Wenn zwei Methoden sich offensichtlich, also rein von ihrer äußerlichen Struktur her gleichen, heißt das nicht, dass sie auch dieselben Inhalte und Ziele haben. Auf dieser These baut die vorliegende Arbeit auf, welche die Methoden zur Erkenntnis in Platons Dihairesis und Leibniz’ Erkenntnisstufen vergleichen will. Letztere haben äußerlich viele Gemeinsamkeiten: Sie bilden eine Hierarchie aus Ober- und Unterbegriffen, von denen sie den jeweils zielgerichteteren Begriff in zwei weitere Teile auseinandernehmen und schließen außerdem mit einem einzelnen, nicht mehr teilbaren Begriff ab.
Es stellt sich daher die Frage, was diese offensichtlichen Gemeinsamkeiten im Detail verbindet. Gibt es wohlmöglich auch Parallelen darin, was Platon und Leibniz unter Erkenntnis verstehen? Diese Frage tat sich zu Beginn der Arbeit auf – und wurde zu der Forschungsfrage präzisiert, ob die Dihairesis von Platon Begriffe so definieren kann, dass sie den Ansprüchen von Leibniz’ intuitiver Erkenntnis genügen. Der rein strukturelle Vergleich, der im ersten Absatz angeschnitten wurde, wird in Kapitel 2.3 nur kurz behandelt. Zuvor werden die Methoden von Leibniz und Platon einzeln erläutert, um einen Einstieg in das Thema zu geben. In Kapitel 3.1 folgt eine detailliertere Betrachtung der intuitiven Erkenntnis bei Leibniz und der für sie formulierten Bedingungen. Diese Erläuterungen bieten die Grundlage für den Diskussionsteil in Kapitel 3.2, der auf eine Beantwortung der Forschungsfrage zielt. Das letzte Kapitel fasst die Ergebnisse der Arbeit schließlich zusammen, zieht ein Fazit und gibt einen Ausblick auf weitere Fragestellungen.
Inhaltsverzeichnis
1.0 Einleitung
2.0 Die Methoden zur Erkenntnis
2.1 Leibniz Meditationes: Die Stufen der Erkenntnis
2.2 Platons Sophistes: Die Dihairesis
2.3 Hierarchien bei Leibniz und Platon
3.0 Platon und Leibniz im Vergleich
3.1 Die intuitive Erkenntnis bei Leibniz
3.2 Leibniz und Platon: Kritik an der Dihairesis?
3.2.1 Die klare Erkenntnis
3.2.2 Die klare und deutliche Erkenntnis
3.2.3 Die klare, deutliche und adäquate Erkenntnis
4.0 Zusammenfassung und Fazit
Literaturverzeichnis
1.0 Einleitung
Wenn zwei Methoden sich offensichtlich, also rein von ihrer äußerlichen Struktur her gleichen, heißt das nicht, dass sie auch dieselben Inhalte und Ziele haben. Auf dieser These baut die Arbeit auf, die die Methoden zur Erkenntnis in Platons Dihairesis und Leibniz’ Erkenntnisstufen vergleichen will. Letztere haben äußerlich viele Gemeinsamkeiten: Sie bilden eine Hierarchie aus Ober- und Unterbegriffen, von denen sie den jeweils zielgerichteteren Begriff in zwei weitere Teile auseinandernehmen und schließen außerdem mit einem einzelnen, nicht mehr teilbaren Begriff ab.
Es stellt sich daher die Frage, was diese offensichtlichen Gemeinsamkeiten im Detail verbindet. Gibt es wohlmöglich auch Parallelen darin, was Platon und Leibniz unter Erkenntnis verstehen? Diese Frage tat sich zu Beginn der Arbeit auf – und wurde zu der Forschungsfrage präzisiert, ob die Dihairesis von Platon Begriffe so definieren kann, dass sie den Ansprüchen von Leibniz’ intuitiver Erkenntnis genügen. Der rein strukturelle Vergleich, der im ersten Absatz angeschnitten wurde, wird in Kapitel 2.3 nur kurz behandelt. Zuvor werden die Methoden von Leibniz und Platon einzeln erläutert, um einen Einstieg in das Thema zu geben. In Kapitel 3.1 folgt eine detailliertere Betrachtung der intuitiven Erkenntnis bei Leibniz und der für sie formulierten Bedingungen. Diese Erläuterungen bieten die Grundlage für den Diskussionsteil in Kapitel 3.2, der auf eine Beantwortung der Forschungsfrage zielt. Das letzte Kapitel fasst die Ergebnisse der Arbeit schließlich zusammen, zieht ein Fazit und gibt einen Ausblick auf weitere Fragestellungen.
2.0 Die Methoden zur Erkenntnis
2.1 Leibniz Meditationes: Die Stufen der Erkenntnis
In den „Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen“ (nachfolgend: Meditationes) behandelt Leibniz die Frage, welche Formen von Erkenntnis sich voneinander unterscheiden lassen. Leibniz teilt dazu die Erkenntnisfähigkeit in verschiedene Stufen ein, die in einer hierarchischen Abfolge zu der höchsten Form von Erkenntnis führen. Die Anordnung der Erkenntnissstufen erfolgt hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die einzelnen Merkmale eines Begriffs adäquat unterscheiden, erinnern und wiedererkennen zu können. (vgl. Leinkauf in Kisser 2010) Es geht Leibniz darum, „[…] eine „vorgestellte“ oder „dargestellte“ Sache […] als solche möglichst zureichend auch begrifflich zu erfassen […]“. (Leinkauf in Kisser 2010: 116)
Die dunkle Erkenntnis liegt auf der untersten Stufe der Erkenntnisfähigkeit. Sie beschreibt einen Begriff, der nicht hinreichend verständlich ist, um ihn wieder zu erkennen und ihn von anderen Begriffen zu unterscheiden. Der Begriff ist so verschwommen, dass sich keine sichere Definition geben lässt – das einzige, was über ihn bekannt ist, ist, dass es ihn gibt. So nimmt Leibniz das Beispiel vom Schulunterricht, aus dem wir einen Begriff kennen, seiner Bedeutung uns allerdings im Unklaren sind. (Holz: 33) Mit dunklen Begriffen lässt sich im Prinzip nichts erkennen: „Dunkle Begriffe scheiden aus, denn mithilfe eines dunklen Begriffes kann man den betreffenden oder intendierten Gegenstand nicht identifizieren.“ (Burkhardt in Kisser 2010: 126) Der dunklen gegenübergestellt ist die klare Erkenntnis, bei der sich zwei Dinge genau voneinander unterscheiden lassen.
Der klaren Erkenntnis teilt Leibniz zwei Unterbegriffe zu. Die klare und verworrene Erkenntnis beschreibt, wenn die einzelnen Merkmale eines Begriffs nicht in ihrer ganzen Fülle bekannt sind. Leibniz gibt hier das Beispiel eines Künstlers: Er erkennt Schönheit und Makel in einem Werk, kann aber die Gründe für sein Urteil nicht in Worte fassen. (vgl. Holz und Leibniz 1986) Klar und verworren sind damit Begriffe, die „[…] auf Grund des einfachen Zeugnisses der Sinne, nicht jedoch auf Grund aussagbarer Kennzeichen“ definiert werden. (Holz und Leibniz 1986: 35) Die klare und deutliche Erkenntnis umfasst dagegen alle einzelnen Merkmale eines Begriffs – auch die, die nicht sinnlich erfassbar sind – Zahl, Figur und Größe. Von einem klaren und deutlichen Begriff haben wir eine Nominaldefinition, „[…] die nichts anderes als die Aufzählung der zureichenden Kennzeichen ist“. (Holz und Leibniz 1986: 35) Einfache Begriffe allerdings, die nur durch sich selbst definiert, also nicht in einzelne Begriffe aufgeteilt werden können, sind für Leibniz immer Nominaldefinitionen. (vgl. Leinkauf in Kisser: 2010)
Wenn allerdings diese zureichenden Kennzeichen eines klaren und deutlichen Begriffs selbst nicht deutlich erkannt werden, ist die Erkenntnis nicht zutreffend, also inadäquat. Die klare, deutliche, aber inadäquate Erkenntnis steht vor dem Problem, dass sie von den einzelnen Merkmalen selbst keine deutliche und klare Erkenntnis hat. So können beispielsweise alle Unterbegriffe des Begriffs „Wasser“ aufgezählt werden, doch wenn die Erkenntnis seines Merkmals „flüssig“ klar, aber doch nur verworren vorliegt, kann „Wasser“ nicht adäquat erkannt werden. (vgl. Holz und Leibniz 2010: 35) Erst, wenn alle hinreichenden Merkmale eines Begriffes klar und deutlich vorliegen, ist die Erkenntnis adäquat. Leibniz beschreibt diese Form der Erkenntnis auch als die, die „[…] die bis zum Ende durchgeführte Analyse kennt.“ (Holz und Leibniz 2010: 35-37)
Schließlich unterscheidet Leibniz zwischen der symbolischen und der intuitiven Form klarer, deutlicher und adäquater Erkenntnis. Beim symbolischen Erkennen werden undefinierbare Teile komplexer Analysen mit Zeichen ersetzt, die die Analyse vereinfachen bzw. erst möglich machen. Diese Arbeitsweise ist typisch für die Mathematik, in der für unbekannte Größen einer Rechnung Platzhalter (x,y) eingesetzt werden. Leibniz nimmt das Beispiel des Tausendecks, dessen exakter Analyse wir fähig sind, diese aber nicht vollständig durchführen – in dem Sinne, dass wir nicht jede einzelne Gerade berechnen, da wir dies zum Verständnis des Tausendecks nicht unbedingt benötigen. (vgl. Holz und Leibniz 2010: 37) Die intuitive Erkenntnis schließlich steht ganz an der Spitze der Erkenntnisstufen. Für diese müssen Begriffe „einfach“ erkannt werden, ihre Erklärung bedarf keiner weiteren Begriffe, sie sind durch sich selbst klar, deutlich und adäquat. (vgl. Leinkauf in Kisser) Allein Gott ist in der Lage, alle Begriffe intuitiv zu erkennen, da er selbst zusammengesetzte Begriffe „einfach“ sehen kann. (s. dazu Kapitel 3.1) Wir können über die Mathematik, die mit Zahlen (nach Leibniz einfachen Begriffen) operiert, intuitiv erkennen – solange wir, entgegen dem Beispiel des Tausendecks, keine Symbole benutzen.
2.2 Platons Sophistes: Die Dihairesis
Die Dihairesis ist für Platon eine Methode zum Definieren von Arten. Angefangen mit einer Gattung, die hierarchisch absteigend in Unterarten aufgeteilt wird, endet die Dihairesis in der zu bestimmenden Art. Letztere will Platon damit „[…] herausfinden und begrifflich klarstellen […]“. (Meinhardt und Platon 1990: 25) Platons Werk Philebos behandelt die Dihairesis ebenfalls: Hier setzt Platon die Regel, dass sich beim Teilen der Unterarten im besten Fall nur zwei Arten gegenüberstehen sollten. Die zwei Begriffs-"Stränge" tragen unterschiedliche Bedeutungen: "[…] auf der einen Seite […] befindet sich jener Strang von Unterarten, deren letzte die gesuchte Sache darstellt - auf die linke Seite kommt alles, was als nicht weiterführend abgesondert wird […]". ( Meinhardt und Platon 1990: 205)
In „Sophistes“ behandelt Platon die Umsetzung der Dihairesis an mehreren Beispielen. Ziel ist, das Wesen des Sophisten zu bestimmen. Unter dem Wesen versteht Platon nicht lediglich die Begriffsbestimmung, sondern vor allem „[…] die Sache selbst […]“. (Platon: 25) Da es den beiden Gesprächspartnern allerdings zu schwer erscheint, das Wesen des Sophisten zu erfassen, wollen sie mit einem einfacheren Beispiel anfangen. Sie setzen sich zum Ziel, den Begriff des Anglers (später: Angeln) zu begutachten, um die Methode der Dihairesis zu üben. (vgl. Meinhardt und Platon 1990)
So gilt als übergeordnete Gattung für den Angler die Kunst, die in die Arten hervorbringende und erwerbende Kunst aufgeteilt wird. Der Teil der erwerbenden Kunst wird als dem Angler zugehörig eingestuft und wieder aufgeteilt in den Kampf und die Jagd. So zieht es sich fort: Die Jagd wird für passend befunden, in Fußjagd und Wasserjagd eingeteilt, die Wasserjagd wiederum in Vogeljagd und Fischerei, die Fischerei in Gehegejagd und Verwundungsjagd, die Verwundungsjagd in Feuerjagd und Hakenjagd und die Hakenjagd in Harpunenjagd und Jagd „von unten nach oben“ mit dem Angelhaken. Letztere Art des Jagens, so beschließen die beiden Gesprächspartner, beschreibt schließlich dem Begriff des Anglers: „[…] dieser Praxis [des Jagens von unten nach oben] ist ihr Name angeglichen worden, das Angeln […]“. (Meinhardt und Platon 1990: 33) Damit ist für sie Wesen und Begriff des Anglers geklärt: „Wir beide […] haben uns nunmehr nicht nur über den Namen des Anglers geeinigt, sondern wir haben eine ausreichende begriffliche Klärung der Sache selbst erreicht […]“. (Meinhardt und Platon 1990: 33)
2.3 Hierarchien bei Leibniz und Platon
Beim Vergleich von Platons Dihairesis mit den Erkenntnisstufen von Leibniz fällt auf, dass sich die äußere Struktur der Begriffsaufteilung ähnlich sieht. Genauso wie Platon die jeweils zutreffende Art des Anglers in zwei Unterarten teilt, von welchen wiederum eine aufgeteilt wird, verfährt Leibniz mit den Stufen der Erkenntnis. Von der Gegenüberstellung der dunklen und klaren Erkenntnis ausgehend, teilt er die klare in verworrene und deutliche ein, die deutliche wiederum in die inadäquate und die adäquate, die adäquate in die symbolische und die intuitive: "In den Meditationes legt Leibniz folgende Abstufung der menschlichen Erkenntnisse (cognitiones) vor, die auf einer gestaffelten Kette von Disjunktionen aufbaut, von denen immer nur ein Einteilungsglied weiter geteilt wird" (Leinkauf in Kisser 2010: 116) Die Erkenntnisstufen dunkel, verworren, deutlich und inadäquat teilt Leibniz jedoch nicht weiter auf. Das entspricht dem Vorgehen in der Dihairesis, in der Platon die für die Definition unwichtigen Begriffe unbeachtet lässt und sich an den für ihn zutreffenden Begriffen entlang arbeitet: „Der konsequente >rechte< Weg zur Schlußzusammenfassung (sic.) läßt (sic.) auf der >linken< Seite Rest->Mengen< entstehen […].“ (Meinhardt und Platon 1990: 207)
Nicht nur in der Zweiteilung von Begriffen gehen die Methoden von Leibniz und Platon gleich vor, sondern auch darin, dass sie beide mit einem einzelnen Begriff enden. Bei Platons Dihairesis ist dieser die gesuchte Art, bei Leibniz Erkenntnisstufen ist es die höchste Stufe der Erkenntnis. Äußerlich haben die beiden Methoden damit einiges gemeinsam.
Auch in der Hinsicht, dass ein Begriff über die Begriffe auf der rechten Seite definiert wird, überschneiden sich Platon und Leibniz. Die intuitive Form der Erkenntnis baut auf all jenen Erkenntnisformen auf, die sich (nach der obigen Beschreibung der Dihairesis) auf der rechten Seite befinden: klar, deutlich und adäquat. Auch Platon definiert in seinem Beispiel den Angler, indem er aufzeigt, welchen Arten er untergordnet ist – darunter zum Beispiel die erwerbende Kunst, die Jagd und die Hakenjagd.
Das eigentlich Interessante an den beiden Methoden ist allerdings ihr Ziel. Platon wollte über diese Methode für den Menschen erkennbar machen, was Ideen sind: "Das Ziel […] [der Dihairesis] ist dabei, das empirisch Seiende zu erkennen, um dadurch die Ideen begreifen zu können." (Prechtl und Burkard: 108) Die Ideen sind für Platon das höchste Erkennbare. Für Leibniz ist die Idee allein durch die intuitive Erkenntnis erfassbar und stellt damit ebenfalls die Spitze der Erkenntnis dar. (vgl. Holz und Leibniz 1986) Hier kommt die Frage auf, welche Position Leibniz zu der Dihairesis einnehmen würde: Genügt die Definition der Begriffe über die Dihairesis seinem Anspruch von höchster, intuitiver Erkenntnis? Im Folgenden soll die intuitive Erkenntnis in den Fokus gerückt und anschließend die Dihairesis dahingehend untersucht werden.
3.0 Platon und Leibniz im Vergleich
3.1 Die intuitive Erkenntnis bei Leibniz
In der Bestimmung von intuitiv erkannten Begriffen spielt die Idee eine große Rolle. Mit der Abstufung des Erkenntnisvermögens möchte Leibniz im Grunde auf die Erkenntnis der Idee hinaus. (vgl. Leinkauf in Kisser 2010) Letztere ist hinreichend dafür, intuitiv erkennen zu können – Ideen lassen sich „ […] nur deutlich auffassen, insofern wir uns des intuitiven Denkens bedienen.“ (Holz und Leibniz 1986: 37) Leibniz zweifelt die Fähigkeit zur intuitiven Erkenntnis bei dem Menschen überwiegend an, allein in der Mathematik hält er sie für möglich. (vgl. Holz und Leibniz 1986) Das gilt allerdings auch nur, wenn ohne Zeichen oder Symbole operiert wird – ansonsten, durch die Vereinfachung der mathematischen Analyse, können die Rechenschritte nicht mehr klar und deutlich erkannt werden. (vgl. Holz und Leibniz 1986)
Aus den Erläuterungen in Kapitel 2.1 geht hervor, dass ein Begriff nur dann intuitiv erkennbar ist, wenn er auch klar, deutlich und adäquat erkannt wird, also „[…] eine abgeschlossene, es vollständig bestimmende und von allem anderen absetzende Menge von Bestimmungen aufweist.“ (Leinkauf in Kisser 2010: 110) Diese Begriffe bezeichnet Leibniz auch als „einfach“. Sie stehen am Ende einer Analyse, die einen Begriff in seine Teilbegriffe auflöst – und können nicht weiter geteilt werden: "Wird die Auflösung bis zum Ende durchgeführt, dann muß (sic.) sie auf einfache Begriffe stoßen, die nicht mehr auflösbar sind […]." (Martin 1957: 203)
Hier wird eine Parallele zu Platon klar, an der das folgende Kapitel anknüpfen soll. Es stellt sich die Frage, in welche Erkenntnisstufe Leibniz den zu definierenden Begriff einer Dihairesis einordnen würde. In anderen Worten: Eignet sich die Dihairesis in Leibniz‘ Augen als Methode, um intuitiv zu erkennen? Das folgende Kapitel will den zu definierenden Begriff der Dihairesis hinsichtlich der Bedingungen intuitiver Erkenntnis analysieren.
3.2 Leibniz und Platon: Kritik an der Dihairesis?
Im vorigen Kapitel wurden die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der intuitiven Erkenntnis erörtert. Einfache Begriffe und Ideen werden immer intuitiv erkannt, sind also hinreichend für die höchste Form der Erkenntnis. Doch zusammengesetzte Begriffe, also alle, die nicht durch sich selbst erkennbar sind, kann nur Gott intuitiv erkennen. Wenn wir Menschen intuitiv erkennen, dann müssen die Begriffe einfach sein – diese hat nach Leibniz nur die Mathematik.
Die in 3.1 genannte These könnte ganz einfach widerlegt werden, wenn angenommen wird, Leibniz und Platon hätten denselben Begriff von „Idee“. Wenn es nach Platon geht, wird die Idee der zu bestimmenden Unterart über die Durchführung der Dihairesis bestimmt. Denn das Wesen einer Sache, oder auch der Terminus „die Sache selbst“, ist für Platon nichts anderes als eine Umschreibung der Idee. (vgl. Schäfer 2007) Da eine Idee nach Leibniz immer intuitiv erkannt wird, müsste demnach auch die Dihairesis als eine Methode zur Erlangung intuitiver Erkenntnisse anerkannt werden. Doch bevor nicht die Konzepte der Idee bei Leibniz und Platon ausführlich und in aller Gründlichkeit untersucht wurden, darf diese These nicht angenommen werden.
Aus Platzgründen wird der Terminus „Idee“ hier nicht weiter untersucht. Stattdessen beleuchtet dieses Kapitel die Dihairesis hinsichtlich der notwendigen Bedingungen, die mit der intuitiven Erkenntnis einhergehen. Wie oben bereits zusammengefasst, müssen die Begriffe einfach sein bzw. alle Merkmale von zusammengesetzten Begriffen müssen klar, deutlich und adäquat erkannt werden.
3.2.1 Die klare Erkenntnis
Eine klare Erkenntnis von einem Begriff liegt vor, wenn – wie in Kapitel 2.1 bereits beschrieben – mehrere Dinge genau voneinander unterschieden werden können. Es reicht nicht, den Begriff wörtlich und schriftlich zu kennen: Eine sichere Definition muss vorliegen, mit der erst der korrekte Gebrauch des Begriffs möglich ist. Ist der Angler in dem Beispiel aus Kapitel 2.2 den Gesprächspartnern ein klarer Begriff? Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, die gegenübergestellte Erkenntnisstufe zu betrachten: die dunkle Erkenntnis. Burkhardt meint, mit dunklen Begriffen ließe sich rein gar nichts erkennen, weil von dem damit beschriebenen Gegenstand nicht einmal ein Bild vorhanden sei. (vgl. Burkhardt in Kisser 2010)
Platon allerdings kann den Begriff des Anglers bereits einordnen, bevor die Dihairesis vollkommen durchgeführt ist: er sei „wohlbekannt“ und „allen vertraut“. (vgl. Meinhardt und Platon 1990) Die Dihairesis könnte auch gar keinen Anfang finden, wenn der zu bestimmende Begriff nicht zumindest in einen Zusammenhang mit anderen Begriffen gebracht werden kann – wie in diesem Beispiel der Kunst als seine Gattung. Wenn die Erkenntnis des Begriffs „Angler“ in Leibniz’ Verständnis nicht dunkel ist, dann muss sie zumindest klar sein.
3.2.2 Die klare und deutliche Erkenntnis
Wie bereits in 2.1 erläutert, teilt Leibniz die klare Erkenntnis in die verworrene und die deutliche ein. Eine klare, aber verworrene Erkenntnis eines Begriffs liegt vor, wenn nicht alle ihm innewohnenden Merkmale bekannt sind. Für Leibniz fallen darunter insbesondere die Begriffe, die „[…] auf Grund des einfachen Zeugnisses der Sinne […]“ definiert werden. (Holz und Leibniz 1986: 35) Dagegen kann eine deutliche Erkenntnis nur gegeben sein, wenn sie auch alle intelligiblen Merkmale umfasst. Doch kann die Dihairesis diese in aller Fülle bestimmen?
Platon meint, das Wesen des Anglers mit der Dihairesis bestimmt zu haben. Das Wesen einer Sache ist intelligibel, da eine Idee – und Ideen existieren nur im Geist. (vgl. Dörrie und Baltes 1998) Dafür, dass die Erkenntnis des Anglers nun wirklich klar und deutlich erkannt werden soll, müsste die Dihairesis allerdings alle Eigenschaften bzw. Unterarten aufzählen können. Dass intelligible Merkmale in Platons Methode vorkommen, ist sicher: Für Platon beschreiben Begriffe keine Gegenstände in der sinnlichen Welt, wie der Herausgeber der hier zitierten Ausgabe von „Sophistes“ – Helmut Meinhardt – im Kommentar erläutert: „Sprache gehört zum Bereich des Werdenden und Wandelbaren […].“ (Meinhardt und Platon 1990: 207) So ist auch die Wahl der Begriffe sehr willkürlich. Auf die Frage, ob es einen zutreffenderen Begriff als „Verwundungsjagd“ gibt, lautet die Antwort: „Nehmen wir doch die Namensfrage nicht so wichtig. Dieser hier genügt.“ (Meinhardt und Platon 1990: 31) Das klingt zunächst nach einer unzureichenden, weil ungenauen Begriffsanalyse. Doch die den Angler beschreibenden Begriffe wie „Jagd“ oder „Fischerei“ sind intelligibel – und die Erfassung intelligibler Merkmale ist, zusammen mit deren Vollständigkeit, nach Leibniz hinreichend für die klare und deutliche Erkenntnis. In der Annahme, dass die Dihairesis alle Merkmale des Anglers vollständig aufzählt, führt die Methode damit zu einer klaren und deutlichen Erkenntnis von einem Begriff.
3.2.3 Die klare, deutliche und adäquate Erkenntnis
Die klare und deutliche Erkenntnis sollte eine Nominaldefinition erreichen, „[…] die nichts anderes als die Aufzählung der zureichenden Kennzeichen ist“. (Holz und Leibniz 1986: 35) Allerdings kann eine Nominaldefinition erst erreicht werden, wenn die klare und deutliche Erkenntnis auch adäquat ist. Adäquat bedeutet, wie in 2.1 beschrieben, dass die einzelnen Merkmale eines Begriffs nicht nur aufgezählt, sondern auch alle klar und deutlich erkannt werden.
In Bezug auf Platons Beispiel mit dem Angler müssten damit alle Unterarten noch einmal einzeln aufgeteilt und analysiert werden. Das kommt allerdings nur in dem Sinne vor, als dass die Gattung und dessen Unterarten in jeweils zwei weitere Unterarten geteilt werden – bis die Teilung beim Angler endet. Dass allerdings diese Zweiteilung ausreicht, um die Unterarten klar und deutlich zu erkennen, trifft nicht zu. Die Dihairesis analysiert nur die Unterarten weiter, die zu dem gesuchten Begriff führen – die „erwerbende Kunst“ oder„Fußtierjagd“ beispielsweise lässt sie jedoch unbeachtet. Meinhardt erklärt, dass diese Unterarten „[…] nur negativ bestimmt als nicht dazugehörig, im heutigen Sprachgebrauch dann eher eine >Menge< […] [sind], für die einen Namen zu finden dann auch schwierig ist.“ (Meinhardt und Platon 1990: 205) Dieser Kommentar verdeutlicht, dass die Dihairesis nicht alle einzelnen Merkmale klar und deutlich erkennt und damit auch keine Nominaldefinitionen liefern kann. Letztere, so Leibniz, seien aber sowieso für den Menschen schwer erreichbar – und wenn, dann nur über die Mathematik. (vgl. Holz und Leibniz 1986)
4.0 Zusammenfassung und Fazit
Diese Arbeit stellte sich die Frage, ob der sich ähnelnden äußeren Struktur der Dihairesis von Platon und der Erkenntnisstufen von Leibniz auch inhaltliche Parallelen zu Grunde liegen. Dazu wurden die Methoden in Kapitel zwei zunächst erläutert und in ihrer äußeren Struktur verglichen. Eine der Gemeinsamkeiten – dass beide Philosophen mit ihren Methoden die Erkenntnis der Idee anstreben – führte zum nächsten Kapitel: Die Untersuchung der Dihairesis auf ihre Fähigkeit hin, Begriffe zu intuitiv erkennen. Sie ist darin begründet, dass die Erkenntnis der Idee für Leibniz eine hinreichende Bedingung für die intuitive Erkenntnis ist. Gleichzeitig sieht Platon in der Dihairesis die Möglichkeit, das Wesen einer Sache, also dessen Idee, zu erkennen. Das Kapitel 3.1 erläuterte die intuitive Erkenntnis daraufhin. Es kam nur insofern weiter, als dass die Bedeutung der ihr untergeordneten Erkenntnisstufen – die klare, deutliche und adäquate Erkenntnis – verdeutlicht werden konnte. Dahingehend wurde die Dihairesis am Beispiel des Anglers aus dem Buch „Sophiste“ analysiert. Demnach ist der untersuchte Begriff in der Dihairesis zwar klar und deutlich, aber lediglich inadäquat erkennbar. Die anfangs gestellte Forschungsfrage lässt sich damit beantworten, dass die Dihairesis sich nicht als Methode eignet, Begriffe intuitiv zu erkennen.
Zugegebenermaßen fiel die Bearbeitung dieser Forschungsfrage sehr schwer. So eindeutig und offensichtlich die gemeinsame Struktur der Methoden zu beschreiben war, so schwer war der inhaltliche Vergleich. Es gibt eine Auswahl an Literatur dazu, wie sich die Ideen-Konzepte von Leibniz und Platon zueinander verhalten, doch einen direkten Vergleich der Dihairesis und den Erkenntnisstufen gibt die Literatur (meines Wissens) nicht her. Da die Betrachtung der Idee allein bei Platon den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, musste diese außen vor gelassen werden.
Doch bietet sich die weiterführende Untersuchung des letzteren Themas nun besonders an: Das Interessante an dem Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass für Leibniz die Erkenntnis der Idee die intuitive Erkenntnis impliziert. Das bedeutet für Platon, dass dieser ein anderes Verständnis von Ideen haben muss, da für ihn der „Angler“ eine Idee ist, die über die Dihairesis hinreichend definiert wird. Eine weiterführende Frage wäre deshalb, inwiefern sich die Ideen bei Platon und Leibniz voneinander unterscheiden.
Literaturverzeichnis
Holz, Hans Heinz (Hrsg.) und Leibniz, Gottfried Wilhelm. 1986. Kleine Schriften zur Metaphysik. Frankfurt am Main: Insel-Verlag.
Kisser, Thomas (Hrsg.). 2010. Metaphysik und Methode. Descartes, Spinoza, Leibniz im Vergleich. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
Martin, Gottfried. 1957. Existenz und Widerspruchsfreiheit in der Logik von Leibniz. In: Kant-Studien. Vol. 48(1), S. 202-215.
Meinhardt, Helmut [Hrsg.]., Platon. 1990. Der Sophist: griechisch/deutsch. Sophista. Stuttgart: Reclam-Verlag.
Prechtl und Burkard (Hrsg.) 1999. Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler.
Schäfer, C. (2007). Platon-Lexikon: Begriffswörterbuch zu Platon und der platonischen Tradition.
- Arbeit zitieren
- Kim Mensing (Autor:in), 2015, Leibniz' Erkenntnisstufen und Platons Dihairesis. Die Dihairesis als Methode zum intuitiven Erkennen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/324028