Wenn Hegels Bestimmung des Kunstschönen in der klassischen deutschen Ästhetik durch die Einheit und Wechselwirkung von geistiger Idee und sinnlicher Gestalt charakterisiert wird1, scheint Wilhelm Raabes Roman Stopfkuchen diesem ästhetischen Begriff in vollendeter Weise zu entsprechen. Denn mit Raabes „See- und Mordgeschichte“ liegt die seltene Begebenheit vor, dass der poetische Gehalt, der sich nicht nur in der psychologischen Charakterisierung des Titelhelden erschöpft, sondern zugleich ein metaphysisches Panorama über Prädestination und Schuldwerdung des Menschen aufwirft, und seine formale Gestaltung von der Erzählperspektive bis hin zur dichterischen Sprache in Wechselwirkung und Einheit erscheinen. So wird etwa Stopfkuchens übermenschliche Gelassenheit, seine „behagliche Weltverachtung“, nicht allein dadurch poetisch umgesetzt, dass er – vermittelt durch den schreibenden Erzähler Eduard – das Gespräch in herrischer und dominanter Weise immer wieder an sich reisst, auch in einer dichten Leitmotivik, die immer gleiche Bilder aufgreift, findet Heinrich Schaumanns Gemüt eine Entsprechung.
Im Folgenden soll versucht werden, diese Wechselwirkung inhaltlicher und formaler Züge in Raabes Stopfkuchen offenzulegen. Die existenziellen Aussagen des Romans werden dabei ebenso berücksichtigt wie Fragen des erzählerischen Verfahrens. Es wird somit einerseits eine inhaltlich orientierte Wertung der Handlung unternommen, insbesondere die Problematik der Hauptfigur herausgearbeitet, andererseits der Frage nach der Erzählstruktur Rechnung getragen. Es sei vorweg schon angedeutet, dass beide Perspektiven einander durchdringen; die erzählerische Komposition des Romans und die aufgeworfenen psychologischen, ethischen und philosophischen Probleme ergeben ein dichtes Spannungsfeld.
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung
- Der Philister gegen die Philister - Die Problematik der Titelfigur
- Der Schnellfuß gegen das Riesenfaultier – Die konfliktäre Beziehung zwischen Eduard und Stopfkuchen
- Anschauung versus Begriff – Zur Frage der Reflexion in Raabes Stopfkuchen
- Verschuldung eines vermeintlichen Helden
- Schlussbemerkung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit analysiert Wilhelm Raabes Roman „Stopfkuchen“, indem sie die Wechselwirkung von inhaltlichen und formalen Zügen beleuchtet. Die Untersuchung umfasst sowohl die existenziellen Aussagen des Romans als auch die erzählerischen Verfahren. Ziel ist es, die Problematik der Hauptfigur herauszuarbeiten und gleichzeitig die Erzählstruktur des Romans zu untersuchen.
- Die Ambivalenz der Titelfigur Stopfkuchen zwischen „Ausnahmemensch“ und Spießbürger
- Die konfliktäre Beziehung zwischen Eduard und Stopfkuchen
- Die Rolle der Reflexion in Raabes Werk
- Die Frage der Schuldwerdung und Prädestination im Roman
- Die Analyse der Erzählstruktur und -perspektive
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel befasst sich mit der Problematik der Titelfigur Stopfkuchen und hinterfragt die Frage, ob er tatsächlich als Held zu betrachten ist. Hierbei wird seine ambivalente Persönlichkeit beleuchtet, die sowohl „Ausnahmemensch“ als auch Spießbürger Züge aufweist. Kapitel zwei untersucht die konfliktäre Beziehung zwischen Eduard und Stopfkuchen und analysiert, wie ihre unterschiedlichen Charaktere die Handlung beeinflussen. Das dritte Kapitel beleuchtet die Frage der Reflexion in Raabes „Stopfkuchen“ und beschäftigt sich mit der Beziehung von Anschauung und Begriff. Das vierte Kapitel, das hier nicht zusammengefasst wird, konzentriert sich auf die Frage der Schuldwerdung des Titelhelden.
Schlüsselwörter
Die Analyse von Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“ konzentriert sich auf die Themenbereiche „Philistertum“, „Schuldwerdung“, „Reflexion“, „Erzählstruktur“, „Charakterisierung“, „Existenzphilosophie“, „Ästhetik“ und „Prädestination“. Die Arbeit berücksichtigt die literaturwissenschaftlichen Methoden der Interpretation und Textanalyse, um die komplexen Zusammenhänge des Romans zu beleuchten.
- Quote paper
- Till Spielmann (Author), 2000, Verschuldung eines vermeintlichen Helden. Über Wilhelm Raabes Stopfkuchen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33205