Der Tod ist eine anthropologische Tatsache, an der kein Mensch vorbei kommt. Genauer gesagt: Die menschliche Sterblichkeit ist eine anthropologische Tatsache. Der Tod selbst „läßt sich nicht umstandslos als Erkenntnisgegenstand konstituieren“ (Macho 2000: 91), da er nicht reflektierbar ist. Was der Tod ist und wann er eintritt, ist eine Definitionsfrage, deren Antwort je nach Kultur und Zeit verschieden ausfällt. Den Tod an sich gibt es nicht, jedenfalls ist er der soziologischen Beobachtung nicht zugänglich. Was untersucht werden kann, ist der Tod als Ereignis des Lebens, der Umgang der Lebenden mit dem Tod und seine Deutung durch sie.
Nach Berger und Luckmann (1969) stellt der Tod die oberste Grenzsituation im menschlichen Leben dar. Grenzsituationen muss ein Platz innerhalb der Lebenswelt zugewiesen werden. Sie müssen mit Sinn versehen werden, damit der Mensch auch in ihrem Angesicht sein Dasein nicht als sinnlos und die Wirklichkeit der Alltagswelt nicht als ungesichert und zweifelhaft empfindet. Der Tod muss demzufolge deutend legitimiert werden, um die Wirklichkeit der Alltagswelt nicht ins Wanken zu bringen.
Im Großteil der Menschheitsgeschichte geschah dies mit Hilfe von Religion, wobei die jeweiligen religiösen Deutungsmuster sowohl in verschiedenen Zeiten als auch von Gesellschaft zu Gesellschaft variierten. Der Zusammenhang von Religion und Tod lässt sich leicht herstellen: Religion als die Beschäftigung mit dem Transzendenten, Nicht-Sinnlichen bietet beste Bedingungen für die Auseinandersetzung mit dem Tod als dem Ende des sinnlich erfahrbaren Lebens. Der Tod wird durch die Religion besonders wirkungsvoll legitimiert, da es aufgrund ihrer Fähigkeit zur Transzendierung durch sie möglich ist, die gesamte Wirklichkeit der Alltagswelt zu überhöhen und in einen kosmischen Bezugsrahmen zu setzen, in dem jedes menschliche Phänomen seinen festen Platz hat (Berger 1973).
Je fester die Plausibilitätsstrukturen einer Religion in der Gesellschaft verankert sind, desto effektiver kann der Tod religiös legitimiert werden. Durch gesellschaftliche Differenzierungsprozesse ist jedoch diese allumfassende religiöse Plausibilitätsstruktur in der modernen Gesellschaft nicht mehr gegeben, da zum einen die funktionale Differenzierung zu einem religiösen Monopolverlust führt und zum anderen viele Handlungs- und Erlebensfelder privatisiert und damit verbindlichen kollektiven Vorgaben entzogen werden. Infolgedessen entsteht eine Pluralität der Weltanschauungen.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 1.1 Fragestellung, Vorgehensweise und Forschungsstand
- 1.2 Leistung und Struktur der Arbeit
- 2 Theoretische Betrachtungen
- 2.1 Die religiöse Situation in Deutschland
- 2.1.1 Die Säkularisierungsthese
- 2.1.2 Die Individualisierungsthese
- 2.2 Der Religionsbegriff
- 2.3 Der Tod als unvermeidbare Grenzerfahrung
- 2.4 Zur Legitimation des Todes
- 2.5 Der Zusammenhang von Religion und Tod
- 2.6 Der Tod in der modernen Gesellschaft
- 2.7 Die Kritik an der Verdrängungsthese
- 2.8 Zum Beitrag der Religion zur Legitimierung des Todes heute
- 2.9 Resümee
- 3 Empirische Untersuchung
- 3.1 Methodik
- 3.1.1 Religiöse Besonderheiten im Osten Deutschlands
- 3.1.2 Eigenpositionierung
- 3.2 Datenauswertung
- 3.2.1 Christliche Religiosität
- 3.2.2 Synkretistisch-esoterische Religiosität
- 3.2.3 Areligiosität
- 3.3 Gegenüberstellung der Fallbeispiele
- 4 Schlussbetrachtungen und Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit dem Verhältnis von Religion und Tod in der modernen Gesellschaft und untersucht die Auswirkungen dieser Beziehung auf die individuelle Bearbeitung der Sterblichkeitsproblematik. Sie analysiert, wie sich strukturelle Veränderungen, wie die zunehmende Verdiesseitigung des Todes und der Verlust einer verbindlichen religiösen Sinnstiftung, auf das Bewusstsein des Individuums bezüglich der Sterblichkeit und der Deutung des Todes auswirken. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie verschiedene religiöse und areligiöse Anschauungen die individuelle Vorstellung vom Tod beeinflussen und welche Deutungsmuster dabei zum Einsatz kommen.
- Die Auswirkungen der Säkularisierung und Individualisierung auf die religiöse Situation in Deutschland
- Die Rolle von Religion bei der Legitimierung des Todes in der Geschichte und Gegenwart
- Die Herausforderungen der Sterblichkeitsproblematik in einer zunehmend areligiösen Gesellschaft
- Die Bedeutung individueller Deutungsmuster für den Umgang mit dem Tod
- Die Analyse von unterschiedlichen religiösen und areligiösen Anschauungen und deren Einfluss auf die Verarbeitung der Sterblichkeitsproblematik
Zusammenfassung der Kapitel
- Kapitel 1: Einleitung: Diese Einleitung führt in die Thematik des Verhältnisses von Religion und Tod in der modernen Gesellschaft ein und stellt die Fragestellung, die Vorgehensweise und den Forschungsstand der Arbeit dar.
- Kapitel 2: Theoretische Betrachtungen: Dieses Kapitel beleuchtet die religiöse Situation in Deutschland im Kontext der Säkularisierung und Individualisierung und definiert den Begriff der Religion. Es analysiert die Bedeutung des Todes als Grenzerfahrung und untersucht die Rolle von Religion bei der Legitimierung des Todes sowie den Zusammenhang zwischen Religion und Tod in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten.
- Kapitel 3: Empirische Untersuchung: Kapitel 3 beschreibt die Methodik der Arbeit, die sich auf halbstandardisierte Interviews mit unterschiedlichen religiösen und areligiösen Personen stützt. Es werden die Besonderheiten der religiösen Situation im Osten Deutschlands erläutert und die Eigenpositionierung der Verfasserin dargelegt. Die Datenauswertung konzentriert sich auf die Analyse von Deutungsmustern in Bezug auf die Sterblichkeitsproblematik und die Gegenüberstellung der Fallbeispiele.
Schlüsselwörter
Die zentralen Schlüsselwörter dieser Arbeit sind: Religion, Tod, Sterblichkeit, Grenzerfahrung, Deutungsmuster, Religiosität, Säkularisierung, Individualisierung, Moderne, Gesellschaft, Erfahrungsdefizit, Deutungsschemata, Interviewanalyse, Inhaltsanalyse, Plausibilitätsstrukturen.
- Quote paper
- Antje Kahl (Author), 2004, Das Verhältnis von Religion und Tod in der modernen Gesellschaft und seine Auswirkungen auf die individuelle Bearbeitung der Sterblichkeitsproblematik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32276