Die soziale Kompetenz in der Erlebnispädagogik. Möglichkeiten zur Initiierung selbstorganisierter Lernprozesse


Diplomarbeit, 2002

114 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Klärung des Bedarfs an Sozialer Kompetenz in unserer Gesellschaft

2 Wissenschaftstheorie - Klärung der theoretischen Herangehensweise und wissenschaftstheoretischen Position
2.1 Phänomenologie und Hermeneutik - Zwei mögliche Wissenschaftstheorien und ihre methodischen Vorgehensweisen im Vergleich
2.1.1 Mit welcher Einschränkung sind die geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden der Phänomenologie und der Hermeneutik zu betrachten?
2.2 Annäherung an den Konstruktivismus - Eine Einführung
2.2.1 Das Prinzip der Autopoiese - Grundlage der Konstruktivistischen Denkweise und Anthropologie lebender Systeme
2.3 Resümee aus den dargestellten Wissenschaftstheorien
2.4 Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie & Pädagogik

3 Didaktisches Selbstverständnis
3.1 Erklärungsprinzipien der konstruktivistischen Betrachtungsweise des Gegenstandsfeldes auf der Grundlage der Theorie autopoietischer Systeme nach Maturana & Varela
3.1.1 Selbstreferentialität
3.1.2 Strukturdeterminiertheit
3.1.3 Operationale Geschlossenheit
3.1.4 Strukturelle Koppelung
3.2 Extrapolation der Prinzipien der Autopoiese auf die Lernprinzipien des Individuums
3.2.1 Wahrnehmung
3.2.2 Lernen
3.2.3 Bewußtsein
3.2.4 Erleben
3.2.5 Fazit
3.3 Subjektive Didaktik
3.3.1 Chreoden und Morpheme
3.3.2 Didaktische Landschaft

4 Soziale Kompetenz. Versuch einer Begriffsbestimmung und Eingrenzung - Was genau soll erlernt bzw. erarbeitet werden?
4.1 Begriffsklärung
4.2 Kritische Betrachtung herkömmlicher Definitionen Sozialer Kompetenz am Beispiel der Definitionen der Komponenten Sozialer Kompetenz nach Schuler & Barthelme (1995)

5 Erlebnispädagogik - Versuch einer Bestandsaufnahme
5.1 Ursprünge der Erlebnispädagogik
5.2 Erlebnispädagogik auf lerntheoretischer Grundlage der Theorie lebender Systeme nach Maturana & Varela - In Anlehnung an die Diplomarbeit von Brischar & Saur (1996)
5.2.1 Anreiz
5.2.2 Erlebnis
5.2.3 Reflexion
5.2.4 Anschluss
5.2.5 Fazit

6 Die Bedeutung der Erlebnispädagogik für die Entwicklung Sozialer Kompetenz
6.1 Momente des Anreizes in der Erlebnispädagogik
6.1.1 Grenzerfahrung
6.1.1.1 Grenzerfahrung in der Gruppe
6.1.1.2 Grenzerfahrung in Auseinandersetzung mit der nicht personellen Umwelt
6.1.1.3 Grenzerfahrung in Auseinandersetzung mit sich selbst
6.1.2 Anreiz - Vertrauen & Zutrauen
6.2 Reflexion - Erarbeitungsmöglichkeiten sozialer Fähigkeiten innerhalb der Erlebnispädagogik
6.2.1 Reflexion innerhalb der sozialen Gruppe
6.2.2 Reflexion des Individuums
6.2.3 Methoden sozialen Lernens
6.2.3.1 Das Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun –Kommunikation erlernen
6.2.3.2 Das Kommunikationsmodell der Transaktionsanalyse
6.2.3.3 Konflikte lösen durch Verbalisierung und Bewußtmachung versteckter Gefühle
6.2.4 Die biographische Selbstreflexion des erlebnispädagogischen Leiters
6.2.4.1 Wie schafft man ein entwicklungsförderndes pädagogisches Milieu?
6.2.4.2 Vermeidung von Projektionen durch „Aussöhnung mit dem eigenen Teufel“
6.2.4.3 Entlarvung der individuellen Spielneigung und Kommunikationsstruktur
6.2.4.4 Sebstverantwortliches Denken & Handeln - Soziale Kompetenz vorleben, anregen und anleiten am Beispiel des NLP
6.3 Erlebnispädagogik als Angstbewältigungsmethode
6.3.1 Freisein von Sozialer Angst als Soziale Kompetenz
6.3.2 Angst allgemein
6.3.3 Soziale Angst
6.3.4 Angst und Selbstdarstellung
6.3.5 Emotionsbewältigung durch Selbstdarstellung zum Schutze des Selbstwertes - Eine Bewältigungsmethode der Angst
6.3.6 „Unmittelbares Erleben“ als Chance, sich von sozialer Angst zu lösen - Selbstakzeptanz zur Unterstützung des Selbstwertgefühls
6.3.7 Die Entdeckung des wahren Selbst, um die Angst auf „vernünftige“ Weise zu bewältigen
6.3.8 Möglichkeiten der Angstbewältigung innerhalb der Erlebnispädagogik

7 Möglichkeiten der Evaluation
7.1 Kritik an der Evaluation
7.2 Alternative Selbstevaluation

8 Schlusswort

9 Literaturverzeichnis

10 Anmerkungen zu den Abkürzungen

Einleitung

In der wissenschaftlichen Hausarbeit soll der Frage nachgegangen werden, unter welchen theoretischen Aspekten die Entwicklung Sozialer Kompetenz mit Hilfe der Erlebnispädagogik gewährleistet werden kann. Die Schwierigkeit dabei ist die sinnvolle Verknüpfung zweier an sich komplexer Themenschwerpunkte, die Sozialkompetenz auf der einen- und die Erlebnispädagogik auf der anderen Seite sinnvoll miteinander zu verknüpfen.

Zu Anfang ist es wichtig anzumerken, dass es genauso, wie es nicht „die“ Pädagogik

(Vgl. Gudjons, 1995, S. 19), auch nicht „die“ Erlebnispädagogik gibt. „Es charakterisiert „die“ Erlebnispädagogik, dass es eine solche als klar definierte oder definiertes oder definierbares Gebilde (im Sinne etwa einer Theorie oder einer relativ eindeutig umreißbaren Form von Praxis) weder gegeben hat noch gibt“ (Bauer, 1993, S. 7).

Die Definitionsvielfalt stellt eine Erschwernis für die theoretische Beschäftigung mit der Erlebnispädagogik dar. Weiterführend kommt hinzu, dass die Beschäftigung mit Sozialer Kompetenz eine ähnliche Definitionsvielfalt aufweist. Deshalb wird in der vorliegenden Arbeit ein ganz bestimmtes Verständnis der Erlebnispädagogik mit ihren Möglichkeiten der Entwicklung Sozialer Kompetenz erörtert werden. Dies geschieht auf der Grundlage der Theorie autopoietischer Systeme, auf welche sich in ihrer Argumentation Systemtheorie und Konstruktivismus beziehen. Die Erkenntnistheorie, die dieser Diplomarbeit zugrunde liegt, ist somit die des Konstruktivismus (Kapitel 2.2). Ich halte sie im Rahmen der Erlebnispädagogik für die passende, weil sie auf der „operationalen Geschlossenheit“(Kapitel 3.1.3) und „strukturdeterminierten“ (Kapitel 3.1.2) Beschaffenheit des Nervensystems und des Lernens basiert, was die nur beschränkte Kalkulierbarkeit der durch die Erlebnispädagogik initiierten Veränderungsprozesse am ehesten beschreibt. Soziale Kompetenz soll in diesem Rahmen nicht gelehrt, quasi verbal eingetrichtert und somit aufoktroyiert werden, vielmehr soll der Teilnehmer sie selbst seiner individuellen Struktur gemäß erarbeiten können (Kapitel 3). Dabei ist es Aufgabe des erlebnispädagogischen Leiters, neben der Organisation des äußeren Rahmens (Wahl des Camps, Versorgung...), dem Teilnehmer eine Hilfe bei der Reflexion anzubieten, so dass dieser in der Lage ist das Erlebnis strukturadäquat und prozeßfördernd in seine geschichtlich gewordene individuelle Struktur einzubauen.

Sinn und Zweck dieser wissenschaftlichen Hausarbeit ist dabei, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man der Einzigartigkeit eines Menschen gerecht werden und sie persönlichkeitsspezifisch in ihrem stetigen Werden innerhalb eines klar definierten erlebnispädagogischen Rahmens, unterstützen kann. Dabei soll die Entwicklung Sozialer Kompetenz mitberücksichtigt werden. Eine notwendige Voraussetzung wie man der Einzigartigkeit eines Menschen gerecht werden kann ist die Herstellung eines äußeren Rahmens, welcher individuelle Entwicklungsprozesse im positiven Sinne ermöglicht. Die Struktur des Teilnehmers, aber auch des Leiters soll dem Teilnehmer anhand des Erlebten verständlich und in Hinsicht auf seine biographische Struktur nutzbar gemacht werden. Es sollen hier also keine Menschen analysiert, sondern individualtypisch gefördert werden. Denn, welchem Typ Mensch jemand entspricht, da ist letztendlich der Mensch, um den es dabei geht, einzig Experte seiner selbst. Aus diesem Grunde wird in Kapitel 5.2 explizit auf die didaktischen Grundzüge einer Erlebnispädagogik in der Postmoderne nach Brischar & Saur (1996) Bezug genommen.

Solch eine zurückhaltende pädagogische Haltung betreffend der Einsichtmöglichkeiten in eine andere Person beschreibt m.E. Albert Schweitzer (1991) äußerst treffend, in folgenden Worten: „Sich kennen will nicht heißen, alles voneinander wissen, sondern Liebe und Vertrauen zueinander haben und einer an den andern glauben. Ein Mensch soll nicht in das Wesen des andern eindringen wollen... Es gibt nicht nur eine leibliche, sondern auch eine geistige Schamhaftigkeit, die wir zu achten haben“ (S. 73-74).

Und weiter betont Schweitzer:

Keiner von uns darf zum andern sagen: Weil wir so und so zusammen gehören, habe ich das Recht alle

deine Gedanken zu kennen. Nicht einmal die Mutter darf so gegen ihr Kind auftreten. Alles Fordern dieser

Art ist töricht und unheilvoll (meine eigene Hervorhebung). Hier gilt nur Geben, das Geben weckt. Teile

von deinem geistigen Wesen denen, die mit dir auf dem Wege sind, so viel mit als du kannst, und nimm als

etwas Kostbares hin, was dir von ihnen zurückkommt. (S. 74)

Schweitzer argumentiert m.E. intuitiv, doch in seiner Intuition steckt wiederum ein sehr starkes und leicht nachvollziehbares Ethikverständnis, welches eine respektvolle Haltung gegenüber dem Individuum und seiner selbstorganisierten Psyche fordert.

Die Annahme bzw. pädagogische Haltung, man könne Wissen nicht linear-kausal vermitteln, i.S. einer „Als-Ob-Didaktik“ (Vgl. Kösel, 1997, S. 9), ist heute nicht mehr neu. Arnold (1996) spricht diesbezüglich von einer „konstruktivistischen Wende“, m.a.W., „Lehren und Lernen werden immer mehr als konstruktivistische Tätigkeiten

aufgefasst“ (S. V-VII). Dabei soll der Forderung nachgegangen werden, nicht lehrend tätig zu sein, sondern Prozesse zu „selbstorganisiertem Lernen“ (Siebert, 1999, S. 21) zu initiieren. Doch in der Theorie und Praxis der Weiterbildung konnte sich diese Forderung oftmals nicht durchsetzen. Vor allem in der Praxis der Erwachsenenbildung sind die Dozenten sehr auf Fachkompetenz fixiert und meistens nicht in der Lage, selbsttätiges Lernen bei den Teilnehmern anzuregen (Vgl. Arnold, 1996, S. 151).

Konstruktivistisch betrachtet ist die Erlebnispädagogik ein hervorragendes Medium zur Initiierung von Lernprozessen bzw. zur „Perturbation von Lebewesen“ (Vgl. Maturana & Varela, 1987, S. 27), um strukturelle Veränderungen anzuregen.

Mit Perturbation sind nach Maturana & Varela (1987) „Zustandsveränderungen in der Struktur eines Systems, die von Zuständen in dessen Umfeld ausgelöst (d.h. nicht verursacht, vgl. 4. Kapitel) werden“ (ebd.) gemeint.

Es bedarf m.E. jedoch einer professionell ausgebildeten erlebnispädagogischen Leitung, die in der Lage ist, dem Individuum das individuell Erlebte, welches durch Perturbation im „erlebnispädagogischen Milieu“ (Kapitel 3.3.2) zustande kommt, durch eine professionell angeleitete Reflexion einsichtig zu machen. Dabei soll das Individuum seine Grenzen und somit seine Struktur erleben, um diese im günstigsten Fall zu erweitern. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Herausarbeitung der Möglichkeiten der Entwicklung Sozialer Kompetenz mit Hilfe der Erlebnispädagogik. Als ein wichtiges Moment der Rahmenbedingungen wird das Moment der Reflexion beschrieben, in welches u.a. Konzepte der humanistischen Psychologie und der Pädagogik einfließen werden. Damit der Rahmen der vorliegenden Arbeit eingegrenzt werden kann, ist es am Anfang wichtig, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen für ein genaues Verständnis Sozialer Kompetenz darzulegen und in Bezug auf den gesellschaftlichen Hintergrund und auf der Theorie lebender Systeme nach Maturana & Varela basierenden lerntheoretischen Erkenntnissen bzw. Erklärungsprinzipien zu klären, warum und wie es der Erarbeitung Sozialer Kompetenz bedarf. Außerdem ist es an dieser Stelle von Bedeutung anzumerken, dass die meisten hier aufgeführten pädagogisch konstruktivistischen Werke sich zwar explizit auf Erwachsenenbildung beziehen, was m.E. aber nicht unbedingt für Kindheit und Jugend gleichbedeutend sein muß. Denn „man kann also sagen, dass das Nervensystem in diesem Sinne durch operationale Geschlossenheit charakterisiert ist“ (1987, Maturana & Varela, S. 180), d.h., „das Nervensystem funktioniert also als ein geschlossenes Netzwerk von Veränderungen der Aktivitätsrelationen zwischen seinen Komponenten“ (ebd.). Lernprozesse sind somit, sowohl bei jungen- als auch bei älteren Menschen „autopoietische Systeme“ bzw. funktionieren innerhalb ihrer „operationalen Geschlossenheit“ nach ihren individuellen Prinzipien (Vgl. a.a.O., S. 55), welche sich in ständiger Rekursion selbst erzeugen und eben in dieser Organisation autonom sind. In anderen Worten, „das“ Lernen, genauer das Prinzip des Lernens (Kapitel 3.1) ist das gleiche nur der Anreiz, der letztendlich Lernprozesse initiieren soll, differiert bezüglich der Altersgruppe, Kohorte oder, m.a.W., des Individuums. Somit sind die Ausführungen erwachsenenpädagogischer konstruktivistischer Texte, soweit sie sich mit der Theorie von Lernprozessen beschäftigen, m.E. durchaus ohne weiteres auf jüngere Zielgruppen zu übertragen. Die Beschäftigung mit entwicklungspsychologischen Erklärungsprinzipien, die das Erlernen Sozialer Kompetenz betreffen, wie z.B., dass Vorschulkinder und Kinder der ersten Klasse nicht in der Lage sind, den sozialen Vergleich in ihre Selbstbewertung mit einzubeziehen (Vgl. Oerter & Montada, 1995, S. 305), wird dabei jedoch ausgeklammert bleiben.

Die Arbeit ist in groben Zügen nach folgenden sechs inhaltlichen Richtlinien bzw. Fragestellungen strukturiert:

1. Gibt es einen Bedarf an Sozialer Kompetenz in unserer Gesellschaft ( _Kapitel 1) ?
2. Wie ist die hier verwendete wissenschaftstheoretische Vorgehensweise zu rechtfertigen (Kapitel 2) ?
3. Welches Didaktikverständnis lässt sich von einer konstruktivistischen Denkweise ableiten (Kapitel 3) ?
4. Was ist unter Sozialer Kompetenz unter dem Aspekt des Konstruktivismus und der Theorie der Autopoiese zu verstehen (Kapitel 4)?
5. Durch welche Elemente der Erlebnispädagogik soll Soziale Kompetenz erlernt werden (Kapitel 5 und Kapitel 6)?
6. Welche Möglichkeiten der „Erfolgskontrolle“ ergeben sich aus dem argumentationslogischen Aufbau dieser wissenschaftlichen Hausarbeit (Kapitel 7)?

Im Konkreten bedeutet dieses, dass zu Anfang der vorliegenden Arbeit der Bedarf Sozialer Kompetenz aus der Sicht der gesellschaftlichen Entwicklung betont und anschließend die wissenschaftstheoretische Vorgehensweise erläutert und gerechtfertigt wird. Darauf aufbauend wird Soziale Kompetenz und ihre persönlichkeitsspezifischen Erarbeitungsmöglichkeiten auf der Grundlage der Theorie autopoietischer Systeme nach Maturana & Varela im Rahmen der Erlebnispädagogik aufgezeigt werden. Die Definition Sozialer Kompetenz erfolgt erst nach Klärung der hier verwendeten Argumentationsgrundlage, da sich logischerweise die Definition Sozialer Kompetenz nach dieser richtet.

1 Klärung des Bedarfs an Sozialer Kompetenz in unserer Gesellschaft

Die Gesellschaft befindet sich im ständigen Wandel in vielen ihrer Bereiche und es scheint, als ob die Geschwindigkeit des Wandels, mit welcher dieser von statten geht, stetig zunimmt. Die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche Wirtschaft, Politik und Bildung spezialisieren sich, werden autonom und kapseln sich durch ihre „Selbstreferentialität“ (Kapitel 3.1.1) von anderen Teilsystemen ab (Vgl. Willke, 1993, S. 70). Das stimmte nun alles nicht bedenklich, könnte von dieser Entwicklung nicht auch eine Bedrohung für die Gesellschaft und das Individuum ausgehen. Diese Verselbständigung der Systeme und das Ende der „Meta-Erzählungen“

(Vgl. Welsch, 1991, S. 79) bedeuten auch einen Verlust von Orientierungsmöglichkeiten und Sicherheit - was heute noch verbindlich ist, kann morgen schon anders sein. Beck (1986) konstatiert dieses Phänomen als „Individualisierung“, m.a.W., die „Herauslösung aus tradierten Lebensformen“ (Vgl. S. 212). Ein Moment der Befreiung, aber auch ein Moment der Verunsicherung. Mehr denn je kommt es bei dieser gesellschaftlichen Entwicklung auf den Einzelnen und nicht auf bestimmte Menschengruppen an. Arbeitslosigkeit trifft den Einzelnen und nicht mehr eine bestimmte Klasse oder Schicht. Von sozialen Klassen und Schichten wird kaum noch gesprochen, man spricht - mit Ausnahmen natürlich - heute von Milieus und Konsumstilen (Vgl. Schulze, 1996, S. 23). Durch die gesellschaftliche Überforderung auf Grund des raschen Wandels erscheint es hilfreich und notwendig, dem Individuum Kompetenzen an die Hand zu geben, mit denen es diesem Druck standhalten und konstruktiv mit dem Moment der Freiheit umgehen kann.

Der Umgang mit Angst und Unsicherheit wird zur „zivilisatorischen Schlüsselqualifikation“ (Vgl. Beck, 1986, S. 102), und betrachtet man bspw. den Arbeitsmarkt und dessen Bewerbungsanforderungen, werden neben fachlichem Können zunehmend außerfachliche Kompetenzen und v.a. Soziale Kompetenzen erwartet.

Die „Individualisierung sozialer Risiken“ mündet in einer sogenannten „Psychowelle“ (Vgl. a.a.O, S. 159), das gesellschaftliche Überleben ist schwer, es entsteht ein „Kapitalismus ohne Klassen“ (Vgl. a.a.O., S. 117) und all das trifft den Einzelnen oft gänzlich unvorbereitet. Diese Situation beschreibt Fritzsche (1998) m.E. sehr deutlich, wenn er folgendermaßen argumentiert: „Und worauf verweist der Stressbegriff? Das Problem, auf das der Stressbegriff aufmerksam macht, ist eine Störung im Verhältnis Welt und Individuum, Gesellschaft und Bürger: Ein Zuviel an Belastungen und Anforderungen trifft auf ein Zuwenig an Kompetenzen und Ressourcen“ (Frietzsche, S. 7).

Gesellschaftstheoretisch dem raschen Wandel nur schwer standhalten zu können, kontinuierliches Weiterbilden für den Beruf, die wachsende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft, könnten dieses nicht auch die Folgen einer zu kopflastigen Bildungsarbeit und Erziehung sein? Diese Frage, die Goleman ebenfalls stellt (Vgl. Golemen, 1997, S. 7), soll hier nicht beantwortet, sondern nur gestellt werden. Diese Facetten der gesellschaftlichen Entwicklung betonen m.E. die Notwendigkeit der Förderung Sozialer Kompetenz. Auch Rogers (1980) macht auf die Problematik einer einseitig kognitiven Bildung aufmerksam: „Ich mache mir Sorgen über das, was in amerikanischen Bildungsinstitutionen vor sich geht. Sie haben sich dermaßen auf Ideen konzentriert, sich vollständig auf „Kopferziehung“ beschränkt, dass die sich daraus ergebende Enge schwerwiegende soziale Folgen hat“ (S. 140).

Bildungstheoretisch geht der Trend von der Schulbildung hin zur Weiterbildung, bei der mehr und mehr das „just-in-time Lernen“ gefragt ist (Vgl. Arnold, 1996, S. 3) und somit auch das Erlernen von Schlüsselqualifikationen, die einem die nötige Flexibilitätsvoraussetzungen vermitteln können, damit in der konkreten Situation kompetent gehandelt werden kann. Es geht dabei nicht mehr primär um das Vermitteln von Inhalten und Fachkenntnissen, sondern um eine grundlegende Schulung der Person. „Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, kann somit auch als ein Synonym für das angesehen werden, was früher als Bildung bzw. genauer: als Persönlichkeitsbildung konzipiert worden war“ (Arnold, 1996, S. 17).

Bojanowski (1991) datiert diesen Wandel von der Berufsbildung hin zur Persönlichkeitsbildung in die 80er Jahre. Diesen beschreibt er als Folge dreier wichtiger Veränderungsprozesse:

Veränderung der Struktur des Arbeitsmarktes: Ein rascher Wandel der Arbeitsbedingungen und Arbeitstechniken, wodurch Erstausbildung als dauerhafte Beschäftigungsgarantie entwertet wird.

Veränderung der Organisationsstruktur: Marktveränderungen lassen hierarchisch-bürokratische Organisationsstrukturen anachronistisch erscheinen. Mitdenken und Kooperationsfähigkeit sind mehr und mehr gefragte Kompetenzen.

Neue Technologien: Der Mensch tritt allmählich mehr aus dem unmittelbaren Arbeitsprozeß heraus und übernimmt zunehmend vorbereitende, überwachende und korrigierende Funktionen.

Folge dieser oben aufgeführten Veränderungsprozesse ist die Relativierung des Fachlichen und die Notwendigkeit der Erlernung persönlicher Kompetenzen (Vgl. a.a.O., S. 105-106).

Mehr denn je kommt es in unserer modernen Gesellschaft auf das Individuum und auf seine persönlichen Kompetenzen an. Bei der Geschwindigkeit, mit welcher sich fachliche Anforderungen ändern, geht es heutzutage darum, die Fähigkeit der selbständigen Wissensaneignung zu schulen. Fachliches Können und Wissen sind nicht länger Garant für effizientes Arbeiten und beruflichen Erfolg.

Nach dieser Argumentation lässt sich schlußfolgern, dass sowohl ein gesellschaftlicher als auch ein beruflicher Bedarf an außerfachlichen Kompetenzen und auch sozialer Kompetenz besteht. Greinert (2000) bezeichnet die Intention, auch soziale und personenbezogene Fähigkeiten zu vermitteln, als Ganzheitlichkeit der Berufsausbildung (Vgl. S. 188). Dem lässt sich hinzufügen, dass die Gesellschaft zwar außerfachliche Kompetenzen fordert, deren Förderung jedoch vernachlässigt. Soziale Kompetenz ist eine außerfachliche Kompetenz. Sie ist überlebensdienlich im Umgang mit sich selbst und

anderen (Kapitel 4.1).

Das Gegenteil von sozial kompetentem Verhalten, die Delinquenz in unserer Gesellschaft, wird z.B. von Michl & Heckmair (1993) auf die vorherrschende Erlebnisarmut in unserer Gesellschaft zurückgeführt. Sie sprechen von Gewalt und Einbrüchen aus Langeweile, und durch diesen Sachverhalt wird die Verbindung zwischen dem Bedarf an sozial kompetentem Verhalten und der Erlebnispädagogik hergestellt. Nach entwicklungspsychologischen Erkenntnissen führt ein Mangel an explorativen Tätigkeiten und abenteuerlichen Spielen zu Entwicklungsdefiziten und Persönlichkeitsstörungen (Vgl. Bauer, 1993, S. 83).

Mit Michl & Heckmair (1993) gesprochen: „Erlebnispädagogik soll unseren schnellebigen Alltag entschleunigen, die Langsamkeit wiederentdecken lernen, die Vergänglichkeit vermitteln, den von gottgegebenen rechten Augenblick – kairos – ermöglichen“ (S. 71). Erlebnispädagogik schließt die Lücke und bietet genug Erlebnispotential, was zu einer sinnvollen Entwicklung führen kann (Vgl. a.a.O., S. 89).

Zu dieser Argumentation könnte man hinzufügen, dass die Gesellschaft einen Bedarf an Sozialer Kompetenz produziere, den sie zu befriedigen jedoch nicht in der Lage ist. Erlebnispädagogik wird sozusagen symptomatisch eingesetzt, indem sie das „gesellschaftliche Versäumnis“ kompensieren soll. Die kompensatorische Funktion, welche die Erlebnispädagogik, bedingt durch die ihr innewohnenden Elemente des „unmittelbaren Erlebens“ und „lebendigen ganzheitlichen Lernens“ enthält, ist nicht zu leugnen. Was im Alltag an Erlebnis fehlt bietet die Erlebnispädagogik als Anreiz, welchen das Individuum nutzen soll, um seine sozialen Kompetenzen selbständig zu erarbeiten. Kritik ist bei dieser Definition m.E. dahingehend angebracht, dass die Erlebnispädagogik eine Überforderung erfährt, indem sie die vorherrschende Erlebnisarmut in der Gesellschaft komplett kompensieren soll. Dieses kann sie nicht leisten, sie kann lediglich Entwicklungsprozesse beim Individuum in einer Form anregen, wie sie im Alltag nur selten vorkommen.

Doch um die Prämissen der Erarbeitungsmöglichkeit, m.a.W., um die Denklogik und das erkenntnistheoretische Prinzip, welches hinter dem Konzept der Entwicklungsmöglichkeiten Sozialer Kompetenz in der Erlebnispädagogik steht verstehen zu können, gilt es verschiedene Vorgehensweise gegeneinander abzuwägen und die jeweilige Vorgehensweise damit rechtfertigen zu können. M.a.W., es bedarf einer Wissenschaftstheorie. Dieser Frage soll im nächsten Kapitel nachgegangen werden.

2 Wissenschaftstheorie - Klärung der theoretischen Herangehensweise und wissenschaftstheoretischen Position

In der Einführung wurde bereits die wissenschaftstheoretische Argumentationsgrundlage genannt, ohne jedoch ihre Verwendung zu rechtfertigen. Diesem Anspruch soll dieses Kapitel gerecht werden. Hauptgegenstand der Arbeit ist das Moment der Sozialen Kompetenz und ihre Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb bzw. mit Hilfe der Erlebnispädagogik. Ein qualitatives Moment, für welches es einer angemessenen Herangehensweise bedarf. Um dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit dieser Arbeit gerecht zu werden, bedarf es einer strengen und transparenten Offenlegung und Begründung ihrer Argumentationsgrundlagen. Diese Arbeit soll keine empirische, sondern eine Literaturarbeit sein und sich außerdem mit einer schwer faßbaren Größe beschäftigen, wodurch sich m.E. zwingend die Verwendung einer adäquaten Herangehensweise ergibt. Welche hierbei die richtige darstellt und aus welchem Grunde, hierfür bedarf es zunächst einiger Erklärungen. Phänomenologie und Hermeneutik werden in den Blickpunkt genommen, da sie sich ihrem Gegenstand qualitativ annähern und in der selben Tradition wie die Erlebnispädagogik stehen: der Geisteswissenschaft (Kapitel 5.1), wodurch sich ihre Verwendung anbieten würde.

2.1 Phänomenologie und Hermeneutik - Zwei mögliche Wissenschaftstheorien und ihre methodischen Vorgehensweisen im Vergleich

Im Folgenden werden phänomenologische- und hermeneutische Methoden, die in der Geisteswissenschaft vorherrschenden Methoden, im Vergleich dargestellt und anschließend auf ihre Schwachstellen aufmerksam gemacht (Kapitel 2.1.1), um somit auch die konstruktivistische Argumentationsgrundlage dieser Arbeit gerade in lerntheoretischer Hinsicht zu rechtfertigen. Dieser Vergleich soll ermöglichen, ihre jeweilige Denklogik zu verstehen, um damit ihre Verwendung rechtfertigen bzw. kritisieren zu können. Philosophie, Wissenschaftstheorie und Forschungsmethoden einer bestimmten Denktradition beinhalten in sich jeweils die gleiche Logik, d.h. für Hermeneutik und Phänomenologie, dadurch dass sie als Philosophie das Gedankengebäude darstellen, an welchem sich dann die jeweilige Wissenschaftstheorie sowie die entsprechenden Methoden orientieren. Dabei klärt die Wissenschaftstheorie die Frage der Wissenschaftlichkeit. Die Methoden legen die Vorgehensweise fest, wie sich dem Gegenstand wissenschaftlich angenähert werden soll (Vgl. Danner, 1989, S. 13). Aus dieser Definition wird ersichtlich, dass es sich um gedankliche Konstruktionen handelt, mit dem Ziel, zu wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen zu gelangen, deren Grundlage die Philosophie der Hermeneutik bzw. der Phänomenologie bilden. Gleichzeitig handelt es sich um einen logischen Ableitungsprozeß, so dass eine Beschäftigung mit der Phänomenologie bzw. der Hermeneutik bezüglich der Relevanz der Erkenntnisgewinnung in der Pädagogik immer auch bedeutet sich mit Philosophie, Wissenschaftstheorie und dessen Forschungsmethoden zu beschäftigen.

Der Anspruch der qualitativen Erfassung von Wirklichkeit lässt Phänomenologie und Hermeneutik relevant werden für die Beschäftigung mit den Entwicklungsmöglichkeiten Sozialer Kompetenz innerhalb der Erlebnispädagogik. Jedoch ist dem wissenschaftstheoretisch fundierten Fundament ihrer Denklogik in bestimmten Punkten nicht zuzustimmen.

Nach der Klärung der philosophischen Herkunft der eben erwähnten Methoden, können bereits grundsätzliche Unterschiede und Kritikpunkte aufgezeigt werden.

Die Denktradition der Phänomenologie und Hermeneutik wurzelt – wie bereits erwähnt – in der Geisteswissenschaft. In Abgrenzung zur Naturwissenschaft und ihrer quantitativen Forschungsmethoden, wie Isolation, Mathematisierung und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse durch Wiederholungen von Beobachtung und Experiment (Vgl. Konegen & Sondergeld, 1985, S. 25), entwickelt Dilthey den Gegenentwurf, die Geisteswissenschaft, dessen Gegenstand nicht „Natur“, sondern „Geist“ ist. Dieser Begriff wirft eine unüberschaubare Definitionsvielfalt auf, deshalb wird unter Geist verstanden, was den Menschen gegenüber dem Naturding und dem Tier auszeichnet (Vgl. Danner, 1989, S. 215). Charakteristisch für die geisteswissenschaftliche Gegenstandsbetrachtung in der Pädagogik sind für Danner (1989) folgende Merkmale:

Geschichtlichkeit des Menschen, insofern der Mensch Geschichte als feststellbare

vergangene Fakten hat und insofern er Geschichte ist, weil er frei und verantwortlich

handeln kann; die Einmaligkeit, das Individuelle in jedem Erziehungs- und

Bildungsvorgang; Ganzheit und Struktur des persönlichen und des geschichtlich-kulturell-

gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs; Ziel-, Wert-, Sinnfragen im Hinblick auf

Erziehung und Bildung; Erziehungswirklichkeit, Theorie-Praxis-Verhältnis sowie

Autonomie der Pädagogik. (S. 28-29)

Wie wir später sehen werden, ist Erkenntnis nach der phänomenologischen und hermeneutischen Methode möglich, wenn deren denklogische Prinzipien eingehalten werden. In Abgrenzung dazu bezweifelt der Konstruktivismus die Möglichkeit des Erkennens. Danner (1989) umschreibt dies folgendermaßen:

Jede wissenschaftliche Methode hat ihre spezifischen Erkenntnismöglichkeiten und ihre

Grenzen. Die einzelnen Methoden unterscheiden sich jedoch oft nur formal und rein

äußerlich; sie sind auch wissenschaftstheoretischer Ausdruck eines bestimmten Welt- und

Menschenbildes. Daher stehen sie – wie die empirischen und geisteswissenschaftlichen

Methoden – im Widerstreit. (S. 18)

Die geisteswissenschaftliche Pädagogik muß neben der naturwissenschaftlichen Forschung ebenfalls von der normativen Pädagogik, der philosophischen Pädagogik und der kritischen Erziehungswissenschaft unterschieden werden. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik hat ihren Schwerpunkt in der Erziehungswirklichkeit und dem

Theorie-Praxis-Verhältnis (Vgl. a.a.O., S. 14).

Philosophische Basis der phänomenologischen Methode

Ursprung der phänomenologischen Methode ist die Phänomenologie Edmund

Husserls (Vgl. Danner, 1989, S. 121), von seiner Philosophie ist die angewandte Phänomenologie ableitbar. Bedingt durch diesen Ableitungsprozeß von einer Philosophie zu ihrer Methode, büßt diese jedoch einige Aspekte ihrer ursprünglichen Form ein. Die Geisteswissenschaft begnügt sich sozusagen mit einem „Derivat“ der Husserlschen Phänomenologie (Vgl. a.a.O., S. 9). Die angewandte Phänomenologie behält lediglich die Gedankenschritte von der „theoretischen Einstellung“ zur möglichst „vorurteilsfreien Einstellung“ zur Wesenserfassung bei. Die transzendentale Reduktion spielt bei der phänomenologischen Methode, im Unterschied zum „Husserlschen Original“, keine bedeutende Rolle mehr (Vgl. Danner, 1979, S. 135). Wähle ich diese Methode, so diktiert mir die Phänomenologie den Weg der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung (Vgl. Lamnek, 1993, S. 57), wobei die Forschungsmethode die Anwendung der Theorie, die hinter ihr steht, repräsentiert. Ein wesentliches Moment der Phänomenologie ist die Reduktion, welche das gedankliche Instrument darstellt, mit dessen Hilfe sie nach Husserl „zu den Sachen selbst“ vordringen will.

Philosophische Basis der hermeneutischen Methode

Der Hermeneutik geht es vor allem darum, menschliches Handeln bzw. das Menschliche im Allgemeinen zu erkennen und es in einen höheren Sinnzusammenhang einzugliedern.

Untersuchungsgegenstand der Hermeneutik ist das „Verstehen“. Durch Bewußtmachung der Vorbedingungen des Verstehens und Einbezug dieser den Erkenntnisprozeß beeinflussender Faktoren, soll hermeneutisches Verstehen ermöglicht werden. Dilthey definiert „Verstehen“ wie folgt: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: ‚Verstehen!‘“

(1957; zitiert nach Lamnek, 1993, S. 79). Das Diltheysche Gedankensystem, die Hermeneutik, gilt als Grundlage der Geisteswissenschaften (Vgl. Konegen & Sondergeld, 1985, S. 94).

Vergleich der Methoden hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Denkprozesse und ihrer jeweiligen wissenschaftstheoretischen Abstammung

Ursprung der hermeneutischen Methode ist wie bereits erwähnt die Hermeneutik, deren Untersuchungsgegenstand das „Verstehen“ ist, welches Dilthey dem naturwissenschaftlichen „Erklären“ entgegensetzt. Hier fällt ein gravierender Unterschied zwischen der hermeneutischen und der phänomenologischen Methode ins Gewicht, wenn man von ihrer geisteswissenschaftlichen Tradition ausgeht. Es soll nicht abgestritten werden, dass bei beiden Richtungen die Art und Weise des Denkens und die Reflexion eine Rolle spielt, jedoch ist bei genauerer Betrachtung zu erkennen, dass sich in der Phänomenologie das Denken dem Gegenstand gegenüber zunehmend zurücknimmt, sozusagen in stufenweiser Abfolge, um zu den „Sachen selbst“ vorzudringen, wogegen bei der Hermeneutik die Bedingungen des Verstehens an sich, sowohl internal (bzgl. der Persönlichkeit des Interpreten) als auch external (bzgl. Des kulturellen Rahmens) eine Rolle spielen. Jedem Erkenntnisprozeß ist somit bei hermeneutischem Vorgehen eine genaue Analyse des Verstehensaktes vorangeschaltet mit all ihren Bedingungen. Unter den Bedingungen des Verstehens gelten in der Hermeneutik „Geschichtlichkeit“ bzw. „Kultur und Geist“ bzw. der „objektive Geist“ (Vgl. Danner, 1989, S. 51).

Im Hinblick auf die Herangehensweise an die zwei Gegenstände Soziale Kompetenz und Erlebnispädagogik geht es um die Erhellung des Verstehenshorizontes, des geschichtlichen kulturellen und subjektiven Hintergrundes, was hinsichtlich der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des zu behandelnden Gegenstandes ein nicht wegzudenkender Bestandteil ist.

Die phänomenologische Methode geht genau anders herum vor, sie ist sich zwar auch der Bedingungen des Denkens bzw. meinungsbildenden oder auch bewußtseinsbeeinflussenden Bedingungen – wie Theoretische Einstellung, Natürliche Einstellung – bewußt, entledigt sich aber während dem methodischen Vorgehen kontinuierlich von diesen, um, gewissermaßen, das Bewußtsein von allen möglichen Einflußfaktoren zu reinigen. Für das phänomenologische Vorgehen würde dieses bedeuten sich dem Gegenstand in unvoreingenommener Weise zu nähern.

Unterschied: Die hermeneutische Methode wird ihrer wissenschaftstheoretischen Basis gerecht, indem sie mittels einer sogenannten „Verstehensspirale“ (Vgl. Danner, 1989, S. 60) sich und anderen Rechenschaft darüber abgibt, welche Vorbedingungen, sowohl internal als auch external (Definition S. 14), in ihren Verstehensprozeß mit hineinwirken. Die Reflexion des Verstehensprozesses an sich richtet sich als Methode auf etwas, was es in den Geisteswissenschaften und somit in der Hermeneutik (Vgl. Danner, 1989, S. 35) zu verstehen gilt: „Verstehen ist das Erkennen von etwas als etwas (Menschliches) und gleichzeitig das Erfassen seiner Bedeutung: Irgendwelche Laute erkenne ich als Wort und erkenne ihre Bedeutung“ (a.a.O., S. 36).

Bedeutung wird verliehen, indem der Gegenstand einem Rahmen zugeordnet wird, an welchem gemessen dieser Bedeutung erlangt.

Die phänomenologische Methode bezieht ihre Vorbedingungen nicht in den Verstehensakt mit ein. Sie nimmt diese zwar bewußt wahr, entledigt sich aber kontinuierlich im Auftrag der „Wesenserfassung“ im Laufe des Erkenntnisprozesses von diesen. An dieser Stelle muß erwähnt werden, dass die phänomenologische Methode, anders als die phänomenologische Philosophie Husserls, lediglich drei phänomenologische Reduktionsstufen besitzt (Vgl. Lamnek, 1993), demzufolge man über Enthaltung der Theoretischen Welt zu einer möglichst vorurteilsfreien Einstellung und durch Deskription von Bewußtseinsinhalten zur Wesenserfassung gelangt. Man kürzt, im Gegensatz zur Hermeneutik, bewußtseinsbeeinflussende Momente bewußtermaßen weg, um zu einer Erkenntnis zu gelangen.

Es lässt sich demnach zusammenfassend sagen: Am Ende eines erkenntnisgeleiteten hermeneutischen Denkprozesses ist Erkenntnis immer noch dasjenige, was man als „totalen Akt der Gesamtperson“ (1967; zitiert nach Danner, 1989, S. 23) bezeichnen kann. Dagegen versucht der Denkprozeß der phänomenologischen Methode versucht die Gesamtperson am Ende des Verstehensaktes auf ein reines Denken zu reduzieren. Nicht umsonst geht Husserl in seiner Phänomenologie von Descartes „cogito ergo sum“ aus (Vgl. Lamnek, 1993, S. 60), dem letzten nicht anzweifelbaren Moment menschlichen Daseins.

Fazit:

Der Unterschied der Wissenschaftstheorien spiegelt sich in den Diskrepanzen ihrer Methoden wieder. Ausgehend von der Frage, wie Erkenntnis möglich sei, konstruieren beide philosophische Traditionen – Hermeneutik und Phänomenologie – eine jeweils spezielle Wissenschaftstheorie, von denen die eben dargestellten Methoden abgeleitet werden. Der Unterschied der Theorien liegt in der speziellen Denkweise und in den Methoden, welche von der besonderen wissenschaftstheoretisch geprägten Denkweise abstammen. Da die Denkweise den Weg für die Methoden ebnet, lassen sich die Unterschiede, sowohl auf methodischer als auch wissenschaftstheoretischer Ebene, auf einen Nenner bringen. Durch logisches Erschließen kommt es zur Entwicklung dieser geisteswissenschaftlichen Methoden, die in ihrer Anwendung an der jeweiligen Wissenschaftstheorie gemessen werden, um ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erfüllen. Dabei bleibt die Frage offen, ob die Methode tatsächlich etwas über die Wirklichkeit aussagen kann.

2.1.1 Mit welcher Einschränkung sind die geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden der Phänomenologie und der Hermeneutik zu betrachten?

Im folgenden sollen die Hauptkriterien der phänomenologischen- und der hermeneutischen Methoden herausgegriffen und unter dem sprachkritischen Gesichtspunkt betrachtet werden.

Ist die phänomenologische Methode tatsächlich vorurteilslos?

Der Leitspruch der phänomenologischen Methode lautet: zu den Sachen selbst! (Vgl. Lamnek, 1993, S. 59), d.h. Vorurteile sollen vor der Wesenserfasssung ausgeklammert werden, um das Wesen im methodisch letzten Schritt erfassen zu können. Doch eines wird dabei nie ausgeklammert: die Sprache. Diese ist eben nicht vorurteilslos, sie besteht aus Begriffsdefinitionen, terminologischen Begriffen und Konnotationen, und ist somit Grundlage der Wissenschaften (Vgl. Konegen & Sondergeld, 1985, S. 53).

Lamnek (1993) äußert sich bzgl. der vorurteilbehafteten Sprache wie folgt: „Genau genommen dringt man ohnehin nie zu den Gegenständen selbst vor, sondern immer nur zu den jeweiligen sprachlichen Entsprechungen. Somit lässt sich niemals eine völlige Vorurteilslosigkeit erreichen, sondern stets nur eine möglichst vorurteilsfreie Einstellung“ (S. 6).

Die phänomenologische Methode kann wegen ihrer sprachlichen Abhängigkeit nie als völlig vorurteilslos verstanden werden, bestenfalls kann sie eben als möglichst vorurteilsfrei gelten. Die Phänomenologie übergeht diesen Sachverhalt, indem sie vorgibt, vorurteilslos erkennen zu können.

Welche Einwände bestehen bei der hermeneutischen Methode bzgl. des Erkennens eines Inneren an äußeren Zeichen?

Wie in Kapitel 2.1 beschrieben, definiert Dilthey „Verstehen“ als den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen!“ (1957; zitiert nach Lamnek, 1993, S. 79). Es wird also, gemäß dieser Definition, dadurch hermeneutisch vorgegangen, indem man nach dem Ausmachen äußerer Zeichen ein Inneres näher bestimmt. Wenn nun die Aufgabe darin besteht, eine soziale Wirklichkeit näher bestimmen zu wollen, ist dann die sprachliche Bestimmung äußerer Umstände in Bezug auf das zu behandelnde Phänomen tatsächlich Garant dafür, dass die soziale Wirklichkeit erkannt wird?

Dewey (1995) macht bereits darauf aufmerksam, dass es sich um einen Fehlschluß von Logos auf Sprache handelt. Dadurch, dass Logos als übernatürlich und als Ursprung von Sprache angesehen wird, ist Sprache logischerweise ebenso übernatürlich wie ihr Ursprung (Vgl. S. 169). Die Logik dieses Gedankenganges ist nicht kritisierbar, jedoch ihre Ausgangsvariable, welche beinhaltet, dass Logos als Ursprung von Sprache anzusehen sei. Die Wahrheit der Aussage, ob äußere Zeichen wirklich auf ein Inneres hinweisen können, kann nicht überprüft werden. Maturana und Varela (1987) liefern folgende Beschreibung von Sprache: „Wir operieren in der Sprache, wenn ein Beobachter feststellen kann, dass die Objekte unserer sprachlichen Unterscheidungen Elemente unseres sprachlichen Bereiches sind. Sprache ist ein fortdauernder Prozeß, der aus dem „in-der-Sprache-Sein“ besteht und nicht in isolierten Verhaltenseinheiten“ (S. 226).

Interessant angesichts der Fragestellung ist, inwieweit sprachliche Erklärung die soziale Wirklichkeit in dem Maße wahrheitsgetreu beschreiben kann, dass sich die einzelnen „Verhaltenskoordinationsebenen“ (Vgl. Maturana & Varela, 1987) voneinander abgrenzen. Diese Abgrenzung bedeutet, dass es sich bei diesen Ebenen, um einzelne voneinander getrennte Bewußtseinsebenen handelt, deren jeweilige Logik nicht auf andere Bereiche übertragen werden können. Das bedeutet, dass die Auswertung eines narrativen Interviews bspw. wohl der Logik der Sprachebene gerecht werden würde, aber nicht der Logik des sozialen Phänomens. Maturana & Varela (1987) betonen:

Sprache wurde niemals von jemanden erfunden, nur um damit eine äußere Welt zu

internalisieren. Deshalb kann sie nicht als Mittel verwendet werden, mit dem sich eine

solche Welt offenbar werden lässt. Es ist vielmehr so, daß der Akt des Erkennens in der

Koordination des Verhaltens, welche die Sprache konstituiert, eine Welt durch das In-

der- Sprache-Sein hervorbringt. (S. 253)

Die Menschen sind nach dieser Theorie nicht in der Lage, aus der sprachlichen Ebene heraus Wirklichkeit, wie sie in Form von Interaktionen stattfindet, zu begreifen. Vorbedingung geisteswissenschaftlichen Vorgehens ist nun mal die Sprache. Der Konstruktivismus würde die hermeneutische Methode mit der Einschränkung beurteilen, dass der Sinn – und Bedeutungszusammenhang herstellende gebildete Rahmen ausschließlich derjenige der hermeneutisch vorgehenden Person sei. Ernst von Glasersfeld (1998), Vertreter des Radikalen Konstruktivismus, antwortet auf die Frage, wie wir Wissen konstruieren:

Wissen wird vom lebenden Organismus aufgebaut, um den an und für sich formlosen Fluß

des Erlebens soweit wie möglich in wiederholbare Erlebnisse und relativ verläßliche

Beziehungen zwischen diesen zu ordnen. Die Möglichkeiten, so eine Ordnung zu

konstruieren, werden stets durch die vorhergehenden Schritte in der Konstruktion bestimmt (meine

eigene Hervorhebung). Das heißt, daß die „wirkliche“ Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere

Konstruktionen scheitern. Da wir das Scheitern aber immer nur in eben jenen Begriffen

beschreiben und erklären können, die wir zum Bau der scheiternden Strukturen verwendet

haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir zum Scheitern

verantwortlich machen könnten. (S. 37)

Nach dem Radikalen Konstruktivismus konstruiert jeder Organismus seine eigene Wirklichkeit nach subjektiven, sowohl ontogenetischen (Erfahrung) als auch phylogenetischen (Vererbung) Gesichtspunkten. Demnach ist die Sprache subjektbehaftetes und somit nicht neutrales Instrument der Geisteswissenschaft. Da die Sprache Grundlage der empirischen Forschung im allgemeinen ist, damit ist v.a. auch die quantitative Forschung gemeint (Bsp. Hypothesenbildung vor einem Experiment), lässt sich folgende Aussage Hondrichs (1972) bzgl. der Subjektabhängigkeit der Erkenntnis und folglich auch der Forschungsmethoden übernehmen: „Jedes Soziale Phänomen ist umstellt von volkstümlichen und wissenschaftlichen Begriffen und Interpretationen, deren Gebrauch nicht dazu dient, den sozialen Tatbestand zu erhellen, sondern auch den Interpreten sozial einzuordnen“ (zitiert nach Lamnek, 1988, S. 128).

Die Hermeneutik ist sich dieser Subjektabhängigkeit der Erkenntnis zwar bewußt, bezeichnet sich aber trotzdem als Erkenntnismethode, welche es vermag, sich der sozialen Wirklichkeit anzunähern, indem sie an den äußeren Zeichen ein Inneres festmacht. Allerdings ist dieser Prozeß nach der Theorie des Konstruktivismus und der Theorie lebender Systeme nach Maturana & Varela nicht nachvollziehbar. Hermeneutik und Phänomenologie sind dennoch effiziente Methoden der Theorie und Praxis der Pädagogik. Hermeneutik, weil sie den geschichtlichen Hintergrund in das Verstehen mit einbezieht und thematisiert. Phänomenologie, da sie von dem Bestreben geleitet wird, sich einem Phänomen in unvoreingenommener Weise zu nähern. Beide sind für ein Verstehen wichtige Momente, nur wenn sie auf eine „1:1 Abbildung“ der Wirklichkeit bestehen, wird ihre Argumentation m.E. haltlos. Diese Haltlosigkeit soll im folgenden Kapitel durch die Aussagen des Konstruktivismus belegt werden.

2.2 Annäherung an den Konstruktivismus - Eine Einführung

Argumentativer Bezugspunkt des radikalen Konstruktivismus ist die Theorie lebender Systeme nach Maturana & Varela bzw. das ihr zugrunde liegende „Prinzip der Autopoiese“ (Kapitel 2.2.1). Ihre Theorie geht davon aus, dass jegliches Handeln und somit auch Denken auf Effizienz ausgelegt ist und keinen allgemeinverbindlichen Charakter hat. Nur aufgrund der gemeinsamen Lebenswelt und der ähnlichen Beschaffenheit unseres Nervensystems kommt es zu Ähnlichkeiten in den Bereichen unseres Denkens und Handelns, welche zwar ähnlich sein können, jedoch nie miteinander identisch sind. Der radikale Konstruktivismus orientiert sich streng an der biologischen Kognitionstheorie Maturanas & Varelas und sieht Wissenskonstruktion als ein autopoietisches System an. Damit ist gemeint, dass Wissen immer konstruiert und damit subjektabhängig ist. Zu unterscheiden ist der Radikale Konstruktivismus von den Konstruktivisten der Erlanger Schule, welche zusätzlich eine Unterscheidung vornehmen zwischen Alltagserkenntnis und Wissenschaftserkenntnis. In Abgrenzung zum Radikalen Konstruktivismus ist bei der „Erlanger Schule“, auf welche in der vorliegenden Arbeit kein Bezug genommen wird, Erkenntnis auf streng wissenschaftlichen Wege möglich (Vgl. Tschamler, 1996, S. 67-80).

2.2.1 Das Prinzip der Autopoiese - Grundlage der Konstruktivistischen Denkweise und Anthropologie lebender Systeme

Maturana & Varela (1987) gehen von der Annahme aus, dass Erkennen nicht bloß eine Repräsentation der äußeren Welt ist, sondern ein andauerndes Hervorbringen der

Welt (Vgl. a.a.O. S. 7). Dieses Hervorbringen einer Welt ist ein in sich geschlossener, in seiner Organisation autonomer Prozeß und nicht von außen bestimmbar. Von der Beschaffenheit der lebenden Zelle und des Nervensystems extrapolieren sie auf die Beschaffenheit des Bewußtseins und der Sprache und sehen, sowohl auf zellulärer als auch sozialer Ebene, das Prinzip der Autopoiese. Sinngemäß ist damit gemeint, dass jeder Zustand vom Individuum innerhalb der unbeeinflußbaren „operationalen Geschlossenheit“ selbst erzeugt wurde. Nach diesem Prinzip ist jede Erkenntnis „selbstreferentiell“ (i.S. von auf sich selbst beziehend), subjektiv und somit basierend auf der „Ontogenese“, m.a.W., der „Geschichte des strukturellen Wandels einer Einheit ohne Verlust ihrer Organisaton“ (Maturana & Varela, 1987, S. 48) des jeweiligen Individuums, welches vorgibt zu erkennen. Jeder neue Eindruck des Individuums wird stets an dessen subjektiver Geschichte gemessen und nach dieser bewertet. Eindrücke sind somit nicht von außen bestimmbar und v.a. nicht vorhersehbar (Kapitel 3.2.4). Ein Verstehen, welches vorgibt ein Inneres an äußeren Zeichen zu erkennen, wie in Kapitel 2.1 beschrieben, ist nach dem Radikalen Konstruktivismus nicht möglich. Jeder Gedankenverlauf ist ein in sich operational geschlossener Kreislauf, welcher rekursiv verläuft, d.h. stets erneut an vorangegangenen Zuständen anknüpft, sich quasi aus sich selbst heraus, selbstbestimmend, stets von Neuem erschafft. Äußerlich ist das autopoietische System lediglich in Form von „Perturbation“ beeinflußbar, d.h. es kann zwar zu einer strukturellen Veränderung kommen, doch die Art und Weise der bewirkten strukturellen Veränderung ist nicht von außen bestimmbar und schon gar nicht vorhersehbar. Mögliche Effizienz des Frontalunterrichts wird hier ad absurdum geführt). Maturana & Varela (1987) beschreiben Perturbationen als „Zustandsveränderungen in der Struktur eines Systems, die von Zuständen in dessen Umfeld ausgelöst (d.h. nicht verursacht, vgl. Kap. 4. Kapitel) werden“ (S.27). Sprache und Wissenschaft wird nach dem Prinzip der Autopoiese als selbsterschaffen betrachtet und verliert somit den Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit. Damit wird zwangsläufig für eine Toleranz und für die Offenlegung seiner individuellen Erklärungsprinzipien plädiert. Verstehen wird nach dieser Theorie eher für eine Ausnahme gehalten. Um dennoch annähernd verstehen zu können, bedarf es einer Hinwendung zum Subjekt und seiner individuellen Struktur. Nach Maturana & Varela (1987) ist Sprache dasjenige, was Bewußtsein erst entstehen lässt (Vgl. S. 249) und der Konstruktivismus baut darauf auf, indem er Sprache, Kommunikation, Selbst und Identität als in sich geschlossene, autopoietische und selbstreferentielle Regelkreisläufe betrachtet (Vgl. Tschamler, 1996, S. 73). Sie gehen sogar so weit, Selbstbewußtsein als eine Folge der sprachlichen Rekursion zu betrachten (Vgl. ebd.). Nach dieser konstruktivistischen Argumentationsweise ist Sprache alles andere als ein neutrales Instrumentarium und ihr Gebrauch bedarf der Offenlegung der dahinterliegenden individuellen Erklärungsprinzipien, um Mißverständnissen entgegenzuwirken. Auf Erkenntnis schließt der Beobachter nach der Theorie lebender Systeme Maturana & Varelas (1987) aufgrund eines effektiven Handelns (Vgl. S. 189) und nicht durch Kongruenz mit einer objektiven für jeden verbindlichen Wahrheit.

2.3 Resümee aus den dargestellten Wissenschaftstheorien

Die phänomenologische Herangehensweise:

Die phänomenologische Herangehensweise ist eine offene und unvoreingenommene Herangehensweise. Es ist jedoch fraglich, inwieweit das Wesen eines Menschen überhaupt erschlossen werden kann. Wesen ist ein Konstrukt der Sprache und nach der Theorie Maturanas & Varelas ist es fraglich, ob jeder Mensch dasselbe meint, wenn er von Erkenntnis, in diesem Falle von Wesenserkenntnis spricht. Die phänomenologischen Denkschritte können wegen ihrer Sprachgebundenheit nicht als neutrales wissenschaftliches Instrumentarium betrachtet werden. M.E. liegen die Phänomenologen bzw. deren phänomenologische Denkweise einem Mythos auf, der fatalerweise ein Grundaxiom ihres philosophischen Gedankengebäudes darstellt. Dies besteht in der Annahme, alle könnten bei strenger Einhaltung der Denklogik der phänomenologischen Methode Husserls dasselbe Wesen erblicken, wenn sie die anthropologische Grundvoraussetzung der Denkfähigkeit sowie die Motivation und Überzeugung besitzen, streng phänomenologisch vorzugehen.

Hermeneutischen Herangehensweise:

Die Klärung des Sinnhorizontes ist besonders aus konstruktivistischer Sicht wichtig, doch ist hierbei die Gefahr gegeben, dass man zwar Vorwissen darlegt und dieses im hermeneutischen Vorgehen immer von neuem hinterfragt, doch liegt die Gefahr m.E. in der Verabsolutierung des „objektiven Geistes“, indem dieser quasi mit einzig richtiger Wahrheit gleichgesetzt wird und der Sichtweise, man könne aufgrund äußerer Zeichen linear-kausal auf ein Inneres schließen. Am „objektiven Geist“ hat jedes Mitglied einer Gemeinschaft bspw. eines Kulturraumes Anteil und somit ist Verstehen möglich bzw. das Wiederfinden des „Ich“ im „Du“ (Vgl. Danner, S. 72, 1989).

Konstruktivistische Herangehensweise & Systemisches Denken, auf der Grundlage des Autopoiese Prinzips

Bei der konstruktivistischen Herangehensweise geht es um die Offenlegung individueller und allgemeiner Erklärungsprinzipien. Hinsichtlich des subjektiven Lernens geht es darum die, individuellen Konstruktionsmodi zu durchschauen und die ontogenetisch gewachsene Struktur kennenzulernen, um subjektadäquates Lernen zu fördern. Das subjektiv Erlebte soll dem Individuum hinsichtlich seiner Struktur nutzbar gemacht werden. Werte können, vorgelebt oder angeregt, jedoch nicht aufgezwungen werden. Das Individuum ist die letzte Instanz, welche darüber entscheidet, was gelernt und damit „verinnerlicht“ wird und was nicht. Damit selbstorganisiertes Lernen innerhalb des erlebnispädagogischen Lernmilieus (Kapitel 3.3.2 Didaktische Landschaft) stattfinden kann, geht es darum, dass die Teilnehmer Selbstverantwortung für ihr Denken und Handeln zu übernehmen lernen. Es muß ein Rahmen geschaffen werden, in welchem selbstorganisierte Lernprozesse überhaupt stattfinden können. Um dieses zu rechtfertigen, wird es im folgenden um die Darlegung lerntheoretischer Annahmen gehen. In theoretischer Hinsicht bedeutet konstruktivistisches Vorgehen u.a. Bewußtmachung der Subjektbehaftetheit von Sprache und dass jede Erkenntnis vom Subjekt konstruiert ist und nur durch Anbindung an dessen Struktur zu verstehen ist. Abschließend muß bemerkt werden, dass die konstruktivistische Argumentation Hand in Hand mit der systemtheoretischen Argumentation geht, da beide Positionen von der „operationalen Geschlossenheit“(Kapitel 3.1.3) und „Selbstreferentialität“(Kapitel 3.1.1) der Systeme ausgehen und in ihrer Argumentation das Prinzip autopoietischer Systeme adaptiert haben.

2.4 Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie & Pädagogik

Das Menschenbild, welches m.E. mit der konstruktivistischen Denkweise und der Theorie autopoietischer Systeme kompatibel ist, ist das Menschenbild der Humanistischen Psychologie bzw. der Pädagogik. Diese geht von einem autonomen Menschenbild aus und postuliert, dass der Mensch die Ressourcen für eine reifende Persönlichkeitsentwicklung in sich trägt. Eine direktive Einflußnahme auf den Menschen verwirft die Humanistische Psychologie bzw. Pädagogik ebenso wie der Konstruktivismus die linear-kausale Vermittlung von Wissen. Durch die Übereinstimmung bzgl. der anthropologischen Grundannahmen bietet m.E. die Humanistische Psychologie ein breites Repertoire an Methoden, welche der Einzigartigkeit der Person und der Unvorhersehbarkeit von Gruppenprozessen und innerpsychischen Prozessen Rechnung trägt. In Quitmann (1996) wird unter der Überschrift „Orientation of Humanistic Psychology“ die wissenschaftstheoretische Standortbestimmung dargestellt. Zusammenfassend lässt sich gemäß dieser Quelle sagen:

Der Forschende ist nie losgelöst vom „Forschungsobjekt“ zu betrachten.

Erfassung von Sinn und Bedeutung kommt vor der Methodik.

Die Humanistische Psychologie wendet sich zwar nicht gegen statistische Meßverfahren, zieht diesen jedoch bei der Validierung menschliche Kriterien vor.

Betont die relative Bedeutung von Erkenntnis.

Orientierung an der Ganzheitlichkeit des Menschen (Vgl. S. 15-16).

Die Humanistische Psychologie bzw. deren Methoden tragen den selbstinitiierten und selbstorganisierten menschlichen Lernprozessen am ehesten Rechnung, da sie den Menschen nicht als veränderungsbedürftiges Wesen hinsichtlich einer objektiv vorgeschriebenen Norm betrachten, sondern diesen eben in seiner Subjektivität und Gewordenheit achten und respektieren.

In Abgrenzung zu einem institutionellen Denken vertritt die Humanistische Psychologie bzw. Pädagogik eine systemische Denkweise, welche das Ganze sowie die Interdependenz ihrer Teile im Auge hat. An das Systemdenken angelehnt ist das Homöostase Prinzip (Vgl. Vaill, 1998, S. 140). Dieses basiert auf dem Gedanken, dass ein System stets bestrebt ist, einen Gleichgewichtszustand herzustellen. Capra (1992) stellte diesbezüglich fest, dass dieses Bestreben nach Balance allen von ihm untersuchten therapeutischen Techniken zugrundeliegt. Der ganzheitliche Ansatz der Humanistischen Psychologie und Pädagogik findet m.E. ihr Pendant in der griechischen Erziehung, welche keine Trennung von Körper und Geist vornahm (Vgl. Dewey, 1986, S. 142).

3 Didaktisches Selbstverständnis

Aus der vorangegangenen Argumentation ergibt sich m.E. ein auf ein autonomes Menschenbild aufbauendes Didaktikverständnis, bei welchem es nicht um ein „direktives-leiten“ ( Tausch & Tausch, 1965) der Person geht. Bei diesem Verständnis wird die Soziale Kompetenz als etwas betrachtet, was der Einzelne gemäß seiner Strukturdeterminiertheit in seine Struktur einbaut (Kapitel 4.1 Begriffsklärung), deren Rahmen die Erlebnispädagogik und die sozialkompetenten und v.a. strukturbewußten Leiter bilden

(Kapitel 6.2.4 Die biographische Selbstreflexion des Leiters). Die Untersuchung Tausch & Tauschs (1965) bezüglich der Korrelation zwischen Lehrstil und Schülerleistung verrät, dass ein allzu intensives Maß an Lenkung durch den Lehrkörper die Eigeninitiative der Schüler proportional verringert. Genauer gesagt, je mehr Sätze der Lehrer gebraucht, desto mehr Ein-Wort Sätze sind von den Schülern zu erwarten (Vgl. Tausch & Tausch, 1965, S. 211). In Anlehnung an die Untersuchung Tausch & Tauschs, soll der „partner-zentrierte“ Umgang den Rahmen bilden, innerhalb dessen die Teilnehmer ihr Sozialverhalten ausdifferenzieren bzw. dieses ausgehend von ihrer jeweiligen Struktur ausbilden und erarbeiten können. Die im folgenden Unterkapitel beschriebenen Erklärungsprinzipien der konstruktivistischen Betrachtungsweise des Gegenstandsfeldes stützen die Lerntheorie, welche Raum für selbstorganisierte subjektive Lernprozesse gewährleisten soll.

Greinert (2000) äußert sich kritisch gegenüber der Adaption des Luhmannschen Gedankengebäudes in der Pädagogik, welcher sich in seiner Gesellschaftstheorie autopoietischer Prinzipien bedient, um den Funktionsmechanismus sozialer Systeme zu erklären:

Jeder, der das Luhmannsche Denkgebäude einigermaßen überschaut, merkt sofort, daß

sich hier die „Pädagogik der Postmodernen“ heillos in der Theorie autopoietischer

sozialer Systeme verheddert hat. Das „einzelne Individuum“ über Organisationslernen

„wieder zu sich selbst zu befreien“ – dies bedeutet nach Luhmanns Auffassung eine zu

überwindende Illusion: „alteuropäisches Denken“. Der eigendynamischen Entwicklung

von Gesellschaft hat – in der Luhmannschen Theorie – der Mensch nichts Nennenswertes

entgegenzusetzen. Eine derartige Sicht von Individuum und Gesellschaft kann ein

Pädagoge natürlich nicht akzeptieren; Lernen, Erziehung, Bildung erweisen sich unter

dieser Perspektive praktisch wie theoretisch ohne Einfluß auf Struktur und Dynamik

gesellschaftlicher Entwicklung.

Eine Erziehungswissenschaft, die ihre Modernisierung über die Adaption Luhmannscher

Theorien zu betreiben versucht, landet unfehlbar in der Sackgasse bzw. stellt sich selbst

infrage, denn sie sieht sich genötigt, die Entmachtung, die das Subjekt in bezug auf die

Gestaltung des Sozialen bei Luhmann hinnehmen muß anzuerkennen oder aber auf dem

alteuropäischen, ontologischen Denkansatz weiter zu bestehen. (S. 106)

Dem ist entgegenzuhalten, dass sich die hier verwendete Theorie über das Lernen und den Menschen alleine und in der Gesellschaft hauptsächlich an die Theorie lebender Systeme nach Maturana & Varela anlehnt, welche auch von Luhmann in seiner Argumentationslogik verwendet wurde. Deswegen ist mancher Gedanke Luhmanns der hier verwendeten Argumentationslogik kompatibel und mancher eben nicht. Das gesamte Luhmannsche Gedankengebäude zu überschauen, um Berechtigung zu erlangen, die Theorie autopoietischer Systeme auf kognitive und ganzheitliche Lernprozesse des Menschen zu übertragen, ist m.E. unangebracht. Deshalb ist in dieser Arbeit, wenn von Systemtheorie die Rede ist, hauptsächlich die Theorie lebender Systeme nach Maturana & Varela gemeint.

3.1 Erklärungsprinzipien der konstruktivistischen Betrachtungsweise des Gegenstandsfeldes auf der Grundlage der Theorie autopoietischer Systeme nach Maturana & Varela

3.1.1 Selbstreferentialität

Alle Vorgänge, die innerhalb des Bewußtseins ablaufen, sind auf sich selbst bezogen. Wissen ist somit nicht von außen zuführbar, sondern wird im Inneren, d.h. innerhalb des Bewußtseins konstruiert. M.a.W., Wissen wird in einem rekursiven Kreislauf geschaffen, der in sich „operational geschlossen“ ist, d.h. der zwar von außen irritierbar, aber nicht direktiv zu beeinflussen ist. Gerhard Roth (1990) begründet dieses wie folgt:

Wissen und Erkenntnis sind selbstreferentiell, denn Erfahrung mißt sich an Erfahrung,

Erkenntnis korrigiert sich an Erkenntnis. Wir behalten dasjenige an Erfahrung bei, was

[...]

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Die soziale Kompetenz in der Erlebnispädagogik. Möglichkeiten zur Initiierung selbstorganisierter Lernprozesse
Hochschule
Pädagogische Hochschule Freiburg im Breisgau
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
114
Katalognummer
V32749
ISBN (eBook)
9783638333986
ISBN (Buch)
9783638713757
Dateigröße
913 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kompetenz, Erlebnispädagogik, Möglichkeiten, Initiierung, Lernprozesse, Hilfe, Erlebnispädagogik
Arbeit zitieren
Ilona Pfaff (Autor:in), 2002, Die soziale Kompetenz in der Erlebnispädagogik. Möglichkeiten zur Initiierung selbstorganisierter Lernprozesse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32749

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