Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Varianten des Märchens „Dornröschen“
2.1. Entstehungsgeschichte – früheste Überlieferungen
2.2. „Sonne, Mond und Talia” – Giambattista Basile
2.3. „Die schlafende Schöne im Walde“– Charles Perrault
2.4. „Dornröschen“ – Jakob und Wilhelm Grimm
3. Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Die Geschichte des „Dornröschen“ ist eines der populärsten Märchen unseres Kulturkreises. Die im Jahr 1812 im ersten Band der Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen“ enthaltene Fassung stellt die in Deutschland bis heute bekannteste Überlieferung des Dornröschenstoffes dar.
Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm begriffen die ihnen zugetragenen Märchen als durch das kollektive Gedächtnis oral tradierte Volkspoesie, welche Fragmente germanischer Mythologie enthält. Ihre Motivation für das Zusammentragen der Geschichten formulierten sie im Vorwort der im Jahr 1819 erschienenen zweiten Auflage folgendermaßen: „Es war vielleicht gerade Zeit, diese Mährchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden“.[1] Viele der von den Grimms bearbeiteten und herausgegebenen Texte wurden jedoch bereits geraume Zeit vor dem Erscheinen ihrer Sammlung durch einzelne Autoren literarisiert,[2] und auch die Grimms „hatten ihre Kinder- und Hausmärchen […] fast gänzlich am Schreibtisch komponiert“.[3]
Die vorliegende Arbeit soll die Entstehungsgeschichte der uns unter dem Namen „Dornröschen“ geläufigen Erzählung darlegen, und den Einfluss des jeweiligen Zeitgeistes auf die narrative Struktur des Märchens vergleichend beschreiben. Ausgangspunkt bildet hierbei die erste schriftliche Quelle aus dem Jahr 1330, weiterhin werden das Märchen des neapolitanischen Dichters Giambattista Basile „Sonne, Mond und Talia“, sowie die Geschichte „Die schlafende Schöne im Walde“ von Charles Perrault in die Betrachtung einbezogen.
2. Varianten des Märchens „Dornröschen“
2.1. Entstehungsgeschichte – früheste Überlieferungen
Die Überlieferung des Motivs einer in einen tiefen Schlaf gefallenen Schönen beginnt mit dem um 1330 erschienenen, altfranzösischen „Roman de Perceforest“.[4] Die kurze Episode im Roman handelt um die Prinzessin Zellandine, welche einer Prophezeiung entsprechend in einen todesähnlichen Schlaf fällt, nachdem sie sich beim Spinnen mit einer Flachsfaser in die Hand sticht. Die schlafende Adlige wird daraufhin in einem unzugänglichen Schlossturm aufgebahrt, und dort von Prinz Troylus aufgesucht. Dieser erscheint zusammen mit dem Liebesgott Amor, welcher den Ritter in dessen Verzückung ob der Schönheit Zellandines berät. Der Besuch Troylus’ findet seinen Höhepunkt in der Vergewaltigung der Jungfrau, wobei der Prinz sein Verhalten durch den Zuspruch der anwesenden Venus legitimiert.[5] Die durch den ungewollten Beischlaf schwanger gewordene Zellandine gebärt ihr Kind schlafend, und erwacht schließlich, als ihr Sohn die Flachsfaser aus ihrem Finger saugt. Schließlich bekennt Prinz Troylus sich zu seinem Kind und ehelicht die Prinzessin.[6]
Diese Episode des unbekannten Romanverfassers kombiniert märchenhaft phantastische Elemente mit der Welt mittelalterlichen Rittertums. Beat Mazenauer und Severin Perrig begreifen den Erzählkern dieser Geschichte als Ausdruck einer durch den naturwissenschaftlichen Kenntnisstand der Zeit verursachten Verunsicherung. Die im „Roman de Perceforest“ beschriebene Empfängnis im Schlaf widerspricht der damaligen Auffassung von biologischen Vorgängen und offenbart nach Mazenauer/Perrig Differenzen zwischen Erfahrungen des Volkes und wissenschaftlichen Vorstellungen. Nach diesen konnte eine Frau allein bei vollem Bewusstsein und unter der Bedingung eines Orgasmus schwanger werden, sodass der Autor des Romans realistische Beobachtungen in Form einer vermeintlich phantastischen Geschichte verarbeitet.[7] Um der medizinischen Ansicht des Mittelalters dennoch zu folgen, rechtfertigt er die aus der Vergewaltigung resultierende Schwangerschaft der Protagonistin durch die während des Beischlafs erwähnte Bemerkung: „daß sie am Ende einen tiefen Seufzer ausstieß“.[8]
Eine weitere Überlieferung des Motivs der tief schlafenden Prinzessin stellt die auf etwa 1350 datierte, katalanische Versnovelle „Frayre de Joy e Sor de Plaser“ dar. Ähnlich der altfranzösischen Erzählung, beschreibt die Novelle die Empfängnis einer im Schlaf vergewaltigten Prinzessin, welche jedoch bereits bei der Geburt ihres Kindes erwacht. Neben ihrem Motiv verbindet beide Versionen der höfische Lebensraum der Protagonisten. Der „Roman de Perceforest“ sowie die novellistische Erzählung bilden die Lebenswirklichkeit des aristokratischen Publikums ab, und thematisieren die Beziehung zwischen der zu umwerbenden Dame und des Ritters. Wurde im Minnesang jeglicher körperlicher Kontakt zur angebeteten Minnedame von vornherein ausgeschlossen, so erscheinen die Erzählungen zur Vergewaltigung einer Schlafenden als drastischer Bruch höfischer Wertvorstellungen. Diesem ritterlichen Verstoß gegen die feudale Lebenskultur folgt in der hier besprochenen Literatur eine Heirat mit dem Opfer, welche das Geschehen nachträglich legitimieren soll.[9] Eine weitere Quelle des Erzählkerns sei nach Mazenauer/Perrig ebenso in einem medizinischen Kontext zu finden. Es handle sich hierbei um die Beunruhigung über das Phänomen des Scheintods, welche in die Geschichten eingeflossen sei. Lutz Röhrich begründet die Auseinandersetzung der Menschen mit dieser Thematik folgendermaßen:
Erzählungen von Scheintoten haben in den vergangenen Jahr- hunderten eine ungleich größere Bedeutung gehabt als heutzutage. Scheintotengeschichten sind ubiquitär, und vor allem in Sagen aus der Pestzeit finden sie sich sehr häufig und völlig unabhängig voneinander, weil eben die Wirklichkeit immer wieder solche Fälle lieferte.[10]
Infolge millionenfacher durch mehrere Pestepidemien verursachten Todesfälle im spätmittelalterlichen Europa, geschah die Bestattung der Opfer vorwiegend in Massengräbern.
Verursacht durch die Angst vor einer möglichen Ansteckung sowie unzureichender medizinischer Diagnose, wurden dabei häufig ohnmächtige oder komatöse Menschen für tot erklärt. Demnach könnte die aus realen Beobachtungen resultierende Furcht vor einem vorzeitigen Begräbnis auch im Kontext der Entstehung des Dornröschenmärchens von Bedeutung sein, und einen Bestandteil des Erzählkerns darstellen.[11]
2.2. „Sonne, Mond und Talia” – Giambattista Basile
Der neapolitanische Dichter Giambattista Basile lebte von 1575 bis 1632 und wurde mit seiner posthum in Neapel veröffentlichten Märchensammlung „Lo counto de li cunti o vero Lo trattenemiento de peccerille“ (Das Märchen aller Märchen oder Unterhaltung für die Jugend) international bekannt.[12] Das als erste Sammlung von Kunstmärchen geltende Werk enthält fünfzig Erzählungen, welche in eine märchenhafte Rahmenhandlung integriert sind. Die im neapolitanischen Dialekt verfassten Geschichten werden über einen Zeitraum von fünf Tagen erzählt, sodass der Titel späterer Ausgaben in „Pentamerone“ umbenannt wurde. Basiles Märchen entsprechen dem dichterischen Zeitgeist des Barock, und geben dabei alltägliche Begebenheiten des 17. Jahrhunderts in phantastischer Gestalt wieder. Die Sammlung beeinflusste das Genre in Spanien, Frankreich und Deutschland, sodass in deutschen Märchenfassungen etwa zwei Drittel seiner Erzählungen wieder zu finden sind.[13] Eines von ihnen ist das später in Deutschland unter dem Namen „Dornröschen“ bekannte Märchen „Sonne, Mond und Talia“, welches in der fünften Unterhaltung des fünften Tages im „Pentamerone“ erzählt wird.
Die Geschichte handelt um das Mädchen Talia, welcher nach ihrer Geburt eine große Gefahr durch eine Flachsfaser weisgesagt wird. Trotz jeglicher Vorkehrungen des Vaters sticht sich Talia als junge Frau an einer Spindel in den Finger und wird bewusstlos. Ihr Vater lässt sie daraufhin allein in seinem Palast zurück, in welchen ein König bei einem Jagdausflug eintritt und die vermeintlich tote Talia vergewaltigt. Diese gebärt nach neun Monaten die Zwillinge Sonne und Mond, welche die Mutter durch das Aussaugen der Flachsfaser zum Leben erwecken. Der nach dem Beischlaf in seinen Palast zurückgekehrte König erinnert sich nun an Talia, und besucht sie auf weiteren Jagdausflügen. Doch hat der König eine eifersüchtige Ehefrau, welche seiner Untreue gewahr wird und ihren Koch beauftragt, die unehelichen Kinder ihrem Mann als Mahl zu reichen. Der Koch jedoch bringt Sonne und Mond zu seiner Frau in Pflege, und setzt dem König stattdessen Ziegenfleisch vor. Schließlich befiehlt die Königin Talia zu sich, und veranlasst diese in ein Feuer zu werfen. Durch die Schreie Talias alarmiert, rettet der König seine Geliebte. Das grausame Vorhaben seiner Ehefrau offenbart sich, woraufhin Talia und dem König Sonne und Mond durch die Frau des Kochs wiedergebracht werden.[14]
Das Märchen entspricht in seiner Motivkette der im „Roman de Perceforest“ vorkommenden Episode sowie auch der katalanischen Versnovelle.[15] Die Autoren Mazenauer und Perrig vermuten den Einfluss beider Varianten im Märchen Basiles. Da dessen Heimatstadt Neapel von 1504 bis 1707 im Einflussbereich Spaniens lag, erwägen Mazenauer/Perrig eine Beeinflussung durch die italienische Renaissance-Novellistik, deren Handlungsort häufig Katalonien war.[16] Entgegen dieser angreifbaren Ableitung erscheint die Argumentation für die Einflussnahme des Perceforest-Romans wahrscheinlicher. Der altfränzösische Ritterroman wurde bereits im Jahr 1558 ins Italienische übersetzt, sodass dem neapolitanischen Dichter die kurze Episode über die Prinzessin Zellandine bekannt gewesen sein konnte. Hierfür spricht weiterhin das Motiv der Prophezeiung, welches bei Basile die Erzählung einleitet, aber in der katalanischen Fassung fehlt.[17] Auch Heinz Rölleke geht von dieser Annahme aus: „Das Motiv der Faser und die Bedingung der Erlösung stimmen […] so genau überein, daß man mit direktem Einfluß rechnen muß“.[18]
Mazenauer und Perrig begreifen die Variante Basiles als aus „konsequent männlicher Sichtweise aus[ge]schmückt“.[19] Dennoch erfolgt die Andeutung des Beischlafs hier eher zurückhaltend durch die Bemerkung: „[…] trug er sie, so wie sie war, zu einem Bett und pflückte dort die Früchte der Liebe“,[20] wohingegen der Perceforest-Verfasser das Geschehen detailliert und freizügig beschreibt: „Deshalb erhob sich der Ritter, der sogleich entwaffnet und entkleidet war, und schlüpfte unter die Decke zur Jungfrau, die dort ganz nackt war, weiß und zart.“[21] Während der Ritter Troylus durch sein Handeln in eine moralisch bedenkliche Situation gerät und sich dessen auch vor seiner Tat bewusst ist, erscheint der König in „Sonne, Mond und Talia“ als von gesellschaftlichen Zwängen befreit, obwohl er Ehebruch begeht. Dies weise nach Mazenauer/Perrig auf ein vorwiegend männliches Publikum hin,[22] welches sich durch die fiktiven Abenteuer eines ihrem Gesellschaftsmilieu angehörigen Protagonisten unterhalten ließ. Die Vergewaltigung Zellandines wird durch die Aussage Amors als deren Erlösung aus dem Schlaf legitimiert: „’[…] denn für dieses Mal soll es genug sein und die Frucht ist ja gepflückt, von der die Schöne geheilt wird’“,[23] wohingegen die Tat des Königs nur indirekt im Zusammenhang mit Talias Erweckung steht, und keine Motivation für dessen Handeln darstellt.
[...]
[1] Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Bd. 1. Nachdr. der 2., verm. und verb. Aufl., Berlin/Reimer, 1819. Neu hrsg. von Hans-Jörg Uther. Mit einem Vorw. von Hans-Jörg Uther. Hildesheim/Zürich/New York: Olms-Weidmann, 2004 (= Jacob und Wilhelm Grimm. Werke. Forschungsausgabe. Hrsg. v. Ludwig Erich Schmitt. Abt. III: Bd. 43). S. VI.
[2] Vgl. Rötzer, Hans Gerd: Märchen. Bamberg: C. C. Buchners, 1982 (= Themen – Texte – Interpretationen. Bd. 1). S. 5.
[3] Schenda, Rudolf: Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993. S. 247.
[4] Vgl. Mazenauer, Beat, Perrig, S.: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Archäologie der Märchen. Mit einem Essay von Peter Bichsel. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1995. S. 58.
[5] Vgl., ebd. S. 29ff.
[6] Vgl. ebd., S. 59.
[7] Vgl., ebd., S. 61.
[8] Ebd., S. 31.
[9] Vgl. Mazenauer/Perrig, Wie Dornröschen seine Unschuld gewann, S. 60.
[10] Röhrich, Lutz: Kommentar. In: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart. Sagen, Märchen, Exempel und Schwänke. Bd. 2. Mit einem Kommentar hrsg. von Lutz Rörich. Bern/München: Francke, 1967. S. 416.
[11] Vgl. Mazenauer/Perrig, Wie Dornröschen seine Unschuld gewann, S. 63f.
[12] Vgl. Rötzer, Märchen, S. 119
[13] Vgl. ebd. S. 120f.
[14] Vgl. Basile, Giambattista: Das Märchen der Märchen. Das Pentamerone. Nach dem neapolitanischen Text von 1634/36. Vollst. und neu übers. und erl. von Hanno Helbig, Alfred Messerli u. a. Hrsg. von Rudolf Schenda. München: C. H. Beck, 2000. S. 442ff.
[15] Vgl. Mazenauer/Perrig, Wie Dornröschen seine Unschuld gewann, S. 65.
[16] Vgl. ebd., S. 66.
[17] Vgl. ebd.
[18] Rölleke, Heinz: Die Stellung des Dornröschenmärchens zum Mythos und zur Heldensage. In: Antiker Mythos in unseren Märchen. Hrsg. von Wolfdietrich Siegmund. Kassel: Erich Röth, 1984 (= Veröffentlichungen der Europäischen Märchengesellschaft. Bd. 6). S. 133.
[19] Mazenauer/Perrig, Wie Dornröschen seine Unschuld gewann, S. 65.
[20] Basile, Das Märchen der Märchen, S. 443.
[21] Mazenauer/Perrig, Wie Dornröschen seine Unschuld gewann, S. 30f.
[22] Vgl. ebd., S. 67.
[23] Ebd., S. 31.