Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1.Grundlagen der Rawls'schen Gerechtigkeitstheorie
1.1.Bedeutung der Gerechtigkeit
1.2.Rawls' Methodologie
2.Gerechtigkeit als Fairness
3.Die Rawls'schen Grundsätze der Gerechtigkeit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Was ist Gerechtigkeit und warum schätzen wir sie so sehr? Jeder der sich bereits diese Frage gestellt hat wird wissen, dass die Antworten mannigfaltig sind. Aus der Perspektive der Philosophie wird Gerechtigkeit als ein normatives Konzept angesehen, das einen integralen Bestandteil des gemeinschaftlichen Zusammenlebens unter vernunftbegabten Individuen ausmacht. Soweit besteht zumindest schemenhaft ein Konsens in der Disziplin, doch schon bei der Frage - warum wir jenes Gut schätzen? - divergieren die Meinungen extrem, die einen erachten Gerechtigkeit als ein intrinsisches Gut an, als ein Gut das um seiner Selbstwillen anzustreben ist. Andere sehen in der Gerechtigkeit einen immanenten Bestandteil des Guten an sich und wiederum andere betrachten sie nur als instrumentell für andere Güter. Doch warum auch immer wir Gerechtigkeit schätzen, es scheint der Fall zu sein, dass wir sie schätzen und zumindest intuitiv eine Vorstellung davon haben was gerecht ist und was nicht. Eine Erklärung für dieses Phänomen ist möglicherweise die lange Tradition, in welcher Gerechtigkeitstheorien stehen, so fand man bspw. schon in den Überresten des des prähistorischen Ägyptens theoretische Auseinandersetzungen mit der Idee der Gerechtigkeit. Was aber noch weitaus erstaunlicher ist als die kontinuierliche Präsens dieses Gutes in der Historie der Menschheit, ist die Feststellung, dass sich die grundlegende Idee, nämlich das Gerechtigkeit darin bestünde „jedem das seine zukommen zu lassen (suum cuique)“, bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist. Was sich im Laufe der Geschichte verändert hat sind die Vorstellungen davon warum man jedem das seine zukommen lassen sollte und was dieses seine ist. An diese Entwicklung wird die vorliegenden Ausarbeitung anknüpfen, indem sie eine einflussreiche Theorie der Gerechtigkeit, des 20. Jahrhunderts, rekonstruiert und erörtert. Die Gerechtigkeitstheorie, welche es zu untersuchen gilt, ist John Rawls' (1921-2002) „Gerechtigkeit als Fairness“. Es ist anzumerken, dass Rawls ein Vertreter des angelsächsischen Liberalismus ist, weshalb seine Theorie auf grundlegenden Prämissen der liberalen Weltsicht aufbaut.[1]
1. Grundlagen der Rawls'schen Gerechtigkeitstheorie
Wie bereits erwähnt steht John Rawls in der Tradition des politischen Liberalismus, doch im Gegensatz zu anderen Vertretern dieser Strömung nimmt der normative Wert der Gleichheit (neben Freiheit und Gerechtigkeit) ebenfalls eine zentrale Rolle in seiner politischen Konzeption ein, weshalb er auch als Vertreter des egalitären Liberalismus angesehen wird. Am Anfang ist es sinnvoll die Position der Gerechtigkeit im Kontext seiner politischen Konzeption etwas genauer zu betrachten, denn aus dieser Betrachtung erschließen sich zwei Aspekte die zentral sind – die Bedeutung (bzw. die Funktion) und der Gegenstand der Gerechtigkeit.
1.1. Bedeutung der Gerechtigkeit
Hinter Rawls politischer Konzeption steht zunächst eine Frage, die bis heute nicht an Aktualität und Bedeutung verloren hat und sowohl von theoretischer als auch von praktischer Relevanz ist: Wie ist eine stabile und effiziente Gesellschaft möglich, wenn deren Mitglieder (d.s. Bürger) durch teils konträre oder einander ausschließende Lehren und Weltanschauungen (d.s. Religionen, Philosophien oder Moralsysteme) von einander getrennt sind? Nach der Auffassung von Rawls gibt es eine Lösung für diese Problem – den politischen Liberalismus. Denn dieser bietet die Möglichkeit das Konfliktpotential einer inhomogenen Gesellschaft erheblich zu reduzieren und durch gemeinsam anerkannte (politische) Werte ein Zusammenleben zu realisieren, dass sowohl dem wechselseitigen Nutzen aller Teilnehmer befördert, als auch die persönliche Entfaltung der Individuen (gemäß ihres eigenen Lebensentwurfes und ihrer Vorstellung des Guten) ermöglicht. Hinter diese These steht eine grundlegende, anthropologische Prämisse des politischen Liberalismus– Menschen sind vernunftbegabte und autonome Individuen. Rawls politische Konzeption knüpft an diese These an und entwickelt sie gewissermaßen weiter. Er konstatiert nämlich, dass Bürger die eine längere Zeit unter einer konstitutionellen Ordnung Leben gewisse Eigenschaften ausbilden (z.B. Toleranz), die eine vernünftige Interaktion zwischen den Bürgern ermöglichen, auch wenn diese über Weltanschauungen verfügen die inkommensurable sind. Dieses Phänomen nennt Rawls das „ Faktum des vernünftigen Pluralismus“. Der Aspekt der Vernunft nimmt somit eine zentrale Rolle in der politischen Konzeption ein, da dieser nicht nur eine kommunikative Kompetenz darstellt (d.i. die Fähigkeit rational nachvollziehbar zu erläutern warum man bestimmte Überzeugungen hat), die jedwede Form des Fanatismus aus der Sphäre des Politischen exkludiert, sondern auch eine Art Bindeglied der (moralischen) Erkenntnis darstellt, welches den Bürgern einer Gesellschaft, trotz der Diversität ihrer umfassenden Lehren, ermöglicht sich kollektiv auf normative Werte zu einigen, gemäß welcher sie fortan zusammenleben werden. Diese Werte, deren Gültigkeit unabhängig von den subjektiven Weltanschauungen besteht, manifestiert sich schließlich in der Beschaffenheit ihrer gesellschaftlichen Institutionen.[2]
Für Rawls sind solche politischen bzw. normativen Konzepte, deren Wert und Geltungskraft sich also mittels der Vernunft erschließt, das zentrale Medium, welches ein gemeinschaftliche Zusammenleben und die persönliche Entfaltung der Individuen, in einer pluralistischer Gesellschaften, überhaupt möglich macht. Auf die Konzeption des politischen Liberalismus baut nun Rawls Gerechtigkeitstheorie auf, denn er ist der Auffassung, dass Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Institutionen ist. Ergo ist die Gerechtigkeit für ihn der entscheidende politische Wert, den die Bürger einer vernünftigen pluralistischen Gesellschaft kollektiv konstituieren müssen, um Stabilität, Effizienz und Koordination in ihrer Gemeinschaft gewährleisten zu können. Des Weiteren sieht Rawls das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und sozialen Institutionen äquivalent zu dem Verhältnis der Theorie zur Wahrheit, was bedeutet, dass eine gesellschaftliche Struktur aufgegeben werden muss, wenn ihre Bürger sie als ungerecht erachten. Genauso wie eine Theorie aufgegeben werden muss, wenn sie nicht wahr ist.[3]
1.2. Rawls' Methodologie
Der Gegenstand der Gerechtigkeit ist demnach die Grundstruktur einer Gesellschaft, unter welcher die Bürger jener leben oder genauer, die Art und Weise wie die Institutionen dieser Gesellschaft, die gemeinschaftlichen Güter[4] verteilen. Was die distributive Dimension der Gerechtigkeit zum Hauptstück der Rawls'schen Gerechtigkeitstheorie macht. Folglich muss der Inhalt einer solchen Gerechtigkeitskonzeption aus Prinzipien bestehen, die eine Verfahrensweise der Güterdistribution festlegen, welche von allen Bürger anerkannt wird. Wie muss eine solche Distribution angelegt sein, sodass alle Bürger die gemeinsamen Institutionen als gerecht anerkennen und die Gerechtigkeit ihre Funktion erfüllt? Rawls Antwort auf diese Frage ist ein Gedankenexperiment, welches mithilfe des Vernunftgebrauches und zwei philosophische Methodiken derartige Gerechtigkeitsgrundsätze generieren soll. Im folgenden Abschnitt werden diese Methoden vorgestellt und in Rawls Argumentation eingebettet. Allgemein ist anzumerken, dass es sich um keine revolutionäre Vorgehensweise handelt, im Gegenteil, Rawls greift bereits bewährte Vorgehensweisen auf und passt sie seinem Prozedere an. Nichtsdestotrotz bringen diese Methodiken überaus starke und evidente Argumente hervor – d.s. d er Kontraktualismus und d as Überlegungsgleichgewicht.
Die Vertragstheorie ist ein einflussreiches Gedankenexperiment, welches vor allem in der Neuzeit (u.a. bei Hobbes und Locke) von großen Bedeutung war und der hypothetischen Begründung von staatlicher Autorität dient. Der Kontraktualismus ist aber auch zu gleich auch eine Theorie der normativen Ethik, da der eine eigenständige Begründungsmethode für Moralsysteme darstellt. Die Grundidee der Vertragstheorie sieht wie folgend aus: Es wird ein hypothetischer Zustand angelegt, in dem es weder Institutionen noch Autorität gibt. Ergo existieren in diesem anarchischen Zustand auch keinerlei verbindliche Normen, die die Interaktionen der Individuen in irgendeiner Weise regulieren könnten. In diesen „Naturzustand“ werden nun Individuen versetzt, deren mentale und physische Beschaffenheit (bspw. Stärkte, Interessen, Rationalität oder Empathiefähigkeit) ebenfalls im Vorhinein durch anthropologische Prämissen bestimmt wird. Überdies werden Annahmen bezüglich der Rahmenbedingungen der natürlichen Welt (z.B. natürliche Güterknappheit) getätigt, welche signifikanten Einfluss auf das Verhalten von spezifisch disponierten Individuen haben. Aus diesen Prämissen folgt schließlich eine Situation, welche gute Gründe dafür liefern soll (bspw. einen latenten Kriegszustand), dass die besagten Individuen sich kollektiv dazu entschließen aus dem „Naturzustand“ auszutreten (d.h. einen Gesellschaftsvertrag ausarbeiten und anerkennen) und somit einen staatlichen bzw. politischen Zustand etablieren, demgegenüber sie, gemäß ihrer vertraglichen Willenserklärung, zum Gehorsam verpflichtet sind.[5]
Das Überlegungsgleichgewicht ist an sich eine Methodik der Epistemologie, welche dem Kohärentismus entspringt und besonders in den induktiv arbeitenden Wissenschaften Anklang findet. Des Weiteren findet das Überlegungsgleichgewicht auch beachtliche Verwendung in der normativen Ethik, da es eine Möglichkeit darstellt moralische Prinzipien, Maxime und Regeln anhand ihrer Kohärenz mir unseren wohlüberlegten moralischen Urteilen zu prüfen. Die Grundidee (sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in der Ethik) sieht folgendermaßen aus: Es wird davon Ausgegangen das wir über ein System von kohärenten Überzeugungen über die Welt verfügen, wobei Kohärenz nicht nur logische Konsistenz beinhaltet sondern auch eine explanatorische Korrelation zwischen den Überzeugungen impliziert. Mithilfe dieses Systems können wir nun neue Überzeugungen, Prinzipien oder Theorien prüfen und ermitteln ob diese ebenfalls kohärent mit unseren wohlüberlegten Überzeugungen sind. Sollte dies der Fall sein, so sind sie, je nachdem um was für eine Art der Überzeugungen es sich handelt, 'wahr' oder 'richtig'. Sollte dies nicht der Fall sein gibt es zwei Möglichkeiten des weiteren Verfahrens: 1. Die neue Überzeugung ist 'falsch' und muss verworfen bzw. abgeändert werden; 2. Eine unserer wohlüberlegten Überzeugungen, ein Fragment unseres kohärenten Systems von Überzeugungen oder gar das ganze System ist 'falsch' und muss demnach verworfen bzw. abgeändert werden. Ergo ermöglicht uns die Methodik des Überlegungsgleichgewichts unsere Überzeugungen gegeneinander abzuwägen und ggf. abzuändern, um so die Kohärenzbeziehung zwischen ihnen zu gewährleisten. Die Kohärenz wird somit zur Rechtfertigung bzw. Begründung für die jeweiligen Überzeugungen.[6]
2. Gerechtigkeit als Fairness
Da die methodologischen Grundlagen und die Bedeutung der Gerechtigkeit für Rawls politische Konzeption geklärt sind, können wir jetzt untersuchen wie er die seinige Konzeption konstituiert und wie jene beschaffen ist. Grundlegend dafür ist es, sich vor Augen zu führen dass die erörterten Methoden nicht separat bei der Konstruktion der Gerechtigkeitstheorie wirken, sondern in einer kontinuierlichen Wechselwirkung stehen. Am Beginn der Rawls'schen Argumentation steht ein Rekurs auf eine Prämisse, welche wir bereits untersucht haben – „ das Faktum des vernünftigen Pluralismus“. Rawls geht nämlich davon aus, dass Individuen, gemäß ihrer Weltanschauung und der darin enthaltenden Vorstellung des Guten, auch eine Vorstellung davon haben was gerecht und was ungerecht ist. Des Weiteren schlussfolgert er, dass diese Gerechtigkeitsintuitionen, auch wenn sie äußerlich variieren, inhaltlich einen Konsens aufweisen, welcher der Vernünftigkeit der Bürger entspringt. Demgemäß nimmt Rawls an, dass die Bürger intuitiv ihre Institutionen als gerecht erachten würden, sofern diese bei der Verteilung der Grundrechte und -pflichten keine willkürlichen Unterschiede zwischen den Individuen machen und es Normierungen gibt, die einen sinnigen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Ansprüchen bewirken und somit das Wohl des gemeinschaftlichen Lebens befördern.[7]
Im nächsten Schritt beginnt Rawls mit der Modellierung eines kontraktualistischen Arguments, wobei dieses nicht der Rechtfertigung von staatlicher Autorität oder der Wahl eines ethischen Systems dienen soll, sondern als eine hypothetische Entscheidungssituation fungiert, in welcher die Bürger (d.s. freie gleiche und vernünftige Individuen) einer Gesellschaft über Prinzipien der (distributiven) Gerechtigkeit entscheiden sollen, gemäß welcher sie fortan zusammenleben werden.
Ergo dient der hypothetische Vertragsschluss, welcher kollektiver Zustimmung und Anerkennung bedarf, als Verfahren zur Ermittlung von Gerechtigkeitsgrundsätzen (d.h. einer Dimension eines ethischen Systems), deren Geltungskraft aus jener kollektiven Anerkennung der Bürger resultiert. Wie bereits erwähnt bedarf ein vertragstheoretisches Argument immer einer gewissen Spezifikation des Naturzustandes, sodass ein Vertragsschluss überhaupt zustande kommt bzw. ein bestimmtes Ergebnis aus diesem resultiert. Demnach muss auch Rawls Annahmen über die Beschaffenheit des „Urzustandes“ und das Ergebnis der Entscheidungssituation tätigen, diese sind aber keineswegs willkürlich, im Gegenteil, sie werden durch die Applikation des Überlegungsgleichgewichts konstituiert. Was bedeutet, dass der theoretischen Konzeption des „Urzustandes“ wohlüberlegte Urteile gegenüberstellt werden, sodass die Kohärenz mit unseren Überzeugungen eine Rechtfertigung dieses Zustandes bewirkt. Das Gleiche gilt auch für die Prinzipien der Gerechtigkeit, welche aus einer spezifischen Urzustandskonzeption hervorgehen, sie müssen mit unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen (d.s. die weiter oben erläuterten Gerechtigkeitsintuitionen) kohärent sein. Daher stellen unsere wohlüberlegten Überzeugungen, wie z.B, dass rassische Benachteiligungen ungerecht sind oder das Menschen bestimmten physikalischen und biologischen Restriktionen unterliegen, gewissermaßen die Fixpunkte der Theorie dar. Sollten die resultierenden Prinzipien nicht mit unseren Überzeugungen vereinbar sein, so müssen entweder Vorstellungen über den „Urzustand“ oder wohlüberlegte Überzeugungen revidiert werden, sodass sich ein Equilibrium zwischen unseren Überzeugungen und der Theorie einstellt.[8]
[...]
[1] Zu diesen gehöhren bspw.: Die Norm des Respekts vor dem einzelnen Individuum, welche fordert, dass jeder Menschen als moralisch mündig zu behandeln ist und demnach seinen eigene Vorstellung eines guten Lebens entwerfen und verfolgen darf. Oder dass die Grundrechte und Freiheiten die einem Bürger qua Menschsein zuteilwerden unbedingt durch den Staat gewährleistet werden müssen. Vgl. Kliemt, Hartmut: Liberalismus, in: Jordan, Stefan/ Nimtz, Christian (Hrsg.): Lexikon der Philosophie. Hunert Grundbegriffe, Reclam 2011, S. 160-162.
[2] Vgl. Rawls, John: Politischer Liberalismus, übers. von Wilfried Hinsch, Frankfurt am Main 1998, S. 219ff & 248.
[3] Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975, S. 20ff.
[4] Bei diesen Gütern handelt es sich zunächst um Grundrechte, -pflichten und Freiheiten. An die Distribution dieser fundamentalen Güter, schließt (mit lexikalisch geringerer Priorität) dann die Verteilung der wirtschaftlichen Möglichkeiten, sozialen Güter und Bürden, welche aus dem gemeinschaftlichen Zusammenwirken hervorgehen, an. Vgl. Ebd. S.20-24.
[5] Vgl. Horn, Christoph: Einführung in die Politische Philosophie, Darmstadt ²2009, S.26f.
[6] Vgl. Artikel: Reflective Equilibrium, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy. Abgerufen unter http://plato.stanford.edu/entries/reflective-equilibrium/ (Stand: 26.07.2013).
[7] Vgl. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975, S. 21f.
[8] Vgl. Ebd. S. 37ff.