Max Webers politische Haltung zu ausgewählten Fragen während des Ersten Weltkriegs


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

35 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Max Webers Positionen und seine Reaktion beim Ausbruch des Krieges

2. Max Webers politische Haltung während des Krieges
2.1 Die Frage nach den Kriegszielen
2.2 Der „uneingeschränkte“ U-Boot-Krieg
2.3 Die Einstellung zu der Friedensforderung der Mehrheitsparteien

3. Max Webers politische Haltung bei Kriegsende und zum Beginn der Revolution
3.1 Die deutsche Situation bei Kriegsende und die Novemberrevolution
3.2 Der Versailler Vertrag und die Kriegsschuldfrage

4. Fazit

5. Quellenverzeichnis

6. Literaturverzeichnis

1. Max Webers Positionen und seine Reaktion beim Ausbruch des Krieges

Karl Jaspers urteilte 1932 in einem Buch über den berühmten Soziologen Max Weber1: „Max Weber war der größte Deutsche unseres Zeitalters"2 und „Hugo von Hofmannsthal sah in Weber die ,Begabung eines Cäsaren, der kein Geltungsgebiet findet‘ “.3 Man kann über diese Aussagen unterschiedlicher Ansicht sein, doch gilt es als unbestreitbar, dass Max Weber, auch viele Jahrzehnte nach seinem Tod 1920, noch immer viel zitiert und hoch geschätzt ist. Neben Karl Marx gilt der Jurist, Wirtschaftler, Soziologe und politischer Schriftsteller als der wohl bedeutendste deutsche Gesellschaftstheoretiker, der einen richtungsweisenden Einfluss auf die Entwicklung der Soziologie - vor allem auf die moderne Herrschaftssoziologie - und die Entstehung der Politikwissenschaft in Deutschland hatte. Es ist daher wenig verwunderlich, dass es kaum einen Studenten der Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften gibt, dem Max Weber noch nicht auf die ein oder andere Art und Weise begegnet ist. Bereits mit 29 Jahren erfolgte sein erster Ruf auf einen Lehrstuhl der Nationalökonomie in Freiburg, obwohl er seiner akademischen Ausbildung nach in erster Linie Jurist und Rechtshistoriker war. In seiner anschließenden Zeit in Heidelberg entstanden die meisten seiner bedeutenden Schriften, die ihn zu einem führenden Forscher und Theoretiker der deutschen Soziologie machten.4

Max Webers gesamtes Leben war geprägt durch fundamentale gesellschaftliche Umbrüche. Er erlebte wie sich im späten 19. Jahrhundert der soziale Umschwung hin zur modernen Massengesellschaft und –kultur vollzog und die kapitalistisch geprägte Weltwirtschaft entstand. Durch sein Zeugnis von radikalen Wandlungen und neuen Erscheinungen in nahezu allen sozio-kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen wird der Übergang in die beschleunigte Hochmoderne um das Jahr 1910 auch zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theorien und Forschungsansätze.5 Er schreibt: „Man hat den Eindruck, als säße man in einem Eisenbahnzuge von großer Geschwindigkeit, wäre aber im Zweifel, ob auch die nächste Weiche richtig gestellt werden würde."6

Weber war zwar ein überzeugter Liberaler7, war aber gleichzeitig auch der Auffassung, „dass die neuen gesellschaftlichen Probleme infolge der rapiden kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung mit den überkommenen Mitteln des Liberalismus nicht mehr zu lösen waren“.8 Auch kritisierte er das Bürgertum des Kaiserreichs. Er war der Meinung, dass dieses sich willig Otto von Bismarcks „Cäsarismus" ergeben hatte.9 Im politischen Erbe Bismarcks - dem Verfassungssystem des deutschen Kaiserreiches - sah er auch die Schwächen und innenpolitischen Probleme: Ein auf einen einzigen starken Politiker (Bismarck) zugeschnittenes System, ein machtloses Parlament, welches von diesem instrumentalisiert wurde bzw. sich instrumentalisieren ließ, sowie eine ausufernde Bürokratie bzw. Bürokratisierung der Politik.10 Er führte an, dass diese Bürokratisierung des Politikapparats in Verbindung mit einem rationalen Herrschaftsstil zwar Korruption und Vetternwirtschaft relativ effizient unterbinde, aber gleichzeitig das politische Gewicht hin zu einer überbordenden und undemokratischen Macht der Beamten verschiebe und damit eine flexible und leidenschaftlich-effiziente Politik verhindere.11

Max Webers Grundverständnis von sozialem Handeln, mit dem Ziel der Durchsetzung des eigenen Willens, war die Konfrontation. Dieses war somit gleichsam untrennbar mit Macht, Herrschaft und zwangsläufig auch mit sozialer Ungleichheit verbunden.12 „Kampf" ist für ihn ein fester und notwendiger Bestandteil der alltäglichen Lebensführung.13 Somit war auch sein Verständnis von Politik von einem Kampf und Konflikt um Macht, Deutungshoheit und Durchsetzungsfähigkeit geprägt.14 Weber ist daher immer zwar eine stets intellektuell-präzise, aber auch sehr kontroverse und unbequeme Person. Voll zur Geltung kommt dieses Naturell im Ersten Weltkrieg, den der Soziologe miterlebt hatte.15 Auch wenn es heute historisch als gesichert gilt, dass nicht alle in Deutschland bei Kriegsbeginn 1914 der frenetischen Begeisterung zustimmten16, so gingen beinahe alle Stimmen im Kaiserreich unter, die einem Krieg skeptisch gegenüberstanden. Eine nationale Begeisterung erfasste, ausgehend von den bürgerlichen Schichten, alle anderen breiten Teile der Bevölkerung. Auch eine große Mehrheit der Intellektuellen in Deutschland stimmte in diese scheinbar einheitlich klingende Begeisterung bei Kriegsausbruch ein.17 Hier sind Namen wie die der Historiker Friedrich Meinecke und Hans Delbrück oder die von Nationalökonomen wie Gustav Schmoller aber auch Theologen wie Friedrich Naumann zu nennen.18 Auch der intellektuelle Denker Max Weber ließ sich von der allgemein erscheinenden Begeisterung für den Krieg erfassen.19 In einem Brief an seinen Kieler Soziologenkollegen Ferdinand Tönnies vom 15. Oktober 1914 wird Max Weber besonders deutlich: „Dieser Krieg ist bei aller Scheußlichkeit doch groß und wunderbar, es lohnt sich, ihn zu erleben – noch mehr würde es sich lohnen, dabei zu sein, aber leider kann man mich im Feld nicht brauchen, wie es gewesen wäre, wenn er rechtzeitig – vor 25 Jahren – geführt worden wäre.“20 Wenngleich Max Weber die emotional aufgeladene positive Kriegsbegeisterung 1914 teilte, so kann doch mit großer Sicherheit gesagt werden, dass er – im Gegensatz zu vielen seiner intellektuellen Zeitgenossen – trotzdem eine gewisse Sachlichkeit und eine realistische Einstellung behielt, die ihn und sein Wesen generell kennzeichneten.21 Dies lässt sich unter anderem daran festmachen, dass er den berüchtigten „Aufruf der 93“ bzw. „Manifest der 93“ (Aufruf an die Kulturwelt)22, welcher im September 1914 von 93 deutschen Intellektuellen unterzeichnet und veröffentlicht wurde, nicht unterschrieb. Er „wettert[e] gegen die[se] ‚Ideen von 1914‘ mit dem Sonderweg einer antiwestlichen ‚deutschen Freiheit‘, “23 da sie in seinen Augen jeder realpolitischen Grundlage entbehren würden.24

Die vorliegende Arbeit hat somit die Zielsetzung, Max Webers politische Haltung sowie seine Erklärungs- und Lösungsansätze zu bestimmten Themen des Ersten Weltkrieges näher zu beleuchten. Dabei soll chronologisch vorgegangen und zudem bestimmte Spezifika und Eigenarten im politischen Denken Max Webers anhand der behandelten Themen während des Krieges herausgefunden werden. Abschließend werden diese in einem Fazit zusammengefasst. Gleichzeitig wird ein Ausblick auf die Aktualität der Weber‘schen Lösungsansätze gegeben, welche sich aus den behandelten Themen ableiten lassen.

2. Max Webers politische Haltung während des Krieges

Am 2. August 1914 meldete sich Max Weber während der deutschen Mobilmachung, wie viele andere auch, freiwillig zum Militärdienst; in seinem Falle beim Garnisonskommando in Heidelberg. Er wurde allerdings aufgrund seines Alters nicht als felddiensttauglich, sondern nur als Reservist eingestuft.25 Wie wir aus persönlichen Briefen Max Webers wissen, traf ihn diese Beurteilung schwer, zumal seine beiden Brüder, Alfred und Karl, und sein Schwager Hermann Schäfer an den Fronten eingesetzt wurden.26 Er hingegen wurde zum Lazarettdienst abkommandiert und als militärisches Mitglied in der Reserve-Lazarettkommission eingesetzt.27 „Vierzehn Monate lang war er mit der Einrichtung, Verwaltung und disziplinarischen Aufsicht von insgesamt 42 regionalen Lazaretten betraut“.28 Für Max Weber war die Arbeit in der Heidelberger Reserve-Lazarettkommission letzten Endes aber zutiefst unbefriedigend, so dass er um seine Entlassung aus dem Militärdienst ersuchte, die Anfang Oktober 1915 auch erfolgte.29

2.1 Die Frage nach den Kriegszielen

Nach der anfänglichen Euphorie bei Kriegsbeginn begann Max Weber allerdings seine Ansicht nach und nach merklich zu verändern. Nach der Marne-Schlacht am 4. September 1914 und dem Scheitern des „Schlieffenplans“ war abzusehen, dass ein schneller deutscher Sieg höchst unwahrscheinlich war. Hier zeigte sich erneut sein nüchtern-realistischer Blick, da er forderte, dass man jede Möglichkeit ergreifen solle, um zu einem Status-quo-Frieden zu kommen. Je länger der Krieg dauerte, desto pessimistischer wurden seine Aussichten und sein Glaube an einen erfolgreichen Ausgang des Krieges für Deutschland wurde in zunehmendem Maße kleiner. Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass er aufgrund seiner persönlichen Überzeugung zumindest zeitweise auch der offiziellen Interpretation Glauben schenkte, der zufolge dem deutschen Kaiserreich ein „Verteidigungskrieg" von außen aufgezwungen wurde.30

Ohne jeden Zweifel lässt sich sagen, dass Max Weber eine ausgeprägte deutsche Weltmachtspolitik befürwortet. Wie nahezu jeder Intellektuelle zu dieser Zeit war er fest davon überzeugt, dass nur der nationale Machtstaat die modernen gesellschaftlichen Kräfte binden könne und dass sich das deutsche Kaiserreich auf dieser Basis auch international in einem globalen System von Nationalstaaten im Kampf um ökonomische und politische Ressourcen alles Art behaupten müsse.31 Denn nationale Großflächenstaaten wären, so die damaligen politischen Theorien, nur als imperiale Mächte im Sinne ihrer nationalen Existenzsicherung ökonomisch konkurrenz- und kulturell überlebensfähig.32 Für Weber bestand also der geschichtliche Auftrag Deutschlands darin, große Machtpolitik zu betreiben, um genau diesen globalen Machtkampf bestreiten zu können33:

„Wir sind ein Machtstaat. Für jeden Machtstaat bildet die Nachbarschaft eines anderen Machtstaates ein Hemmnis in der Freiheit seiner politischen Entschließungen, weil er auf ihn Rücksicht nehmen muß.“34

Weber trat trotz alledem für eine rationale-gemäßigte Politik im Hinblick auf die Kriegsziele des deutschen Kaiserreiches ein. Hierbei spielten sein Pragmatismus und seine Fähigkeit zur schonungslosen, nüchternen Analyse eine große Rolle. Er stand damit in Opposition zu weiten Teilen der Gesellschaft, inklusive Regierung und Militär, die unter anderem weitgehende Annexionen französischer, belgischer aber auch osteuropäischer Gebiete, etc. forderten. Er verteidigte auch Reichskanzler Theobald v. Bethmann-Hollweg, der ebenfalls für einen europäischen Verständigungsfrieden ohne Annexionen eintrat. Allerdings kritisierte er auch dessen mangelnde Entschlossenheit. 35

Leider fanden diese kritischen Texte zur deutschen Außenpolitik, die, wie die Beiträge für die Frankfurter Zeitung, welche für ein breiteres Bildungsbürgertum gedacht waren, keine bzw. wenig Verbreitung. Dies lag größtenteils auch an der während der Kriegszeit allgemein geltenden Zensur. Als Beispiel ist hier sein Aufsatz „Zur Frage des Friedenschließens“ von 1916 zu nennen.36

Weber war ein entschiedener Gegner von Annexionen im Westen.37 Schon die Angliederung Elsass Lothringens 1870/71 nannte er einen Fehler. Durch sie sei Deutschland „weltpolitisch vollkommen gelähmt und sowohl Russland wie England gegenüber zur Ohnmacht verurteilt worden“.38 Zwar übte er Kritik an der offiziell neutralen Haltung Belgiens, als er in „Deutschland unter den europäischen Weltmächten“ den Sinn des deutschen Durchmarsches bei Beginn des Krieges durch das offiziell neutrale Land beschrieb: Nicht Eroberungsabsicht, „[s]ondern das Fehlen der effektiven Neutralität auf belgischer Seite. […] Entscheidend war: daß Belgien zwar seine Grenze gegen uns verteidigungsfähig gemacht hatte, sich aber außerstande gesetzt hatte, seine Grenze gegen Frankreich und England überhaupt zu schützen. Das war in der Tat »papierne«, nicht effektive Neutralität. […] Unser Interesse ist ein rein militärisches: Belgien darf kein Einfallstor unserer Feinde werden.“39 Somit sollte Belgien eigenständig bleiben und nicht an das Deutsche Reich annektiert werden, denn „die Flamen denken gar nicht daran, die deutsche Beherrschung für die französische eintauschen zu wollen. Die Revolte in Belgien würde in Permanenz sein, und wir würden im Westen niemals wieder die Hände frei bekommen. Wir wären Rußland preisgegeben.“40 Er begründet dies auch weiter:

„[…] Selbst wenn es möglich wäre, die Fehler von acht Jahrhunderten durch Annexionen wieder zu reparieren, so liegt doch eins auf der flachen Hand: nicht Belgien, welches an uns mit rein französischen Landesteilen grenzt, sondern – wie schon angedeutet – Holland müßte dann das Objekt unseres westeuropäischen Expansionsstrebens sein.“41

Die politischen und ökonomischen Kosten sieht Max Weber dafür allerdings als viel zu hoch an, wenn er schreibt, dass „nur durch militärische Gewalt oder durch Vergewaltigung (gleichviel mit welchen Mitteln) […] jetzt und künftig Holland zu irgend etwas, was einer Aufgabe seiner Selbständigkeit ähnlich sieht, veranlaßt werden [könnte].“ Am Ergebnis würde dies seiner Meinung nach allerdings dennoch nicht viel ändern: „Was haben wir uns von diesem Besitz zu versprechen? Zunächst […] keine »deutsche Rheinmündung«, ein Kanal nach Antwerpen ist nur durch holländisches Gebiet möglich.“42

Webers größte Sorge war, dass mit dieser übertriebenen Kriegszielpolitik, die auf weite Gebietsgewinne und Annexionen abzielte, einem künftigen Nachkriegsdeutschland jede Bündnisfähigkeit genommen würde: „Jegliche Annexions- und Vergewaltigungspolitik an der Westgrenze führt uns in eine Verwicklung von Todfeindschaften, welche unsere Macht für die Lösung der Probleme des Ostens dauernd lähmen.“43

Weber schreibt, dass es „für jeden Machtstaat […] wünschenswert [ist], von möglichst schwachen Staaten oder doch von möglichst wenigen anderen Machtstaaten umgeben zu sein. Unser Schicksal nun hat es gefügt, daß nur Deutschland an drei große Landmächte, und noch dazu die stärksten nächst uns, und außerdem an die größte Seemacht als unmittelbarer Nachbar angrenzt und ihnen also im Wege ist. Kein anderes Land der Erde ist in dieser Lage. […] Aber es folgt daraus allerdings auch, daß wir unsere Politik mit unserer geographischen Lage in Einklang bringen müssen.“44

Wie auch einst Reichskanzler Otto von Bismarck, sah Max Weber also eine absichernde und weitsichtige Bündnispolitik als essentiell an.45 Doch im Gegensatz zu Bismarck, dessen tieferliegendes Ziel die Isolierung Frankreichs war, wollte Weber mit seinem Ansatz jede sich in Zukunft anbietende, günstigste Bündnisoption für Deutschland prinzipiell zumindest ermöglicht wissen:

„Heute kann keine Weltmacht, auch nicht Rußland oder England, der Bündnisse für die Weltpolitik entbehren. Wir noch weniger als andere. Jede Bündnispolitik aber hat eine unumgängliche sachliche Voraussetzung: die möglichste Erhaltung der Wahlfreiheit [der Bündnisse]. […] Absolut notwendig aber ist, um eine zweckmäßige Politik nach dem Kriege zu ermöglichen, die Fernhaltung jeder weiteren nutzlosen Beschränkung unserer Wahlfreiheit, solange dies möglich ist.“46

Er lehnte auch Expansionen bzw. Gebietserwerbungen nach Übersee weitestgehend ab, wenn diese mit dem Ziel, Englands indisches und ägyptisches Kolonialreich, sowie das gesamte britische Empire zu zerstören bzw. zu erobern, verbunden sein sollten. Dies wäre (im Gegensatz zur durchaus praktisch möglichen Annexion Belgiens) nicht nur sinnlos sondern auch utopisch47:

„Man hat von dem »Ende des englischen Weltreichs« als Kriegsziel gefabelt, – als ob das englische Weltreich auf dem Besitz etwa des Suezkanals und ähnlicher Dinge und nicht vielmehr auf der nationalen Gemeinschaft der Angelsachsen beruhte, die nun einmal mehrere Kontinente teils ganz, teils halb besiedelt haben und die doch nun einmal von dort nicht durch uns herausgejagt werden können. Oder man hat von dem Ende der englischen Seemacht geredet. […] [Aber] die ruhmvolle Seeschlacht beim Skagerrak [hat] auch jedem Laien gezeigt, wofür wir Schlachtschiffe brauchen. Ohne sie hätten wir die englische Landung in Dänemark. Wir brauchen sie auch, um England im Angriffsfall so schädigen zu können, daß es sich zweimal besinnt, uns anzugreifen. Und das wird es künftig tun. »Vernichten« aber können wir einander nun einmal nicht.“48

Für eine künftige Weltmachtpolitik Deutschlands hielt er eine Annäherung an England und auch an Frankreich sogar teilweise für notwendig, da er davon ausging, dass das zaristische Russland der Hauptfeind Deutschlands und der einzige Feind sei, der die Existenz des Kaiserreiches wirklich gefährden könne:49

„England kann unseren Handel abschneiden […], Frankreich könnte uns im Fall eines Sieges eine Provinz abnehmen. Keine der beiden Mächte und auch nicht beide zusammen könnten jemals unsere Existenz als Nation und Großmacht wirklich dauernd vernichten. Die einzige Macht, von der uns etwas Derartiges drohen kann, ist aus geographischen und nationalpolitischen Gründen Russland. […] Aber auch abgesehen davon steht fest: jede Macht, die uns künftig bedrohen könnte, insbesondere also Russland, würde im Fall [von] […] Annexion[en] nunmehr die vollkommene Sicherheit haben, nicht nur wie jetzt: Frankreich, sondern: Frankreich und England auf seiner Seite zu haben.“50

Aus Sicht des Verfassers lässt es sich nicht vollständig klären, ob Max Weber nicht zwangsläufig ein Gegner von Annexionen war.51 Seiner Aussage der Wahlfreiheit von Bündnissen und einer realistischen Bündnispolitik in alle Richtungen steht die folgende Meinung von ihm gegenüber: Annexionen sollten im Westen vermieden werden, um nicht jegliche Chance für ein künftiges Bündnis Deutschlands, vorzugsweise mit Westnationen, zum Schutz vor Russland zu verhindern. Denn wie bereits erwähnt war Russland - in seiner derzeitigen Form - der einzige wirkliche Hauptfeind Deutschlands in Webers strategischem Denken:

„Rußland bedroht nicht nur unsere staatliche Stellung, sondern unsere ganze Kultur und darüber hinaus die Weltkultur, solange es so geartet ist wie jetzt. In dieser Art trifft das für keine andere Macht zu. Unter universalgeschichtlichen Gesichtspunkten werden künftig die Streitpunkte im Westen, wegen Belgien, als Lappalien erscheinen gegenüber den Entwicklungen im Osten, welche Weltentscheidungen bedeuten.“52

Es finden sich allerdings genügend Hinweise, dass Weber ebenfalls keine direkten Annexionen in Osteuropa favorisierte, denn er begrüßte keinerlei Einbeziehungen von nicht-deutschen oder feindlichen Bevölkerungen in den deutschen Nationalstaat.53 In Folgendem jedoch entsteht aus Sicht des Autors zumindest ein geringer Widerspruch: einerseits erschien ihm die Aufteilung Mittel- und Osteuropas in Nationalstaaten weder wünschenswert noch realisierbar, andererseits war er für die Förderung der Unabhängigkeit kleinerer osteuropäischer Nationen von Russland (besonders Polen und das Baltikum) und deren engere Anlehnung an Deutschland. Es existierten auch konkrete Pläne, eine mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft unter der Führung des deutschen Kaiserreiches zu etablieren. In dieser sollten die weitgehend autonomen Staaten dann unter dem militärischen Schutz des Reichs stehen und mit diesem auch wirtschaftlich verbunden sein.54 Dies wäre die beste Möglichkeit der Sicherung gegenüber dem groß-russischen Imperialismus.55 Nach Ansicht des Verfassers ist dies zwar kein Hinweis für eine Forderung von direkten Annexionen im Osten, allerdings durchaus ein Hinweis für eine deutsche „Einflusszone“ mit faktischen deutschen „Protektoraten“ in Mittel- und Osteuropa.

Wie bereits erwähnt lehnt sich Weber oft an die Strategie der Außenpolitik Bismarcks an, jedoch nicht an deren Ziel, nämlich der Isolierung des „Erbfeindes Frankreich“ :

„Was folgt nun aus dem Gesagten? Zunächst: daß alle Friedensziele töricht sind, die jedem Hunde der feindlichen Meute ein Stück vom Schwanz abhacken würden. Das hat Bismarck 1866 weislich vermieden.“56

Entscheidend bleibt für ihn aber vor allem das Folgende: „[…] verständigen werden wir uns nach dem Krieg unter allen Umständen mit dem, der uns die besseren Garantien gibt; er sei, wer er wolle. […] Unabhängig aber muß diese Frage bleiben von unsachlichen Motiven: von Haß, von Eitelkeit und unabhängig vor allem auch: von innerpolitischen Sympathien.“57

2.2 Der „uneingeschränkte“ U-Boot-Krieg

Max Weber verfolgte aber nicht nur bei der Kriegszielfrage eine gemäßigte, realistische Position, sondern er wandte sich auch gegen weitere politische Fehlentscheidungen, ausgelöst durch mangelndes politisches Verantwortungsbewusstsein, die den Krieg zu Ungunsten des Kaiserreiches ausgehen lassen würden. Es lässt sich feststellen, dass es einen besonderen Punkt gibt, der Weber in punkto Kriegsausgang – völlig zu Recht – negativ in die Zukunft blicken lässt: der mögliche Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika auf Seiten der Gegner Deutschlands. Sowohl Politik und Diplomatie, als auch das Militär mit den Verantwortlichen der Deutschen Obersten Heeresleitung (OHL) hatten die Gefahr eines Kriegseintritts der USA und dessen Auswirklungen seiner Meinung nach nicht nur unterschätzt, sondern auch durch die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, also dem Befehl, dass deutsche U-Boote auch ohne vorausgehende Warnungen Handels- und Frachtschiffe aller Nationen in den Gewässern rund um England angreifen können, den offenen Kriegseintritt Amerikas provoziert sowie in Kauf genommen.

Max Weber schrieb 1916 an seine Frau: „Unglaublich der Optimismus der Militärs und Politiker bezüglich eines Kriegs mit Amerika“.58 Beide hatten im Jahr 1904 eine Rundreise durch die Vereinigten Staaten gemacht und einen Einblick in das gewaltige ökonomische Potenzial des Landes bekommen.59

Seit dem Herbst 1916 war es für beide Kriegsparteien relativ offensichtlich, dass mit den bisherigen Methoden der Kriegsführung der Krieg nicht so schnell beendet sein würde. Unter anderem aus diesem Grund und aufgrund des massiven öffentlichen Drucks60 (u.a. vonseiten der deutschen Admiralität und konservativen sowie alldeutschen Kreisen61 ) im Spätherbst 1916, entschied sich die Reichsleitung, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg anzuwenden, um England durch dieses angeblich unfehlbare Mittel doch noch in absehbarer Zeit zum Frieden bewegen zu können. Es herrschte die Auffassung und der Glaube daran, dass dies geschehen müsse und geschehen würde, bevor die USA mit eigenen neuen Streitkräften in das Kampfgeschehen in Europa eingreifen würden.62

Max Weber bemerkt dazu:

„Wie soll es auf unsere Leute an der Front wirken, wenn in Denkschriften, in der Presse, durch Briefe und auf alle mögliche sonstige Art ihnen vorgeredet wird, daß es ein Mittel gäbe, dem Krieg in wenigen Monaten ein Ende zu machen? Wie denkt man, daß unsere Leute auf die Dauer diese psychischen Strapazen aushalten? […] Es erscheint unbegreiflich, wie die Berliner Zensur diese Agitation gegen den Reichskanzler zulassen kann. Das wäre in einem parlamentarisch regierten Lande nicht möglich. Es waren nicht Leute mit starker Seele und kräftigen Nerven, die hinter den Demagogen des U-Bootkrieges herliefen, sondern hysterische schwache Seelen, die die Kriegsbürde nicht mehr tragen wollten. Wenn das weiter geduldet wird, kann die Folge nur eine hysterische Demoralisation sein. Der Krieg muß aber noch durchgehalten werden, vielleicht noch jahrelang. Die wirklichen Gründe der U-Boot Agitation liegen ja zum Teil auf dem Gebiet der inneren Politik.“63

Max Weber bezog daher speziell gegen den verschärften und später uneingeschränkten U-Boot-Krieg Stellung. Er fordert: „Gegen die U-Boot-Demagogie muß eingeschritten werden [mit Keulenschlägen von oben], sonst weiß ich nicht, wozu wir Monarchie heißen“.64

Zusammen mit dem Professorenkollegen Felix Somary verfasste Max Weber Anfang März 1916 eine Denkschrift gegen den verschärften U-Boot-Krieg. Er übermittelte sie anschließend den Parteiführern des Reiches, einigen Abgeordneten sowie dem Auswärtigen Amt. Dieses leitete die Schrift sogar an Reichskanzler Bethmann-Hollweg weiter. 65 In dieser Schrift führt Weber schonungslos aus, welche Folgen ein Kriegseintritt der USA für das Deutsche Kaiserreich haben würde: Neben einer militärischen Niederlage Deutschlands würde das Eingreifen der USA auch eine gewaltige ökonomische Depression zur Folge haben, deren wirtschaftliche, soziale und politische Auswirkungen noch nicht abzuschätzen seien.66 In seiner Denkschrift geht Max Weber auch auf militärische, ökonomische, logistische und technische Details bzw. Schwierigkeiten ein, England mit Hilfe des uneingeschränkten U-Boot-Krieges überhaupt in die Knie zwingen zu können.67

Somit erkannte Weber nicht nur, dass die wirtschaftliche Überlegenheit der Gegner Deutschlands durch den Kriegseintritt der USA für Deutschland, trotz eventueller kurzfristiger militärischer Erfolge, auf lange Sicht die Niederlage bedeuten würde, sondern auch, dass es unwahrscheinlich bis unmöglich war, mithilfe des U-Boot-Krieges England zu besiegen, noch bevor die Vereinigten Staaten eine militärische Rolle auf den Schlachtfeldern Europas spielen würden.

„Es steht leider fest, daß Amerika bei einem Eingreifen so gut wie nichts riskiert und den Krieg zeitlich unbeschränkt führen kann. […] Jeder Kenner Amerikas muß [es] als wahrscheinlich ansehen, daß ein Krieg von ihm mit mindestens der gleichen Hartnäckigkeit geführt würde wie bisher von England, und daß im Falle unserer Unfähigkeit, ihn durchzuhalten, wir überaus schmähliche Bedingungen annehmen müßten. […] Falls nicht eine überaus schnelle Kapitulation Englands erzwungen wird – eine Chance, von der noch zu sprechen ist –, bedeutet das Eingreifen Amerikas eine Verlängerung des Krieges um mehrere Jahre. […] Fest steht jedenfalls: unsere Gegner würden durch ein nicht unbedingt verspätetes Eingreifen Amerikas materiell und moralisch auf praktisch unabsehbare Zeit zur Fortführung des Krieges befähigt.“68

In einem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten, aus Berlin geschriebenen Brief findet Max Weber noch deutlichere Worte: „Inzwischen ist die Gefahr mit Amerika auf dem Höhepunkt. Und mir ist, als ob eine Horde Irrsinniger uns regierte. Alle Leute, die vor vierzehn Tagen meiner Ansicht waren, sind umgefallen.

[...]


1 Karl Jaspers und Max Weber galt nicht nur als der geistige Wegbereiter und Förderer von Karl Jaspers, die beiden verband auch eine innige Freundschaft, vgl. Csef, 2014.

2 Zit. in: Cammann, 2014.

3 Zit. in: Ebd.

4 Weiß, o.O.u.J.: 4.

5 a) Hübinger, 2014.

6 Zit. in: Cammann, 2014.

7 In seiner Antrittsvorlesung sagt Weber selbst über sich: "Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen […] fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen." Zit. in: Cammann, 2014.

8 Zit. in: Kutz, 2005: 4; vgl. Mommsen, 1974, S. 1-21.

9 a) Hübinger, 2014.

10 Kutz, 2005: 4 (Fußnote 8).

11 Beste, 2014.

12 Imbusch, 2010: 161f.

13 a) Hübinger, 2014.

14 Vgl. dazu Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland: 327, Fußnote 5 („Politik ist: Kampf.“).

15 a) Hübinger, 2014.

16 Auch der Stadt-Land Gegensatz spielte hierbei anscheinend eine gewisse Rolle. Kaesler, 2014.

17 Ebd. und Mommsen, 1993: 26; Vgl. dazu auch: Mommsen, 1996 und Kaesler, 2008.

18 Schwabe, 1961: 603ff. und allgemein: Mommsen, 1996.

19 Kaesler, 2014, Vgl. auch Mommsen, 1974: S. 206f.

20 Zitiert in: Kaesler, 2014.

21 Cammann, 2014; Kutz, 2005: 6.

22 Der „Aufruf an die Kulturwelt“ wurde als Reaktion auf die angelsächsische Propaganda verfasst, die das Deutsche Heer als kulturvernichtende Barbaren darstellte. Er richtete sich in erster Linie an die im Ersten Weltkrieg noch neutralen Staaten und versucht, die Vorwürfe gegen Deutschland zu entkräften, indem es die deutschen Maßnahmen als Selbstverteidigung in Notwehr porträtiert. Vgl. dazu: Der Aufruf der 93 "An die Kulturwelt!" (1914) und Ungern-Sternberg, 1996.

23 Zit. in: a) Hübinger, 2014; Vgl. auch Mommsen, 1989: 525.

24 Kutz, 2005: 6.

25 Kaesler, 2014; Schulz, 2014, Vgl. auch Mommsen, 1984: 3.

26 Kaesler, 2014; Sein Bruder Karl (August 1915) und Hermann Schäfer (August 1914) fielen bald darauf an der Front, Vgl. dazu auch: Kaesler, 2008.

27 Cammann, 2014.

28 Zit. in: a) Hübinger, 2014: 36; vgl. auch: Kaesler, 2014.

29 Kaesler, 2014.

30 Kaesler, 2008.

31 Vgl. Aron, 1965: 114.

32 a) Hübinger, 2014: 38.

33 Vgl. Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, 1988: 23.

34 Zit. In: Weber, Max: Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1988.

35 a) Hübinger, 2014: 38, Kutz, 2005: 6f.

36 Kutz, 2005: 6f., Schulz, 2014.

37 Kaesler, 2008.

38 Zit. In: Schulz, 2014.

39 Zit. in: Weber, Max: Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1988.

40 Zit. in: Ebd.

41 Zit. in: Weber, Max: Zur Frage des Friedenschließens, 1988.

42 Beides zit. In: Ebd.

43 Zit. in: Ebd.

44 Zit. in: Weber, Max: Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1988.

45 Vgl. Weber Max: Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart I: Dreibund und Westmächte, 1988; und Weber Max: Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart II: Dreibund und Rußland, 1988.

46 Zit. in: Ebd.

47 Vgl. Weber, Max: Zur Frage des Friedenschließens, 1988.

48 Zit. in: Weber, Max: Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1988.

49 Aron, 1965: 109.

50 Zit. in: Weber, Max: Zur Frage des Friedenschließens, 1988.

51 Vgl. dazu Müller; Sigmund, 2014: 207 und Kaesler, 2008.

52 Zit. in: Weber, Max: Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1988.

53 Aron, 1965: 109.

54 Kutz, 2005: 7; Aron, 1965: 109, Vgl. auch Beyme, 2009: 394.

55 Aron, 1965: 109.

56 Zit. in: Weber, Max: Deutschland unter den europäischen Weltmächten, 1988.

57 Zit. in: Ebd.

58 Zit. in: Schulz, 2014.

59 Schulz, 2014.

60 Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg wurde von einigen Kreisen im Deutschen Reich, besonders dem Militär, immer aggressiver gefordert, um sowohl die englische Handelsblockade als auch die englische Seemacht zu brechen. vgl. allgemein z.B. Salewski, 2009: 830, und Wande, 2015.

61 Weber, Max: Der verschärfte U-Bootkrieg, 1988: 146, Fußnote 1.

62 Mommsen, 1993: 31.

63 Zit. in: Max Weber, Deutschlands weltpolitische Lage, 1988.

64 Zit. in: Wesseling, 1998; siehe auch a) Hübinger, 2014: 38.

65 Weber, Max: Der verschärfte U-Bootkrieg, 1988: 146, Fußnote 1.

66 Schulz, 2014.

67 Vgl. Weber, Max: Der verschärfte U-Bootkrieg, 1988.

68 Zit. in: Weber, Max: Der verschärfte U-Bootkrieg, 1988.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Max Webers politische Haltung zu ausgewählten Fragen während des Ersten Weltkriegs
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft bei Max Weber
Note
2,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
35
Katalognummer
V321002
ISBN (eBook)
9783668202139
ISBN (Buch)
9783668202146
Dateigröße
499 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Max Weber, Erster Weltkrieg, Politische Theorie, Soziologie
Arbeit zitieren
Christian Rucker (Autor:in), 2015, Max Webers politische Haltung zu ausgewählten Fragen während des Ersten Weltkriegs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/321002

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