildes für die Künste. Die Dokt­rin der Naturnachahmung wird zum Maßstab für das Denken wie für die Dichtung erhoben. In Anlehnung an Batteux’ Abhandlung gilt in der deutschen Frühauf­ klärung die Kategorie der sichtbaren Natur. Diese wird als eine rationale, apriori­sche Ordnung definiert. Der Künstler ist zunächst an die möglichst exakte Schil­derung der Dinge, so wie sie in der Welt vorzufinden sind, gebunden, er hat in Bezug auf ihre Darstellung keine Schöpferfunktion. Die Naturnachahmung bedeu­tet in diesem Zusammenhang ein Kopieren der Natur, welche als „das Vorbild oder das Muster der Künste“ fungiert.16 Die vollkommene Nachahmung soll durch den Prozess der Beobachtung möglich sein. Hierbei spielt die Vernunft die Rolle eines Mediums zwischen dem Beobachteten und dem Beobachter, denn durch die Vernunft wird die Ordnung der Natur erkannt und an den Verstand wei­ter geleitet. Der beobachtende Künstler kann so die Natur in seiner Darstellung wieder aufleben lassen. Aus der heutigen Sicht würde sich hier die Frage stellen, wie es möglich ist, die Vorkommnisse in der Natur mit den richtigen sprachlichen Zeichen zu versehen, so dass die (literarische oder theatralische) Darstellung als ein genaues Abbild der Natur erkannt wird? Im frühen 18. Jahrhundert stellt die Beziehung zwischen dem beobachteten Bild und seiner sprachlichen Realisierung jedoch keinen Konflikt dar. Denn das einwandfreie Abbilden der Natur durch die Beobachtung stützt sich auf eine zentrale Annahme der rationalistischen Dich­tungstheorie, welche in der Forschungsliteratur als Ähnlichkeits- oder Korrespon­denztheorie bezeichnet wird.

Im 18. Jahrhundert war allgemein anerkannt, daß zwischen den äußeren Dingen und den inneren des Beobachters eine Korrespondenz besteht: Den Gegenständen der äußeren Realität entsprechen im Geist des Beobachters bestimmte Repräsentationen, die ihrerseits auf Objekte Bezug nehmen. Die Wahrheit der Beobachtung liegt darin, daß die unabhängig vom Individuum existierende Welt mit den Vorstellungen, die sie im Betrachter hervorruft, korrespondiert.17

Es wird also von einer Abhängigkeitsbeziehung der inneren von der äußeren Welt ausgegangen. Die Bilder, die der Beobachter von der äußeren Realität in seinem Geist besitzt, sind als Reflexe der Beobachtung zu verstehen. Das Innere besitzt also keinen Eigencharakter. Es existiert nur in Verbindung mit dem Äußeren. Demzufolge erhält man automatisch die entsprechende Bezeichnung, sobald man ein Bild des äußeren Gegenstandes besitzt. Hilary Putnam bezeichnet dies als eine gemeinsame Form des äußeren Gegenstandes mit seiner inneren Repräsentation.18 19 Die Vollkommenheit der Nachahmung wird daher durch das Befolgen des Ähn­lichkeitsgebotes gewährleistet. Die Ähnlichkeit basiert auf der Definition der Na­tur als einer vernünftigen Zusammenfügung von Wahrheiten. Folglich muss der Künstler, um die reale Welt wahrheitsgemäß darstellen zu können, von seiner ei­genen Erfahrung absehen und sich bei der Beobachtung der Natur ausschließlich der Vernunft bedienen. Denn da die Natur als eine rationale, unveränderbare Ord­nung und nicht als eine empirische Ordnung verstanden wird, würde die individu­elle menschliche Erfahrung das Bild verzerren:

Wenn man den Zusammenhang der Dinge dergestalt einsihet, daß man die Wahrhei­ten mit einander verknüpfen kann, ohne einige Sätze aus der Erfahrung anzuneh­men; so ist die Vernunft lauter: hingegen wenn man Sätze aus der Erfahrung mit zu Hülfe nimmet: so wird Vernunft und Erfahrung mit einander vermischet, und wir sehen den Zusammenhang der Wahrheit mit einander nicht völlig ein.20

Lediglich die jedem angeborene Vernunft ist also fähig, ein wahres Abbild der Welt zu erzeugen. Durch die Vernunft gelenkt findet der Künstler die richtigen sprachlichen Bezeichnungen, die ja nach der Korrespondenztheorie in seinem Geist vorhanden sind.

Begründet ist das Postulat der Natumachahmung in der Idee der Aufklärung selbst. Die Hinwendung zur realen Welt soll nicht nur den Gegenstand der Kunst­produktion verändern. Auch die Wirkung poetischer Werke auf ihre Rezipienten soll eine andere sein als in Zeiten der barocken Dichtung. Denn für die Aufklärer besteht das Ziel einer künstlerischen Darbietung nicht darin, die Bevölkerung zu unterhalten oder zu belustigen, sondern sie zu belehren und zu einem tugendhaf­ten Leben zu verleiten. Im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts herrscht die Meinung, dass sich das Abbilden der Wirklichkeit auf den Leser, bzw. Theaterzu­schauer ähnlich auswirkt wie tatsächliche, reale Erlebnisse. So sei es über das Prinzip der Naturnachahmung möglich, einen Bezug zwischen der literarischen und der realen Welt herzustellen.21 Da der Mensch ein Teil der realen Welt ist, soll durch die geschickte Nachahmung der Natur eine Nähe zum Rezipienten her­gestellt werden. Denn die Ähnlichkeit der Naturnachahmung mit der äußeren Wirklichkeit soll bei dem Menschen das - über seine Vernunft funktionierende - Nachvollziehen der repräsentierten Geschehnisse ermöglichen. Dies wiederum soll in ihm die gewünschten Emotionen wecken und zu einer moralisch belehren­den Wirkung führen.22

2.2 Literarisierung des Theaters

Sich der Möglichkeit der moralischen Belehrung bewusst, rückt das Medium The­ater immer mehr ins Interessenfeld der Theoretiker. Dass das Theater durch seinen öffentlichen Charakter durchaus mehr Potential besitzt als die bloße Belustigung der Menschen, wird von den Gelehrten der aufgeklärten Gesellschaft bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts erkannt. 23 Einhergehend mit den gesellschaftlich­politischen Veränderungen der Frühaufklärung formt sich auf der literaturästheti­schen Ebene eine neue Sicht des Theaterwesens. Insbesondere Johann Christoph Gottsched, den Lessing später für seinen Hang am französischen Klassizismus kritisiert, sieht die Möglichkeit einer moralischen Belehrung durch die theatrali­sche Vorstellung und bemüht sich um eine Modernisierung des deutschen Thea­ters. Sich auf die apriorische Ordnung der Natur und die Korrespondenztheorie stützend fordert er bereits 1729 in seiner Abhandlung Versuch einer kritischen Dichtkunst eine Reform der deutschen Schaubühne.24 Den zu seiner Zeit herrschen­den Zustand des deutschen Theaterwesens beschreibt er vor diesem Hintergrund wie folgt: 25

Allein, ich ward auch die große Verwirrung bald gewahr, darin diese Schaubühne steckete. Lauter schwülstige und mit Harlekins Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsactionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lau­ter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen be­kam.26

Den barocken Spielmodus der Oper deutet Gottsched als unnatürlich und veraltet, die Harlekinaden fordert er abzuschaffen. Nicht nur die Art und Weise des theat­ralischen Spiels, sondern auch das, was gespielt wird, erweist sich aus seiner Sicht als ungeeignet, um die pädagogischen Ansprüche der Aufklärung umzusetzen. Denn im frühen 18. Jahrhundert ist der Inhalt der theatralischen Textvorlage zweitrangig und wird ebenso wie der Spielmodus vom Improvisatorischen be­herrscht. Und wenn Autorendramen aufgeführt werden, wird die Handlung grob umrissen, ohne den Text getreu wiederzugeben. Ganz im Sinne der Aufklärung, „sittliche Wahrheiten auszubreiten“, bemüht sich Gottsched vor diesem Hinter­grund um eine stärkere Bindung der Theatervorstellung an eine textliche Vorlage und thematisiert erstmals die Wichtigkeit literarischer Texte für das Theater. Somit leitet er einen bedeutenden Prozess ein, der in der Forschung als Literarisie­rung des Theaters bezeichnet wird. Als die für eine Umsetzung auf der Bühne ideale literarische Gattung bezeichnet er die Tragödie. Denn [s]ie ist eine Schule der Geduld und Weisheit, eine Vorbereitung zu Trübsalen, eine Aufmunterung zur Tugend, eine Züchtigung der Laster. [...] sie lehret und warnet in fremden Exempeln [...] und schicket die Zuschauer allezeit klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause.27

Die Umsetzung eines moralischen Lehrsatzes bildet für Gottsched Grundlage und Zweck des Dramas: Zu allererst wähle man sich einen lehreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zu Grunde liegen soll [...]. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkommt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt.28

Will man Gottscheds theoretische Texte analysieren, so gewinnen die Ausdrücke ,Exempel‘ bzw. ,exemplarisch‘ an Wichtigkeit. Ausgehend von dem auf Ähnlich­keiten basierenden Ordnungsbegriff sollen Literatur und Kunst das Allgemeine demonstrieren. Die Dramenpersonen, die in der Tragödie nach dem Prinzip der Ständeklausel hohe Standespersonen repräsentieren oder aus der Geschichte ent­lehnt sind, fungieren mit ihrer Handlung als Exempel für eine Naturwahrheit, aus der wiederum eine moralische Wahrheit hervorgeht.29 Ebenjenes Postulat der Na­turnachahmung und das Festhalten am apriorischen Naturbegriff ist für Gott­scheds Theorie programmatisch:30

Die Schönheit eines künstlichen Werks, beruht nicht auf einem leeren Dünkel; son­dern sie hat ihren festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge.31 Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muß sie dem Muster der Natur nachahmen.32

So fungiert der Schauspieler bei Gottsched als Nachahmer der nachgeahmten Wirklichkeit. Indem er sie verbildlicht, reproduziert er die dramatische Textvor­lage auf der Bühne und tritt somit als Stellvertreter des Dichters auf. Dabei sei jedoch nicht jeder Künstler zu einer wahrhaftigen Naturnachahmung imstande. Denn die natürliche Geschicklichkeit im Nachahmen sei bei den Menschen unter­schiedlich stark ausgeprägt. So müsse ein geschickter Nachahmer „Witz“ besit­zen, im Sinne Gottscheds also: „[...] eine Gemütskraft, welche die Ähnlichkeiten der Dinge leicht wahrnehmen, und also eine Vergleichung zwischen ihnen anstel­len kann.33 “ Die Eigenleistung, welche dem Nachahmer hier zugeteilt wird, be­steht in der genauen Beobachtung der Natur und wird gleichzeitig durch diese begrenzt. Somit erfülle die Theatervorstellung die Funktion einer möglichst ge­treuen Veranschaulichung des Textes, und diese sei, wie Gottsched begründet, in ihrer Wirkung sogar stärker als das Geschriebene: 34

Man liest, man höret sie [die Fabel] nicht nur in einer matten Erzählung des Poeten, sondern man sieht sie gleichsam mit lebendigen Farben vor Augen. Man sieht sie aber auch nicht in toten Bildern auf dem Papiere, sondern in lebendigen Vorstellun­gen auf der Schaubühne. [...] es ist die Wahrheit, es ist die Natur selbst, was man sieht und höret.35

Der Zuschauer - von seiner Vernunft geleitet - ist nach Gottscheds Auslegung fähig, den ihm exemplarisch präsentierten moralischen Lehrsatz zu erkennen, zu verstehen und aus ihm Schlüsse für sein eigenes Leben zu ziehen.

Bei der Auswahl der Texte und schließlich auch beim Darstellungsmodus bleibt Gottsched konsequent dem französischen Ideal treu. So übersetzt er die „regelmäßigen“ französischen Tragödien Corneilles, Racines und Voltaires für das deutsche Theater und verfasst mit seinem Trauerspiel Der sterbende Cato schließlich selbst ein „Musterstück“ der Gattung. So wie er das Extemporieren durch einen texttreuen schauspielerischen Vortrag ersetzt, propagiert Gottsched gemäß der klassischen Doktrin eine rhythmisch-exakte Deklamation und eine ed- le, pathetische Gebärdensprache.

Auch die Konzeption und Organisation des Dramas ist für Gottsched dem klassischen Ideal verpflichtet. Er selbst spricht von der Notwendigkeit einer „wohleingerichteten und regelmäßigen Tragödie“. Eine strenge Einhaltung der drei Einheiten ist für ihn ebenso selbstverständlich wie eine regelmäßige Sprache. Der Ablauf der Handlung wird in der Tragödie von den Unglücksfallen des Hel­den vorangetrieben, der sich durch ein tugendhaftes, furchtloses Verhalten aus­zeichnet.36 Die Voraussetzung moraldidaktischer Wirkung ist für Gottsched eine distanzierte Betrachtung der Handlung und ihrer Personen durch den Zuschauer, die zur Erregung von Bewunderung, Schrecken und Mitleid führt. Die von der Vernunft geleitete Erkenntnis einer moralischen Wahrheit führt den Zuschauer automatisch zu einem moralischen Verhalten. Um diese Wirkung zu unterstrei­chen, also ein lasterhaftes oder tugendhaftes Verhalten zu verdeutlichen, sollen die Charaktere der Figuren prägnant illustriert sein. So werden sie auf wenige hervorstechende Eigenschaften reduziert. ln Gottscheds Komödienkonzeption wird die allegorische Zeichnung der Charaktere weiter verstärkt. Er spricht sich eindeutig gegen das Heranziehen komplexer Charaktere aus, das die Ordnung der Handlung und damit ihre Veranschaulichung stören und die Identifikation des moralischen Lehrsatzes erschweren würde: „Zu einer comischen Handlung nun kann man eben so wenig, als zu tragischen, einen ganzen Charakter eines Men­schen nehmen, der sich in unzählichen Thaten äußert.“ Die Komödie folgt bei Gottsched einem ähnlichen didaktischen Vorhaben wie die Tragödie. Sie dient der Veranschaulichung lasterhafter Taten und hat das Ziel, den Zuschauer zu belusti­gen und zugleich, durch das Vorführen auslachwürdiger Situationen, moralisch zu erbauen.37

Betrachtet man Gottsched als den Gegenpol zu Lessing und vergleicht die theoretischen Ausführungen beider Autoren aus Lessings Position heraus, so mag Gottscheds auf strengen Regeln beruhende Auffassung den Eindruck erwecken, der deutschen Schaubühne wenig Nutzen erbracht zu haben. Vergleicht man Gott­scheds Dramenkonzeption jedoch mit der Desorganisation des barocken Theaters, so ist das Streben nach Ordnung und Regelmäßigkeit eine logische Konsequenz auf dem Weg zu einem neuen Theaterverständnis. 38 Gottsched unternimmt den ersten Schritt zu einer neuen Theaterkultur, die nicht nur unterhalten, sondern vor allem nützlich sein soll. Diese Nützlichkeit besteht für ihn in der Übermittlung einer moralischen Lehre an den Zuschauer, wodurch dem Theater die Funktion eines Mediums zukommt. Obwohl sich Gottsched gegen die Improvisationskunst der Wanderschauspieler richtet, steht die Schauspielpraxis in seinen Abhandlun­gen eher am Rande der Betrachtung. Die Prämisse liegt vielmehr darauf, dem lite­rarischen Text höheres Gewicht zu verleihen, ihm - wie Dieter Heimböcker fest­stellt - gewissermaßen zu seinem Recht zu verhelfen. Gerade in dieser Hinsicht bringt Gottsched seiner Zeit bedeutende Aspekte in das Verständnis von Literatur und Theater ein und regt die Debatte um die deutsche Schaubühne maßgeblich an. Die Einflussnahme literarischer Inhalte auf die Bühnenaufführung und schließlich auf den Zuschauer ist für Gottsched wichtig. Für das Herausbilden einer neuen Theorie der Schauspielkunst soll sie essentiell werden. 39

2.3 Systematisierung der Schauspielkunst

Um den Anspruch nach mehr Natürlichkeit im schauspielerischen Vortrag gerecht zu werden, musste eine Zeichensprache entwickelt werden, die im Stande war, die Kunst des Schauspielens auf einer zunächst theoretischen Ebene zu vereinheitli­chen. 40 Mit dem Bemühen, die Schauspielkunst zu theoretisieren, geht die Ambition der Kunstrichter einher, der „gemeiniglich so verachteten Sache“ einen gehobenen Stellenwert zwischen den bildenden Künsten zu verschaffen. Denn während Poesie und Malerei bereits mit langer Tradition zu den „schönen Künsten“ gehö­ren, wird die Schauspielkunst im 18. Jahrhundert als eine handwerkliche Tätigkeit betrachtet. Bereits Gottsched beschwert sich über die Geringschätzung der Kunst des Schauspielers und verweist auf die enge Verbindung zwischen der Theater­vorstellung und der dramatischen Literatur.41 Allerdings gelten für die Dramengat­tungen im frühen 18. Jahrhundert die Regeln der klassischen Doktrin. Und auch die Schauspielkunst steht unter dem Einfluss der französischen Regelpoetik. Wie etwa Gene Barnett mit seiner Forschung belegt, bleibt dem Schauspieler im Thea­ter der Frühaufklärung somit wenig Raum zur Interpretation. Die Schauspielkunst im Sinne Gottscheds basiert auf einem Register von Gesten für jeweils unter­schiedliche Gemütsbewegungen, die es für den Akteur gilt, passend zur Handlung einzusetzen.42

Erst durch das um die Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende theateräs­thetische Umdenken und die damit verbundenen Veränderungen in der Dramenli­teratur, wird die Schauspielkunst allmählich ihrer Grenzen befreit, und der Schau­spieler kann somit - zunächst nur theoretisch - als Künstler betrachtet werden. Die neue Schauspielästhetik will das starre Mechanische im Theaterspiel durch eine „lebhafte Einbildungskraft“ kombiniert mit einer „männlichen Beurthei- lungskraft“ ersetzen.43 Mit den zwei Begriffspaaren ist eine Forderung verbunden, die vom Schauspieler eine aktive Teilnahme an der Gestaltung der Theatervorstel­lung erwartet. Der Schauspieler soll nun also nicht mehr schablonenhaft seine Rolle vortragen, sondern durch seine Fähigkeiten dem Zuschauer die Natur im Sinne einer empirisch erfassbaren Wirklichkeit näher bringen. So erläutert der bedeutende Schauspieler und Theoretiker Conrad Ekhof bei einer Sitzung seiner Schauspieler-Akademie das Ziel der Schauspielkunst: „Durch Kunst der Natur nachahmen, und ihr so nahe kommen, daß Wahrscheinlichkeiten für Wahrheiten angenommen werden müssen oder geschehene Dinge so natürlich wieder vorstel­len, als wenn siejetzt erst geschehen.44“ Im Vorwort der Zeitschrift Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters hebt Christlob Mylius den hohen Stellenwert der Schauspielkunst hervor: „Wer sieht also nicht, daß die Vorstellung ein nothwendiges Theil der dramatischen Poesie sey? Die Kunst dieser Vorstellung verdienet derohalber unsere Aufmerksamkeit ebensowohl, als die Kunst der Ver­fassung.“ 45 Damit wird der Schauspieler in die Nähe des Dichters gerückt, was wiederum an Gottscheds Definition der theatralischen Vorstellung als einer Ver­bildlichung des literarischen Textes erinnert. Den entscheidenden Unterschied bilden hier die mit der Bezeichnung Schauspielkunst intendierten Begriffe „leb­hafte Einbildungskraft“ und „männliche Beurtheilungskraft“, oder wie Christlob Mylius unterscheidet, „Beurtheilungskraft“ und „Witz“.46 Unter dem Begriff „Witz“ versteht Mylius die Fähigkeit eines Schauspielers, sich in fremde Affekte hinein zu versetzen. Denn einejede spielende Person müsse alles genau verstehen, was sie sagt, und die dazu gehörigen Töne der Stimme und die Bewegungen des Leibes und der Gliedmaßen deutlich vorstellen, da sie selten oder niemals in der­jenigen Gemütsverfassung sei, die der Verfasser des Schauspiels der Person, die sie spielt, beigelegt habe.47 Die „Beurtheilungskraft“ bezeichnet dagegen eine bestimmte Art von Mäßigung, die dem Schauspieler eigen sein muss, um ihn von unangemessenen Übertreibungen in seiner Darstellung zu bewahren.

Wird die Schauspielkunst nunmehr an ästhetische Elemente gebunden, wer­den den spielenden Personen besondere Fähigkeiten abverlangt, erscheint die For­derung der Kunstrichter, die Schauspielkunst in das Gefüge der freien Künste zu integrieren, nur folgerichtig. Ebenfalls verständlich ist das Plädoyer der Theater­kritiker für eine neue „Grammatik“ der Schauspielkunst. Dass sich diese nicht mehr an einem apriorischen Naturbegriff orientieren kann, hat in Deutschland insbesondere Gotthold Ephraim Lessing herausgearbeitet.

3 Gotthold Ephraim Lessing und die Theorie der Schauspielkunst

Lessings nähere Beschäftigung mit Theater und Schauspielkunst beginnt in den späten vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts mit dem Verfassen seiner ersten Ko­mödien.48 Zu dieser Zeit wird die Dramenliteratur durch die klassischen, überwie­gend französischen, Tragödien und Komödien dominiert. Und die schauspieleri­sche Praxis ist der französisch-klassizistischen Spielweise verpflichtet. Mitte des 18. Jahrhunderts kommen jedoch kritische Stimmen gegen das Festhalten am französischen Vorbild auf: „Die einzigen Franzosen hat man durch häufige Uebersetzungen sich eigen zu machen gesucht. Dadurch hat man aber unser Thea­ter zu einer Einförmigkeit gebracht, die man auf alle mögliche Art zu vermeiden sich hätte bestreben sollen.“ Auch Lessing ist mit der Situation unzufrieden. 49

Gottscheds „vermeintliche Verbesserungen“ der deutschen Schaubühne bezeich­net er als „wahre Verschlechterungen“, den „Wahn von der Regelmäßigkeit der französischen Bühne“ lehnt er ab. Die Kritik gegen die von Gottsched propa­gierte Regelpoetik und den französisch-klassizistischen Spielmodus wird in seinen Schriften konsequent fortgesetzt. 50 Eben diese Kritik fungiert dabei als Abgren­zungselement zu Lessings eigener Theorie. Seine Ideale - vor allem die Schau­spielkunst und das Theaterrepertoire betreffend - sind weit von der herrschenden Theaterpraxis entfernt. Dennoch trägt er die Ideen des literarischen Theaters wei­ter und verfolgt somit ähnliche Ziele wie Gottsched, gegen den er sich entschie­den abwendet. Eine wahrhafte Nachahmung ist für Lessing ebenso wichtig wie eine moralische Wirkung auf den Zuschauer. Betrachtet man lediglich die Signifi­kanten, so sind die Kategorien, auf welche er sich stützt, nicht weit von den litera­turästhetischen Leitbegriffen der Frühaufklärung entfernt. Unterschiedlich sind jedoch die Konnotationen, mit denen die Begriffe versehen werden. Oder, um es mit von Lessing in einem anderen Zusammenhang gebrauchten Worten zu be­schreiben: sie sind „ähnlich, aber verschieden“.51 So bezeichnet Lessing zwar das Theater als „die Schule der moralischen Welt“, um den Zuschauer zu erreichen, muss die moralische Aussage jedoch anders präsentiert werden.52 Sie soll sich dem Zuschauer nicht mittels der Vernunft erschließen, sondern durch die Aktivie­rung von Empfindung, also durch die Erregung von Mitleid, Leidenschaft und Rührung. Auch Lessings Begriff von der Nachahmung der Natur weicht von sei­nen frühaufklärerischen Vorgängern ab. Anstelle einer apriorischen Naturordnung tritt eine empirische Auffassung der Natur, welche im Zeichen des Sensualismus steht. In Lessings Theorie steht nicht mehr die rationalistische Betrachtung der vernünftig eingerichteten Natur im Vordergrund, sondern der Mensch in seiner physischen und psychischen Ganzheit und seine Handlungsintention. Betrachtet man die unterschiedlichen theaterästhetischen Präferenzen, so manifestiert sich in Lessings Kritik an Gottscheds Theaterreform zum einen seine Unzufriedenheit mit der französisch-klassizistischen Spielweise, die für ihn nicht fähig ist, die ge­wollte Wirkung zu erreichen. Zum anderen richtet sie sich gegen die heldenhafte, klassische Tragödie, welche sich aus seiner Sicht ebenfalls als ungeeignet erweist, beim Zuschauer die Erregung von Mitleid und somit eine moralische Läuterung zu erreichen.

Lessing arbeitet seine schauspieltheoretischen Überlegungen häufig anhand von Widersprüchen und Gegensätzen heraus. Er grenzt sie voneinander ab, um sie anschließend in einem fast symbiotischen Zusammenwirken zu einer Maxime zu erheben. Diese hat dann häufig die Funktion eines Gesetzes, eines Paradigmas für den Schauspieler. Insbesondere im Bereich der literaturästhetischen Vorstellungen zur Schauspielkunst wird dies deutlich. So begründet Lessing an Hand der Kate­gorien Nähe und Distanz die theatralische Illusion, verbindet die Forderung nach einer schönen und zugleich wahren Darstellung und lässt sie dann basierend auf den Kategorien Verstand und Empfindung in der Konzeption eines wirkungsvol­len Schauspiels aufgehen. Unter einem wirkungsvollen Spiel versteht Lessing die Erzeugung von Mitleid in der Tragödie, bzw. Lachen in der Komödie.

[...]


1 Zimmer, Jörg: Schein und Reflexion. Studien zur Ästhetik. Köln 1996, S. 38.

2 Lessing, Gotthold, Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. 70. Stück. In: Lessings Werke. Hg. von den nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur. Ausge­wählt von Karl Balser. Bd. 4. Berlin/Weimar 1975, S. 346. Im Folgenden gekennzeichnet als [HD].

3 Vgl. Maurer-Schmoock, Sybille: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982,

5 151.

6 Vgl. Herrmann, Wilhelm: Städte und Wandertheater im 18. Jahrhundert. In: Stadt und Theater. Hg. von Bernhard Kirchgässner und Hans-Peter Brecht. Stuttgart 1999, S. 119-128. Hier S. 124.

7 Mylius, Christlob: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey. In: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. 1. Stück. Hg. von Gotthold Ephraim Lessing und Christlob Mylius. (1.-4. Stück der Mikrofiche Reproduktion). Stuttgart 1750, S. 1-13. Hier S. 1.

8 Zur Funktion des Zuschauers im Theater des 18. Jahrhunderts vgl.: Dreßler, Roland: Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand. Berlin 1993.

9 Mylius 1750, S. 13.

10 Die geschichtlichen Hintergründe, sowie die mit der Aufklärung einhergehenden sozialen Um­strukturierungen werden in der vorliegenden Arbeit nicht explizit betrachtet. Zu einer detaillierten Darstellung vgl. Daniel, Ute: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995; Meyer, Reinhart: Das Nationaltheater in Deutschland als höfisches Institut. Versuch einer Begriffs- und Funktionsbestimmung. In: Das Ende des Stegreifspiels. Die Geburt des Nationaltheaters. Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas. Hg. von Roger Bauer und Jürgen Wertheimer. München 1983, S 124-152. Eine umfassende geschicht­liche Einordnung bietet Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Zweiter Band. Stuttgart/Weimar 1996, S. 701-865.

11 Vgl. Costazza, Alessandro: Imitatio Naturae in der Poetik der italienischen und der deutschen Aufklärung. In: Deutsche Aufklärung in Italien. Hg. von Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1992, S. 87-130. Zu einer geschichtlichen Eingrenzung des Nachahmungsbegriffs vgl. Hohner, Ulrich: Zur Problematik der Naturnachahmung in der Ästhetik des 18. Jahrhundert. Erlangen 1976.

12 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 2. Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. Tübingen 1989, S. 92.

13 Ausführlich zu den philosophischen Hintergründen der Kunstproduktion des 17. und 18. Jahr­hunderts vgl. Coreth, Emerich/Harald Schöndorf: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart 2000.

14 Batteux, Charles: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Hildes­heim/New York 1976, S. 33.

15 Vgl. Petersen, Jürgen H.: Mimesis - Imitatio - Nachahmung. Eine Geschichte der europäi­schen Poetik. München 2000, S. 161.

16 Batteux 1976, S. 26.

17 Gebauer, Gunter/Christoph Wulf: Mimesis. Kultur - Kunst - Gesellschaft. Reinbeck bei Ham­burg 1992, S. 220.

18 Putnam, Hilary: Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Frankfurt am Main 1982, S. 85.

19 Vgl. Fischer-Lichte, Erika 1989, S. 93.

20 Wolff, Christian: Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen. Auch allen Dingen überhaupt. Frankfurt/Leipzig 1733, S. 234f.

21 Vgl. Gebauer, Gunter/Christoph Wulf 1992. S. 221.

22 Gottsched, Johann Christoph: Der sterbende Cato. Vorrede. In: Johann Christoph Gottsched. Ausgewählte Werke. 2. Bd. Sämtliche Dramen. Hg. von Joachim Birke. Berlin 1970, S. 5.

23 Tatsächlich gelingt es Gottsched, in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin und Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, die Figur des Harlekin vorerst abzuschaffen. Im Jahr 1737 wird der Harlekin im Rahmen einer Theateraufführung symbolisch von der Bühne vertrieben. Allerdings hält er einige Jahre später wieder Einzug.

24 Vgl. Barner, et al.: Lessing. Epoche - Werk - Wirkung. München 1998, S. 83.

25 Gottsched, Johann Christoph: Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen. In: Dramaturgische Schriftendes 18. Jahrhunderts. Hg. von Klaus Hammer. Berlin 1968, S. 16.

26 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen/Basel 1993, S. 88 ff.

27 Gottsched, Johann Christoph 1968, S. 15.

28 Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. In: Johann Christoph Gottsched. Ausgewählte Werke. Bd. 6. Teil 1. Hg. von Joachim Birke und Bri­gitte Birke. Berlin/New York 1973, S. 215.

29 Gottsched, Johann Christoph 1973, S. 183f.

30 Vgl. Fick, Monika: Lessing-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart/Weimar 2010, S. 518.

31 Gottsched, Johann Christoph 1973, S. 151.

32 Gottsched, Johann Christoph 1973, S. 152.

33 Gottsched, Johann Christoph 1968, S. 17.

34 Vgl. Rochow, Christian Erich: Das bürgerliche Trauerspiel. Stuttgart 1999, S. 22.

35 Gottsched, Johann Christoph 1968, S. 16.

36 Vgl. Gottsched, Johann Christoph 1973, S. 312.

37 Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer critischen Dichtkunst. Anderer besonderer Theil. In: Johann Christoph Gottsched. Ausgewählte Werke. Bd. 6. Teil 2. Hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke. Berlin/New York 1973a, S. 349.

38 Vgl. Gottsched, Johann Christoph 1973a, S. 348.

39 Alt, Peter André: Die Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen/Basel 1994, S. 68.

40 Vgl. Heimböcker, Dieter: Kein neues Theater mit alter Theorie. Stationen der Dramentheorie von Aristoteles bis Heiner Müller. Bielefeld 2010, S. 21 f.

41 Gottsched 1Q68, S. 14.

42 Vgl. Barnett, Gene: Die Aufführungspraxis der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts: Ein Bericht. In: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Hg. von Wolfgang F. Bender. Stuttgart 1QQ2, S. 113-132.

43 Kindermann, Heinz: „Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie.“ In: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Sitzungsberichte. Band 230. 2. Abhandlung. Wien 1Q56, S. 18.

44 Kindermann, Heinz 1956, S. 17.

45 Mylius, Christlob/Gotthold Ephraim Lessing: Vorrede. In: Beyträge zur Historie und Aufnah­me des Theaters. 1. Stück. Hg. von Gotthold Ephraim Lessing und Christlob Mylius. Stuttgart 1750, ohne Seitenangabe. (1.-4. Stück der Mikrofiche Reproduktion).

46 Mylius, Christlob 1750, S. 4.

47 Mylius, Christlob 1750, S. 11.

48 Vgl. Nisbet, Hugh Barr: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 246.

49 Mylius/Lessing 1750, ohne Seitenangabe.

50 Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe, die neueste Literatur betreffend. In: Lessings Werke. Hg. von den nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur. Ausge­wählt von Karl Balser und Heinz Stolpe. 3. Bd. Berlin/Weimar 1975, S. 82. Und HD, 101-104 Stück, S. 491f.

51 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon. In: Lessings Werke. Hg. von den nationalen Forschungs­und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur. Ausgewählt von Karl Balser und Heinz Stolpe. 3. Bd. Berlin/Weimar 1975, S. 129. Im Folgenden gekennzeichnet als [LN].

52 HD, 2. Stück, S. 15f.

Fin de l'extrait de 80 pages

Résumé des informations

Titre
Von dem Stolze zur Zärtlichkeit und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung. G. E. Lessing und die Theorie der Schauspielkunst
Université
University of Münster
Note
1,7
Auteur
Année
2013
Pages
80
N° de catalogue
V320713
ISBN (ebook)
9783668198982
ISBN (Livre)
9783668198999
Taille d'un fichier
888 KB
Langue
allemand
Mots clés
G. E. Lessing, 18. Jahrhundert, Schauspielkunst, Theatertheorie, Theorie der Schauspielkunst, Drama, Gottsched, Literarisierung des Theaters
Citation du texte
Lenka Volmer (Auteur), 2013, Von dem Stolze zur Zärtlichkeit und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung. G. E. Lessing und die Theorie der Schauspielkunst, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320713

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