Knapp 45 Millionen Erwerbspersonen werden in Deutschland 2014 gezählt. Sie haben mit der Einbringung ihrer Arbeitskraft 2014 einen großen Anteil an der Erzeugung eines Bruttoinlandsproduktes in der Höhe von fast drei Billionen Euro. Was würde es für die deutsche Gesellschaft bedeuten, wenn diese Arbeitskraft nach und nach verfällt?
Der hohe Lebensstandard der deutschen Gesellschaft, den einschlägige Indizes immer wieder attestieren, hängt, je nach Messansatz teils mehr teils weniger, aber immer auch von der wirtschaftlichen Leistung ab. In Ländern, in denen das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner vergleichsweise hoch ist, sind auch andere das subjektiv empfundene Wohlbefinden positiv beeinflussende Faktoren höher. Nimmt die Wirtschaftsleistung eines Landes eben durch den Verfall der Arbeitskraft ab, ist also zu erwarten, dass auch das subjektiv empfundene Wohlbefinden abnimmt. In diesem Zusammenhang darf beispielsweise allein die starke Zunahme der Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund psychischer Erkrankungen in Deutschland seit 2006 als alarmierend gelten.
Ursache dieser Entwicklung scheint ein tiefgreifender Wandel der Arbeits- und Lebenswelt zu sein. Dieser ist vor allem durch weitreichende Veränderungen in der Arbeitsorganisation geprägt, wodurch sich konstitutive Bedingungen von Arbeit verändern. Erwerbstätige werden heute vor neue Anforderungen gestellt, denen sie nicht gewachsen scheinen.
Doch wie lässt sich Wissen darüber generieren, wie mit diesen neuen Anforderungen vor allem in arbeitspolitischer Hinsicht zukünftig umzugehen ist? Die Gruppe der hochqualifizierten Alleinselbständigen stellt in diesem Zusammenhang ein Laboratorium für mögliche zukünftige Verhältnisse dar. Denn diese Gruppe ist diesen neuen Anforderungen umfassend ausgesetzt. Für sie griffen die Strukturierungen der durch das Normalarbeitsverhältnis geprägten Arbeitswelt noch nie, weshalb sie per Definition einer extremen Entgrenzung von Arbeit und Leben ausgesetzt sind. Zudem wird dieser Umstand durch die fortschreitende Digitalisierung noch verstärkt, wie auch in den Massenmedien bereits reflektiert wird. „Das Internet verändert unsere Arbeitswelt. Immer weniger Menschen sind fest angestellt, immer mehr arbeiten als Freiberufler oder Soloselbständige on demand. Das schafft mehr Flexibilität, aber auch das Risiko, zum digitalen Tagelöhner zu werden“. Deshalb sollen Alleinselbständige, die in der Internetbranche tätig sind, untersucht werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Das Erkenntnispotenzial der Untersuchung der individuellen Reproduktionsleistung hochqualifizierter Alleinselbständiger
2. Arbeit und Leben als theoretischer Bezugsrahmen
2.1 Die Konstitution von Arbeit und Leben
2.2 Die neuen Anforderungen der deutschen Arbeitsgesellschaft
2.2.1 Die Entgrenzung von Arbeit
2.2.2 Die Herleitung einer subjektorientierten Perspektive
2.3 Das Zwischenfazit
3. Die Reproduktion als individuelle Leistung
3.1 Verfall von Arbeitskraft?
3.2 Die Reproduktion der Arbeits- und Lebenskraft
3.3 Die Erkenntnis der Studie: Existenz bestimmter Handlungsmuster
4. Das Untersuchungsfeld und Hypothesen: Hochqualifizierte Alleinselbständige im Bereich der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien
4.1 Die Internetbranche: Ein weites Feld
5. Das Forschungsdesign
5.1 Das Untersuchungsziel
5.2 Die Erhebung
5.3 Die Auswertung
6. Die Reproduktion der Arbeits- und Lebenskraft bei hochqualifizierten Alleinselbständigen
6.1 Die Entgrenzung von Arbeit bei Alleinselbständigen
6.2 Die Kurzvorstellung der Fälle und Überprüfung der stabilisierenden Fluchtpunkte
6.2.1 Fall A
6.2.2 Fall B
6.2.3 Fall C
6.2.4 Fall D
6.2.5 Fall E
6.3 Die Zusammenfassung
7. Der Vergleich und die Interpretation der Ergebnisse
7.1 Der Vergleich mit den Ergebnissen der Basisstudie
7.2 Die Schlussfolgerungen
8. Das Fazit: Guter Ansatz mit leichter Unschärfe
9. Quellenverzeichnis
10. Tabellenverzeichnis
11. Graphik- und Abbildungsverzeichnis
12. Anhang
12.1 Beschreibung der einzelnen Reproduktionsmuster
12.2 Interview-Leitfaden
12.3 Ergebnisse der Inhaltsanalyse
1. Das Erkenntnispotenzial der Untersuchung der individuellen Reproduktionsleistung hochqualifizierter Alleinselbständiger
Knapp 45 Millionen Erwerbspersonen werden in Deutschland 2014 gezählt (destatis.de a, 29.02.2016). Sie haben mit der Einbringung ihrer Arbeitskraft 2014 einen großen Anteil an der Erzeugung eines Bruttoinlandsproduktes in der Höhe von fast drei Billionen Euro (destatis.de b, 29.02.2016). Was würde es für die deutsche Gesellschaft bedeuten, wenn diese Arbeitskraft nach und nach verfällt?
Der hohe Lebensstandard der deutschen Gesellschaft, den einschlägige Indizes immer wieder attestieren, hängt, je nach Messansatz teils mehr teils weniger, aber immer auch von der wirtschaftlichen Leistung ab. Auch beim Index der OECD-Studie „How’s Life 2015?“ geht dieser Faktor mit in die Analyse ein. Mit einem ganzheitlichen Ansatz soll sie Erkenntnisse über das subjektiv empfundene Wohlbefinden von Menschen liefern. Sie zeigt, dass in Ländern, in denen das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner vergleichsweise hoch ist, auch andere das subjektiv empfundene Wohlbefinden positiv beeinflussende Faktoren höher sind (OECD 2015: 28). Nimmt die Wirtschaftsleistung eines Landes eben durch den Verfall der Arbeitskraft ab, ist also zu erwarten, dass auch das subjektiv empfundene Wohlbefinden abnimmt. In diesem Zusammenhang darf beispielsweise allein die starke Zunahme der Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund psychischer Erkrankungen in Deutschland seit 2006, die eine Statistik von AOK-Versicherten aufzeigt, als alarmierend gelten (Graphik 1).
Ursache dieser Entwicklung scheint ein tiefgreifender Wandel der Arbeits- und Lebenswelt zu sein. Dieser ist vor allem durch weitreichende Veränderungen in der Arbeitsorganisation geprägt, wodurch sich konstitutive Bedingungen von Arbeit verändern. Erwerbstätige werden heute vor neue Anforderungen gestellt, denen sie nicht gewachsen scheinen. Dieser Prozess, der unter anderen durch die Theorie der Entgrenzung von Arbeit sowie die der Subjektivierung von Arbeit beschrieben wird, stellt den theoretischen Ausgangspunkt dieser Arbeit dar. Hierunter werden vor allem durch Flexibilisierungsprozesse bedingte Veränderungen in der Strukturierung von Arbeit zusammengefasst (vgl. Voß 1998: 473). Bisher war in dieser Hinsicht das Normalarbeitsverhältnis strukturgebend für die deutsche Arbeitsgesellschaft. Mit über 24 Millionen Personen, die in dieser Beschäftigungsart angestellt sind, bildet diese Gruppe nach wie vor die größte unter den deutschen Erwerbstätigen (destatis.de c, 29.02.2016). Jedoch gerät eben dieses, für die gesamte Gesellschaft prägende Konstrukt, gerade durch den arbeitsorganisatorischen Wandel ins Wanken.
„Ein wichtiger Kulminationspunkt dieses Prozesses ist die in vielen Bereichen zu beobachtenden tendenzielle Abkehr von tayloristisch-fordistischen Betriebsstrategien, die auf eine möglichst detaillierte und standardisierte Strukturierung von Arbeitsverhältnissen abzielten“ (Voß 1998: 474).
Für diese Betriebsstrategien gilt vor allem die Trennung von Arbeits- und Privatsphäre hinsichtlich jeweils störender Einflüsse als konstitutiv. Nimmt man an, dass dieser Wandel für sämtliche Sozialdimensionen weiter fortschreitet, stellt sich nicht nur die Frage nach der grundsätzlichen Verfasstheit von Arbeit, sondern vor allem die nach der Sicherstellung der Wiederherstellung sowohl von Arbeitskraft als auch Lebenskraft (Jürgens 2009: 61). Dies wurde lange durch die flächendeckende gesetzliche und tarifliche Regulierung der Arbeitswelt, aber vor allem auch durch die organisatorische Fremdleistung der Arbeitgeber geleistet. Im Zuge des tiefgreifenden Wandels der Arbeits- und Lebenswelt verfallen diese Begrenzungen aber zunehmend. Die Individuen sollen diese Strukturierungsleistung, mit derer sie auch vor einer Verausgabung ihrer Arbeits- und Lebenskraft geschützt wurden, nun selbst erbringen. Die Reproduktion dieser Kräfte ist aber eine Voraussetzung für eine durch Erwerbsarbeit gekennzeichnete Gesellschaft. Denn die Produktion, also der Verschleiß von Arbeits- und Lebenskraft bedingt auch die Reproduktion, also die Wiederherstellung dieser. Wird aber die Schaffung solcher Grenzen und Mechanismen, die dies sicherstellen, auf die Individuen übertragen, ergeben sich für diese ganz neue Anforderungen.
Doch wie lässt sich Wissen darüber generieren, wie mit diesen neuen Anforderungen vor allem in arbeitspolitischer Hinsicht zukünftig umzugehen ist? Die Gruppe der hochqualifizierten Alleinselbständigen stellt in diesem Zusammenhang ein Laboratorium für mögliche zukünftige Verhältnisse dar (vgl. Egbringhoff 2007: 17). Denn diese Gruppe ist diesen neuen Anforderungen umfassend ausgesetzt. Für sie griffen die Strukturierungen der durch das Normalarbeitsverhältnis geprägten Arbeitswelt noch nie, weshalb sie per Definition einer extremen Entgrenzung von Arbeit und Leben ausgesetzt sind. Zudem wird dieser Umstand durch die fortschreitende Digitalisierung noch verstärkt, wie auch in den Massenmedien bereits reflektiert wird. „Das Internet verändert unsere Arbeitswelt. Immer weniger Menschen sind fest angestellt, immer mehr arbeiten als Freiberufler oder Soloselbständige on demand. Das schafft mehr Flexibilität, aber auch das Risiko, zum digitalen Tagelöhner zu werden“ (zeit.de, 29.02.2016). Deshalb sollen Alleinselbständige, die in der Internetbranche tätig sind, untersucht werden.
Erkenntnisse darüber, wie diese Gruppe unter den gegebenen Bedingungen ihre Arbeits- und Lebenskraft wiederherstellt, bürgen im Kontext eines arbeitsorganisatorischen Wandels also ein besonderes Potenzial. Die Untersuchung dieser Gruppe bietet die Möglichkeit Wissen zu generieren, das dabei helfen kann, schon jetzt mögliche arbeitspolitische Schlussfolgerungen für eine neu strukturierte Arbeitsgesellschaft ziehen zu können. Auch wenn die Thematisierung eines möglichen Rückgangs der deutschen Wirtschaftskraft durch den Verfall von Arbeitskraft drastisch erscheint. Es soll damit darauf aufmerksam gemacht werden, wie sehr die deutsche Gesellschaft vom Modell der Erwerbsarbeit geprägt ist und wie stark die Lebensqualität beziehungsweise das subjektiv empfundene Wohlbefinden hiervon abhängig ist. Die Untersuchung der individuellen Reproduktionsleistung von Alleinselbständigen basiert dabei auf dem Konzept, das Mathias Heiden und Kerstin Jürgens in ihrer Studie „Kräftemessen“ entwickelt haben. Sie suchten auf Basis eines mehrstufigen Forschungsdesigns nach den individuellen Rahmenbedingungen, die ein „[...] Gelingen von Arbeit und Leben“ bei abhängig Beschäftigen unter Einfluss des arbeitsorganisatorischen Wandels ermöglichen (Heiden et al. 2013: 9). „Es geht um die Frage, wie der arbeitende Mensch in Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt alltägliche Anforderungen so austariert, dass er sich erholt und seine soziale Einbindung aufrechterhält“ (Heiden et al. 2013: 12). Dieter Sauer verweist vor dem Hintergrund der Entgrenzung von Arbeit dabei ebenfalls deutlich darauf, dass der subjektiven Perspektive eine erhebliche Bedeutung zukommt (vgl. Sauer 2011: 24). Die leitende Forschungsfrage dieser Arbeit soll die aufgezeigte Problematik einfangen und hinsichtlich des beschriebenen Erkenntnisinteresses öffnen. Welche Schlussfolgerungen können im Kontext einer zunehmenden Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit in Deutschland aus den Erkenntnissen über die individuelle Reproduktionsleistung von Alleinselbständigen für zukünftig umzusetzende arbeitspolitische Maßnahmen gezogen werden?
Umgesetzt wird dieses Vorhaben mittels qualitativer Methoden. Zuerst wird dafür der theoretische Bezugsrahmen erläutert. Dafür wird die historisch einmalige Entwicklung der sphärischen Trennung von Arbeit und Leben aufgearbeitet sowie die Veränderungen des Verhältnisses der Sphären zueinander erläutert. Die frühere Entwicklung dieses Verhältnisses wird unter der Theorie der Entgrenzung von Arbeit beschrieben. Innerhalb dieses Rahmens wird eine subjektorientierte Perspektive auf Arbeit und Leben entwickelt und die Reproduktion der Arbeits- und Lebenskraft als individuelle Leistung definiert. Zudem wird die Frage nach dem Verfall von Arbeitskraft gestellt. Daraufhin wird eine Definition von hochqualifizierten Alleinselbständigen ausgearbeitet und das Feld der Internetbranche abgesteckt. Daran anschließend wird das Forschungsdesign vorgestellt. Es folgt jeweils eine Kurzvorstellung der Ergebnisse der Untersuchung, dies wird für jeden Fall separat erfolgen, um diese jeweils voll ausschöpfen zu können. Der erste Schritt der Analyse wird ein Vergleich der Ergebnisse der Ausgangsstudie „Kräftemessen“ mit den Ergebnissen der vorangegangenen Untersuchung sein. Es soll so entsprechend der leitenden Forschungsfrage festgestellt werden, ob im gewählten Untersuchungsfeld der Alleinselbstständigen Abweichungen festzustellen sind und wenn ja, in welcher Form. Die Erkenntnisse aus diesem Vergleich können dann verwendet werden, um die Beantwortung der leitenden Forschungsfrage zu leisten. Abschließend werden die Erkenntnisse der Arbeit noch einmal reflektiert und im aktuellen Forschungsstand eingeordnet.
Abrundend soll an dieser Stelle kurz auf die Literaturquellen eingegangen werden, die für diese Arbeit verwendet werden. Neben der Studie „Kräftemessen“, dessen konzeptioneller Zugang die Basis Untersuchung darstellt, wird für deren theoretische Konstruktion auch die vorangegangene Veröffentlichung von Kerstin Jürgens „Arbeits- und Lebenskraft: Reproduktion als eigensinnige Grenzziehung“ aufgegriffen. Durch diese wird die Öffnung des angestrebten Feldes geleistet. Zudem werden mehrere Studien aus der Schriftenreihe „Arbeit und Leben im Umbruch“ verwendet werden, die von G. Günter Voß herausgegeben wurden. In dieser existieren mittlerweile auch einschlägige Beiträge zum Untersuchungsfeld der Alleinselbständigen, auf die zurückgegriffen werden kann. In diesem Rahmen liefern die theoretischen Leistungen von G. Günter Voß und Hans G. Pongratz zu den Theorien der Entgrenzung und der Subjektivierung von Arbeit wertvolle Erkenntnisse, die bei der Entwicklung arbeitspolitischer Maßnahmen helfen können. Diese werden zusätzlich mit spezifischen Fachartikel zum Untersuchungsfeld und zum Thema Arbeitspolitik erweitert. Das methodische Vorgehen bei der Analyse des Materials basiert auf der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring.
2. Arbeit und Leben als theoretischer Bezugsrahmen
Das Arbeit und Leben als voneinander getrennte Sphären gesehen werden, ist stark historisch bedingt. Dies zeigt sich bereits an der Frage, was als Arbeit gelten darf und was zwangsläufig dem abstrakten Bereich Leben zugeordnet wird. Hausarbeit, Reproduktionsarbeit und Erziehungsarbeit enthalten zwar den Begriff der Arbeit, werden aber weniger stark mit diesem assoziiert als die klassische Erwerbsarbeit (vgl. Winker et al. 2004: 171). Arbeit wird hauptsächlich als Erwerbsarbeit verstanden, alle restlichen Funktionsbereiche werden der Sphäre Leben zugeordnet. Laut Heiden und Jürgens erfüllt die Erwerbsarbeit „in kapitalistischen Gesellschaften basale Funktionen: dazu gehören die materielle Existenzsicherung, die soziale Einbindung und der Empfang von Anerkennung“ (Heiden et al. 2013: 24). Damit einher scheint auch schon eine Hierarchisierung der Lebensreiche einher zu gehen (vgl. Heiden et al. 2013: 23). Die Arbeitssphäre wird aufgrund ihrer Funktion der materiellen Existenzsicherung über lebensweltliche Funktionen gestellt, obwohl gerade die abhängige Verflechtung der verschiedenen Funktionsbereiche diese erst ermöglicht (vgl. Heiden et al. 2013: 21). Für das Verständnis des theoretischen Bezugsrahmens Arbeit und Leben muss die historische Entwicklung betrachtet werden, die zum heutigen Begriffsverständnis von Arbeit und Leben geführt hat. Dies soll im nächsten Abschnitt bis zum Zeitraum der Neunziger Jahre geschehen. Es folgt daraufhin die Erläuterung der arbeitsorganisatorischen Veränderungen seit den Neunzigern, die unter den Theorien der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit beschrieben werden. Damit wird die Herleitung einer subjektorientierten Perspektive auf Arbeit und Leben geleistet. Daran anknüpfend kann die Definition der Reproduktion als individuelle Leistung erfolgen, mit der die theoretische Fokussierung dieser Arbeit fixiert wird.
2.1 Die Konstitution von Arbeit und Leben
Die deutsche Gesellschaft ist arbeitsteilig organisiert, dies bedingt das Anforderungen aus verschiedenen Lebensbereichen integriert werden müssen (vgl. Heiden et al. 2013: 23). Charakteristisch, auch für die deutsche Gesellschaft, ist in diesem Zusammenhang bislang die Trennung der Erwerbs- und der Privatsphäre gewesen (vgl. Egbringhoff 2007: 33). Die damit verbundenen Strukturierungen ermöglichten lange die Vereinbarkeit der teils konkurrierenden Anforderungen aus den verschiedenen Bereichen. Diese bis heute vor allem für die ehemals westdeutsche Arbeitsgesellschaft prägende Strukturierung, „kann als ein Produkt der westlichen Industriegesellschaften interpretiert werden“, das sich in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg etablierte (Egbringhoff 2007: 35).
Stärkster Ausdruck dieser tayloristisch-fordistisch geprägten Strukturierung ist das Normalarbeitsverhältnis (vgl. Henninger 2004: 145). Als Normalarbeitsverhältnis (NAV) wird in diesem Zusammenhang „ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis verstanden, das in Vollzeit und unbefristet ausgeübt wird“ (destatis.de d, 01.03.2016). „Durch seine Institutionalisierung kommt dem Normalarbeitsverhältnis und dem damit verknüpften Geschlechterregime eine zentrale Funktion für die Regulation von Erwerbsarbeit und Privatleben zu“ (Henninger 2004: 144f). Durch das NAV findet also nicht nur eine Trennung der Sphären statt, zum Teil bedingt diese Konstitution der Arbeitsgesellschaft auch eine bestimmte Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern im familiären Kontext. Die Konstruktion von Arbeit und Leben als zwei getrennte Sphären ist also zum größten Teil durch wirtschaftlichen Interessen und Faktoren entstanden. Die Errichtung von Fabriken zu Zeiten der Industrialisierung ist wirtschaftlichen Interessen geschuldet, bedingt aber gleichzeitig auch die räumliche und zeitliche Trennung vom allgemeinen lebensweltlichen Umfeld. Da diese Arbeit ihren Fokus auf den arbeitsorganisatorischen Wandel legt, wird dieser im Zusammenhang der historischen Aufarbeitung schwerpunktmäßig beschrieben.
Sozialhistorisch gesehen diente die strikte Trennung der Sphären besonders dazu, die Arbeitssphäre von lebensweltlichen Einflüssen zu bereinigen, um dadurch eine Effizienzsteigerung in den Betrieben zu erreichen (vgl. Kleemann 2003: 44). Dieser Rationalisierungsmotivation weiter folgend wurden in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem technikbezogene Verbesserungen eingeführt, die Arbeitszeitkürzungen und Lohnsteigerungen zur Folge hatten. Hinsichtlich des Verhältnisses von Arbeit und Leben veränderte sich also die zeitliche Gewichtung zwischen den Sphären. Einen entscheidenen Entwicklungsschritt stellt in dieser Hinsicht die Einführung der 5-Tage-Woche dar (vgl. Egbringhoff 2007: 44). Der steigende Wohlstand und die damit indirekt verbundene Zunahme postmaterialistischer Wertvorstellungen, bewirkte nach Sauer gerade in den siebziger Jahren die Auseinandersetzung mit den qualitativen Ansprüchen an Arbeit (vgl. Sauer 2011: 20). Körperliche Belastungen etwa sollten verringert und die bis dahin extrem restriktiven Arbeitsbedingungen gelockert werden (vgl. Sauer 2011: 20). Diese Verbesserungen der Arbeitsbedingungen strahlen zuletzt auch bis in die lebensweltliche Sphäre aus. Insbesondere die Verringerung des körperlichen Verschleißes hat starken Einfluss auf die Gestaltung der lebensweltlichen Konstruktion der Subjekte. Die achtziger Jahre brachten in dieser Hinsicht, geprägt durch das politisch veranlasste Programm der „Humanisierung des Arbeitslebens“, weitere Fortschritte (Sauer 2011: 20). Es muss dazu wieder beachtet werden, dass auch der gesellschaftliche Wertewandel weiter fortschreitet. Dieser muss im Sinne einer ganzheitlichen Erfassung der sich verändernden gesamtgesellschaftlichen Bedingungen berücksichtigt werden. Ulrich Beck erfasst diesen Prozess 1986 unter seiner Individualisierungsthese.
„Es entstehen der Tendenz nach individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst – um des eigenen materiellen Überlebens willen – zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen“ (Beck 2003: 116f).
Beck beschreibt also den Prozess einer Pluralisierung von Lebenslagen (vgl. Egbringhoff 2007: 44). Auch in der lebensweltlichen Sphäre verfallen zunehmend Strukturierungsmuster, die als Orientierung dienen konnten und wichtig waren für den Prozess der Vergesellschaftung der Subjekte. Zudem ist die steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen, insbesondere seit den achtziger Jahren ein weiterer entscheidender Faktor. Basierte doch die funktionale Verstrickung der Sphären auch auf der Rollenverteilung zwischen Frau und Mann (vgl. Oschmiansky f. bpb.de, 07.03.2016). In den neunziger Jahren beschreibt Julia Egbringhoff die weitere Entwicklung als geprägt von einem „Flexibilisierungsschub“ in Bezug auf die Arbeitszeit (Egbringhoff 2007: 45). Arbeitnehmer bekamen dadurch beispielsweise auch über die Gleitzeit hinaus noch höhere Gestaltungsmöglichkeiten für ihre Arbeitszeit. Bei allen Vorteilen, die sich für die Arbeitnehmer ergaben, diente die rechtliche Flexibilisierung der Arbeitszeit seit den achtziger Jahren jedoch vorwiegend auch der Arbeitsplatzsicherung in wirtschaftlichen Krisenphasen (vgl. Egbringhoff 2007: 45). Zudem stieg der Anteil der absoluten Erwerbsbeteiligung der Frauen mit der Wiedervereinigung deutlich an, da in den ehemals ostdeutschen Bundesländern die Erwerbsbeteiligung von Frauen traditionell höher lag, als in Westdeutschland (vgl. Henninger 2004: 145).
Seit der Trennung der Sphären ist das Verhältnis zwischen diesen also nicht unverändert geblieben. Vor allem die arbeitsorganisatorischen Veränderungen haben dieses stark beeinflusst. Die Struktur an sich ist aber erhalten geblieben und erfüllt immer noch eine entscheidende Integrationsleistung im Kontext konkurrierender Anforderungen. Es zeigt sich aber auch, dass der gesellschaftliche Wertewandel berücksichtigt werden muss, mit dem beispielsweise auch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen einherging. Zudem beeinflussen diese Veränderungen, beispielsweise in Form von gestiegenen Ansprüchen seitens der Subjekte an die Qualität von Arbeit, ebenfalls die Erwerbssphäre. Bei der vorliegenden Zusammenfassung muss jedoch beachtet werden, dass die historische Entwicklung einer Trennung von Arbeit und Leben sich erst mit der Industrialisierung entwickelte. Gerade die räumliche und zeitliche Trennung der Arbeitssphäre von allen übrigen lebensweltlichen Belangen, subsumiert unter dem Begriff Leben, hat in der Form also keineswegs einen tieferen historischen oder sonstigen Ursprung. Zudem konnte gezeigt werden, dass eine Untersuchung der Subjekte jeweils isoliert in einer Sphäre nicht gegenstandsangemessen sein kann. Auf die frühere Entwicklung des Verhältnisses von Arbeit und Leben soll im nächsten Abschnitt bezogen auf die Theorien der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit eingegangen werden, wodurch gleichzeitig eine subjektorientierte Perspektive auf Arbeit und Leben hergeleitet wird.
2.2 Die neuen Anforderungen der deutschen Arbeitsgesellschaft
Die Theorie der Entgrenzung von Arbeit beschreibt die Auswirkungen der neuen Rationalisierungsansätze in den Unternehmen, die sich vor allem durch die Tertiarisierung sowie den im Zuge der Globalisierung gestiegenen Wettbewerbsdruck entwickelten (vgl. Klös et al. 2009: 21). „In den 90er Jahren vollziehen sich betriebliche Reorganisationsprozesse in einer bisher (in der Nachkriegszeit) unbekannten Qualität und Reichweite“, weshalb eben diese gesondert erläutert werden sollen (Voß et al. 1998: 133).
„Die Entgrenzung des Verhältnisses von ‘Arbeit und Leben’ bedeutet handlungstheoretisch gesehen eine Entstrukturierung handlungsstabilisierender Orientierungen des Alltags, auf die von den Subjekten mit aktiven “Restrukturierungen” ihrer Lebensführung geantwortet werden muss“ (Kleemann et al. 1999: 18).
Die Theorie der Entgrenzung von Arbeit beschreibt also Prozesse auf Strukturebene und die der Subjektivierung von Arbeit Prozesse auf Ebene der handelnden Subjekte (vgl. Jürgens 2009: 68). Jedoch wird mit den Theorien nicht nur retrospektiv eine Entwicklung erfasst, sie werden auch genutzt um auf Basis der festgestellten Veränderungen Prognosen für die Zukunft zu ermöglichen. Es soll dabei als grundsätzlich angesehen werden, dass Struktur- und Handlungsebene als vermittelt zu denken sind (vgl. Heiden et al. 2013: 24). Die Konstitution von Arbeit und das jeweilige Handeln der Subjekte beeinflussen sich in diesem Kontext wechselseitig. Doch was sind die Merkmale der Entgrenzung von Arbeit und inwiefern lässt sich eine Subjektivierung von Arbeit feststellen?
2.2.1 Die Entgrenzung von Arbeit
Die eingangs beschriebene sphärische Trennung diente der funktionalen Strukturierung der Lebensbereiche. Es ergibt sich damit eine Grenze zwischen der Arbeitssphäre und der Lebenssphäre. Laut der Theorie der Entgrenzung von Arbeit ist diese Grenze einer zunehmenden Verwischung und Erosion ausgesetzt. Nach Voß sind vor allem die Sozialdimensionen Zeit, Raum, Hilfsmittel/Technik, Arbeitsinhalt/Qualifikation, Sozialorganisation sowie Sinn/Motivation von einer Entgrenzung betroffen (vgl. Voß 1998: 479). An dieser Stelle soll auf die arbeitsorganisatorischen Veränderungen, die für die Sozialdimensionen Zeit, Raum, Sinn/Motivation sowie Hilfsmittel/Technik beschrieben werden, exemplarisch eingegangen werden.
Erstens bedingen etwa „[...] exzessive Gleitzeit, regelmäßige informelle Mehrarbeit [...]“ und permanente Erreichbarkeit in der Dimension Zeit, dass eine „Verwischung“ zeitlicher Grenzen zwischen den Sphären stattfindet (Voß 1998: 479). Wie in einer von Forsa durchgeführten Befragung aus dem Jahr 2008 unter abhängig Beschäftigten zu erkennen, ist dies als subjektiv empfundene Arbeitsbelastung auch heute tatsächlich präsent. 48 Prozent der Befragten gaben an, es als Belastung zu empfinden, auch außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit erreichbar zu sein (Graphik 3).
Zweitens entwickle sich eine Erosion der räumlichen Grenzen beispielsweise durch Arbeit im „Home-Office“ oder „[...] häufig wechselnde Einsatzorte bei Projektarbeit [...]“ (Voß 1998: 479). Hierzu lassen sich aktuell durchaus ambivalente Erkenntnisse feststellen. Bei abhängig beschäftigten Angestellten beispielsweise, arbeitet nahezu die Hälfte in verschiedenem Umfang auch von Zuhause (Graphik 4). Das Interesse in der deutschen Bevölkerung von Zuhause aus zu arbeiten, scheint aber grundsätzlich abzunehmen, wie eine Befragung von IfD Allensbach zeigt. 2013 interessieren sich nur noch 16,7 Prozent für die technische Entwicklung, die es ermöglichen würde von Zuhause aus zu arbeiten (Graphik 5). Eine Befragung, die im Auftrag Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V., kurz Bitkom, durchgeführt wurde, liefert scheinbar dem widersprechende Ergebnisse. So gaben 41 Prozent der Befragten an, dass sie lieber auch einige Tage von Zuhause arbeiten zu würden (Graphik 6). Grundsätzlich ist diese Prognose der Entgrenzung schwer zu erfassen, da eine Operationalisierung, gerade aufgrund der vielfältigen Faktoren, für quantitative Untersuchungen sehr schwierig ist. Dies zeigen auch die unterschiedlichen Ansätze bei den Befragungen, die zudem eben auch mit unterschiedlichen Fallzahlen arbeiten. Die Zahl der Personen, die beispielswiese tatsächlich im Homeoffice arbeiten, ist laut dem DAK Gesundheitsreport von 2013 mit etwas über 20 Prozent noch sehr gering (Graphik 7). Es scheint als würden auch die Arbeitnehmer eine erweiterte räumliche Flexibilität durchaus befürworten. Jedoch ist diese auch mit gewissen technischen Anforderungen verbunden, für die das Interesse abzunehmen scheint. Die Technikaffinität scheint in dieser Verbindung eine gewisse Rolle zu spielen.
Indirekt mit einer räumlichen Entgrenzung ist drittens die Entgrenzung durch Hilfsmittel und Technik verbunden. So fände über die privaten Räumlichkeiten hinaus auch eine zunehmende Nutzung privater Hilfsmittel, wie zum Beispiel vorhandene EDV und Kommunikationssysteme, statt (vgl. Voß 1998: 479). Dies bedinge eine „Durchmischung des privaten und betrieblichen Besitzes von Arbeitsmitteln und ihrer Nutzung [...]“ (Voß 1998: 480). Auch dies lässt sich nur schwierig erfassen, möglicherweise indirekt über den Anteil der Personen, die im Homeoffice arbeiten und somit auch mit hoher Wahrscheinlichkeit auf private Ressourcen zurückgreifen müssen. Direkte Statistiken hierzu lassen sich dementsprechend noch nicht finden.
Viertens gäbe es eine Zunahme von Motiven, deren Bedienung aus dem lebensweltlichen Kontext hinaus auch in der Arbeitssphäre angestrebt wird. Zu diesen Motiven können das Knüpfen von Sozialkontakten oder die reine fachliche Faszination gehören (vgl. Voß 1998: 479). Diese würden von den Unternehmen im Zuge neuer Rationalisierungsansätze auch als Ressourcen erkannt. „Hinzu kommt, daß [sic!] zunehmend die Berufssphäre zu einer Lebenssphäre eigener Qualität wird und das ehemalige Privatleben als funktionaler Hintergrund für die Erwerbstätigkeit dienen muß [sic!]“ (Voß 1998: 479). Dies lässt sich gerade bei den jüngeren Personen in Deutschland erkennen, wie einen von IfD Allensbach durchgeführte Studie zeigt. 62 Prozent der Befragten geben an, dass es für sie außerordentlich wichtig ist einen Beruf zu haben, der sie erfüllt und ihnen Spaß macht (Graphik 8). In der Umfrage ist dies immerhin der Punkt mit der dritthöchsten Zustimmung. Es ist zu vermuten, dass dieser Wert bei jungen Menschen in Deutschland tendenziell höher ist, da sie noch frei von weitreichenden, vor allem finanziellen, Verpflichtungen sind. Trotzdem darf der Wert als aussagekräftig gelten, denn es geben beispielweise nur 19 Prozent an, dass es für sie von außerordentlicher Wichtigkeit ist, besonders viel zu verdienen (Graphik 8).
Es ist festzuhalten, dass die direkt wirkenden arbeitsorganisatorischen Begrenzungen abzunehmen scheinen und dies zum Teil auch von den Subjekten gefordert wird. Es darf also gesagt werden, dass die Theorie der Entgrenzung von Arbeit, obwohl schon älter, den arbeitsorganisatorischen Wandel prognostisch relativ gut zu erfassen scheint. „Infolge dieser Entwicklungen verändert sich ebenso das Verhältnis von Produktion und Reproduktion, das heißt die im Fordismus angelegte strikte Trennung der Erwerbs- und Privatsphäre steht nun weitgehend zur Disposition" (Egbringhoff 2007: 110). Dies soll gelten dürfen, auch wenn die empirische Erfassung teils schwierig ist und sich nur erste Tendenzen erkennen lassen. Jürgens verweist aber im Zusammenhang der Trennung der Sphären darauf, dass sich zwar neue Verbindungslinien zwischen diesen bestehen, aber deren grundsätzliche Funktionslogik davon weitgehend unangetastet bleibt (vgl. Jürgens 2009: 67). Hier wird also die strukturelle Reichweite der durch die Theorie beschriebenen Veränderungen angezweifelt. Dennoch erweist sich die Theorie für die Zwecke dieser Arbeit als sehr ergiebig, da ihre prognostische Leistung durchaus gegeben scheint. „Entgrenzung von Arbeit fasst demnach eine arbeitskraftorientierte Rationalisierungsstrategie, die einen stärkeren Zugriff auf Subjektivität der Beschäftigten und deren lebensweltliche Ressourcen intendiert" (Egbringhoff 2007: 107).
2.2.2 Die Herleitung einer subjektorientierten Perspektive
Die Subjektivierung von Arbeit ergibt sich aus den veränderten Anforderungen, die die Entgrenzung von Arbeit bedingt (vgl. Egbringhoff 2007: 115). Die Subjektivierung von Arbeit soll aber nicht nur als ein einseitig ablaufender durch betriebliche Reorganisationsmaßnahmen bedingter Prozess verstanden werden. Der beschriebene Wertewandel bewirkt auch, dass die Erwerbstätigen umgekehrt ihrerseits subjektive Leistungen in die Erwerbssphäre einbringen. Frank Kleemann, Ingo Matuschek und G. Günter Voß bezeichnen dies als „reklamierende Subjektivierung“ (Kleemann et al. 1999: 33). Doch die Verwischung und Erosion alter Grenzen bedingt, wie bereits erwähnt, dass die Individuen diese nun selbst setzen müssen. Die Subjekte stehen also vor der Herausforderung, die durch die sphärische Trennung geprägte Fremdorganisation und starke Strukturierung ihres Lebens, nun selbst zu leisten.
Die Prozesse der Subjektivierung von Arbeit ist sehr stark an die Transformationsproblematik gekoppelt. Voß und Pongratz setzen in ihrem viel zitierten Aufsatz „Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der ‚Ware’ Arbeitskraft“ ebenfalls hier an. „Das für den Betrieb unvermeidbare Transformationsproblem wird nun gezielt und systematisch verstärkt in die personale Umwelt des Betriebes externalisiert “ (Voß et al. 1998: 138). Die Transformation meint hier, dass die potentielle Arbeitskraft der Arbeitnehmer erst in eine bestimmte Leistung transformiert werden muss (vgl. Voß et al. 1998: 137). Dies war zuvor in der industriell geprägten Arbeitswelt mittels fixer Strukturen geleistet worden. Mittlerweile sind aber 74 Prozent der deutschen Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor tätig (bmwi.de a, 05.03.2016). Dienstleistungsarbeit ist dabei vor allem durch eher kopflastige Arbeiten geprägt, wohingegen die industriell geprägten Arbeiten vorwiegend körperlichen Einsatz fordern. Konnte industriell geprägte Arbeit, zum Beispiel durch Fließbandarbeit organisiert und auch rationalisiert werden, lässt sich diese Form der Arbeitsorganisation auf kopflastige Arbeit nur schwer übertragen. „Mit den ökonomischen Veränderungen der 80er und 90er Jahre erweisen sich jedoch solche eng kontrollierten, direkten Arbeitskraftnutzungsstrategien zunehmend als unzureichend, um die angestrebten Produktivitätssteigerungen zu erreichen“ (Voß et al. 1998: 138). Im Zuge der Externalisierung werden nun diese arbeitsorganisatorischen Leistungen auf das Subjekt übertragen. Arbeitnehmer stehen vor der Herausforderung, die für das Transformieren ihrer latenten Arbeitskraft in fertige Arbeitsleistung nötige Organisation selbst zu erbringen (vgl. Voß et al. 1998: 139). Auf struktureller Ebene drückt sich eben dies in der Entgrenzung von Arbeit aus. Denn um die Selbstorganisation der Subjekte zu ermöglichen, die von diesen auf der anderen Seite auch eingefordert wird, müssen vor allem die Unternehmen alte arbeitsorganisatorische Strukturen auflösen respektive flexibilisieren.
Voß und Pongratz vermuten, dass die Externalisierung der Transformationsfunktion konkrete Effekte auf die Subjekte hat. Erstens müssen die Subjekte eine „[...] qualifizierte Vorkontrolle durch erweiterte Selbstorganisation [...]“ leisten (Voß et al. 1998: 141). Dies gilt für alle Sozialdimension, die im Rahmen der Theorie der Entgrenzung von Arbeit erläutert wurden. Die durch die Entgrenzung verwischten und erodierten Grenzen, erfordern nun eine aktiv selbst gestaltete Restrukturierung durch die Subjekte. Beispielsweise muss der Arbeitnehmer selbst sowohl die Arbeitszeit in sich als auch deren Verhältnis zu den anderen funktionalen Bereichen der Lebenssphäre strukturieren. Dies führe zweitens dazu, dass die Subjekte ihre eigene Arbeitskraft aktiv selbst vermarkten müssen (vgl. Voß et al. 1998: 142). Da also die Arbeitskraft der Subjekte nicht mehr durch die arbeitsorganisatorischen Strukturen der Unternehmen erfasst wird, werden sie zunehmend selbst Marktmechanismen ausgesetzt. Sie müssen ihre eigene Arbeitskraft möglichst effizienzorientiert organisieren, damit sie diese aktiv innerhalb und auch außerhalb des Unternehmens vermarkten können (vgl. Voß et al. 1998: 142). Voß und Pongratz sprechen dabei von einer „(doppelten) Selbstökonomisierung“ (Voß et al. 1998: 142). Diese Unterordnung unter die Marktmechanismen bedinge drittens auch die geplante Organisation aller Produktionsfaktoren analog zu einem Betrieb, was die als Selbstrationalisierung bezeichnen (vgl. Voß et al. 1998: 143). Eine effizienzorientierte Durchgestaltung des eigenen Lebens kann sich dementsprechend nicht in einer abgegrenzten Erwerbssphäre erschöpfen (vgl. Voß et al. 1998: 144). Es wird auf alle Ressourcen zugegriffen, beispielsweise auf Sozialkontakte, die von den Subjekten hinsichtlich ihrer ökonomischen Verwertbarkeit analysiert werden (vgl. Voß et al. 1998: 144).
Mit der Theorie der Subjektivierung, hergeleitet mit Hilfe des Konzeptes des Arbeitskraftunternehmers, konnte gezeigt werden, wie neue arbeitsorganisatorische Maßnahmen und eine veränderte Wertorientierung in Bezug auf Erwerbsarbeit die Konstitution von Arbeitskraft verändern könnten.
„‚Subjektivierung von Arbeit’ im Hinblick auf die Relation von ‚Arbeit und Leben’ meint hier, dass auf historisch neuem Niveau aktive Leistungen der Arbeitenden zur Gestaltung des Verhältnisses verschiedener Tätigkeitssphären in ihrem Alltag unabdingbar werden, um die notwendige Erwerbstätigkeit wie auch die erforderliche Reproduktion ihrer Arbeitskraft praktizieren zu können“ (Kleemann et al. 1999: 19).
Aus theoretischer Sicht ist festzuhalten, dass die Öffnung für eine subjektorientierte Perspektive entscheidend für den folgenden Abschnitt ist. Denn finden arbeitsorganisatorische Leistungen nicht mehr auf Strukturebene statt, sondern vermehrt auf Ebene der Subjekte, muss sich die Perspektive der Analyse besonders auch auf diese Ebene richten. „Insofern gilt für entgrenzte Arbeit in besonderer Weise eine subjektorientierte und integrative - also Erwerbsarbeit und Privatsphäre als Analyseeinheit zu betrachtende - Perspektive einzunehmen" (Egbringhoff 2007: 107).
2.3 Das Zwischenfazit
Durch die Erläuterungen der Theorien der Entgrenzung und der Subjektivierung von Arbeit konnten arbeitsorganisatorische Veränderungen aufzeigt werden, die zum Teil schon jetzt erkennbar sind. Sie sind verbunden mit gestiegenen Anforderungen an die Subjekte, die, bezogen auf die Erwerbsarbeit, eine erweiterte Selbstorganisation leisten müssen. Wie sie diese bewältigen und inwiefern damit ein neues Maß auch an Belastungen verbunden ist, wird im nächsten Kapitel untersucht werden. Die Erkenntnisse, die sie liefern, sind jedoch für die Entwicklung arbeitspolitischer Maßnahmen hinsichtlich ihres prognostischen Gehalts für die zukünftige Organisation von Arbeit enorm wertvoll.
Die Aufarbeitung der bisherigen Konstitution von Arbeitskraft in der deutschen Arbeitsgesellschaft diente insgesamt dazu aufzuzeigen, inwiefern seit der gesellschaftlichen Etablierung der sphärischen Trennung, Veränderung der Grenzen und Wechselwirkungen zwischen diesen stattgefunden haben. Eine Aufhebung der funktionalen Verschränkung der sphärischen Grenzen kann aber noch nicht festgestellt werden. Dies liegt aber vorwiegend daran, dass beide Theorien insofern ihre Grenzen erreichen, als dass sie sich fast ausschließlich mit Veränderungen der Erwerbssphäre und den damit verbundenen Auswirkungen beschäftigen. Jürgens verweist bei ihrer Analyse der Theorie der Subjektivierung von Arbeit jedoch auf den Fakt, dass Reproduktionsarbeit schon immer selbstbestimmter gestaltet werden konnte und insofern als „subjektivierter“ bezeichnet werden darf (Jürgens 2009: 76). „Über die Analyse von Hausarbeit, Sorgearbeit oder Eigenarbeit ließe sich insofern feststellen nach welchen Regeln das Zusammenspiel von Subjektivität und Arbeit unabhängig von betrieblicher Verwertungslogik abläuft“ (Jürgens 2009: 76).
Für die Entwicklung von zukünftigen Maßnahmen, muss gerade, wenn sie auf einen Bereich wie Arbeitspolitik beschränkt bleiben, trotzdem ein ganzheitlicher Ansatz zu Grunde gelegt werden, der sowohl strukturelle als auch subjektive Faktoren erfasst. Die strukturellen Bedingungen von Erwerbsarbeit und deren mögliche Entwicklung konnten vor allem mit der Theorie der Entgrenzung erfasst werden. In Kombination mit einer ganzheitlichen Analyse des subjektiven Lebenszusammenhanges können dann aus einer salutogenetischen Perspektive Maßnahmen entwickelt werden, die arbeitsorganisatorische Verbesserung im Kontext sich verändernder Bedingungen von Erwerbsarbeit bewirken und so vor allem den Erhalt Arbeitskraft auch in Zukunft sicherstellen. Zudem soll die beschriebene Verschmelzung der Sphären als eine Reintegration der kategorialen Trennung von Arbeit und Leben verstanden werden (vgl. Kleemann 2003: 44). Mit dieser Einordnung in den historischen Kontext gelingt es gleichzeitig auch eine Perspektiverweiterung hinsichtlich der positiven Effekte dieses Prozesses zu leisten. Entgrenzung und Subjektivierung sollen dem nach nicht nur als tendenziell Arbeitskraft gefährdende Phänomene verstanden werden. Nun soll mit der Beschreibung der Reproduktion als individuelle Leistung endgültig ein ganzheitlicher Ansatz für die spätere Analyse aufgezeigt werden.
3. Die Reproduktion als individuelle Leistung
Die Anforderungen an die Subjekte haben sich verändert und sind dabei vermeintlich in ihrer Belastungsintensität gestiegen. Im Folgenden soll geprüft werden, inwiefern neue Belastungen zu einem Verfall von Arbeitskraft führen könnten. Dafür wird gemäß dem ganzheitlichen Ansatz sowohl die strukturelle Ebene als auch die Subjektebene betrachtet. Daran anschließend wird dann der konzeptionelle Rahmen für Untersuchung der Reproduktion von Arbeits- und Lebenskraft erläutert, der es in diesem Kontext ermöglichen soll Erkenntnisse über Reproduktionspraktiken zu erhalten.
3.1 Verfall von Arbeitskraft?
„Der Einsatz von Arbeitskraft stellt jedoch nicht nur aus Sicht der Subjekte eine relevante Aufgabe in Alltag und Lebenslauf dar, sondern berührt, da er die Angebots- und Leistungsseite von Arbeitskraft betrifft, stets auch die Interessen von Unternehmen und Sozialstaat“ (Jürgens 2009: 193). Jürgens stellt hier die unmittelbare Verbindung vom individuellen Einsatz von Arbeitskraft und deren Auswirkungen auf struktureller Ebene her. Doch inwiefern lässt sich ein Verfall von Arbeitskraft feststellen?
Im Zuge des demografischen Wandels wird eine zunehmende Alterung, also die Zunahme des Anteils der älteren Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung, der deutschen Bevölkerung prognostiziert. So soll der Teil der Bevölkerung mit einem Alter von 65 Jahren oder älter laut Prognose des Statistischen Bundesamts von 21 Prozent 2009, bis 2060 auf 34 Prozent steigen (Graphik 2). Strukturrelevant ist dieser Faktor in arbeitsorganisatorischer Hinsicht vor allem deshalb, weil dadurch die zukünftig vorhandene Gesamtarbeitskraft in Deutschland verringert wird. Denn die Steigerung der Zahl von Personen, die sich im Renteneintrittsalter von 65 beziehungsweise 67 befinden, bedeutet dann gleichzeitig auch die Verringerung des Anteils der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung (deutsche-rentenversicherung.de, 05.03.2016). Vorausgesetzt es gehen nicht übermäßig viele Personen einer Erwerbsarbeit über das Renteneintrittsalter hinaus nach. In Deutschland liegt das durchschnittliche reale Renteneintrittsalter zurzeit aber tatsächlich noch unter dem gesetzlichen (de.statista.com, 05.03.2016). Auf staatlicher Seite wird darauf mit Maßnahmen zur „ biologischen Reproduktion “ und zur „ sozialen Reproduktion “ reagiert (Jürgens 2009: 193). Das heißt, es werden einerseits Anreize zur Familiengründung und damit zum „[...] Erhalt der Gruppe von ‚Einzahlern’ in die Sozialversicherungssysteme [...]“ gesetzt (Jürgens 2009: 193). Andererseits wird, wie beschrieben, das Renteneintrittsalter heraufgesetzt und es wird versucht, das frühzeitige Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt zu verhindern (vgl. Jürgens 2009: 193). Auf Seite der Unternehmen geht es auch schon lange nicht mehr nur um die reine Humanisierung der Arbeit. Der Trend zur aktiven Unterstützung der Harmonisierung von Lebensbereichen und somit auch dem erweiterten Versuch der Reproduktionsunterstützung, wird allgemein unter dem Begriff „Work-Life Balance“ zusammengefasst. Dabei wird auf „[...] Fitnessstudios im Betrieb, Supervisionsangebote oder Zeitmanagementseminare [...]“ gesetzt (Jürgens 2009: 165). Die Unternehmen erhoffen sich dadurch eine Steigerung der Leistungsfähigkeit zu bewirken, beziehungsweise diese dauerhaft auf einem hohen Niveau halten zu können.
Hat man also auf struktureller Ebene zum Teil erkannt, dass der Verfall von Arbeitskraft in verschiedener Hinsicht problematisch ist und man Gegenmaßnahmen einleiten muss, stellt sich die Frage nach der individuellen Ebene. Jürgens verweist in diesem Zusammenhang auf die Statistiken der Krankenkassen, die belegen „[...] dass ein Anstieg solcher Krankheiten zu verzeichnen ist, die sich meist verzögert, d. h. nach einem dauerhaften Überschreiten und Ausreizen von Leistungsgrenzen ergeben [...]“ (Jürgens 2009: 197). Zu diesen Krankheiten gehören auch Burnout-Erkrankungen. Auch heute ist das Krankheitsbild noch nicht genau definiert. Esser bezieht sich in ihrer Arbeit „Gender und Burnout“ auf die Forscher Christina Maslach und Wilma B. Schaufeli. „Burnout sei als Maladaption an berufliche Anforderungen zu verstehen, wohingegen beruflicher Stress noch die erfolgreiche Adaption beinhalte“ (Esser 2016: 7). Der Fehlzeitenreport 2015 zeigt, dass seit 2004 die Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund von Burnout-Erkrankungen bei AOK-Mitgliedern fast stetig steigen (Graphik 9). Noch aussagekräftiger ist das Verhältnis der Werte, die sich 2004 und 2015 ergeben. In diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Arbeitsunfähigkeitsfälle mehr als verachtfacht. Dies geht einher mit den bereits beschriebenen Daten der Befragung zum Thema Arbeitsbelastungen, die vor allem Arbeitsbelastung wie Zeitdruck und mangelnde Abgrenzung der zum lebensweltlichen Bereich aufzeigen (Graphik 3). Die Hypothese, dass diese in Verbindung mit den neuen Anforderungen aufgrund des arbeitsorganisatorischen Wandels stehen, kann im begrenzten Rahmen dieser Arbeit nur angedeutet, aber nicht bestätigt werden.
Für den weiteren Verlauf dieser Arbeit wird also angenommen, dass die Problematik eines Verfalls von Arbeitskraft durchaus gegeben ist und auch auf struktureller Ebene bereits erkannt wurde. Auf individueller Ebene zeigen sich, wie beschrieben, Folgen der gestiegenen Anforderungen an die Subjekte. Inwiefern und auf welche Art und Weise die Subjekte darauf reagieren und sogar auf individueller Ebene mit Maßnahmen gegensteuern, muss eben gesondert erfasst werden. Das Konzept dafür wird im folgenden Abschnitt erläutert werden.
3.2 Die Reproduktion der Arbeits- und Lebenskraft
Der zunehmende Verschleiß, nicht nur von Arbeitskraft, sondern auch von Lebenskraft, wahrscheinlich ausgelöst durch gestiegenen Anforderungen an die Subjekte, bedingt auch höhere Anforderungen an die Wiederherstellung dieser. „Die Reproduktion von Arbeits- und Lebenskraft zielt auf die Wiederherstellung von Leistungsfähigkeit für die unterschiedlichen Lebensbereiche“ (Jürgens 2009: 203). Damit sind besondere Fähigkeiten der Subjekte gemeint, die sich jeweils bezogen auf die Arbeitskraft und Lebenskraft unterscheiden, so die Annahme. Die Subjekte sorgen damit für die „[...] Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit in allen Bereichen des Sozialen“ (Heiden et al. 2013: 37). Es wurde also die Perspektive eines salutogenetischen Ansatzes gewählt, der von Aaron Antonovsky theoretisch fixiert wurde (vgl. Heiden et al. 2013: 33). „Mit ‚Salutogenese’ bezeichnet Antonovsky eine Konzeption, die das Entstehen und Aufrechterhalten des Gesundseins beschreibt“ (Brinkmann 2014: 34). Anders als bei der Pathogenese steht also hier im Vordergrund, wie die Subjekte es schaffen den Anforderungen respektive Belastungen gerecht zu werden und dabei ebenfalls gesund zu bleiben. Zuerst erfolgt nun eine abstrakte Beschreibung von Reproduktion, bevor im Zuge der Unterscheidung von Arbeits- und Lebenskraft Beispiele für reproduktives Handeln genannt werden.
Reproduktion muss von den Subjekten aktiv gestaltet werden, ist dabei aber auch strukturell geprägt. Dadurch bildet sich konzeptionell ein Handlungsspielraum für die Subjekte, für den die Kompetenz zur Reflexion der individuellen Lebenslage besonders wichtig ist (vgl. Jürgens 2009: 202). Dieser ist, wie anhand der Theorien beschrieben, vermeintlich gewachsen. Im Kontext verschiedener Anforderungen können die Subjekte sich darüber stabilisieren (vgl. Heiden et al. 2013: 37). Die Reproduktion stellt also eine „Meta-Kompetenz“ dar, die auf Makro- und Mikroebene wirksam ist (Jürgens 2009: 207).
Auf Basis des Konzepts, das Heiden und Jürgens im Zuge ihrer Studie „Kräftemessen“ entwickelt haben, werden Arbeitskraft und Lebenskraft als unterschiedliche analytische Objekte definiert. Die Reproduktion als Arbeitskraft umfasst erstens die Fähigkeit, „die Anforderungen aus widersprüchlichen Bereichen zu harmonisieren und in die alltägliche Lebensführung zu integrieren“ (Heiden et al. 2013: 38). Zweitens ist die Reflexion der eigenen Anforderungslage und den damit verbundenen Gefährdungen für die eigene Reproduktion eine Fähigkeit in Bezug auf Arbeitskraft (vgl. Heiden et al. 2013: 38). So ist zum Beispiel die Einhaltung klarer, selbstdefinierter Arbeitszeiten, in der bewusst auch auf informelle Mehrarbeit verzichtet wird, dieser Art von Reproduktion zuzuordnen.
Auch für die Reproduktion der Lebenskraft ist die Selbstreflexion eine entscheidende Fähigkeit. Der Erhalt der Lebenskraft bildet die Basis für Arbeitskraft, denn durch sie stabilisiert sich das Subjekt umfassend und kann sich von Beanspruchungen aus allen Handlungskontexten regenerieren (vgl. Heiden et al. 2013: 39). „Die Person braucht hierfür – so ließe sich idealtypisch beschreiben – ein solides Wissen um sich selbst, d. h. um eigene Leistungsfähigkeiten ebenso aber auch Regenerationsbedürfnisse“ (Heiden et al. 2013: 39). So kann zum Beispiel das eigene Wissen um das Bedürfnis der sportlichen Betätigung zur Regeneration entscheidend sein. Dies im Kontext einer voraussetzungsvolleren Alltagsorganisation im Alltag umzusetzen, ist eine Fähigkeit zum Erhalt von Lebenskraft. Zum Beispiel könnte dies durch zusätzliche Sorgearbeit für ältere Verwandte bei gleichzeitiger beruflicher Einbindung eine besondere Herausforderung sein. Heiden und Jürgens betonen in dieser Verbindung auch die hohe Bedeutung sozialer Kontakte, die ebenfalls wichtig für die Stabilisation der Subjekte ist (vgl. Heiden et al. 2013: 39).
Durch den Abbau direkter arbeitsorganisatorischer Strukturen, die eben diese Reproduktion regulierten, wird dies aber immer mehr zu „[...] einem individualisierten Projekt“ (Heiden et al. 2013: 39). „Die Einbeziehung des außerbetrieblichen Lebenszusammenhangs kann dazu verhelfen, nicht nur der individuellen Fähigkeit zur Reproduktion als Arbeitskraft auf die Spur zu kommen, sondern [...] auch ‚private’ Arbeitserfahrungen auf ihren Einfluss auf erwerbsbezogenes Arbeitshandeln hin zu prüfen“ (Jürgens 2009: 202). Dabei ermöglicht es die Untersuchung von individuellem Reproduktionshandeln und dem gesellschaftlichen Reproduktionsmodell erst, neuartige arbeitspolitische Maßnahmen zu entwickeln, da so auch deren Wechselspiel miteinbezogen werden kann (vgl. Heiden et al. 2013: 38).
3.3 Die Erkenntnis der Studie: Existenz bestimmter Handlungsmuster
Heiden und Jürgens untersuchten die Reproduktion, mittels des beschriebenen Konzeptes, bei abhängig Beschäftigten. Eine wichtige Erkenntnis dieser Untersuchung war, dass es scheinbar gewisse Muster gibt, die sie als „stabilisierende Fluchtpunkte“ bezeichnen (Heiden et al. 2013: 160). „Das, was die Beschäftigten im Kern stabilisiert, steckt also nicht in den Tätigkeiten und Routinen an sich, sondern in dem, was die Beschäftigten damit subjektiv verbinden. Handeln und Interaktionen scheinen einem geheimen Plan zu folgen; [...]“ (Heiden et al. 2013: 162). Wie konnten sie das feststellen?
Sie bildeten aus dem Material heraus acht Kategorien, mit denen sie das Reproduktionshandeln erfassten und in einem zweiten Schritt auch typisierten (vgl. Heiden et al. 2013: 159). Diese sollen im Rahmen der Erläuterung der Auswertungsmethode vorgestellt werden. Ein Ergebnis der Typisierungen, die auf dieser Basis entwickelt wurden, waren die als stabilisierende Fluchtpunkte bezeichneten Reproduktionsmuster (Tabelle 1). Sie entwickelten damit sechs Reproduktionsmuster, schlossen aber nicht aus, dass es noch weitere Muster beziehungsweise Abweichungen gibt (vgl. Heide et al. 2013: 160). „Die Fluchtpunkte geben uns sowohl Auskunft darüber, in welcher Art und Weise die Person an Anforderungen herangeht und sich zu stabilisieren versucht (Reproduktionsstrategie), als auch darüber, woraus die Person immer wieder Kraft schöpft (Reproduktionsbedürfnis)“ (Heiden et al. 2013: 162). An dieser Stelle muss dann auch wieder die Bedeutung der (arbeitsorganisatorischen) Strukturen hervorgehoben werden. Denn ob und inwiefern die Reproduktion bei einer Person wiederum gelingt, hängt zu einem großen Teil auch von den Rahmenbedingungen des jeweiligen Lebenszusammenhangs ab (vgl. Heiden et al. 2013: 162). Auch hiermit wird noch einmal die hohe Bedeutung des sozialen Umfelds respektive der sozialen Einbindung deutlich. Außerdem betonen Heiden und Jürgens ein weiteres entscheidendes Merkmal der Fluchtpunkte: sie verlieren ihre stabilisierende Wirkung, wenn versucht werden würde, sie bewusst zu nutzen und zu optimieren (vgl. Heiden et al. 2013: 161). Sie entziehen sich damit einer kapitalistischen Verwertungslogik, was deren Analyse und arbeitsorganisatorischen Schutz nur um so bedeutender werden lässt. Die Existenz dieser Praktiken und die damit erweiterte Einsicht in die Wechselwirkungen von Arbeit und Leben, ist deswegen so wichtig, weil erkennbar wird welchen Beitrag die Subjekte zum Erhalt der Arbeitskraft liefern (vgl. Heiden et al. 2013: 161). Dies ermöglicht es einerseits arbeitspolitische Maßnahmen hinsichtlich konkreter Arbeitsbedingungen besser gestalten zu können, andererseits aber die Neugestaltung des Verhältnisses von Arbeit und Leben, indem auch die Reproduktion von Lebenskraft berücksichtigt wird (vgl. Heiden et al. 2013: 161).
Heiden und Jürgens stellen damit ein Konzept für die Analyse der subjektiven Funktionsweise von Reproduktion, das den gesamten Lebenszusammenhang der Personen miteinbezieht. Ausführliche Definitionen der einzelnen Fluchtpunkte mit ihren jeweiligen Merkmalen finden sich im Anhang (13.1.). Auf deren Basis wird auch die spätere Analyse stattfinden. Wandten Heiden und Jürgens dieses Konzept noch auf abhängig Beschäftigte an, soll es im Rahmen dieser Arbeit nun auf hochqualifizierte Alleinselbständige angewandt werden.
4. Das Untersuchungsfeld und Hypothesen: Hochqualifizierte Alleinselbständige im Bereich der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien
Nachdem nun der theoretische Rahmen dieser Arbeit fixiert wurde, soll nun das Untersuchungsfeld abgesteckt werden. Hierfür muss zuerst festgestellt werden, was abhängig Beschäftige und selbständige Formen von Arbeit unterscheidet (vgl. Voß et al. 1998: 135). Zudem müssen die besonderen Merkmale Alleinselbständiger erfasst werden, die diese von Selbständigen mit Angestellten beziehungsweise kleineren Betrieben unterscheidet. Abschließend soll in einem kurzen Überblick der Markt charakterisiert werden, in dem die hier zu untersuchenden Alleinselbständigen agieren.
Nach Voß und Pongratz lassen sich abhängig und unabhängig organisierte Arbeit faktisch hinsichtlich zweier Merkmale unterscheiden. Abhängig Beschäftigte sind arbeitsvertraglich gebunden an betriebliche Weisungen und sind existenziell abhängig vom Lohneinkommen (vgl. Voß et al. 1998: 135). Dies trifft auf Selbständige nicht zu, sie sind „[...] weder ökonomisch noch weisungsmäßig unmittelbar von betrieblichen Arbeitgebern abhängig [...]“ (Voß et al. 1998: 136). Zwar konnte mittels der Erläuterung der Theorien gezeigt werden, dass die Anforderungen an die Selbstorganisation der abhängig Beschäftigten gestiegen sind, jedoch ist im Bereich der Selbständigen „[...] zunächst von einer systematisch weitergehenden Autonomie der Arbeitenden auszugehen“ (Voß et al. 1998: 7). Im Handelsgesetzbuch findet sich dazu eine Abgrenzung, die sich unmittelbar auf den Faktor Selbstorganisation bezieht. „Selbständig ist, wer im wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit gestalten kann“ (gesetze-im-internet.de a, 15.04.2016). „Für die Gruppe der Ein-Person-Selbständigen ist die Anforderung der Selbstorganisation ein konstitutives Merkmal, ohne dass sie deshalb bei den Betroffenen einfach vorauszusetzen wäre" (Egbringhoff 2007: 110). Egbringhoff weist auf den wichtigen Fakt hin, dass die Alleinselbständigen sich diese auch erst aneignen müssen, beziehungsweise nicht jede Person die Fähigkeit dazu besitzt. Zudem weisen Voß und Pongratz bei ihrer Definition von Selbständigen in diesem Kontext daraufhin, dass auch formal Selbständige noch weitgehend abhängig erwerbstätig sein können (vgl. Voß et al. 1998: 136). Dies hänge zu einem großen Teil von der Anzahl der (wechselnden) Kunden ab (vgl. Voß et al. 1998: 136). Denn je weniger Kunden eine selbständige Person hat, desto höher ist die faktische Abhängigkeit von einzelnen Kunden. In dieser Verbindung weißt Egbringhoff daraufhin, dass unter die beschriebene Definition, viele verschiedene Erwerbstätigkeiten fallen können. „Der klassische Freiberufler im Bereich unternehmensbezogener Dienstleistungen (z. B. Beratungsdienstleistungen) fällt unter die Ein-Person-Selbständigen genau so wie der aus Arbeitslosigkeit gegründete Hausmeisterservice" (Egbringhoff 2007: 133). Insgesamt, so der kurze statistische Einblick, ist die Zahl der Alleinselbständigen in Deutschland laut Eurostat seit 1980 gestiegen, wobei ab 2000 der Anstieg besonders hoch ist (Brenke 2013: 4). Mittlerweile gibt es über 2,5 Millionen Alleinselbständige in Deutschland (Brenke 2013: 4).
Abschließend sollen Alleinselbständige dadurch gekennzeichnet werden, dass sie keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen und auf Basis jeglicher Unternehmensform tätig sein können (vgl. Egbringhoff 2007: 144). Voraussetzung muss hier aber sein, dass das Unternehmen im Falle einer Kapitalgesellschaft zu 100 Prozent der alleinselbständigen Person gehört oder die Leitung allein bei ihr liegt. Wie bereits angedeutet, muss aufgrund der Definition das Merkmal der starken Selbstorganisation und den daraus vermuteten weiteren Folgen, insbesondere für Alleinselbständigen gelten. „Die eigene Arbeitskraft der Ein-Personen-Selbständigen ist [...] das einzige Kapital, dessen Verausgabung in einer Unmittelbarkeit von Individuum und Markt steht" (Egbringhoff 2007: 140). Sie sind also per Definition viel stärker verschärften Marktbedingungen ausgesetzt als abhängig Beschäftigte (vgl. Egbringhoff 2007: 122).
Insofern dürfen Alleinselbständige als Pioniergruppe entgrenzter Erwerbsbedingungen gesehen werden (vgl. Egbringhoff 2007: 140). Sie eignen sich deshalb in besonderer Hinsicht für die Herleitung zukünftiger arbeitspolitischer Maßnahmen, da tatsächliche Arbeitskraftunternehmer noch nicht empirisch nachgewiesen werden konnten.
[...]
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