Der Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ (2012) von Jean-Paul Robert. Filmanalyse und Interpretation


Seminararbeit, 2015

9 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe

Inhalt

1. Der Film und das Ziel dieser Arbeit

2. Geschichtlicher Hintergrund

3. Filmanalyse
3.1. Bild, Ton und Schnitt
3.2. Dramaturgie bzw. Aufbau

4. Interpretation
4.1. Der Film als Anklage
4.2. Fazit: Dieser Film ist wichtig

Literatur

1. Der Film und das Ziel dieser Arbeit

Der Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ (2012) von Jean-Paul Robert ist eine Geschichtsbetrachtung der Kommune Friedrichshof (Burgenland) - der sogenannten Otto Mühl- Kommune. Der Regisseur wurde im Jahr 1979 in diese Kommune hineingeboren und wuchs dort bis zu seinem 12. Lebensjahr auf.

Erstmals bei der Viennale 2012 gezeigt und ab April 2013 in den österreichischen Kinos, wurden ihm jeweils in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ der Grierson-Award des London Film Festivals 2013, der Wiener Filmpreis 2014 und der Österreichische Filmpreis 2014 zugesprochen. Diese Arbeit soll die Vorgangsweise und die Mitteln besprechen, mit denen der Regisseur die Vergegenwärtigung seiner Vergangenheit vollzieht.

2. Geschichtlicher Hintergrund

Nach einer gescheiterten Ehe gründete der Aktionskünstler und Maler Otto Muehl in seiner Wohnung in der Wiener Praterstraße seine erste Kommune. Zwei Jahre später (1972) kauften die Kommunenmitglieder einen verlassenen Gutshof auf der Parndorfer Heide, den Friedrichshof, und verlagerten ihren Sitz dorthin. Der „Zweck“ der sogenannten „Aktionsanalytischen Organisation“ (AAO) war ein Experiment, wie im Kommunenmanifest (1973) zu lesen war:

Der Versuch, in Kommunen zusammenzuleben, ist ein wichtiges gesellschaftliches Experiment, das die Weiterentwicklung und Veränderung der gegenwärtigen Kleinfamiliengesellschaft auf lange Sicht hin ermöglicht. Die Kommune lehnt jede Art von Aggression und Gewaltanwendung ab. In der Kommunengesellschaft gibt es keine Institution, die mit Gewalt gegen einzelne oder mehrere Personen vorgehen könnte. Die Aufgabe einer kommunengegliederten Gesellschaft ist, die existenziellen und materiellen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen.1

Obwohl Selbstverwirklichung ein erklärtes Ziel der Kommune war, wurde die Individualität der Mitglieder in vielen Bereichen unterdrückt (geschorene Haare, einheitlicher Kleidungsstil, Zwang zu sogenannten „Selbstdarstellungen“). Kommunenmitglied wurde man für einen Betrag von 100.000 Schilling (7270 Euro). Zum Vergleich: Die Miete für einen Zweizimmer-Wohnung betrug damals rund 2000 Schilliing2. Die Kommune hatte zahlreiche Dependancen, darunter eine Kläranlage auf den Kanarischen Inseln (Spanien) und wuchs in ihrer „Blütezeit“ um das Jahr 1983 auf über 600 Personen. 1990 beschloss die Kommune mit Ende des Jahres ihre Auflösung. Im November 1991 wurde Mühl unter anderem wegen Unzucht mit Unmündigen zu sieben Jahren Haft verurteilt. 2010 entschuldigte sich Muehl öffentlich bei den Missbrauchsopfern. Zum seinem Tod im Jahr 2013 schrieb die Wiener Zeitung:

Otto Muehl war einer der umstrittensten österreichischen Künstler der Zweiten Republik. Er versuchte mit den Mitteln der Kunst gegen die Gesellschaft zu revoltieren und hat dabei Grenzen überschritten und Gesetze verletzt. 1991 wurde er wegen Sittlichkeitsdelikten, Verstößen gegen das Suchtgiftgesetz und Zeugenbeeinflussung zu sieben Jahren Haft verurteilt. Seit seiner Entlassung lebte er in Portugal. Dort ist er […] im Alter von 87 Jahren verstorben.3

Der Friedrichshof ist heute ein Seminarhotel.

3. Filmanalyse

3.1. Bild, Ton und Schnitt

Um die in diesem Film angewendete Technik zu analysieren, wird im Folgenden beispielhaft sein Beginn beschrieben: Ein nichtdiegetisches Flötensolo, das sowohl Fröhlichkeit als auch Melancholie transportiert, spielt zu schwarzweißem Found Footage-Material. Aus dem Off erklärt der Regisseur, dass es sich um das darin zu sehende Baby um ihn handelt. Anschließend wird die Kommune kurz mit Archivmaterial aus jener Zeit vorgestellt. Es folgt der erste zeitgenössische Shot: Mutter, Großmutter, Familie. Die Mutter spricht, zuerst inszeniert auf einer Alm vor Kühen stehend, dann in einer klassischen Interviewsituation. Um das Gesagte zu untermauern, wird es teilweise mit weiterem Found Footage-Material unterlegt.

Diese Verknüpfung von kürzlich Gesagtem und visuell einst Festgehaltenem ist charakteristisch für diesen Film. Textzitate, die aus der Kommunenzeitschrift und vermutlich allesamt von Otto Mühl stammen, werden von einem neutralen Sprecher wiedergegeben.

Der Film bedient sich einer konventionellen Reportage-Erzähltechnik und verzichtet auf künstlich bzw. künstlerisch gedehnte Einstellungen und jegliche Verfremdungstechniken.4 Bei Interviews passt sich die Kamera den Gegebenheiten an. In statischen Situationen verhält sie sich starr, ansonsten folgt sie den Bewegungen der gefilmten Personen und vermeidet allzu ruckartige Bewegungen, was dem Zuschauer dabei hilft, sich auf das Gesagte konzentrieren zu können. Man könnte sagen: In diesem Film folgt die Form seiner Funktion. Das kommunizierte Thema ist wichtiger als die Art der Präsentation.

3.2. Dramaturgie bzw. Aufbau

Robert schafft in diesem Film etwas, das man als eine Exponentialkurve des Grauens bezeichnen könnte. Zunächst werden die Kommune und ihre grundsätzlichen Werte vorgestellt. Dies geschieht mit Verweis auf die starren gesellschaftlichen Schranken, die bei ihrer Gründung im Jahr 1973 in Österreich (und wohl auch in anderen westlichen Staaten) die Regel waren. Der Betrachter entwickelt dadurch ein Verständnis und ein Interesse für das „gesellschaftliche Experiment“ der Kommune und wertet dieses, abhängig von seiner persönlichen Lebensphilosophie, womöglich sogar als gesellschaftliche Notwendigkeit in der damaligen Zeit. Man könnte die Mitglieder der Kommune auf Basis des Beginns mit einer gewissen Empathie als „jung und ein bisschen verrückt“ umschreiben.

Ein erster Hinweis auf eine mögliche Fehlfunktion der Kommune erfolgt erst nach 22 Minuten, als der Selbstmord von Roberts rechtlichem Vater thematisiert wird. Der Betrachter wird in weiterer Folge über die praktischen Schwierigkeiten des Kommunenwesens, die sich aus der Nichtvereinbarkeit der Kommunentheorie mit den menschlichen Bedürfnissen ergeben, aufgeklärt. Zudem steht die psychische Labilität einiger Kommunenmitglieder im Laufe des Films mehrfach im Raum. Letztlich führt Robert die Gefahr des Missbrauchs der Kommunenmitglieder durch die oberste Instanz vor Augen, die aufgrund der am Friedrichshof praktizierten Gesellschaftsordnung möglich wurde. In einer Rezension war in diesem Zusammenhang zu lesen:

Das Nachvollziehen der Ansätze zum alternativen Lebensmodell weicht […] im Verlauf des Films der Dokumentation von immer skurriler anmutenden Happenings des zusehends autoritärer agierenden Mühl, der als eine Art Gott und Monster zugleich auftritt.5

Eine im Film thematisierte Praxis des Kommunenführer-Ehepaars ist der sexuelle Missbrauch an Jugendlichen. Den Muehls war die „Initiation“, also die Einführung in die Sexualität der Jugendlichen, vorbehalten. Obwohl es sich dabei zweifellos um das schwerste bekannte Vergehen der Kommunenleitung handelte, betrifft die „brutalste“ und eindrücklichste Filmszene eine andere Problematik: In einer Archivaufnahme soll ein Junge entgegen seinem Willen zu einer sogenannten „Selbstdarstellung“ gezwungen werden und wird wegen seines Scheiterns letztlich vom Kommunenführer Muehl vor versammeltem Publikum gedemütigt.6

Ein aktuelles Interview mit dem damals Gedemütigten thematisiert einmal mehr die nachhaltigen, auf das Wesen der Kommune zurückzuführenden psychischen Schäden der Kommunenkinder. Die am Schluss des Films gezeigte öffentliche Entschuldigung einiger Kommunenmitglieder bei den einstigen Kindern der Kommune gibt dem Filmemacher gleichsam eine offizielle Legitimation für den Film und unterstreicht die Allgemeingültigkeit der im Film thematisierten und nicht nur vom Regisseur selbst als problematisch empfundenen Missstände.

[...]


1 Zitat aus dem Film (ab 08:50).

2 Vgl. Baumgartner (2013).

3 Wiener Zeitung online, 26.05.2013 [Zugriff am 04.06.2015].

4 Als Gegenpole dazu können die Filme „Das schlechte Feld“ (Bernhard Sallmann, 2011) und „Knittelfeld. Stadt ohne Geschichte?“ (Gerhard Friedl, 1997) genannte werden, die beide im Rahmen der Lehrveranstaltung zu sehen waren.

5 Christoph Huber, Die Presse, 21.04.2013.

6 Diesen Schluss lassen sowohl die Diskussion der Seminargruppe im Anschluss an den gezeigten Film, als auch die Rezensionen, die fast alle auf diese Szene Bezug nehmen, zu.

Ende der Leseprobe aus 9 Seiten

Details

Titel
Der Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ (2012) von Jean-Paul Robert. Filmanalyse und Interpretation
Hochschule
Universität Wien  (Theater-, Film- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Strategien der Vergegenwärtigung von Vergangenheit im Film
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2015
Seiten
9
Katalognummer
V322044
ISBN (eBook)
9783668214583
ISBN (Buch)
9783668214590
Dateigröße
532 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
dokumentarfilm, meine, familie, jean-paul, robert, filmanalyse, interpretation
Arbeit zitieren
Mag. Stephan Burianek (Autor:in), 2015, Der Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ (2012) von Jean-Paul Robert. Filmanalyse und Interpretation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/322044

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