Paul Virilio und Hartmut Rosa unter dem Aspekt der Resilienz

Sind Kindheitserfahrungen und politische Situationen beider Autoren verantwortlich für ihre Motive in der akademischen Arbeit?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Paul Virilio – Leben und Wirken
2.1 Virilio – Krieg und Geschwindigkeit
2.2 Virilios Haltung anhand examplarischer Aussagen seiner Selbst

3. Der Begriff Resilienz
3.1 Virilio unter dem Aspekt der Resilienz

4. Hartmut Rosa – Leben und Wirken
4.1 Rosa – Von der Beschleunigung zur Resonanzerfahrung
4.2 Rosa unter dem Aspekt der Kindheit und Jugend

5. Virilio vs. Rosa

6. Schlussbetrachtung

Literatur

1. Einleitung

„Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.“

Platon

„Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.“

George Orwell

Bereits der 1903 geborene Orwell erkannte es. Zeit mag man haben oder nicht, sie bildet eine Konstante im Leben eines jeden Einzelnen. In der Grundschule lernte ich, dass eine Sekunde so lang ist wie man die Zahl 21 ausspricht. Einundzwanzig. Trotzdem scheint sie von Dekade zu Dekade und Generation zu Generation immer schneller zu verlaufen. Was Orwell damals als schnell erschienen mag, dürfte für die Jugend des 21. Jahrhunderts mit einem Powernap vergleichbar sein.

Geschwindigkeit ist zum Sinnbild der heutigen Moderne avanicert und Paul Virilio als geistiger Vater der Dromologie zählt zu den Ersten und Wenigen, die sich explizit mit der Thematik auseinandersetzen. Hierbei bedeutet Geschwindigkeit nicht nur die schelle Überbrückung von Punkt A nach Punkt B. Sie dient ebenfalls dazu, die gegenwärtige Welt (durch Technik) wahrzunehmen, zu sehen und auch ohne körperliche Anwesenheit handeln zu können.[1] Als Orwells dystopischer Roman „ 1984“[2] erschien, war Paul Virilio, der sich später ebenfalls mit Kriegs- und Überwachungstechnik[3] beschäftigen sollte, 17 Jahre alt.

Lange kam man um Virilio nicht herum, wenn es um Geschwindigkeit und Beschleunigung ging, doch inzwischen und gerade seit dem Millenium finden sich auch wissenschaftliche Arbeiten anderer Autoren jeglicher Couleur (z.B. von dem Sozialanthropologen Thomas Hylland Eriksen[4], dem Literaturwissenschaftler Ralf Schnell[5] oder dem Jesuiten-pater und Rechtsphilosophen Norbert Brieskorn[6] ). Besonders in Deutschland hat sich der Soziologe Hartmut Rosa auf diesem Gebiet eine sichere Reputation geschaffen: „Es ist kein Zufall, dass zumindest im deutschsprachigen Diskurs mittlerweile meist nicht der irrlichtende Virilio, sondern der solide Hartmut Rosa herangezogen wird, wenn es um den Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und moderner Gesellschaft geht.“, schreibt Christoph Forderer in der taz.[7] Neben der steigenden Beliebtheit für Rosa in Deutschland fällt auch eine zunehmende Kritikbereitschaft an Virilio auf. Sei es nun, dass er als „Epigone seiner selbst“[8] oder als „polemisch“[9] bezeichnet wird. Dabei weist Virilio in Gesprächen regelmäßig auf seine Ambition hin, sich auschließlich für die „Kehrseite der produktiven Vernunft“ zu inte-ressieren, da mit jeglicher technischen Erfindung auch der dazu-gehörige Unfall erfunden werde,, was er auch wiederholt mit seinen Kriegserfahrungen in der Kindheit begründet.[10] Daraus ergibt sich die Fragestellung, ob Paul Virilios und Hartmut Rosas unterschiedliche Herangehensweisen zur Thematik der Geschwindigkeit in der Kindheit beider Autoren liegen. Sind beide Autoren kompromisslos durch die politische Lage, in der sie heranwuchsen, in ihrer Wahrnehmung und Weltsicht beeinflusst?

Aus diesem Grund beschäftigt sich die folgende Arbeit mit den Ursachen für Virilios Interesse an den negativen Seiten der technischen Errungenschaften. Mögliche Aspekte für unterschiedliche Bewertungen und Wahrnehmungen von Paul Virilio und Hartmut Rosa unter dem Aspekt der Kindheit sowie Jugend und den jeweiligen politischen Situationen dort sollen beleuchtet werden.

2. Paul Virilio – Leben und Wirken

Der für seine Dromologie[11] bekannte Virilio wird 1932 in Paris geboren, wächst während der Weltkriegsjahre in Nantes auf und entkommt dort als Sohn eines vor Mussolini geflüchteten Kommunisten knapp einem Erschießungskommando der Gestapo[12]. Nach seinem Militärdienst als Kartograph in Freiburg 1952 und seiner Teilnahme am Algerienkrieg 1956 beginnt er als Glasermeister für Henri Matisse und Gorge Braque zu arbeiten. Zur gleichen Zeit belegt Virilio philosophische Kurse von Vladimir Jankélévitch, Jean Wahl sowie Raymond Aron an der Sorbonne und beschäftigt sich mit Gestaltpsychologie.[13] Außerdem studiert er bei Maurice Merleau-Ponty und ist als autodidaktischer Architekt 1963 Mitbegründer der Gruppe Architecure Principe.[14]

Virilio wird 1968 Direktor der Zeitschrift L’Espace Critique und unterrichtet zeitgleich an der École de Speciale Architecture, wo er 1989 bis zum Vorstandsvorsitzenden der Hochschule aufsteigt.[15] 1975 wirkt er an der Ausstellung zu der von ihm begründeten Bunker-archäologie im Musée des Arts décoratifs mit und gewinnt 1987 den Grand Prix National de la Critique. Zwei Jahre später arbeitet Virilio am Pariser Collège international de philosophie. 1998 zieht er sich schließlich aus der Lehre zurück und widmet seither einem Großteil seiner Zeit der Unterstützung von Benachteiligten und Obdachlosen.[16]

2.1 Virilio – Krieg und Geschwindigkeit

Die moderne Kommunikationstechnologie tritt für Virilio das Erbe der vorangegangen Fahrzeugtechnologie an.[17] Die sich ständig beschleuni-genden Bewegungsvorgänge in allen Lebensbereichen sind bedeutend bei seiner Analyse der „postmodernen Gesellschaft“[18] und stellen auch das Kernproblem für ihn dar. Er verweist immer wieder auf konkrete sozialhistorische Begebenheiten, um zu belegen, dass Krieg der eigent-liche Initiator des menschlichen Willens zu immer mehr Beschleunigung ist.[19] Sämtliche Formen der Geschwindigkeit beinhalten für ihn eine kriegerische Logik, die sich komplett durch die menschliche Geschichte ziehe.[20] Dazu zählt Virilio auch die Medienentwicklung, deren stetig besser werdende Bildauflösung und zunehmend schnellere Datenüber-tragung eine “Derealisierung des Krieges” zur Folge hätten.[21] So sieht er im ersten Golfkrieg auch den “ersten totalen elektronischen Weltkrieg”[22], den die Bevölkerung im Westen als solchen gar nicht wahrgenommen hat. Bilder von Zerstörung konnten en détail sowie in Echtzeit rezipiert werden, wirkten sich jedoch nicht auf das eigene Gemüt und Sicherheitsempfinden aus.

Allerdings ergibt die militärische Bestrebung nach Geschwindigkeit für Virilio eine Kausalität, die auch in die andere Richtung funktioniert. Krieg sei genauso ursächlich für Geschwindigkeit wie umgekehrt, weswegen er diese beiden Begriffe einfach gleichsetzt:[23] „Geschwindig-keit ist Krieg.“[24]

2.2 Virilios Haltung anhand examplarischer Aussagen seiner Selbst

Zunächst einmal ist da das plötzliche Bewusstsein, daß der Krieg Raum und Zeit betrifft; daß er nicht nur ein Problem von Erwachsenen ist – ich bin zu jung, um die politischen Zusammen-hänge zu verstehen; für mich werden sich Raum und Zeit brutal verändern. Mit acht Jahren wird mir plötzlich klar, daß die Welt nicht stabil ist: daß sie nicht nur unstabil ist, sondern abhängig ist, abhängig von Technologien, Transport- und Übertragungstechniken, die die Welt destabilisieren und zerstören.[25]

Virilio reduziert die Komplexität des historischen Wandels allein auf die Kriegsdynamik und beschreibt nur diese als Ursachen für geschichtliche Prozesse. Durch seine eigenen Kriegserfahrungen macht er es sich zum persönlichen Anliegen, den Krieg, seine Technologien und den Fortschritt kritisch zu dokumentieren und zu beschreiben. Dabei liegt sein Augenmerk ausschließlich auf der Dokumentation der destruktiven Seiten der modernen Technik:

Meine eigene Perspektive als Dromologe ist stets eine kritische, eine negative, und die Titel meiner Bücher zeigen dies über-deutlich [...], die das Gewaltsame an der Geschwindigkeit wiedergeben sollen, die unheimliche Wirkung der Auflösung und der Zerstörung, den die Geschwindigkeit auf die Dinge und die Räume ausüben kann. Die Geschwindigkeit entwirklicht die Welt, entweltet, wenn man das so sagen kann. [26]

Hierfür sucht er sich, wie im folgenden Beispiel, gezielt Negativ-aussagen für seine Argumentationsstränge aus der Geschichte und Literatur aus, um diese zu rezitieren und auf die Gegenwart anzuwenden. Wie im folgenden Beispiel findet eine Diskussion mit Positivbeispielen nicht statt:

Für den Maler Paul Klee hieß es noch, wenn man teilen wollte, stürben die Teile ab. (Tagebücher Nr. 638)[27] [sic!] Ist es nicht dieser Frevel, den die Telekommunikationstechniken vollziehen, wenn sie das Gegenwärtige von seinem „Hier und Jetzt“ [sic] isolieren und dafür ein umschaltbares Anderswo anbieten, das nichts mehr mit unserem konkreten In-der-Welt-Sein zu tun hat, sondern lediglich mit einer diskreten, flackernden Telepräsenz?[28]

[...]


[1] Vgl.: Virilio, P.: Fluchtgeschwindigkeit, München 1996, S.23.

[2] Orwell, G.: 1984, London 1949.

[3] Vgl.: Virilio, P.: Die Sehmaschine, Berlin 1989.

[4] Eriksen, T.H.: Thyranny of the Moment: Fast and Slow Time in the Information Age, London 2001.

[5] Schnell, R.: Beschleunigung, Stuttgart 2001.

[6] Brieskorn, N./Wallacher, J.: Beschleunigen, Verlangsamen: Herausforderungen an zukunftsfähige Gesellschaften, Stuttgart 2001.

[7] In:http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=pb&dig=2012%2F09%2F08%2Fa00 47&cHash=7e8c5fea6a85dd6269f58026238f78f4 (Stand: 25.01.2015).

[8] Ebd.

[9] Vgl.: http://www.zeit.de/2011/43/Nachruf-Kittler (Stand.26.01.2016), S.2.

[10] In: Rötzer, F.: Französische Philosophen im Gespräch, München 1987, S.152.

[11] Virilio, P.: Geschwindigkeit und Politik, Berlin 1980.

[12] Vgl.: Virilio, P.: Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986, S.9.

[13] Vgl.: Moebius, S./Quadflieg, D.: Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2011, S.559.

[14] Vgl.: European Graduate School EGS (2012): http://www.egs.edu/faculty/paul-virilio/biography/ (Stand: 1.6.2015).

[15] Vgl.: Ebd.

[16] Vgl.: Ebd.

[17] Vgl.: Moebius, S./Quadflieg, D.: Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2011, S.418.

[18] In: Ebd.

[19] Vgl.: Ebd.

[20] Vgl.: Ebd.

[21] In: Morisch, C.: Technikphilosophie bei Paul Virilio: Dromologie, Würzburg 2002, S.81.

[22] In: Virilio, P.: Krieg und Fernsehen, Frankfurt/Main 1997, S.35.

[23] Vgl.: Yeh, S.: Anything goes? Postmoderne Medientheorien im Vergleich, Bielefeld 2013, S.270.

[24] In: Virilio, P.: Geschwindigkeit und Politik, Berlin 1980, S.187.

[25] In: Virilio, P.: Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin 1993, S.49.

[26] In: Virilio, P.: Aussichten des Denkens, München 1994, S.115f.

[27] Vgl.: Klee, P.: Tagebücher 1898-1918, Stuttgart 1988, S.214.

[28] In: Virilio, P.: Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin 1993, S.49.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Paul Virilio und Hartmut Rosa unter dem Aspekt der Resilienz
Untertitel
Sind Kindheitserfahrungen und politische Situationen beider Autoren verantwortlich für ihre Motive in der akademischen Arbeit?
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Publizistik- und Kommunikationswissenschaft)
Veranstaltung
Debatten zur Kultur- und Medientheorie
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
21
Katalognummer
V322040
ISBN (eBook)
9783668212787
ISBN (Buch)
9783668212794
Dateigröße
897 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Virilio, Paul, Rosa, Hartmut, Resilienz, politische, Situation, akademische, Arbeit, Kommunikationsgeschichte, Kulturtheorie, Medienkultur, Publizistik, Kommunikationswissenschaft, Dromologie, Unfall, Resonanz, Geschwindigkeit, Beschleunigung, rasender, Stillstand, Bunker, Psychologie, Emmy, Werner, Soziologie, Politik, Ethnologie
Arbeit zitieren
Sibel Özkilic (Autor:in), 2016, Paul Virilio und Hartmut Rosa unter dem Aspekt der Resilienz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/322040

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