Berichterstattung 2.0. Trends und Entwicklungen im Journalismus

Ein Vergleich verschiedener Medien


Masterarbeit, 2015

57 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Vorgehensweise

3. Begrifflichkeiten

4. Trends und Entwicklungen im Journalismus
4.1 Anpassung an die technologische Realität
4.2 Bedeutungsverschiebung der Nutzerintegration
4.3 Meinungs- statt Faktenorientierung

5. Unterschiede zwischen Online und Print

6. Darstellungsformen

7. Verwandte Arbeiten

8. Bild und Bild.de

9. Forschungsmethodik

10. Inhaltsanalyse-Verfahren und Codebuch

11. Auswertung der Inhaltsanalyse

12. Analyse der Ergebnisse

13. Fazit

14. Literaturverzeichnis

15. Anhang
15.1 Abbildungsverzeichnis
15.2 Codebuch

1. Einleitung

Der Journalismus ist in Gefahr – wieder einmal. Am 13. Mai 2015 startete Facebook Instant Articles, eine Publishing-Form für Medien, bei der der User Facebook nicht verlässt. Diese neue Form des Journalismus wurde wahlweise als „Ende der Zeitungen und Zeitschriften wie wir sie kennen“ (Becker 2015a), „Privatisierung der Meinungsfreiheit“ (Stephan 2015) oder als Start des „blauen Universums“ (Stegers 2015) bezeichnet. Die in Deutschland am Projekt beteiligten Medien Bild.de und Spiegel Online sehen das naturgemäß etwas anders: „Bild muss immer da sein, wo unsere Leser und User sind. Das ist auf Papier so und das ist auch digital so“, sagte Bild.de Chefredakteur Julian Reichelt. Auch die Spiegel Online-Geschäftsführerin Katharina Borchert möchte „möglichst viel experimentieren und gemeinsam lernen“ (Becker 2015b).

Neue Technologien und Entwicklungen sorgen seit Jahrhunderten im Medienbetrieb für Abwehrhaltungen und Ängste, das war schon beim Fernsehen und Radio so und im Internet entsteht mehrmals pro Jahr Neuartiges. In diesem Jahr ruft Instant Articles diese Ängste hervor. Facebook selbst sieht darin eine neue, schnellere, bessere und interaktivere Veröffentlichungsform für Medien (vgl. Facebook 2015). Neben den zwei großen deutschen Onlinemedien sind mit der New York Times, dem Guardian, der BBC und Buzzfeed weitere Online-Schwergewichte am Start der Facebook-Funktion beteiligt, die alle von der besonders einfachen und schnellen Darstellung profitieren wollen (vgl. ebd.).

Welchen Einfluss das Projekt auf den Journalismus haben kann, ist derzeit noch unklar. Die Arbeitsweise und die Priorisierung von Redaktionen könnte durch Instant Articles in Frage gestellt werden. Im Vordergrund stehen in dieser Publishing-Form die Storys, nur eine gute Geschichte wird auch gelesen. Dieser Ansatz stellt die in vielen Medien verbreitete Mischkalkulation in Frage, bei der mehrere kleine Geschichten rechercheintensive Artikel gegenfinanzieren (vgl. Becker 2015a). Instant Articles orientiert sich dagegen an den Bedürfnissen und Gewohnheiten der Nutzer und versucht, eine userfreundliche Plattform für Informationen bereit zu stellen (vgl. ebd.). Medien tauschen dabei ihre Inhalte gegen Werbeflächen und eine Vielzahl an Daten, die sie ohne Facebook nicht bekommen würden (vgl. Stephan 2015). Bild und Co. profitieren vom technischen Wissen Facebooks, was sie mit weniger Usern auf ihren eigenen Webseiten bezahlen könnten (vgl. ebd.). Für große Marken bietet Instant Articles ein Risiko und eine Chance zugleich, während kleinere Medien sich in eine mögliche Abhängigkeit begeben (vgl. Stegers 2015). Der Erfolg des Projekts würde einen Einflussgewinn Facebooks bedeuten, was eine weitere Machtverschiebung im Meinungsmarkt zugunsten des Kapitalismus darstellen würde (vgl. ebd.).

Dabei stellt Instant Articles die Selbstverständnisfrage im Journalismus aufs Neue. Worauf lege ich als Medium meinen Fokus? Ist eine Neuerung nur eine technische Spielerei oder der große Umbruch? Diese Arbeit setzt sich mit dem Umgang der Medien mit technologischen Entwicklungen auseinander. Das Medium des vergangenen Jahrhunderts war Print, das Medium des 21. Jahrhunderts ist ohne Zweifel das Internet. Wie passen sich Medien an den technologischen Fortschritt an? Es soll untersucht werden, ob Transformationsprozesse und Entwicklungen im Journalismus anhand der Print- und Onlineberichterstattung verschiedener Medien feststellbar sind. Gibt es noch den „alten“ und den „neuen“ Journalismus, oder sind wir längst im Journalismus 2.0 angekommen? Die Forschungsfrage lautet wie folgt:

Sind verschiedene Transformationsprozesse und Entwicklungen im Journalismus anhand der Print- und Onlineberichterstattung unterschiedlicher Medien feststellbar?

2. Vorgehensweise

Um die Forschungsfrage untersuchen zu können, werden zunächst grundlegende Begriffe wie Transformationsprozesse und Trends geklärt (Kapitel 3). Einige der Entwicklungen werden ausgewählt und theoretisch erläutert. Die Prozesse werden nach ihrer Überprüfbarkeit und Relevanz ausgewählt (Kapitel 4). Die Auswahl spezifischer Prozesse dient der Beantwortung der Forschungsfrage. Die Arbeit will die Prozesse anhand der Online- und Printberichterstattung von Medien feststellen, daher werden zunächst die prinzipiellen Unterschiede und Besonderheiten der Medien dargestellt (Kapitel 5). Um die Prozesse untersuchen zu können, wird für die Untersuchung unter 6. theoretische Vorarbeit geleistet. Um für eine theoretische Vergleichbarkeit und Einordnung zu sorgen, wird unter 7. ein Überblick über die aktuelle Forschungslage und ähnliche Studien gegeben. Danach werden die untersuchten Prozesse und weitere Hypothesen vorgestellt (Kapitel 8). Die ausgewählten und in dieser Arbeit behandelten Medien werden in Kapitel 9 erläutert. Ab 10. widmet sich die Arbeit der ausgewählten Methode der Inhaltsanalyse. Hierbei wird die Methode erläutert, für die Forschungsfrage angepasst, durchgeführt, ausgewertet und analysiert. Die verwendeten Materialien und Quellen finden sich im Anhang und Literaturverzeichnis.

Prinzipiell sind mehrere Ansätze zur Untersuchung der Forschungsfrage denkbar, unter anderem eine Inhaltsanalyse des Contents, Experteninterviews mit den Kommunikatoren oder eine Befragung der User (vgl. Brosius et al., S. 17). Da die Ausprägungen und Formen der Prozesse nicht komplett theoretisch ableitbar sind, empfiehlt sich eine eher qualitative Herangehensweise. Um die Forschungsfrage im Rahmen dieser Masterarbeit zu beantworten und auf einen tieferliegenden Transformationsprozess zu schließen, wurden drei Entwicklungen im Journalismus ausgewählt, die exemplarisch untersucht werden.

Der erste Prozess ist die zunehmende Meinungs- statt Faktenorientierung, verbunden mit angehender Markenbildung der Journalisten. Als Nächstes soll die Anpassung der Berichterstattung an die technologische Realität und deren Miteinbeziehung untersucht werden. Die dritte Entwicklung ist die Bedeutungsverschiebung der Nutzerintegration, was die Frage des Publikums als fünfte Gewalt aufwirft. Die Prozesse werden unter 4. theoretisch erläutert. Für die ausgewählten Trends eignen sich vor allem eine Kommunikatorbefragung oder eine Analyse des Contents, eine Userbefragung ist nicht für alle Prozesse zielführend. Gerade im Kontext der Trendforschung gibt es bei persönlichen Gesprächen das Problem der sozialen Erwünschtheit – kein Journalist oder Medium wird bereitwillig die eigenen Versäumnisse einräumen (vgl. Brosius et al., S. 100). Für diese Arbeit wurde als Methode die Inhaltsanalyse ausgewählt, was unter 10. ausführlich begründet wird.

3. Begrifflichkeiten

Zunächst werden einige zentrale Begrifflichkeiten geklärt. Die Forschungsfrage setzt sich mit Entwicklungen und Transformationsprozessen auseinander. Transformation ist für Zapf eine „Modernisierung im Sinne von Abholprozessen, deren Ziel von zentralen Akteuren bewusst angestrebt wird“ (Zapf 1995, S.169). Die Transformationsprozesse sind dabei die „gehärtete Modernisierungstheorie“ (Zapf 1995, S. 169), die durch Inklusion, Wertegeneralisierung und Differenzierung Richtungskonstanz und Strukturverbesserungen hervorruft. Der Prozess besteht dabei aus dem Ausgangs- und Endzustand, den Entwicklungen und verschiedenen Übergangszuständen (vgl. Jarolimek 2007, S. 33). Entwicklungen sind demnach Teilschritte eines Transformationsprozesses, insofern sind die in dieser Arbeit untersuchten Trends Teil eines komplexen Transformationsprozesses. Dabei können Einzeltheorien und Entwicklungen einen Transformationsprozess nicht in seiner komplexen Gänze erfassen (vgl. Jarolimek 2007, S. 34). Zudem sind Transformationsvorgänge unvorhersehbar und historisch bedingt, sie werden durch technischen und sozialen Fortschritt erst möglich gemacht. Die Bestimmung von Ausgangs- und Endzuständen ist dabei künstlich, eine Gesellschaft kann die Prozesse auch gezielt beeinflussen (vgl. Jarolimek 2007, S. 33). Die Potentiale neuer Informations- und Kommunikationstechnologien lassen für den Journalismus gravierende Umbrüche hinsichtlich kommunikativer, infrastruktureller und institutioneller Rahmenbedingungen erwarten (vgl. Götzenbrücker 2000, S. 49). Dabei können die Medien selbst die Transformation maßgeblich unterstützen und beeinflussen (vgl. Zapf 1995, S. 456).

Anhand von vier Determinanten kann der Wandel skizziert werden: Der nahezu uneingeschränkten Integrierbarkeit von Datentypen, der globalen Verfügbarkeit von Informationen, der durch Kapazitätserweiterungen in Echtzeit organisierten Arbeitsprozesse und der forcierten Interaktivität und Kundenorientierung (vgl. Götzenbrucker 2000, S. 49). Technologische Innovationen fördern alternative Arbeitsorganisationen, wie die Enthierarchisierung oder Teamarbeitsmodelle, und den Wandel traditioneller Qualifizierungsmaßnahmen (vgl. ebd.). Dabei können inhaltliche und formale Konvergenzen von Arbeitsaufgaben entstehen, die eine Substitution von Arbeitskräften zur Folge haben. Das kann gleichbedeutend mit der Auflösung traditioneller Berufsbilder sein (vgl. Götzenbrucker 2000, S. 50).

Die digitale Vernetzung und flexibilitätsfördernde Technologien wie Smartphones oder Tablets beschleunigen einzelne Entwicklungen und Transformationsprozesse (vgl. ebd.). Im Journalismus steigert das den Innovationsdruck von Medienbetrieben und zwingt sie zum dauerhaften, professionellen Einstieg in die Multimedia-Welt, die sonst eher von Tech-Konzernen dominiert wird (vgl. Götzenbrucker 2000, S. 51). Die Innovationsbereitschaft verschiedener Teilnehmer, gleichzeitig Beteiligter am Transformationsprozess, kann durch verschiedene Merkmale voneinander unterschieden werden: Globalität, Aktualität, Nachfrageorientierung, Interaktivität und Hypertextualität (vgl. Götzenbrucker 2000, S. 52).

4. Trends und Entwicklungen im Journalismus

Bereits 1996 war der Journalismus am „Scheideweg“ (Scholl/Weischenberg 1998, S. 261), die technische Entwicklung schien einen raschen Wandel heraufzubeschwören. Die damals gültigen Thesen für Trends und Entwicklungen sind teilweise heute auch noch von Bedeutung. Dabei ist vom „market-driven journalism“ (ebd.) die Rede, dem marktorientierten Journalismus. Nachrichten entwickelten sich mehr und mehr zu Entertainment und Redakteure wurden langsam zu eigenen Marken. Allgemein erwarteten Scholl und Weischenberg einen Trend weg von der Information hin zur Unterhaltung (vgl. Scholl/Weischenberg 1998, S. 261). Die Informations- und Kommunikationsbedürfnisse der Nutzer wurden durch die Medien nicht ausreichend bedient, was die Entwicklungen verstärkte. Die Rolle des Journalisten wandelt sich dadurch zunehmend zum Entertainer (vgl. Scholl/Weischenberg 1998, S. 262). Gerade der Leistungsdruck und der Kampf um Geld und Aufmerksamkeit im Medienmarkt führe zu einer Vermischung von Information, Bildung und Unterhaltung, was einen „Trend zur Faszinierung anstelle von Orientierung“ (ebd.) heraufbeschwört. Das alles sollte bereits vor fast 20 Jahren zu radikal veränderten Formen der Berichterstattung und Informationspräsentation führen. Gerade die Thesen der Meinungsorientierung, Markenbildung und Unterhaltungszentrierung sind heute auch noch aktuell. Das zeigt aber auch die Schwierigkeit bei solchen Voraussagen und Transformationsprozessen – die Geschwindigkeit und Form der Prozesse lässt sich nur schwer bestimmen. Die Beschreibung des berufsmäßigen Journalismus wird schwieriger und schwammiger, was auch durch den zunehmenden Konkurrenzdruck von nicht berufsmäßigen Journalisten gefördert wird (vgl. Weichert et al. 2010, S. 20). Statt der von Scholl/Weischenberg befürchteten Informationsverdrängung durch Meinung, sehen Weichert/Kramp/Jakobs eine zunehmende Suchmaschinenoptimierung des Online-Journalismus, was auf Kosten der Informationsdichte geht (vgl. Weichert et al. 2010, S. 22). Weiterhin beteiligen sich Nutzer vermehrt an der journalistischen Arbeit, was bei Wikileaks beispielhaft vorgeführt wird. Social Media hat für den Journalismus sehr viel Potential, aktuell sehen Weichert/Kramp/Jakobs es aber eher als einen Hinweisgeber, der keinen wirklichen Fortschritt für den Journalismus bringt (vgl. Weichert et al. 2010, S. 24).

Der Journalismus entwickelt sich zunehmend zum „Prozessjournalismus“ (ebd.): Arbeitsprozesse werden offengelegt, Nutzer werden zunehmend in die Arbeit integriert und Artikel verlieren ihr klares Ende. Sie enden also nicht mit ihrer Veröffentlichung, sondern werden durch Updates und Korrekturen weiter verbessert (vgl. Weichert et al. 2010, S. 24). Gerade bei den Liveblogs zur Revolution in Ägypten konnte dieser Trend beobachtet werden. Die massenhafte Teilhabe von Usern kann eine Verbesserung des Journalismus darstellen, sowohl von der Qualität, als auch der Meinungspluralität (vgl. Weichert et al. 2010, S. 25). Der Nutzereinsatz hat die Möglichkeit, redaktionellen Mehrwert zu erzeugen, der über Recherche und Feedback hinausgeht. Das Mitmach-Prinzip entwickelt sich demnach zur „logischen Fortentwicklung des Journalismus“ (Weichert et al. 2010, S. 26). Weitere Varianten des Usereinsatzes sind die Vielzahl der Möglichkeiten des Social Web, die kommerzielle Besetzung von Nischen, die Erschließung frischer Zielgruppen und die Erweiterung des journalistischen Angebots (vgl. ebd.). Für Kramp und Weichert stellen Innovationen „Anpassungseffekte des Journalismus auf sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen“ (Kramp/Weichert 2012, S. 35) dar. Die größte Innovationen der letzten Jahrzehnte, das Internet, habe den Journalismus dabei „deformiert“ (Kramp/Weichert 2012, S. 32), die Einordnung neuer Formen und Varianten sei daher oft unklar. Zumindest die Abkehr vom einseitigen, belehrenden „Frontaljournalismus“ (Kramp/Weichert 2012, S. 32) hin zum aktiven Dialog mit Nutzern haben viele Medien bereits vollzogen. Der Innovationsdruck entsteht dabei durch Transformationen und Entwicklungen am Medienmarkt, was in den letzten Jahren durch die zunehmende Printkrise verstärkt wurde (Kramp/Weichert 2012, S. 34). Die Innovationen selbst beeinflussen und bedingen sich gegenseitig und sind kaum planbar – viele Apps und Software-Anwendungen sind beispielsweise erst durch den Siegeszug der Smartphones denkbar geworden. Kramp und Weichert unterscheiden zudem zwischen traditionellem und innovativem Journalismus (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 35). Traditionell sind dabei die Stabilisierung bewährter Strukturen und die gleichzeitige Erhaltung von Altem und Neuem. Innovativ sind in diesem Kontext flüchtige, flexible Interaktionen und das Ersetzen alter Strukturen (vgl. ebd.). In Deutschland entspricht dem zweiten Bild besonders der Axel Springer Verlag mit den Medien Bild-Zeitung und Bild.de. Die zahlreichen Online-Experimente und die Einführung eines gemeinsamen Newsdesk zeigen die Bereitschaft des Verlags, sich auf innovativen Journalismus einzulassen, was sie für die Betrachtung in dieser Arbeit sehr interessant macht.

Die Debatte um die Zukunft des Journalismus schwankt zwischen Zuversicht, Reformwillen und Resignation, für Meier und Neuberger ist das goldene Zeitalter des Journalismus bereits vorbei (vgl. Meier/Neuberger 2013, S. 7). Die Nutzungsgewohnheiten der User fragmentieren sich immer weiter, was zu einer zunehmenden Entthronung der Meinungsführer führt (vgl. Pörksen 2005, S. 39). Journalisten sind daher bestrebt, selbst zu Marken zu werden, um unabhängiger arbeiten zu können (vgl. Pörksen 2005, S. 40). Die Rolle der Journalisten wandelt sich dabei immer weiter. Prantl sieht den Journalisten als „trusted guide“ (Prantl 2015), der dem User Orientierung während eines tiefgreifenden Transformationsprozesses bietet. Das lange vorherrschende Medium Zeitung wird von Schneider und Raue als „Holzmedium“ (Schneider/Raue 2012, S. 341) verspottet, das seinen Vertrauensvorschuss gegenüber Online zunehmend verspielt. Online kommt dabei zugute, dass Nutzer bestrebt sind, sich spezifischer zu informieren und die umfassende Information an Bedeutung verliert (vgl. Schneider/Raue 2012, S. 343). Verleger glauben oft trotzdem weiterhin an ihre hohe Reichweite und das Vertrauen ihrer Leser (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 3). Der Rückgang von Printlesern liege demnach eher am Akzeptanzverlust bei Jüngeren und der Überalterung der tatsächlichen Leser (vgl. ebd.). Dennoch gilt der folgende Satz der fiktiven Chefredakteurin Kathleen Solson aus dem Roman „Die Unperfekten“ weiterhin:

„Nachrichten wird es immer geben (…). Denn egal, wie man es nennt – Nachrichten, Text, Content – jemand muss berichten, schreiben, druckfertig machen.“ (Bachmann 2010, S. 153). Das zeigt das Dilemma des Journalismus – er ist eigentlich unverzichtbar. Nur seine zukünftige Form und Verpackung ist ungewiss, was Medienmachern ihre Arbeit deutlich erschwert. Das Internet hat die Möglichkeit, den Journalismus zu revolutionieren und neu zu erfinden, die publizistische Bedeutung des Web 2.0 als Distributions- und Kommunikationskanal steigt von Jahr zu Jahr weiter an (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 8). Komplett verdrängt werden klassische Medien dabei nicht, es findet lediglich eine Bedeutungsverschiebung statt, was durch das Rieplsche Unverdrängbarkeitsgesetz festgestellt wurde (vgl. ebd.). Diese Verschiebung fordert die Medien heraus und fördert die Experimentierfreudigkeit der Branche – der „digital shift“ (Kramp/Weichert 2012, S. 9) ist bereits im Gange. Aufgrund der noch nicht ausgereizten technischen Spielräume ist das Medium Online dabei der größte Innovationstreiber. Das Monetarisierungspotenzial der klassischen Medien ist weitestgehend ausgeschöpft, Online kämpfen die Medien in Deutschland dagegen noch mit unausgereiften und nicht angenommenen Finanzierungsmodellen, was die Innovationsgeschwindigkeit hemmt (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 10). Deutschland ist im internationalen Vergleich ein Innovationsentwicklungsland, Entwicklungen werden meist unter dem Schutzschild starker Marken vorangetrieben, wie bei Spiegel oder Bild. Amerikanische Medien sind hier schon deutlich weiter. Dabei ändern sich die Finanzierungsmodelle weltweit, Werbung und Vertrieb bleiben wichtige Einnahmequellen, daneben wachsen unter anderem Social-Media-Modelle (vgl. ebd.). Dieses Problem haben die öffentlich-rechtlichen Medien nicht, ihr Geschäftsmodell bleibt das alte, was sie relativ unabhängig macht. Dennoch wird eine Mischfinanzierung für alle Medien in Zukunft immer wahrscheinlicher, das nötige Geld muss in neuen Erlösbereichen verdient werden (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 12). Das hat einen harten, medialen Kampf um Aufmerksamkeit und das Zeitbudget der User zur Folge (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 24). Nach Grueskin/Seave/Graves wandeln sich die Geschäftsmodelle der Medien hinzu schlankeren, schnelleren und profitableren Geschäften mit digitalen Angeboten (vgl. Grueskin et al. 2011, S. 90). Dabei wird es spezielle Produktionen für digitale Kanäle, zielgerichtete Nutzerverbindungsstrategien und ausschließlich digital denkende Teams geben. Die Produktion für mobile Geräte wird sich demnach als Standard durchsetzen (vgl. ebd.). Daneben gibt es aber schon jetzt neue Wege der Finanzierung, die Medien auch schon beschreiten. Die Krautreporter lassen sich beispielsweise durch Crowdfunding ihre Recherche vorab finanzieren, was sie von jeglichen Einflüssen unabhängig macht (vgl. Krautreporter 2015). Plattformen wie Kickstarter ermöglichen Kommunikatoren, ihre Ideen publikumsorientiert zu testen und finanzieren zu lassen. Dadurch können im Idealfall aus einer guten Idee Innovationen mit Wachstumspotenzial entstehen (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 51). Ein weiterer Trend ist die zunehmende Zielgruppen-Spezifizierung (vgl. ebd.). Special-Interest-Titel, wie das Magazin für Fußballkultur 11Freunde, besetzen Nischen für exklusive Leser. Ihre Ausrichtung ist zielgruppenaffin und thematisch eng zugeschnitten, was sie deutlich von klassischen Zeitungen unterscheidet. Redaktionelle Arbeitsprozesse befinden sich ebenfalls seit geraumer Zeit im Wandel. Mehrere große Redaktionen in Deutschland, unter anderem die Bild-Gruppe, arbeiten mit Newsroom-Konzepten (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 57). Hierbei wird eine redaktionelle Konvergenz für ganzheitliche, crossmediale Produktionsprozesse angestrebt. Im Zuge dessen wird die Arbeit von Journalisten auch transparenter – Diskurs- und Entscheidungsmechanismen werden mit dem Publikum geteilt (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 59). Beispielsweise streamt Jan Böhmermann Redaktionssitzungen seiner Sendung Neo Magazin Royal live via Periscope, was eine Annäherung an den Nutzer darstellt, Vertrauen gewinnen soll und eine größere Bindung zur Marke herstellt (vgl. Schmidt 2015). Dabei steigen die technischen Anforderungen an Journalisten zunehmend. Es reicht nicht mehr aus, verschiedene Techniken und Tools einmal zu erlernen. Eine permanente, technische Weiterbildung ist nötig, um das Publikum nicht an andere Medien zu verlieren (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 60). Damit verbunden ist die Weiterentwicklung von Darstellungsformen. Klassische Darstellungsformen wandeln sich bei multimedialer Aufbereitung um und neue entstehen (vgl. ebd.). Beispielsweise entwickeln sich partizipative Formen, die den User mit einbeziehen und Interaktion möglich machen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Strategie-Anwendung „Werden Sie Kanzler(in)!“ des Spiegels, die Politik und dessen Funktionsweise spielerisch und in Interaktion mit dem User erläutert (vgl. Maxwill 2015). Der journalistische Auftrag der Information und Unterhaltung wird hier ebenso erfüllt wie in einer klassischen Reportage, womöglich ist die Informationsvermittlung sogar effektiver. Dazu kommen die mobilen Möglichkeiten der Berichterstattung, die den Journalismus vielseitiger machen (vgl. Kramp/Weichert 2012, S. 74). Es findet eine lokale Entgrenzung des Arbeitsplatzes statt, was gerade durch die Weiterentwicklung der Smartphones und Tablets möglich wird. Aus den vielen hier vorgestellten Ansätzen und Trends können nur wenige untersucht und analysiert werden. Die Auswahl der folgenden Entwicklungen wurde aufgrund der zu erwartenden Durchführbarkeit der Analyse getroffen.

4.1 Anpassung an die technologische Realität

Das Internet bot dem Journalismus von Anfang an viele Möglichkeiten. Inhalte, die für die Zeitung zu lang, zu groß oder nicht adäquat darstellbar waren, bekamen so eine geeignete Bühne (vgl. Niggemeier 2010, S. 42). Die Feedbackschleife vom Nutzer zum Autor verkürzte sich von mehreren Tagen zu wenigen Minuten, was die Dialogkultur veränderte (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu Print sind Fehler online korrigierbar, Inhalte können aktualisiert und Quellen problemlos offengelegt werden. Der technische Fortschritt sorgt für eine prinzipielle Erleichterung der journalistischen Arbeit und vervielfältigt die Möglichkeiten der Veröffentlichung (vgl. Niggemeier 2010, S. 42). Dabei ist der technische Wandel Chance und Risiko zugleich. Es können neue Leser gewonnen und neue Publikationsformen geschaffen werden, gleichzeitig droht der Journalismus durch die Technik obsolet zu werden und sich selbst zu ersetzen (vgl. Niggemeier 2010, S. 51).

Jürgs sieht den Journalismus dagegen noch immer als vierte Gewalt (Jürgs 2010, S. 72). Gerade die professionell gemachte Kontrolle von politischer Kommunikation könne nicht durch Amateur-Content ersetzt werden. Um weiter bestehen zu können, müssen Journalisten sich schneller an die technischen Möglichkeiten anpassen, als dass sich Amateure professionalisieren (vgl. ebd.). Die raschen Entwicklungen im Onlinebereich verändern die Wettbewerbsbedingungen für alle Beteiligten, was die Adaption von Techniken und Tools zwangsläufig notwendig macht. Journalisten sind demnach gezwungen, sich neues Wissen anzueignen, da sie sonst im Wettbewerb mit Nachteilen zu rechnen haben (vgl. Jürgs 2010, S. 72). Das Wesen des Journalismus wird durch Inhalte charakterisiert, deren Form ist zweitrangig und veränderbar (vgl. ebd.). Dennoch werden innovative Arbeitstechniken verstärkt zu Erfolgsfaktoren, die mehr und mehr zu den Kernkompetenzen eines Journalisten gehören (vgl. Siegert 2013).

Für interdisziplinäres Arbeiten ist ein technisches Grundverständnis von Bedeutung, Programmierkenntnisse sind für Journalisten mittlerweile vorteilhaft (vgl. ebd.). Trotz aller Anpassung an die technischen Möglichkeiten müssen die journalistischen Aufgaben die technischen weiter überwiegen (vgl. Siegert 2013). Technischer Fortschritt ist demnach für den Journalismus prägend, die Kernarbeit bleibt aber bestehen (vgl. Weischenberg et al. 1994, S. 13). Das Ziel von Technologie und Innovationen im Medienumfeld ist die medienübergreifende Vernetzung von Organisationsbereichen, was das Arbeitsumfeld des Journalismus verändert (vgl. Weischenberg et al. 1994, S. 84). Ende der achtziger Jahre gab es lediglich 7000 Bildschirmplätze in Deutschlands Redaktionen, 1994 arbeiteten bereits 80 Prozent der Journalisten mit einem Rechner (vgl. Weischenberg et al. 1994, S. 85). Heute hat praktisch jeder Journalist mindestens ein Gerät zur Verfügung, oft wird ein Rechner durch Tablets oder Smartphones erweitert. Dadurch findet eine Entgrenzung des Arbeitsplatzes statt, prinzipiell kann von überall aus gearbeitet werden. Die neuen Vermittlungsformen machen multimediales Arbeiten zur Prämisse, Text alleine reicht nur noch in seltenen Fällen aus (vgl. Meier 2010). Die zu beherrschenden Arbeitstechniken haben sich für Journalisten vervielfältigt, neben Text sollte auch Audio, Video und Foto angewendet werden können. Je nach Vorliebe ist eine Schwerpunktsetzung in der Arbeit aber weiter üblich (vgl. ebd.). Die verschiedenen Vermittlungsformen arbeiten nach einem Netzwerk-Prinzip: Nur wenn Inhalte intensiv vernetzt werden, nimmt das Publikum sie auch wahr (vgl. Spachmann 2009, S. 5). Die technischen Möglichkeiten sind vielfältig, ihr Einsatz in den Medien ist es ebenso. Diese Entwicklung soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, da der Umgang von Redaktionen mit Technik die Innovationsbereitschaft eines Mediums zeigt. Es soll analysiert werden, ob der technische Fortschritt von Print- und Onlinemedien genutzt, ignoriert oder sogar vorangetrieben wird.

4.2 Bedeutungsverschiebung der Nutzerintegration

Die Bedeutung der Nutzer ist seit Jahren im Wandel. Vor dem Online-Journalismus konnte ein Leser nur per Leserbrief mit einem Redakteur kommunizieren, diese Feedbackschleife dauerte Tage oder sogar Wochen. Jetzt können Nutzer direkt nach der Veröffentlichung auf einen Artikel reagieren, bei offengelegten Prozessen sogar davor. Das verändert das Verhältnis von Kommunikator und Rezipient grundlegend. Nutzer sind jetzt ein Glaubwürdigkeitskriterium für Journalisten – wer von vielen gelesen wird, kann nicht komplett falsch liegen (vgl. Siegert 2013).

Die User können zunehmend in Arbeitsprozesse integriert werden, unter anderem zur Recherche, Anpassung von Texten, Quellensuche oder als Feedback-Mechanismus. Journalismus wird so zu einem transparenteren Prozess (vgl. ebd.). Durch Crowdfounding kann sich das klassisch einseitige Verhältnis zwischen beiden Seiten auch umdrehen, der Nutzer wird dann zum Auftraggeber des Journalisten. Die Ansprache der User wird an deren Nutzungsgewohnheiten angepasst, was eine verstärkte Verbreitung von Inhalten via Social Media zur Folge hat (vgl. ebd.). Wie Inhalte am effizientesten verbreitet werden, erfährt der Journalist nur im intensiven Austausch mit seinen Lesern. So wird prozessorientiertes Arbeiten möglich, auch Teilrecherchen können Nutzern online zur Verfügung gestellt werden, um Richtungsentscheidungen durch Feedback absichern zu lassen (vgl. Siegert 2013). Die wochenlange Einzelrecherche für einen Artikel ist mittlerweile nur noch in Ausnahmefällen vorzufinden. Das Ziel einer Veröffentlichung ist dabei weiterhin ein großes Publikum, der Veröffentlichungskanal kann aber variieren (vgl. ebd.). Im Online-Bereich ist ein Mitspracherecht für Nutzer ein Qualitätskriterium, das in der Außenwahrnehmung von großer Bedeutung ist. Das macht es für Journalisten erforderlich, Offenheit und Kommunikationskompetenz zu erlernen (vgl. ebd.). Vermittlungsformen arbeiten dabei nach dem Netzwerk-Prinzip – jeder kann partizipieren, teilhaben und verbreiten (vgl. Spachmann 2009, S. 5). Im Printbereich ist das Lektorat eine redaktionsinterne Arbeit, Online werden zunehmend Nutzer für Qualitätssicherung und Kontrolle hinzugezogen, was die Bedeutung der Nutzerintegration widerspiegelt (vgl. ebd.). User können durch Kommentare, offene Diskussionen oder Bewertungen für eine Prüfung und Gewichtung von Informationen sorgen, was ein „demokratietheoretisch verheißungsvolles Gegenmodell zu Journalisten als Gatekeeper“ (Spachmann 2009, S. 5) darstellt. Die Kontrollfunktion der Nutzer ist dabei komplementär zur redaktionsinternen Kontrolle und ersetzt sie nicht komplett. Journalistische Arbeit ist so eher „work in progress“ (Spachmann 2009, S. 6) anstelle eines abgeschlossenen Aktes.

Die Möglichkeiten der Lesereinbindung sind vielfältig. Sie können Fehler finden, Erfahrungsberichte teilen, Stimmungsbilder liefern, Inspiration für Artikel bringen, neue Argumente oder Standpunkte vertreten, Debatten anstoßen oder an Vorbereitungen beteiligt werden (vgl. Horn 2011). Die Einbindung, Betreuung und Moderation von Usern kostet Journalisten dafür viel Zeit, was eine Herausforderung des modernen Journalismus darstellt. Ein Journalist muss filtern, aufbereiten, verknüpfen, motivieren und zuhören (vgl. ebd.). Passend zum Bedeutungsgewinn der Nutzer hat das Times-Magazin 2006 alle Internetnutzer als „person of the year“ ausgezeichnet, was damit begründet wurde, dass „die User die Kontrolle über das Internet gewonnen haben“ (Neuberger 2007, S. 96). Das zeigt den Übergang vom redaktionell gesteuerten Publizieren hin zur Partizipation (vgl. Neuberger 2007, S. 96). Der User wird immer mehr vom passiven Rezipienten zum aktiven Kommunikator. Die Bedeutungsverschiebung der Nutzerintegration ist in der Theorie unumstritten. Die tatsächliche Ausprägung der Entwicklung im derzeitigen Journalismus soll daher in der folgenden Analyse untersucht werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 57 Seiten

Details

Titel
Berichterstattung 2.0. Trends und Entwicklungen im Journalismus
Untertitel
Ein Vergleich verschiedener Medien
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Halesma)
Veranstaltung
Online-Journalismus
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
57
Katalognummer
V322365
ISBN (eBook)
9783668218369
ISBN (Buch)
9783668218376
Dateigröße
726 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
berichterstattung, trends, entwicklungen, journalismus, vergleich, medien
Arbeit zitieren
Daniel Heißenstein (Autor:in), 2015, Berichterstattung 2.0. Trends und Entwicklungen im Journalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/322365

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Berichterstattung 2.0. Trends und Entwicklungen im Journalismus



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden