Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Inhalt
2.1 Die Ereignisse auf Burg Dracula
2.2 Mina und Lucy, die beiden konträren Frauenfiguren des Romans
2.3 Minas Tagebuch und die Ereignisse in Whitby
2.4 Lucys Krankheit und ihre Vernichtung
2.5 Die Suche nach Dracula
2.6 Draculas Angriff auf Mina
2.7 Draculas Flucht, seine Verfolgung und Vernichtung
3. Aufbau
3.1 Jonathan Harkers Tagebuch
3.2 Briefwechsel zwischen Mina Murry und Lucy Westenra
3.3 Tagebucheintragungen Minas über die Ereignisse in Whitby
3.4 Phonographische Aufzeichnungen/Tagebuch von Dr. Seward
3.5 Jonathan Harkers letzte Notiz
3.6 Zum zeitlichen Aufbau des Textes
4.Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
1. Einleitung
Diese Seminararbeit, verfasst im Rahmen des Seminars Vampirtexte und Vampirfilme, besteht primär aus zwei Teilen. Der Ausgangspunkt der Arbeit ist der Vampirroman des irischen Autors Bram Stoker.
Im ersten Abschnitt geht es um den Inhalt von Bram Stokers Roman Dracula. Dieser soll anhand der wichtigsten Passagen des Romans näher besprochen werden und anhand von diesen genauer ausgeführt werden. Die Protagonisten und ihre Intentionen sollen vorgestellt werden. Die wichtigsten Figuren, die im Roman vorkommen, sollen analysiert und ihre Rolle für den Verlauf der Handlung soll untersucht werden.
Vor allem die beiden wichtigen Frauenfiguren, Mina und Lucy, sollen näher beleuchtet werden. Verschiedene Thesen unterschiedlicher Autoren zum Frauenbild und zu den Geschlechterrollen im Roman sollen hier vorgestellt werden. Diese sollen dann kritisch beurteilt werden, etwa die Frage ob die beiden weiblichen Figuren dem Idealbild der viktorianischen Ära entsprechen, oder ob sie davon abweichen?
Auch die Angriffe Draculas auf Lucy und Mina werden in der Forschung viel diskutiert. Einige Thesen sollen hier ebenfalls präsentiert und beurteilt werden. Hat der Biss Minas wirklich eine sexuelle Konnotation, oder ist diese Mutmaßung nicht haltbar? Auf diese und weitere Fragen soll eine Antwort gefunden werden.
Der zweite Teil der Arbeit setzt es sich zum Ziel den Aufbau des Textes näher zu betrachten. Das Wie steht hier im Vordergrund. Es soll aufgezeigt werden, welche verschiedenen Textgestalten der Roman präsentiert. Wichtig sind vor allem die verschiedenen Erzähler, welche die Geschichte tragen. Weiters soll auf die zeitliche Struktur des Vampirromanes näher eingegangen werden.
2. Inhalt
Im ersten Teil dieser Arbeit erfolgt eine inhaltliche Analyse des Vampirromanes Dracula von Bram Stoker. Der Inhalt des Textes und die handelnden Personen werden anhand wichtiger Passagen näher vorgestellt. Neben der Untersuchung des Inhalts, werden auch verschiedene Thesen der Forschung, etwa zu den Geschlechterrollen im Roman, präsentiert und beurteilt.
2.1 Die Ereignisse auf Burg Dracula
Das erste Kapitel des Romans beginnt zunächst mit den Tagebuchaufzeichnungen von Jonathan Harker. Der junge Anwalt wird von seinem Vorgesetzten, Peter Hawkins, nach Transsylvanien geschickt, um mit Graf Dracula einen Kaufvertrag über eine Immobilie in London abzuschließen.
Schon vor seiner eigentlichen Ankunft auf Burg Dracula ereignen sich mysteriöse Dinge. Je näher Jonathan der Gegend kommt, umso mehr wunderliche Hinweise erhält er von den Bewohnern der Dörfer. Im Hotel Goldene Krone warnt ihn die Wirtsfrau als er nach Burg Dracula und dem Grafen fragt.
„Schließlich warf sie sich auf die Knie und flehte mich an, nicht zu gehen,…“ 1
Zudem gibt die alte Dame Jonathan ein Kruzifix und hängt ihm einen Rosenkranz um den Hals. Weiters hört er von seinen Mitreisenden immer wieder merkwürdige Worte.2 Ordog (Satan) oder auch Pokol (Hölle) werden immer wieder wiederholt. Alle Warnungen lassen Jonathan kalt und er hält die Leute für abergläubisch. Er meint sogar er müsse den Grafen über diesen Aberglauben befragen.
Am Borgo-Pass wird Jonathan schließlich von einem Kutscher abgeholt und zur Burg gebracht. Der Graf selbst empfängt ihn allein zu einem späten Dinner. Die ersten Stunden und Tage auf der Burg verlaufen relativ normal und ohne besondere Vorkommnisse. Er führt mit Graf Dracula interessante Gespräche, unter anderem informiert sich der Graf genau über England und London. Er will dort die vorgeschlagene Immobilie kaufen und in seiner neuen Heimat so wenig wie möglich auffallen.
In den folgenden Tagen fallen Jonathan seltsame Dinge auf, alle kleineren Auffälligkeiten notiert er akribisch in seinem Tagebuch. Einerseits stellt er fest, dass der Graf sehr reich sein muss. Und doch gibt es seltsame Unzulänglichkeiten in all diesem Reichtum:
„In keinem der Zimmer ist ein Spiegel. Nicht einmal ein Toilettenspiegel über meinem Waschtisch,…“ 3
Weiters fällt ihm auf, dass er außer dem Grafen niemanden zu Gesicht bekommt. Obwohl Jonathan genug zu essen bekommt, sieht er den Grafen nie Nahrung zu sich nehmen. Auch findet ein Wechsel der Tageszeiten statt, die Männer reden bis spät in der Nacht und verschlafen den ganzen Tag. Auch der Graf selbst wird ihm immer unheimlicher, deutlich wird dies etwa in der Szene mit dem Spiegel. Jonathan versucht sich zu rasieren und verwendet seinen mitgebrachten Taschenspiegel, da sich im ganzen Schloss kein Spiegel finden lässt. Plötzlich legt ihm der Graf die Hand auf die Schulter, er steht direkt hinter ihm. Jonathan erschrickt, weil er ihn nicht kommen sah, obwohl er mit seinem Taschenspiegel den gesamten Raum überblicken konnte.
Das Geschehen auf der Burg immer unheimlicher und Jonathan fühlt sich dabei sehr unbehaglich. Er bemerkt, dass er sich nicht frei bewegen kann, es gibt unzählige Türen und alle sind verschlossen. Jonathan fühlt sich wie ein Gefangener in der Burg. Er befindet sich in einer Welt, in der er keine Kontrolle mehr hat. 4 Halb Spion, halb Gefangener irrt er durch die Burg und verliert dabei immer mehr den Boden unter den Füßen.5
„Als ich zu der Erkenntnis kam, daß ich ein Gefangener sei, ergriff mich eine Art Raserei. Ich rannte die Stiegen auf und ab, probierte jede Tür und spähte bei jedem Fenster hinaus, das mir erreichbar war; aber bald überkam mich das Bewußtsein meiner vollkommenen Hilflosigkeit.“ 6
Sein einziger Halt vorm drohenden Irrsinn ist sein Tagebuch, indem er jede Kleinigkeit notiert. Minutiös hält er beispielsweise fest, wie viel Gläser Wein ihm der Graf eingeschenkt hat, um sich vom eigentlichen Wahnsinn zu distanzieren. 7 Seine strikte Gewohnheit pünktliche Eintragungen zu machen soll seine Angst etwas mildern. Doch auch das gelingt ihm nicht ganz, es bleibt genug Schrecken übrig. Jonathan sieht schließlich wie der Graf eines Nachts wie eine Eidechse die Schlossmauern hinunterklettert. Ihm ist klar, dass der Graf kein menschliches Wesen sein kann.
Weiters kommt es zu einer unheilvollen Begegnung zwischen Jonathan und drei Vampirinnen. Die Abwesenheit des Grafen ausnutzend, bricht er eine verbotene Tür auf und schläft in dem Raum ein. Als er wieder erwacht, ist er nicht alleine im Zimmer. Ihm gegenüber stehen drei Frauen, die er zunächst wegen ihrer Kleidung und ihrem Benehmen für Damen hält. Er hofft nur zu träumen als er erkennt, dass die Frauen keinen Schatten werfen und lange, weiße Zähne haben. Obwohl Jonathan glücklich vergeben ist, locken ihn die Vampirinnen mit ihren wollüstigen Lippen. Er fühlt sich zu ihnen hingezogen und hat dennoch Todesangst vor ihnen. Sein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Verlobten Mina erdrückt ihn beinahe, dennoch währt er sich nicht gegen die Verführungen der Frauen. Jonathan verhält sich hier passiv gegenüber drei aktiv begehrenden Frauen. Sein Handeln und Denken in Gegenwart der Vampirinnen widerspricht der Charakterisierung, die uns der Roman bisher präsentiert hat.
Die Figur Jonathan Harker wird zunächst als sehr zuverlässig und akkurat charakterisiert. Schon bevor er seine Reise von London aus angetreten hat, hat er sich über Transsylvanien informiert.
„Da ich in London noch etwas Zeit gehabt hatte, hatte ich das Britische Museum besucht und dort unter den Büchern und Karten über Transsylvanien eine Auswahl getroffen, da ich hoffte, einige Vorkenntnisse würden mir für den Verkehr mit den Edlen des Landes jedenfalls von Nutzen sein.“ 8
Der Erfolg seiner Reise und der lukrative Abschluss des Geschäftes sind für den Junganwalt Harker sehr wichtig. Er macht seinen beruflichen Werdegang und sein privates Glück von dem Gelingen der Reise abhängig. 9 Sein persönliches Glück hat er mit seiner Verlobten Mina gefunden, die er aber aus Geldgründen noch nicht geheiratet hat.
Sein Chef charakterisiert ihn in einem Brief an Graf Dracula näher:
„Er ist ein junger Mann, energisch, talentiert und durchaus zuverlässig.“ 10
Jonathan Harker besitze sein volles Vertrauen. Somit entspricht Jonathan zu Beginn des Romans dem Bild des „perfekten Schwiegersohnes“ 11, wie Gregor Labes es ausdrückt.
Die bedrohlichen und zugleich sexuell anziehenden Frauen lässt Jonathan gewähren. Laut Gregor Labes untergräbt sein passives Verhalten seine Männlichkeit. Jonathans selbstbewusstes, progressives und aktives Verhalten12, das er zu Beginn des Romans und auch nach seinem Aufenthalt bei Graf Dracula präsentiert, geht ihm auf der Burg völlig verloren. Diese These, vertreten durch Barbara Guggi, kann durchaus durch einzelne Passagen unterstützt werden. Zu Beginn wirkt er stark, die abergläubischen Warnungen der Bewohner können ihn nicht ängstigen. Obwohl er weiß, dass Graf Dracula ein Vampir ist, versucht er aktiv eine Lösung für sein Problem des Gefangenseins zu finden. Furchtlos klettert auch er beispielsweise zum Fenster hinaus. Der Kontrollverlust erfolgt erst nach und nach, der mit dem widerstandslosen Verhalten in Gegenwart der Frauen seinen Höhepunkt findet. Der sonst so korrekte Jonathan kann sich ihren blutroten Lippen und ihrer Lieblichkeit nicht entziehen, bis der Graf auftaucht und die Vampirinnen von ihm ablassen. 13 Dennoch, obwohl Jonathan hilflos und passiv wirkt, sind seine Gedanken den Vampirinnen nicht völlig hilflos ausgeliefert. Obgleich sie anziehend auf ihn wirken, sind sie auch immer gefährlich und das ist ihm die ganze Zeit über bewusst.
Schließlich unterbricht der Graf die unheimliche Szene und rettet Jonathan aus den Fängen der Vampirinnen. Als Entschädigung für Jonathans Blut, wirft der Graf den Frauen einen Sack mit einem Kind hin, welches sie zur Beute erwählen.
Durch seine Erlebnisse auf der Burg gezeichnet, versucht Jonathan zu fliehen. All sein Denken und Handeln ist auf Flucht ausgerichtet. Seine Fluchtversuche werden jedoch vereitelt und sogar seine Briefe an Mina und seinen Chef werden abgefangen. Auch macht er noch die grausige Entdeckung, dass der Graf tagsüber in einer von fünfzig mit frischer Erde gefüllten Kisten schläft.
Der letzte Tagebucheintrag ist vom Morgen des 30. Junis. Der Graf hat ihm mitgeteilt, dass Jonathan ihn heute verlassen muss und dieser rechnet nun mit seiner endgültigen Ermordung. In seiner Verzweiflung versucht er die Burgmauern noch tiefer hinunter zu klettern, um zu entkommen. Am Ende des Eintrages verabschiedet er sich noch von allen, vor allem von seiner Verlobten Mina.
2.2 Mina und Lucy, die beiden konträren Frauenfiguren des Romans
Was aus Jonathan Harker wird ist vorerst unklar und wird im Laufe des Romans enthüllt. Zunächst findet ein Schauplatzwechsel nach London statt. In die Geschichte eingeführt werden die beiden Freundinnen Mina Murry und Lucy Westenraa. Lucy und Mina stehen in regem Briefkontakt. Mina, die Verlobte von Jonathan, macht sich Sorgen um ihn und beschließt schließlich Lucy nach Whitby zu begleiten, um die Abwesenheit ihres Geliebten erträglicher zu gestalten.
Mina und Lucy sind enge Freundinnen, obwohl sie im Roman sehr unterschiedlich charakterisiert sind. Zu bedenken ist immer auch das viktorianische Zeitalter, in dem der Roman spielt. Die ehrbare Dame der viktorianischen Gesellschaft sollte sich vornehm im Hintergrund halten. Ihre Aufgabe war es Kinder zu bekommen und diese zu erziehen, also eine gute Mutter zu sein, während der Mann einer beruflichen Tätigkeit nachgehen sollte. Sexualität ist für Frauen nur für die Fortpflanzung wichtig. 14 Natürlich gab es Ausnahmen, aber prinzipiell war der Weg für eine Frau so vorgezeichnet. Beide Frauenfiguren im Roman entsprechen aber nun nicht gerade dem idealen Frauenbild der viktorianischen Ära.15
Lucy ist eine begehrte, leichtlebige Frau, die aus der höheren Gesellschaftssicht stammt. Sie erzählt ihrer Freundin Mina von ihren drei Verehrern, dem adeligen Arthur Holmwood, Dr. Jack Seward, der Leiter einer Irrenanstalt ist und dem texanischen Abenteurer Quincey P. Morris. Sie ist entzückt darüber, von drei Männern begehrt und umworben zu werden. „O Mina, ich bin so froh, daß ich mich fast micht mehr fassen kann. Drei Bewerber!“ 16, schreibt sie an ihre Schulfreundin. Sie freut sich Ziel des männlichen Begehrens geworden zu sein und ist stolz von drei Männern hofiert zu werden.
Die traditionell zugeschriebene Frauenrolle wird von ihr abgelehnt. Sie will sich nicht dem Gefängnis der Monogamie, Unterwürfigkeit und Mutterschaft unterwerfen.17 Dafür gibt es klare Indizien im Roman.
„Warum kann auch ein Mädchen nicht drei Männer heiraten oder so viele, als sich um sie bewerben, […]?“18
Mit der Entscheidung für einen Mann erfüllt sie die gesellschaftlichen Vorgaben, diese entsprechen aber nicht ihren eigenen Wünschen. 19 Dass sie von drei Männern umworben wird genießt sie, dennoch ist sie sich darüber im Klaren, dass sie sich entscheiden muss und was die Gesellschaft von ihren Vorstellungen drei Männer zu heiraten hält. „Aber das ist ja Ketzerei, und ich sollte so was gar nicht sagen,…“ 20, bekennt Lucy im Roman.
Die Entscheidung Lucys, die sie nun mal treffen muss, fällt schließlich auf Arthur Holmwood. Wegen seiner gesellschaftlichen Stellung und seiner Abstammung aus adeligen Kreisen ist er eine gute Partie für Lucy. Er repräsentiert den machtvollen Adel der viktorianischen Ära. Dennoch wird er nicht nur wegen seines Geldes geliebt, er besitzt auch andere Vorzüge. Schon in ihrem ersten Brief an Mina gesteht Lucy ihr, dass sie Arthur gerne hat. Er besucht sie und ihre Mutter öfters. Vor allem freut Lucy sich darüber, dass sich Arthur und ihre Mutter gut verstehen.
„[…] er und Mama vertragen sich recht gut; sie haben so viel miteinander zu plaudern.“ 21
Lucys Verstöße gegen normative Konventionen der Gesellschaft werden in diesem ersten Briefwechsel bereits angedeutet. Eine Steigerung dieser wird im Laufe des Romans noch deutlicher erkennbar (beispielsweise Lucys Tod und Vernichtung). Davon wird noch die Rede sein.
Lucys Schulfreundin Mina hingegen entspricht zwar nicht vollständig dem Klischee der viktorianischen Vorzeigefrau, aber immerhin mehr als Lucy. Mina lehnt die normativen Vorgaben der Gesellschaft bezüglich Heirat und Mutterschaft nicht ab. Am Ende des Buches wird sie sogar Mutter. Im Gegensatz zu Lucy begehrt Mina nur einen Mann, nämlich ihren Verloben und späteren Ehemann, Jonathan Harker. So kollidiert sie nicht mit ihrer Frauenrolle wie Lucy. 22 Da Mina nicht aus einer höheren Gesellschaft stammt arbeitet sie als Hilfslehrerin. Diese Tätigkeit will sie aber aufgeben, sobald sie verheiratet ist. „Wenn wir verheiratet sind, werde ich Jonathan gern helfen;“ 23, schreibt sie an Lucy. All ihre Kenntnisse und ihr Wissen will sie in den Dienst der Ehe stellen. Somit verhält sie sich rollenkonform. 24
Minas „maskuline“ Eigenschaften wie Eigenständigkeit und Intelligenz stoßen bei den Männern nicht auf Ablehnung, weil sie ansonsten eine treue Gattin und fürsorgliche Betreuerin für die Vampirjäger ist. Sie erweist sich als enorm wichtig für die Verschriftlichung der Belege über Dracula. Sie wird also zu einer Art Sekretärin, da sie die von den Männern geschriebenen oder gesprochenen Dokumente in ein sachliches Manuskript verwandelt.25 Obwohl sie sich mit ihrem „Mannesverstand“ von der typischen viktorianischen Vorzeigefrau abhebt, rebelliert sie nicht gegen die eigentliche Rolle der Frau, nämlich gegen Ehe und Mutterschaft. 26 Ihre emanzipatorischen Fähigkeiten treten in den Hintergrund, Mina orientiert sich lieber an den traditionellen Normen. Sie ist damit bodenständiger als Lucy und wählt ein familienorientiertes Leben. 27
Die Männer ehren und lieben sie, während Mina ihnen als Schwester, Ehefrau und platonische Freundin auf der Suche nach Dracula beisteht. Professor van Helsing lobt sie überschwänglich als „prächtige Frau“ 28. Er selbst gibt zu, dass sie „das Gehirn eines Mannes“ 29 hat, was hier aber nicht negativ konnotiert ist, da sie auch „das Herz eines Weibes“ 30 besitzt. Mina steht Arthur als tröstende Schwester nach dem Tod Lucys bei. Sie will für ihn in seinem Kummer eine Schwester sein.
Für Jonathan ist sie die liebende Ehefrau. Die Liebe zwischen Mina und Jonathan ist im Roman eher durch Zuneigung und Sorge um den Partner gekennzeichnet als durch sexuelle Leidenschaft. 31 Schon in ihren Briefen an Lucy und noch stärker in den Passagen aus ihrem Tagebuch, welches sie in Whitby schreibt, sorgt sie sich um Jonathan, von dem sie lange nichts mehr gehört hat. „Keine Nachricht von Jonathan. Ich beginne mich ernsthaft um ihn zu sorgen,…“ 32
Eine mütterlich-pflegende Funktion nimmt Mina ein, als sie Jonathan im Krankenhaus besucht.
Alles in allem kann festgestellt werden, dass die beiden Frauenfiguren, die der starken Präsenz von Männerfiguren gegenüberstehen, sehr wichtig für die Handlung und den Fortgang der Geschichte sind. Ohne Lucys Tod, würde die Gruppe nicht zusammenfinden und Mina treibt die Handlung mit dem Transkribieren der Dokumente voran.
Der These über die Ablehnung der vorgeschriebenen Norm Lucys kann durchaus zugestimmt werden. Der Text präsentiert uns Lucy als kokette, junge Frau, die sich mit ihrer Rolle als Ehefrau zwar schließlich abfindet, indem sie sich mit Arthur verlobt, aber auch, wenn es gesetzlich möglich gewesen wäre, alle drei Männer geheiratet hätte. Auch weitere Anzeichen für eine Ablehnung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen finden sich im Roman, darauf wird noch näher eingegangen.
Die Figur Mina ist etwas komplexer angelegt und kann nicht in ein Verhaltensmuster gedrängt werden. Einerseits können die Argumente für internalisierte Weiblichkeit gefunden werden, Mina entscheidet sich für die Wertvorstellungen der Gesellschaft. Mutterschaft und Ehe entsprechen ihrem Naturell. Andererseits kann sie nicht als Idealfrau der viktorianischen Gesellschaft gelten. Dafür wurde die Figur viel zu aktiv angelegt. Sie arbeitet zu Beginn des Buches und unterstützt die Männer mit ihrem Verstand und ihren logischen Schlüssen. Dennoch wird Mina von den Männern zur weiblichen Idealfigur stilisiert und am Ende siegt das Bild einer idealen Ehefrau, die ihrem Mann ein Kind schenkt. Aber auch die liebe und ehrwürdige Mina ist vor einem Vampirangriff nicht gefreit, was noch im weiteren Verlauf der Geschichte herausgearbeitet wird.
2.3 Minas Tagebuch und die Ereignisse in Whitby
Um sich von der Sorge um Jonathan abzulenken begleitet Mina ihre Freundin Lucy nach Whitby. Hier finden sich ihre Tagebucheintragungen wieder. Whitby ist ein kleiner Küstenort in der englischen Grafschaft North Yorkshire.
Zuerst verbringen Lucy, ihre Mutter und Mina ein paar friedliche Tage in Whitby. Doch dann ereignen sich auch hier mysteriöse Vorfälle. Der Daily Telegraph meldet, dass in Folge eines schweren Unwetters ein Schiff, die Demeter, im Hafen von Whitby gestrandet sei. Außer dem an das Steuer gebundenen toten Kapitän befinden sich keine Menschen auf dem Schiff. Nur ein großer schwarzer Hund springt nach der Ankunft an Land und verschwindet spurlos. Aus dem Logbuch des Kapitäns erfährt man, dass sich offenbar "etwas" bzw. "ein fremder Mann" an Bord befunden habe und die Mannschaft Matrose für Matrose umgebracht habe.
Für den Leser ist klar, dass Graf Dracula es so nach England geschafft hat. In Gestalt eines Hundes kann er von Bord fliehen. Die Fracht des Schiffes sind 50 Kisten mit frischer Erde, die laut Anweisungen des Anwalts Billington übernommen und nach Carfax in London gebracht werden. Hier hat der Graf ja ein Anwesen gemietet.
Weiters hat Lucy ihre „alte Gewohnheit des Nachtwandelns“ wieder aufgenommen. Lucys Mutter macht sich große Sorgen um ihre Tochter.
„Frau Westenraa weiß, daß Nachtwandler gewöhnlich auf Dachfirsten und Klippenrändern spazieren gehen, dann aber plötzlich aufwachen und mit einem gräßlichen Schrei hinabstürzen.“ 33
Auch für Mina wird Lucys Verhalten immer erschreckender und sie macht sich Sorgen um ihre Freundin.
Da Bram Stokers Text zeitgleich mit Sigmund Freuds ersten Studien entstand, können hier natürlich Parallelen gezogen werden. Vor allem die Spaltung der weiblichen Psyche wird hervorgehoben. Lucy ist hier in zwei Bewusstseinszustände gespalten: In den Wachzustand und in den somnambulen Zustand. 34 Wenn sie schlafwandelt ist sie in einer Art Trancezustand. Sie hat nur Traumerinnerungen, was wirklich geschieht bleibt ihr verborgen und kann nur von Mina wiedergegeben werden. Die Differenz der Bewusstseinszustände wird noch deutlicher im weiteren Verlauf des Romans.
Den schrecklichen Höhepunkt erreicht Lucys Nachtwandeln unmittelbar als Dracula Whitby erreicht. Eines Nachts schafft es Lucy aus dem Haus zu gehen. Mina, die ihr Bett leer findet, macht sich schreckliche Sorgen. Schließlich findet sie Lucy an ihrem Lieblingsplatz bei der Kirche. Mina nimmt Lucy als „schneeweiße Gestalt“ wahr, während sich „etwas Dunkles“ über Lucys Gestalt beugt. Sehr intensiv wird hier mit der Dichotomie Licht und Dunkelheit gearbeitet. Lucy wird vom Mondlicht hell beschienen, sie sitzt bei der Kirche und wird als weiße Gestalt wahrgenommen, während Dracula sich ihr vom Friedhof her nähert, ihn umhüllt tiefe Finsternis und wird von Mina als etwas Dunkles stilisiert. Man könnte hier feststellen, dass der Roman bereits den Übergang Lucys von der viktorianischen Jungfrau zur dunklen Vampirin vorbereitet.
[...]
1 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S.13
2 Vgl. Kroner, Michael: Dracula Wahrheit, Mythos und Vampirgeschäft. Heilbronn: Johannis Reeg Verlag 2005
3 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S. 31
4 Vgl. Labes, Gregor: Ein Blick unter die Decke. Geschlechterrollen in Bram Stokers Dracula und der Francis Ford Coppola-Verfilmung. Diplomarbeit. Universität Wien 2002
5 Vgl. Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. Leipzig: Reclam Verlag Leipzig 1993
6 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S.40
7 Vgl. Kittler, Draculas Vermächtnis, S.25
8 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S.9
9 Vgl. Labes, Ein Blick unter die Decke, S.32
10 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S. 28
11 Labes, Gregor: Ein Blick unter die Decke. Geschlechterrollen in Bram Stokers Dracula und der Francis Ford Coppola-Verfilmung. Diplomarbeit. Universität Wien 2002, S. 32
12 Vgl. Guggi, Barbara: Nichtrealistische spätviktorianische Romane als Antworten auf kulturelle und soziale Probleme m Großbritannien des fin de siécle. Diplomarbeit. Graz 1999
13 Vgl. Schmidt, Petra: Bram Stokers „Dracula” und Mircea Eliades “Domnisoara Christina” aus quellengeschichtlicher Sicht. Diplomarbeit. Universität Wien 2009
14 Vgl. Keim, Christine: Frauenmission und Frauenemanzipation. Eine Diskussion in der Basler Mission im Kontext der frühen ökonomischen Bewegung. Münster: Lit Verlag 2005
15 Vgl. Schmidt, Bram Stokers „Dracula” und Mircea Eliades “Domnisoara Christina” aus quellengeschichtlicher Sicht, S.67
16 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S.77
17 Vgl. Schmidt, Bram Stokers „Dracula” und Mircea Eliades “Domnisoara Christina” aus quellengeschichtlicher Sicht, S.67
18 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S.81
19 Flocke, Petra: Vampirinnen: „Ich schaue in den Spiegel und sehe nichts“. Die kulturellen Inszenierungen der Vampirin. Tübingen: Konkursbuchverlag 1999
20 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S.81
21 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S.75
22 Vgl. Flocke, Vampirinnen: „Ich schaue in den Spiegel und sehe nichts“, S. 83
23 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S.74
24 Vgl. Flocke, Vampirinnen: „Ich schaue in den Spiegel und sehe nichts“, S. 83
25 Vgl. Case, Sue-Ellen: Geschlechterbestimmung der Schnittstelle. Gender, Geschlecht und Avatar. Paragrana: Akademie Verlag GmbH 2008
26 Vgl. Schmidt, Bram Stokers „Dracula” und Mircea Eliades “Domnisoara Christina” aus quellengeschichtlicher Sicht, S.68
27 Vgl. Labes, Ein Blick unter die Decke, S. 46
28 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S. 307
29 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S. 307
30 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S. 307
31 Vgl. Klemens, Elke: Dracula und seine Töchter. Die Vampirin als Symbol im Wandel der Zeit. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004
32 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S. 98
33 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2015, S. 97
34 Vgl. Sigmund Freud und das Wissen der Literatur, Hrsg. von Peter-André Alt und Thomas Anz. Berlin: Walter de Gruyter 2008