Migrantenselbstorganisationen und die Erfolgschancen ihrer Mitglieder

Potentiale der Nutzung von Sozialkapital und transnationalen Ressourcen. Lateinamerikanische Migranten in Deutschland


Magisterarbeit, 2013

109 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Stand der Migrationsforschung
2.1 Der Eingliederungsdiskurs in der Migrationsforschung
2.1.1 Erste Assimilationstheorien
2.1.2 Abkehr vom klassischen Assimilationsgedanken
2.1.3 Der deutsche Integrationsdiskurs
2.1.4 Neuere Ansätze
2.2 Der Sozialkapitalansatz in der Netzwerktheorie
2.2.1 Handlungen im Netzwerk
2.2.2 Der Sozialkapitalbegriff
2.2.3 Generierung von Sozialkapital
2.2.4 Negative Effekte von Sozialkapital
2.3 Transnationalismus
2.3.1 Das Konzept des Transnationalismus
2.3.2 Transnationale Identität
2.3.3 Transnationale Akteure und Strukturen
2.4 Probleme seitens der Aufnahmegesellschaft
2.4.1 Fremdenfeindlichkeit als gesamtgesellschaftliche Problematik
2.4.2 Die Konstruktion des Fremden
2.4.3 Ethnozentrismus
2.4.4 Nationale Identität und deutsche Besonderheiten

3 Migrantenselbstorganisationen in Deutschland
3.1 Typen und grundlegende Informationen
3.2 Die Debatte um die Migrantenselbstorganisationen
3.3 Migrantenselbstorganisationen und die deutsche Öffentlichkeit
3.3.1 Wechselwirkungen
3.3.2 Zur Unterscheidung von Privatem und Ö ffentlichem
3.3.3 Die ethnische Ö ffentlichkeit

4 Potentiale der Migrantenselbstorganisationen
4.1 Aufstiegschancen durch Interessenvertretung
4.2 Förderung von Transnationalität
4.3 Migrantenselbstorganisationen als Brückenbauer

5 Lateinamerikanische Migrantenselbstorganisationen in Deutschland
5.1 Lateinamerikanische Migration
5.1.1 Lateinamerika: Von der Einwanderungs- zur Auswanderungsregion
5.1.2 Die lateinamerikanische Migration nach Deutschland
5.1.3 Die lateinamerikanische Gemeinde in Deutschland
5.2 Forschungsdesign
5.2.1 Untersuchungsmethodik
5.2.2 Auswertungsverfahren
5.2.3 Auswahl der Interviewpartner
5.2.4 Durchführung der Interviews
5.3 CAARNE und Xochicuicatl: Zwei lateinamerikanische Migrantenorganisationen in Berlin
5.3.1 Grundlegende Daten
5.3.2 Zusammenarbeit mit anderen Organisationen
5.3.3 Grenzen der Arbeit
5.3.4 Netzwerke und Sozialkapital
5.3.5 Transnationalität
5.3.6 Abschließende Bewertung

6 Zusammenfassung und Fazit

Anhang I: Der Interviewleitfaden

Anhang II: Abschrift des Interviews mit CAARNE e.V

Anhang III: Abschrift des Interviews mit Xochicuicatl e.V

Anhang IV: Liste von weiteren untersuchten lateinamerikanischen MSOs in Deutschland

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Selbstorganisationen von Migranten1 (im Folgenden: MSOs) sind in Deutschland im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Diskurs bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Erfolgschancen ihrer Mitglieder im Aufnahmeland umstritten (vgl. Hunger 2008: 1). Trotz mehrerer empirischer Studien, die in den vergangenen Jahren durchgeführt wurden, wurde bislang kein Konsens darüber erzielt, ob die negativen oder die positiven Wirkungen, die von der Mitgliedschaft in einer MSO ausgehen, überwiegen (vgl. Pries 2013: 4). Als gängigstes Argument stellen ihre Befürworter die Ermöglichung der Selbsthilfe unter Migranten in den Vordergrund, in deren Rahmen die Organisationen als Interessenvertretung, Vermittler von Alltagswissen und interkulturellen Kompetenzen sowie als wichtige Quelle für emotionalen und finanziellen Beistand fungieren. Sie schreiben ihnen damit eine zentrale Rolle für die erfolgreiche Bewältigung des Migrationsprozesses zu. Von Seiten der Kritiker werden die MSOs dagegen eher als Integrationshürde und Wegbereiter von sogenannten „Parallelgesellschaften“ betrachtet. Die Einbindung in eine eigene ethnische Gemeinschaft - so viele Kritiker - habe einen mangelnden Kontakt zur Aufnahmegesellschaft zur Folge und leite somit angetrieben durch fehlende kulturelle und sprachliche Kenntnisse Segregationsprozesse in die Wege, die wiederum letztendlich geringere Erfolgschancen für die Migranten nach sich zögen.

Dabei ist die Debatte um die Erfolgschancen von Migranten in Deutschland eng mit dem Gedanken an ihre Integration bzw. Assimilation in die Aufnahmegesellschaft verknüpft. Dies gilt für Fürsprecher wie Kritiker der MSOs, deren gegensätzliche Positionen sich häufig im Grunde lediglich in ihrer jeweiligen Prognose bezüglich der Wirkung einer Binnenintegration auf die Integrationschancen von Migranten in die Aufnahmegesellschaft unterscheiden. In jüngerer Vergangenheit kam jedoch Bewegung in den Diskurs. So rückten eine Reihe neuer Ansätze und Forschungsperspektiven in den Fokus der Migrationsforschung, die in die Debatte eingeflossen sind und sie zunehmend befruchtet haben. Migrationsprozesse werden hiernach verstärkt als mehrdimensionale Phänomene verstanden, in deren Rahmen die Integration eine von vielen Facetten darstellt, die eine erfolgreiche Migrationsbiographie bedingen können.

Eines dieser neueren und umfassenderen Konzepte zur Analyse migrationsspezifischer Themen spiegelt sich in Begriffen wie dem der Transnationalität oder der hybriden Identität wider. Mit den Perspektiven, die sich hinter diesen Begriffen verbergen, wird der Versuch unternommen, neuartigen Formen von Migration, die fortschreitende Globalisierungsprozesse und technologischer Fortschritt mit sich gebracht haben, gerecht zu werden. Maßgeblich erscheint hierbei eine neu vorgenommene Bewertung von Fremdheit, die nicht mehr als bloßes Hindernis angesehen wird, welches es zu überwinden gilt, sondern auch als Quelle neuer Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund erscheint bei der Bewertung von MSOs der Aspekt einer gesteigerten Möglichkeit zur Nutzung von Ressourcen, die aus dem Unterschied zur ansässigen Gesellschaft herrühren, als interessanter Gedanke. Hierbei soll ausdrücklich nicht der Wert von integrativen Maßnahmen, wie beispielsweise des Spracherwerbs oder des Erlernens kultureller Codes der Aufnahmegesellschaft relativiert werden. Vielmehr spiegelt sich dabei die Erkenntnis wider, dass auch jenseits von Angleichungsstrategien Möglichkeiten zur Steigerung der Erfolgschancen von Migranten bestehen. Eine einseitige und komplette Assimilation der Migranten in die Aufnahmegesellschaft würde demnach mit dem Verlust migrantenspezifischer Ressourcen einhergehen.

Ein weiterer interessanter Ansatz zur Bewertung der Erfolgschancen von Migranten stammt aus der soziologischen Netzwerkforschung. Hierbei wird die Frage nach dem Sozialkapital von Migranten gestellt, welches die Ressourcen beschreibt, die aus den sozialen Verbindungen bzw. dem sozialen Netzwerk einer Person hervorgehen. Organisation und Netzwerke sind zwar unabhängig voneinander zu betrachten (vgl. Fuhse 2010a: 145), dennoch bieten Organisationen häufig einen Rahmen für die Bildung von persönlichen Netzwerken. Demnach kann die Frage nach dem Sozialkapital, welches Migranten aus den Strukturen ihrer Organisationen generieren, ein sinnvolles Kriterium zur Bewertung der Erfolgschancen darstellen, die von der Mitgliedschaft in einer Organisation herrühren Die Untersuchung der Frage, ob sich die Mitgliedschaft in einer Migrantenorganisation eher förderlich oder hemmend auf die Erfolgschancen von Migranten auswirkt, stellt sich aus mehreren Gründen als interessante Aufgabe dar. Einerseits wird, wie bereits einleitend ausgeführt, die Rolle der MSOs sowohl in der wissenschaftlichen Welt als auch in breiten Bevölkerungsschichten sehr gegensätzlich beurteilt. Außerdem waren die Erfolgschancen von Migranten ein Kernthema der emotional geführten Migrationsdebatte der vergangenen Jahre in Deutschland. Da einige der MSOs durch staatliche Mittel finanziert werden, besteht zudem einerseits ein berechtigtes öffentliches Interesse an ihrer Arbeit, andererseits ist die Kritik an ihnen oft besonders scharf, da die Diskussion über die Verwendung von Steuergeldern seit jeher emotional und kontrovers geführt wird. In diesem Kontext liegt es im Interesse der Öffentlichkeit, über möglichst umfassende wissenschaftliche Daten zum Thema zu verfügen, damit in die emotional geführte Debatte mehr Sachlichkeit einkehren kann. Zudem liegen bis zum jetzigen Zeitpunkt nur unzulängliche wissenschaftliche Daten zu den MSOs in Deutschland vor (vgl. Pries 2013: 4). Die in der vorliegenden Arbeit vorgenommene Bewertung erfolgt unter besonderer Einbeziehung der bereits skizzierten Konzepte der Transnationalität und des Sozialkapitals, was eine zeitgemäße Perspektive auf die Thematik erlaubt.

Da Migrantenorganisationen sich äußerst heterogen bezüglich ihrer Organisation, Größe, Mitgliederstruktur, finanziellen Ressourcen und Ziele darstellen (vgl. ebenda: 1f), ist eine generelle Beurteilung aller in Deutschland agierenden Organisationen nicht möglich. Ziel dieser Arbeit ist es vielmehr, die Möglichkeiten, deren Grenzen sowie auch mögliche negative Effekte der MSOs in Hinblick auf die Erfolgschancen ihrer Mitglieder aufzuzeigen und zu diskutieren. Dazu erfolgt einleitend ein Überblick über relevante Themen der Migrationssoziologie. Diese stellen das theoretische Grundgerüst für die darauf folgende Bewertung der MSOs dar, die sich auch auf bereits existierende Daten zu dem Thema stützt. Während auf diese Art und Weise die theoretisch bestehenden Potentiale von MSOs identifiziert werden können, soll danach ein Blick auf deren praktische Realisierung und Relevanz erfolgen. Dafür werden abschließend die theoretischen Erkenntnisse mit Daten, die durch Interviews mit Vertreterinnen zweier MSOs gewonnen wurden, zusammengeführt und auf ihre Anwendbarkeit hin überprüft.

Im Vorfeld der Arbeit wurden zwei Organisationen lateinamerikanischer Migranten in Deutschland für die praktische Überprüfung der theoretischen Überlegungen ausgewählt. Lateinamerikaner2 standen bereits in vielen Forschungsarbeiten zum Erkenntnisgewinn über transnationale Strukturen im Zentrum des Interesses. Dies ist sicherlich zum einen der Tatsache geschuldet, dass sie in den USA, wo der transnationale Ansatz bereits seit längerem in der Migrationsforschung etabliert ist (vgl. Fuhse 2010a: 143), seit Jahren die mit Abstand größte Migrantengruppe darstellen. Zudem konnten bei ihnen in vergangenen Untersuchungen bereits in großem Umfang transnationale Strukturen und Orientierungen nachgewiesen werden, so dass sie als geeignete Untersuchungsgruppe für die Thematik gelten können. Gleichzeitig stellen sie eine Gruppe mit hoher Beziehungsdichte und relativ ausgeprägten kollektivistischen Einstellungen dar (vgl. Cerda-Hegerl 2006: 48). Dies kann für eine Untersuchung der Nutzung und der Funktionsweise des in Beziehungen enthaltenen Sozialkapitals der Migranten von Vorteil sein, da die Vermutung naheliegt, dass hier entsprechende Prozesse besonders ausgeprägt und damit gut zu beobachten sind. Aufgrund dieses Vorwissens können lateinamerikanische Migranten als geeignete Untersuchungspopulation für die untersuchte Frage eingestuft werden. Während lateinamerikanische Organisationen in den USA zwar ein gut erforschtes Feld darstellen, ist über ihre Pendants in Deutschland noch kaum etwas bekannt. Die Frage, auf welche Art und Weise lateinamerikanische Migranten in Deutschland ihre Organisationen nutzen um eigene Ressourcen zu erhöhen und Erfolgschancen zu vergrößern, stellt demnach einen weiteren Kern der Arbeit dar, der neue Erkenntnisse liefert und zudem eine Hilfe bei der Bewertung von MSOs in Deutschland leisten kann.

2 Stand der Migrationsforschung

Die umfassende Untersuchung von Migrationsprozessen stellt bereits seit geraumer Zeit eine wichtige Aufgabe der Sozialforschung sowie anderer wissenschaftlicher Disziplinen dar, deren Ergebnisse essentielle Informationen für politische Entscheidungsträger, soziale Bewegungen und zahlreiche Interessenverbände darstellen. Ein Hauptgrund für diese zentrale Rolle liegt in der ständigen Aktualität des Themas. Zudem haben die Wanderungsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts die Sozialstrukturen vieler Länder nachhaltig geprägt und verändert, was etliche Folgen für Gesellschaft und Politik sowohl der Zielländer der Migrationsbewegungen als auch der Ursprungsländer der Migranten mit sich brachte. Auch die Bundesrepublik Deutschland war in ihrer noch jungen Geschichte ein wichtiges Ziel für Wanderungsbewegungen, was besonders in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein starkes Bevölkerungswachstum generierte (vgl. Statistisches Bundesamt 2013: o.S.) und wirtschaftlichen wie sozialen Fortschritt bewirkte (vgl. Geißler 2006: 56). Während die Anfänge der Migrationsforschung eher in den englischsprachigen Ländern zu finden sind, hat sich unter dem Eindruck von Gastarbeitern, Asylbewerbern oder Spätaussiedlern ebenfalls eine deutsche Forschungsdisziplin formiert, die sich der Untersuchung des Phänomens der Migration widmet. Auch wenn sie mittlerweile im wissenschaftlichen Betrieb etabliert ist, verfügt die deutsche Migrationsforschung über eine deutlich weniger ausgeprägte Tradition als in anderen selbsterklärten Einwanderungsnationen wie Kanada oder den USA, weshalb in einigen wichtigen Bereichen nach wie vor erheblicher Forschungsbedarf besteht (vgl. Ennigkeit 2008: 15f). Im folgenden Kapitel werden der Eingliederungsdiskurs, der Sozialkapitalansatz und die Transnationalismusforschung als Facetten der Migrationssoziologie getrennt voneinander vorgestellt und durch einen Blick auf mögliche Effekte, die von der ansässigen Bevölkerung ausgehen ergänzt, ehe sie in Bezug auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zusammengeführt werden.

2.1 Der Eingliederungsdiskurs in der Migrationsforschung

Der Prozess der Eingliederung von Migranten in eine ansässige Gesellschaft stellt einen der meistuntersuchten und -diskutierten Gegenstände der Migrationsforschung dar, wobei sein Verständnis in den vergangenen Jahrzehnten einen starken Wandel erfahren hat. Die daraus folgende Vielseitigkeit der Modelle und Forschungsansätze zu diesem Thema spiegelt sich zum Beispiel in der Vielzahl der verwendeten Begrifflichkeiten wider, die sich teilweise nur in Nuancen unterscheiden. Theodor Ikonomu listet im Rahmen des Versuches, diese Vielfalt vor Augen zu führen, sehr anschaulich ganze 34 Begriffe auf (vgl. Ikonomu 1989: 264), die den Vorgang der Eingliederung von Migranten beschreiben und sich jeweils hinsichtlich des implizierten Grades der Anpassung und ihrer theoretischen Grundlage unterscheiden. Dabei nehmen die Ausdrücke Assimilation und Integration die prominentesten Plätze innerhalb der Begrifflichkeiten ein.

2.1.1 Erste Assimilationstheorien

Während in den Anfängen der Migrationsforschung der Begriff Assimilation zur modellhaften Beschreibung der Eingliederung von Migranten gebräuchlich war, ist dieser seit einiger Zeit umstritten. Daher spricht man heute sowohl in der Forschung, aber vor allem auch im öffentlichen Diskurs eher von der Integration von Migranten in eine ansässige Gesellschaft. Mit diesem Wandel wird der Entwicklung hin zum Bild einer komplexen, heterogenen Gesellschaft, in der vielfältige und wechselseitige Prozesse ablaufen, Rechnung getragen. In den Anfängen der Migrationsforschung hingegen wurde die Eingliederung von Migranten in die ansässige Gesellschaft als einseitige Form der Anpassung von Minderheiten an eine gesellschaftliche Mehrheitskultur verstanden. Es herrschte der Glaube an einen linearen Prozess vor, in dessen Rahmen es seitens der Migranten zu einer sukzessiven Auflösung von fremd-kulturellen Eigenschaften komme, der vielfältig in sogenannten Sequenz- und Zyklenmodellen beschrieben wurde.

Der prominenteste Versuch einer Beschreibung von Eingliederungsprozessen durch ein Zyklenmodell stammt aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mit dem sogenannten race-relation-cycle erstellten Robert E. Park und Ernest Burgess erstmals ein Modell, welches aus ihrer Sicht den Vorgang der Assimilation von Migranten analytisch rekonstruiert (vgl. Ennigkeit 2008: 19). Die zentrale These von Park und Burgess besagt, dass es bei einem neuen Kontakt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen stets zu einem sukzessiv ablaufenden Assimilations-Prozess kommt, der in fünf Phasen verläuft. Demnach treten nach der Kontaktaufnahme (1) die Gruppen in eine Phase des Wettbewerbs um knappe Ressourcen ein (2), welche in der Folge Konflikte zwischen den Gruppen begründen (3). Nach einer Weile treten die ethnischen Gruppen in die Phase der Akkomodation ein (4), in deren Rahmen sich die Gruppen miteinander arrangieren, sich auf spezielle berufliche Nischen konzentrieren und mit ihrem jeweiligen sozialen Status begnügen. In der letzten Phase der Assimilation verschwimmen nun die ethnischen Unterschiede durch Mischehen, bis kein ethnischer Unterschied mehr erkennbar ist (5) (vgl. Oswald 2007: 94). Dabei betonten die Forscher der Chicago School, dass der Assimilations-Prozess langfristig verlaufe, sich in der Regel über Generationen hinweg vollziehe und dass eine vollständige Assimilation erst mit der dritten Migrantengeneration erreicht werde (vgl. ebenda: 94). Das Modell des race- relation-cycle erfreute sich lange Zeit großer Beliebtheit zur Erklärung von Eingliederungsprozessen und stellte die Grundlage für viele nachfolgende migrationstheoretische Überlegungen dar (vgl. Han 2004: 46). Allerdings wurde das Modell auch vielfach dafür kritisiert, dass der assimilatorische Verlauf der Eingliederung von Migranten als konsequent progressiv und irreversibel beschrieben wurde, während in der Realität dauerhafte Konflikte oder ein hierarchisch geordneter Dauerzustand entstehen könnten, durch den sich ethnische Gruppen permanent voneinander segregierten (ebenda: 48). Schlimmstenfalls könne es sogar zu einer völligen Isolierung oder gar Auslöschung von ethnischen Gruppen kommen, was durch das Modell von Park und Burgess nicht erklärt werden kann (vgl. Oswald 2007: 96).

Dennoch war bis in die 1950er Jahre hinein der Einwanderungsdiskurs in den traditionellen Einwanderungsländern von der Vorstellung bestimmt, dass Immigranten durch die Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes auf lange Frist automatisch eine neue Identität annähmen, welche auf einer dominanten Mehrheitskultur vor Ort fuße und im Laufe der Zeit mit dem neuen Umfeld verschmelzen würden (vgl. Han 2004: 321). Diesen Vorgang beschrieb auch Robert Taft (1953) als eine Möglichkeit des Eingliederungsprozesses, die er monistische Assimilation nennt. Mit seinem Modell relativiert er jedoch die bis dahin vorherrschende Meinung, indem er stärker differenziert und weitere Möglichkeiten des Assimilationsprozesses aufzeigt. So sei es ebenfalls möglich, dass verschiedene kulturelle Gruppen zu gleichberechtigten Einzelteilen einer umfassenden Gemeinschaft würden, ohne dass dabei starke Anpassungsprozesse vonstattengingen (pluralistische Assimilation). Wichtig seien hierbei lediglich eine tolerante Einstellung zwischen den Gruppen sowie ein gemeinsames Wertesystem (vgl. Ennigkeit 2008: 22). Laut Taft existiert zudem noch eine dritte Form der Assimilation, in deren Rahmen sich verschiedene Gruppen durch soziale Interaktion einander annähern und dadurch trotz ihrer grundlegenden Differenzen einen alle Gruppen umfassenden Bezugsrahmen schaffen, der von der Allgemeinheit akzeptiert wird und die Grundlage des Zusammenlebens darstellt (interaktionistische Assimilation). Taft schuf mit seinem Modell einen etwas differenzierteren Blick auf die Eingliederungsprozesse in Folge von Immigration. Dennoch bleiben seine Überlegungen ein weitgehend theoretisches Modell, da die realen Bedingungen der Interaktion und Kommunikation zwischen den Gruppen sehr idealtypisch dargestellt werden und in dieser Form kaum tatsächlich auftreten (vgl. Han 2004: 322f).

2.1.2 Abkehr vom klassischen Assimilationsgedanken

Während Taft die monistische Assimilation noch als eine der Eingliederungsmöglichkeiten betrachtete, kam es ab den 1950er Jahren zu einer immer stärker werdenden Ablehnung dieses Assimilationsmodells. Der Trend zur Abkehr von diesem klassischen Assimilationsgedanken setzte sich als erstes in den Vereinigten Staaten vermehrt durch. Einen wichtigen Beitrag hierzu lieferte Milton Gordon, der in den 1960er Jahren darauf hinwies, dass in den USA der Gedanke einer vollständigen Assimilation von Minderheiten in die Lebenswelt der weißen, angelsächsisch-amerikanischen Gesellschaft, die sogenannte anglo-conformity, eine ideologische Idee war, die in der Realität nie vollzogen wurde (vgl. ebenda: 323f). Weitere Ideen vom cultural pluralism, dem friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben unter Beibehaltung kultureller Unterschiede, oder der Gedanke an den US-amerikanischen melting- pot schienen in seinen Augen eher einer wünschenswerten Utopie als der gesellschaftlichen Realität der USA zu entsprechen. Elemente des melting-pot erkannte Gordon nur bei weißen Gruppen mit gleichem religiösem Hintergrund. Stattdessen kam es zu ethnischer Diskriminierung und Segregation, wodurch soziale Mobilität und Gleichberechtigung zu realitätsfernen Wunschbildern wurden. Dies führte in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Entstehung der Bürgerrechtsbewegung, welche die Gleichstellung von Minderheiten in den USA forderte (vgl. ebenda: 324f). Die sozialen Probleme dieser Zeit stellen auch den Ausgangspunkt in Gordons Assimilationstheorie dar. Er untersuchte die Diskriminierung von Migranten durch die Aufnahmegesellschaft und bezog dabei neben dem Faktor der eigenen Ethnie ebenfalls die Komponenten der Klasse und der Religion in seine Theorie mit ein (vgl. ebenda: 53f). Gordon unterschied vor allem die kulturelle Assimilation von der strukturellen Assimilation, wobei er die kulturelle Assimilation, d.h. den Spracherwerb und das Erlernen von kulturellen Verhaltensweisen am Anfang des Assimilationsprozesses sieht. Anders als bei den Sequenz- und Zyklenmodellen ging er aber nicht von einem daraufhin automatisch einsetzenden, irreversiblen Assimilationsprozess aus (vgl. ebenda: 56). Eine Akkulturation von Migranten erlaubt laut Gordon weder den Zugang zur angelsächsischen core society, noch bietet sie Migranten Schutz vor Diskriminierung und Vorurteilen. Erst mit der strukturellen Assimilation und der damit verbundenen Teilhabe am sozialen Leben des Aufnahmelandes sieht Gordon die Voraussetzungen für eine vollständige Assimilation erreicht, die wiederum durch interethnische Eheschließungen und die identifikative Assimilation sowie weitere Teilprozesse ergänzt wird (vgl. ebenda: 56f).

Nachdem die frühen modernisierungstheoretischen Ansätze ab den 1960er Jahren immer kritischer und differenzierter betrachtet wurden, rückten die marginalisierten Minderheiten mehr in den Fokus der Forschung (vgl. Gruner- 2005: 18). Während man bei den frühen Assimilationsmodellen davon ausging, dass die fremdkulturellen Elemente im Leben der Migranten sich mit der Zeit verlieren würden, erkannte man Ende der 1960er Jahre die Bedeutung von Ethnizität für die Identität von Migranten und damit auch für ihre gesellschaftliche Eingliederung. Zudem trugen erste konstruktivistische Ansätze zu einem umfassenderen Verständnis von Eingliederungsprozessen bei, wobei die Wechselwirkungen zwischen Migranten und der ansässigen Bevölkerung in die Theorien zum Eingliederungsprozess integriert wurden (vgl. Oswald 2007: 99).

Nachdem die Analyse von Migrationsprozessen sich lange Zeit vorwiegend auf einen regionalen oder kontinentalen Rahmen bezogen hatte, rückte in den 1970er Jahren eine globale Perspektive in den Vordergrund. Umfassendere Erklärungsmodelle der Weltsystemtheorie wie die von Immanuel Wallerstein (1974) oder die lateinamerikanischen Dependenztheorien erklärten das Migrationsphänomen unter Berücksichtigung eines historisch-ökonomischen Ansatzes und beleuchteten von nun an vor allem die Ursachen für Migration. Während bis dahin vor allem der Zeitraum nach der Ankunft im Zielland der Migration im Zentrum der Aufmerksamkeit der Migrationsforschung gestanden hatte, wurden nun ebenfalls die Bedingungen im Ursprungsland der Migration untersucht, um ein umfassenderes Verständnis der Wanderung zu erlangen. In diesem theoretischen Rahmen wurden besonders Push-Pull-Faktoren zur Erklärung von Migrationsbewegungen beliebt (vgl. Gruner-Domi 2005: 18).

2.1.3 Der deutsche Integrationsdiskurs

Der deutsche Migrationssoziologe Hoffmann-Nowotny, der sich in den 1970er Jahren überwiegend der Untersuchung der Motive von Migration widmete, traf in seiner Arbeit über Eingliederungsprozesse bewusst eine Unterscheidung zwischen der Integration und einer Assimilation von Migranten, wobei er unter Integration die Eingliederung in die strukturellen Teilsysteme des Aufnahmelandes und unter Assimilation die Übernahme von Werten, Normen und Bräuchen versteht. In seinem Modell ist die Integration von Migranten die Bedingung für deren spätere Assimilation. Hoffmann-Nowotny betont zudem ausdrücklich die entscheidende Rolle, welche die Integrationsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft spielt. Denn eine lange Aufenthaltsdauer kann laut Hoffmann-Nowotny die negativen Effekte einer dauerhaften Marginalisierung auf die Assimilationswahrscheinlichkeit nicht ausgleichen (vgl. Ennigkeit 2008: 26f).

Bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es in Deutschland zu einer Debatte über die Kausalität zwischen der gesellschaftlichen Eingliederung von Migranten und ihrer Partizipation in stabilen Strukturen von Migrantengemeinden. Während Georg Elwert (1982) mit seinem Konzept von der Binnenintegration argumentierte, dass unter gewissen Voraussetzungen die Integration von Migranten in die eigenethnische Gruppe als Katalysator für ihre Integration in die ansässige Gesellschaft dienen kann, vertrat Hartmut Esser (1986) in seiner Kritik an Elwerts These die Position, dass eine solche Einbindung auf Dauer eher die parallelen Strukturen verstärke, anstatt sie aufzulösen. Elwert betont in seiner These in erster Linie die Kompetenzen der ethnischen Migrantengruppen bezüglich der Vermittlung von Alltagswissen sowie der Schaffung von integrationsfreundlichen Strukturen im Aufnahmeland und der Unterstützungsleistung bei der Bewältigung des psychologischen Stresses, den der Migrationsvorgang mit sich bringt. Er schränkt seine Aussage aber insofern ein, dass er ein gegenseitig offenes Verhältnis zwischen Minorität und Majorität voraussetze, was nicht immer der Fall sei. Esser kritisiert an dieser Position, dass gerade das offene Verhältnis zwischen den Gruppen, welches die Voraussetzung für Elwerts These darstelle, durch die ethnischen Kolonien zerstört werde, da dadurch zwar die Identität der Mitglieder stabilisiert werde, jedoch die Bereitschaft zum gegenseitigen Kontakt abnehme und der Hang zur Etikettierung steige. Zudem sänken in der ethnischen Kolonie durch räumliche Segregation die Chancen zur sozialen Mobilität und zur strukturellen Assimilation in das Bildungs- und Berufssystem. Diese Gefahr schätzt Esser als besonders hoch ein, wenn die ethnische community ihren Mitgliedern alles Lebensnotwendige biete und diese somit den Anreiz verlören, sich außerhalb ihrer Kolonie zu bewegen (vgl. Diehl/Urban 1998: 52f).

Esser versteht den Eingliederungsprozess gemeinhin als Vorgang der Resozialisation, der empfindlich auf störende Einflüsse reagiert (vgl. Oswald 2007: 111). Dabei sieht er die Loslösung aus eigenethnischen Strukturen als essentiell an, was in seiner Argumentation gegen Elwers Modell der Binnenintegration deutlich wird. Wie Hoffmann-Nowotny und Gordon betont er allerdings auch die wesentliche Rolle, die dem politischen Willen der Institutionen im Aufnahmeland zukommt, entsprechende Strukturen zu schaffen und die Gesellschaft zu sensibilisieren (vgl. ebenda: 110f). Eine erfolgreiche Eingliederung kann laut Esser also nur da stattfinden, wo ein Migrant, der Kontakte außerhalb seiner eigenethnischen Gruppe pflegt, auf günstige gesellschaftliche Strukturen trifft. Ihm zufolge durchläuft der Prozess der Assimilation mehrere Phasen: Nach der Phase der Akkulturation, in der der Migrant Sprache und Eigenschaften der Aufnahmegesellschaft erlernt und soziale Bindungen außerhalb der Primärgruppe eingeht, tritt er in die Phase der Integration ein, in der er eine Reihe von Lernprozessen hinter sich bringen muss und sich in der Aufnahmegesellschaft orientieren kann (vgl. ebenda: 110). Die letzte Phase der Assimilation besteht aus vier Dimensionen, zwischen denen zahlreiche Wechselwirkungen bestehen. Die kognitive Assimilation beinhaltet das Beherrschen von Sprache, Regeln und Verhalten der ansässigen Gesellschaft, während die strukturelle Assimilation auf der beruflichen Position, der sozialen Mobilität, Einkommen sowie Prestige beruht. Die soziale Assimilation wiederum sieht den informellen Kontakt außerhalb der eigenethnischen Gruppe vor und die identifikative Assimilation beinhaltet die Komponenten der Rückkehr- bzw. Einbürgerungsabsicht und die ethnische Zugehörigkeitsdefinition (vgl. Esser 1980: 221). Essers Modell der Assimilation stellt sich somit flexibel dar und beschreibt den Eingliederungsvorgang in Abhängigkeit von den jeweiligen Fähigkeiten und Einstellungen des Migranten in Wechselwirkung mit den Strukturen im Aufnahmeland. Der Assimilationsvorgang kann sich somit über einen sehr unterschiedlichen Zeitraum hinweg oder auch überhaupt nicht vollziehen, weshalb sich die Aufnahmegesellschaften zunehmend pluralisieren (vgl. Oswald 2007: 111).

2.1.4 Neuere Ansätze

Ebenfalls in den 1980er Jahren wurde in den USA eine vielbeachtete und kontrovers diskutierte Arbeit der amerikanischen Soziologen Kenneth L. Wilson und Alejandro Portes (1980) publiziert, die wichtige Impulse für die Diskussion um die Eingliederungsprozesse von Migranten lieferte. Im Rahmen einer empirischen Untersuchung der kubanischen Diasporagemeinde in Miami kamen sie zu einer überwiegend positiven Beurteilung der dortigen ethnischen Enklavenwirtschaft und positionierten sich somit diametral im Gegensatz zur klassischen Assimilationstheorie. Einen Grundstein zu ihren Überlegungen liefert die Arbeitsmarkttheorie des Segmented Labor Market. Hierbei wird angenommen, dass zwei verschiedene Arbeitsmärkte existieren, der primäre Arbeitsmarkt, der sich durch hohe Löhne sowie gute Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen auszeichnet und der sekundäre Arbeitsmarkt, der niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Aufstiegschancen aufweist (vgl. Han 2005: 283). Laut der Hypothese von Wilson und Portes existieren die ethnischen Enklaven außerhalb dieser Märkte und stellen einen eigenen, einen dritten Arbeitsmarkt dar. Aus ihrer empirischen Untersuchung ging hervor, dass die Arbeiter auf diesem Enklaven-Arbeitsmarkt deutlich höhere Renditen aus ihrem Humankapital beziehen konnten, als dies auf dem regulären Arbeitsmarkt möglich wäre. Zudem erzielten die Unternehmer in der Enklavenwirtschaft höhere Gewinne als ihre Landsleute mit ähnlichem Humankapital auf dem primären Arbeitsmarkt (vgl. Portes/Shafer 2006: 4). Darüber hinaus hatten Migranten in der Enklavenwirtschaft bessere Möglichkeiten der beruflichen Mobilität und verfügten über einen privilegierten Zugang zum Arbeitsmarkt (vgl. Han 2005: 284). Mit ihrer enclave-economy hypothesis distanzieren sich Portes und Wilson somit eindeutig von dem klassischen Gedanken der Notwendigkeit der Assimilation von Migranten für ihren wirtschaftlichen Erfolg.

In den 1980er Jahren wurde zudem mit dem Multikulturalismus ein weiterer Begriff in den Diskurs der Migrationspolitik eingeführt, der sich gegen die Forderung nach einer Assimilation von Migranten in die Aufnahmegesellschaft richtete. Der Kern der damit verbundenen Assimilations-Kritik liegt darin, dass bereits die Vorstellung der Existenz einer einheitlichen Mehrheitsgesellschaft als realitätsfern abgetan wird. Vielmehr setze sich die Gesellschaft aus verschiedenen heterogenen Teilgruppen zusammen. Der Multikulturalismus versteht sich somit als Anerkennung der real existierenden Multikulturalität in der Gesellschaft von Einwanderungsländern und als Kritik an nationalistischen und ethnozentristischen Vorstellungen. Während verschiedene Multikulturalismus-Konzepte existieren, die sich im Detail voneinander unterscheiden, teilen sie alle die positive Bewertung von kultureller Vielfalt sowie die Kritik an dem Assimilationsdruck, der in vielen Gesellschaften auf Migranten ausgeübt wird (vgl. Ennigkeit 2008: 29f).

In der Vergangenheit wurde eine Vielzahl an Migrationstheorien formuliert, die sich äußerst heterogen bezüglich des jeweiligen Untersuchungsgegenstands und der Betrachtungsperspektive darstellen. Dies macht es unmöglich von einem Migrationsdiskurs zu sprechen, aus dem sich ein einziges anerkanntes Modell zur Erklärung der weltweiten Migrationsströme herauskristallisiert hätte (vgl. Gruner- ). Das Gleiche gilt für die Eingliederungsprozesse, die am Ende der Migrationsbewegungen stehen, deren Untersuchung und Bewertung zudem häufig an politische Überzeugungen und ein subjektives Weltbild gebunden sind. Zumindest lässt sich heute sagen, dass das von Park und Burgess beschriebene Modell einer sukzessiven Assimilation, die alle Migranten durchlaufen, sich in den Einwanderungsländern nicht bewahrheitet hat. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass generell „weder die Annahme unveränderlicher ethnischer Merkmale noch die einer völligen Verwischung ethnischer Identitäten empirisch haltbar ist“ (Oswald 2007: 99). Diese Erkenntnis hängt auch mit der Diversifizierung von Migrationsprozessen und -biographien weltweit zusammen. Denn betrachtet man hybride Identitäten und transnationale Lebensweisen, stellt sich die Ethnizität von Migranten als komplexe und mehrdimensionale Eigenschaft dar, das situationsabhängig je nach Kontext unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann und zu einem nicht unwesentlichen Maß auf Fremdzuschreibung beruht (vgl. Fuhse 2010b: 366). Die Pluralisierung von Migrationsverläufen und Migrantenbiographien stellt zunehmend die Frage in den Raum, wie in Zukunft Assimilations- und Integrationsprozesse ablaufen werden, wenn sie nicht zwangsläufig in entweder ethnische Identifikation und Assimilation, oder aber Resistenz münden. In diesem Rahmen wird in der jüngeren Vergangenheit ein Abrücken von den bipolaren Sichtweisen und Konzepten von Einwanderung vs. Auswanderung, guten Kontakten (zur ansässigen Gesellschaft) vs. schlechten Kontakten (eigenethnische Kontakte) oder Assimilation vs. Parallelgesellschaft, hin zu einem umfassenderen und flexibleren Verständnis des Phänomens gefordert (vgl. Gruner- : 32).

2.2 Der Sozialkapitalansatz in der Netzwerktheorie

Die Auswirkungen sozialer Beziehungen auf das Verhalten von Personen und Institutionen stellen einen der essentiellen Untersuchungsgegenstände der Sozialwissenschaften dar (vgl. Granovetter 1985: 481). Der grundlegende netzwerktheoretische Gedanke, dass sich jede Interaktion eines Individuums mit anderen Personen bzw. Personengruppen auf sein Wesen und seine Entscheidungen auswirkt, wurde bereits Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts durch den Soziologen Georg Simmel in seinen Arbeiten zur Formalen Soziologie formuliert.

Die soziologische Netzwerktheorie knüpft gewissermaßen an Simmels Gedanken zur zwischenmenschlichen Interaktion an und rückt diese in den Fokus. Sie fragt weniger nach einzelnen Personen und deren individuellen Merkmalen, als nach den Beziehungen, die sie unterhalten, und der übergeordneten Konstellation, in der sie zueinander stehen (vgl. Jansen 2006: 17f).

Zur Erklärung der konzeptionellen Struktur eines Netzwerks wird in der wissenschaftlichen Literatur gerne das Bild eines Netzes aus Knoten und Kanten herangezogen (vgl. Gamper/Reschke 2010: 10, Diaz-Bone 1997: 40). Hierbei stellen die Knoten des Netzes die Netzwerkakteure dar, während die zwischen den Knoten verlaufenden Kanten, die zwischen ihnen bestehenden, Beziehungen symbolisieren. Die Akteure müssen dabei nicht zwingend einzelne Personen sein. Es kann sich um „natürliche Personen, (Ehe-) Paare, Gruppen, Familien, Abteilungen von Organisationen (Divisionen, Stäbe etc.), Organisationen, Gruppen von Organisationen, Gemeinden, Städte etc. bis hin zu Nationalstaaten“ (Diaz-Bone 1997: 40) handeln. Auch können die zwischen den Knoten bestehenden Beziehungen, die einen Schwerpunkt netzwerktheoretischer Untersuchungen darstellen, äußerst unterschiedliche Inhalte haben.

2.2.1 Handlungen im Netzwerk

Die Fokussierung auf Beziehungen bedeutet bei der Analyse der Handlungen im Netzwerk, dass die Netzwerkakteure nicht als isoliert agierende Individuen betrachtet werden. Vielmehr wird ihr Handeln über die Einbettung in ihre Sozialstruktur erklärt. Dabei wird die Sozialstruktur nicht, wie häufig in den Sozialwissenschaften, als Summe der individuellen Merkmale der Akteure verstanden, sondern als Produkt ihrer Beziehungen (vgl. ebenda: 18). Auf welche Weise in der Netzwerktheorie Handlungen durch soziale Kontexte beeinflusst werden, kann anhand zweier Modelle der netzwerktheoretischen Klassiker Granovetter und Burt illustriert werden.

Granovetter verdeutlicht die netzwerktheoretische Perspektive auf interaktives Handeln in seinem Aufsatz zur Bedeutung der Embeddedness von Netzwerkakteuren in der Ökonomie. Er wendet sich hierbei gegen die neoklassische ökonomische Theorie, die ökonomisches Handeln als das bloße rationale Streben voneinander isolierter Unternehmer nach ihrem jeweiligen Eigeninteresse begreift, da sie die sozialen Beziehungen zwischen den Marktteilnehmern ausklammert, von denen wichtige Impulse auf ökonomische Entscheidungen ausgehen können. Granovetter spricht in diesem Zusammenhang von einem untersozialisierten Modell. Gleichzeitig kritisiert er auf der anderen Seite die strukturfunktionalistische Sicht dahingehend, dass sie übergeordnete, internalisierte gesellschaftliche Normen als handlungsweisend ansieht und sich der Fokus auf die individuelle Verschiedenheit von Menschen beschränkt. Granovetter beschreibt dieses Modell als ü bersozialisiert und merkt an, dass es außerdem den Rahmen der Handlungen außer Acht lässt (vgl. Granovetter 1985: 483f). Wie seine Kritik erahnen lässt, plädiert Granovetter an Stelle der beschriebenen Theorien für eine Art Meta-Ebene der Betrachtung, indem er eine Handlungstheorie unter Berücksichtigung sozialer Kontexte fordert, die sich von der reinen Fokussierung auf die einzelnen Akteure distanziert. Dies begründet er damit, dass der Kontext soziale Normen und strukturelle Regelungen relativieren kann und somit zu einer Determinante für menschliches Handeln wird. Laut Granovetter stellen soziale und kulturelle Beziehungsnetzwerke für jede Art von menschlichem Handeln den Rahmen dar. Auf die ökonomische Perspektive übertragen bedeutet Granovetters Embeddedness wiederum, dass die Marktteilnehmer nicht zwingend diejenige Handlungsoption wahrnehmen, die auf dem Papier die größte ökonomische Rendite verspricht. Zu einer Entscheidung tragen weitere Komponenten bei, die eine Handlung begünstigen oder verhindern können, wie geteilte Werte und Normen zwischen den Geschäftspartnern oder die Frage, ob dem Handelspartner Vertrauen entgegengebracht wird, was wichtig ist, um sich vor einem möglichen Betrug zu schützen. Somit werden ökonomische Entscheidungen nicht allein durch den Preis der Güter bestimmt, sondern sind ebenso vom sozialen Kontext, bzw. der sozialen Einbettung des Unternehmers in sein Netzwerk abhängig (vgl. Jansen 2006: 19f; Ellrich 2012: o.S.).

In seiner strukturellen Handlungstheorie beschreibt Burt ebenfalls den starken Einfluss der sozialen Struktur auf die Handlungen des Individuums. Er geht davon aus, dass die Interessen des Handelnden, welche er als maßgeblichen Rahmen für seine Handlungen ansieht, durch die strukturelle Einbettung des Individuums determiniert werden. Von der Position des Individuums in der Sozialstruktur gehen in seinem Modell direkte Handlungsimpulse aus, wobei sich die Position des Individuums durch das Verhältnis zu anderen Akteuren definiert. Damit relativiert Burt ebenso wie Granovetter klassische Handlungstheorien dahingehend, dass er das Verhalten von Akteuren als abhängig von ihrer Netzwerkposition, also in Abhängigkeit von der Beziehung zu anderen Akteuren begreift und damit die Bedeutung von objektiven ökonomischen Zusammenhängen sowie von im Sozialisationsprozess erlernten Normen und Werten für die Handlungen eines Akteurs in Frage stellt. Die soziale Struktur zwischen den Netzwerkakteuren bildet laut Burt die Grundlage für die Interessen und die Wahrnehmung der Rahmenbedingungen der Handlungen des Einzelnen (vgl. Beckert 2005: 295). Normen verlieren bei Burt damit ihre handlungsweisende Funktion. Sie sind in seiner Sicht „gleichgerichtete subjektive Evaluationen, die auf strukturell äquivalente Positionen im Netzwerk zurückgeführt werden können“ (ebenda: 296). Sie stehen also nur indirekt in einer Verbindung zu der Handlungsentscheidung des Akteurs, indem sie den evaluativen Rahmen der Entscheidung darstellen. Allerdings sind sie selber nur ein Resultat der Position des Akteurs in seinem Netzwerk (vgl. ebenda: 296) und damit von untergeordneter Bedeutung. Bei all der Bedeutung, die Burt der sozialen Position zukommen lässt, werden die Netzwerkakteure in diesem Modell jedoch nicht als gänzlich passive Wesen aufgefasst, die lediglich auf die sozialen Umstände in ihrem Umfeld reagieren. Laut Burt reproduzieren die Akteure durch ihre Handlungen die soziale Struktur, innerhalb derer ihre Interessen überhaupt erst entstehen, und verändern sie unter Umständen sogar (vgl. Burt 1982: 9f).

Die Netzwerktheorie postuliert zusammengefasst also in erster Linie eine enge Verknüpfung zwischen den Handlungen des Individuums und den Beziehungen, die es zu anderen Netzwerkakteuren unterhält. Das von Granovetter verwendete Bild eines Netzwerkakteurs, der in sein soziales Netz eingebettet ist und aus dieser Position heraus agiert, veranschaulicht diesen Gedanken besonders deutlich. Der Begriff des Sozialkapitals ist in diesem Sinne eng an den des Netzwerks geknüpft, da er in erster Linie nach den Handlungsoptionen fragt, die sich aus den in der Netzwerktheorie thematisierten Verbindungen eines Individuums ergeben.

2.2.2 Der Sozialkapitalbegriff

Es existieren zurzeit mehrere anerkannte Definitionen für den Begriff des Sozialkapitals. Bourdieu legt in seiner Definition den Fokus auf das Potential zur Generierung von Ressourcen, weshalb sich seine Definition mit Blick auf die Thematik dieser Arbeit zur genaueren Betrachtung anbietet. Bourdieu beschreibt Sozialkapital als:

„ die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen “ (Bourdieu 1983: 190f).

In Bourdieus Definition werden erneut die Parallelen zwischen dem Sozialkapitalbegriff und der Netzwerktheorie offensichtlich. Der Fokus richtet sich weg vom Individuum, hin zu den Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren und den Ressourcen, die aus diesen Beziehungen erwachsen. Zwar kann Sozialkapital von einem einzelnen Akteur eingesetzt werden und ihm damit persönlich individuellen Nutzen bringen. Entsprechend dem netzwerktheoretischen Grundgedanken ist das soziale Kapital allerdings, im Gegensatz zum ökonomischen Kapital, nicht als Besitz eines Einzelnen zu verstehen. Es existiert einzig in den sozialen Beziehungen, die das Individuum unterhält, als eine Art Kollektivgut (vgl. Marx 2010: 97). Anders ausgedrückt kann eine Person alleine kein Sozialkapital generieren. Sie braucht dafür immer mindestens eine zweite Person, zu der sie in einer Beziehung steht. Genau wie der netzwerktheoretische Ansatz fragt der Sozialkapitalansatz also nach den Inhalten und Potentialen von Beziehungen. Die Netzwerktheorie und der Sozialkapitalansatz können sich somit dahingehend ergänzen, dass sie mit unterschiedlichen Werkzeugen und theoretischem Hintergrund einen Blick auf dieselben zwischenmenschlichen bzw. institutionellen Beziehungen erlauben (vgl. ebenda: 96).

2.2.3 Generierung von Sozialkapital

Es stellt sich weiter die Frage, wie eine Person Nutzen aus dem Sozialkapital in ihren Netzwerkstrukturen ziehen kann und welchen Netzwerkakteuren hierbei die entscheidende Rolle zukommt. Flap unterscheidet drei Dimensionen des Sozialkapitals, welche die Qualität des Sozialkapitals definieren, über das eine Person verfügt: Die Anzahl der Kontaktpersonen im Netzwerk einer Person, die Ressourcen, über welche diese Kontakte verfügen, und die Verfügbarkeit dieser Ressourcen. Letztere sieht er in Abhängigkeit von der Beziehungsstärke, die zwischen den Netzwerkakteuren besteht (vgl. Haug 2010: 247). Bezüglich der Rolle der Beziehungsstärke für die Generierung von Sozialkapital haben empirische Untersuchungen ergeben, dass ein Großteil der wahrgenommenen, alltäglichen Unterstützungsoptionen durch enge soziale Kontakte wie Familienangehörige oder Partner erfolgen (vgl. ebenda: 249). Die Unterstützungsressourcen, die aus solchen engen sozialen Kontakten, den sogenannten strong ties, generiert werden, werden in ihrer Qualität jedoch unterschiedlich bewertet. Coleman kommt mit seinem Closure -Argument zu einer positiven Bewertung der bereits erwähnten empirischen Ergebnisse. Er geht davon aus, dass Sozialkapital in erster Linie in geschlossenen Gruppen aus strong ties generiert werden kann. Er argumentiert, dass die hohen Vertrauens- und Unterstützungspotentiale, die als Resultat von engen Kontakten und gruppenspezifischen Normen entstehen, den Mitgliedern der Gruppe den Zugang zu gemeinschaftlichen Ressourcen garantieren, wodurch sich wiederum das Sozialkapital der einzelnen Mitglieder erhöht (vgl. ebenda 2010: 248). Durch die soziale Schließung der Gruppe kann sich dort ein unbürokratisches Unterstützungssystem herausbilden, zu dem ausschließlich die Mitglieder der Gruppe Zugang haben (vgl. Jansen 2006: 28). Coleman beschreibt mit dem Beispiel der geschlossenen Gruppe eine besonders dichte Struktur aus strong ties. Bourdieus Definition des Sozialkapitals scheint Colemans Grundgedanken zu unterstützen, da er die Zugehörigkeit zu einer Gruppe als Voraussetzung für den Zugriff auf das gruppeneigene Sozialkapital betrachtet, auch wenn er nicht explizit von der Geschlossenheit der Gruppe ausgeht.

Granovetter hingegen wählt einen entgegengesetzten Ansatz, indem er die Möglichkeiten der weak ties, der schwachen, eher beiläufigen Beziehungen zu Bekannten hervorhebt. So kam er in einer Untersuchung zur beruflichen Mobilität zu dem Ergebnis, dass brauchbare Informationen über eine offene Arbeitsstelle meistens aus weak ties stammen. Während strong ties ebenfalls Informationen über Arbeitsstellen liefern, sind diese Informationen selten wertvoll, weil sie wegen der dichten Gruppenstruktur mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Arbeitssuchenden bereits bekannt waren. Schwache Beziehungen mit losen Verbindungen zu anderen Gruppen ermöglichen hingegen einen zusätzlichen Informationsfluss für den Einzelnen und sind damit für ihn von großem Nutzen (vgl. Granovetter 1974: 52f). Zudem vermitteln besonders die weak ties zu statushöheren Personen außergewöhnlich attraktive Arbeitsstellen (vgl. Haug 2010: 250).

Auch wenn Coleman und Granovetter zu unterschiedlichen Bewertungen bezüglich des Nutzens von weak und strong ties kommen, schließen sich ihre Ideen nicht gegenseitig aus, sondern lassen sich verbinden. Ihre Gedanken können unter dem Gesichtspunkt zusammengefasst werden, dass die strong ties ein wichtiges Unterstützungsnetzwerk darstellen, welches als Ressource bei Krankheit oder finanziellen Problemen dient, jedoch sind es die weak ties, die in der Arbeitswelt nützlich sind und für soziale Mobilität sorgen können (vgl. Fenicia/Gamper/Schönhuth 2010: 318). Dieser Aspekt der weak ties lässt sich über die Arbeitsplatzsuche hinaus auch auf andere informationsbezogene Vorgänge, verallgemeinern. So erhält man aus den ohnehin gut miteinander vernetzten strong ties generell eher redundante Informationen. Über weak ties hingegen bezieht man Informationen aus weiter entfernten Netzwerken, zu denen eine Brücke aus dem Kreis der engen Kontakte hinaus geschlagen wird (vgl. Jansen 2006: 106f). Natürlich sind nicht alle weak ties solche Brücken, allerdings sind die Brücken immer auch weak ties (vgl. Granovetter 1982: 1364).

2.2.4 Negative Effekte von Sozialkapital

Während bislang vor allem die positive Bedeutung von weak ties und strong ties hervorgehoben wurde, weisen Portes und Sensenbrenner auf eine Problematik des Sozialkapitals hin, die sie in geschlossenen, ethnisch homogenen Gruppen vorgefunden haben. Sie sehen Sozialkapital in weitgehender Übereinstimmung mit Coleman in gemeinsamen Werten, Reziprozitätsnormen, Solidarität und dem Vertrauen innerhalb einer Gruppe begründet, was für die Mitglieder grundsätzlich vorteilhafte Strukturen schafft (vgl. Portes/Sensenbrenner 1993:1326f). Laut Portes und Sensenbrenner bestehen diese Strukturen für Migranten in finanziellen und emotionalen Unterstützungsleistungen durch die Gruppe sowie dem Zugang zu ethnisch geprägten Handelsstrukturen und gemeinschaftlichen Ressourcen, beispielsweise flexiblen geschäftlichen Konditionen (vgl. ebenda: 1345). Jedoch bemerken Portes und Sensenbrenner auch, dass Sozialkapital neben seinen Vorteilen auch Einschränkungen für den Einzelnen mit sich bringen kann. Sie erkennen die Problematik, dass als Gegenleistung für die zur Verfügung gestellten Ressourcen durch die Gruppe Forderungen an das Individuum gestellt werden können, die sich als problematisch erweisen können. Ein dichtes, geschlossenes Netzwerk aus sozialen Verpflichtungen und Konformitätserwartungen kann mitunter zu Strukturen führen, die einzelne Mitglieder moralisch und ökonomisch an die Gruppe binden und so ihren sozialen Aufstieg verhindern (vgl. ebenda: 1339f). Zudem kann es zu starken Einschränkungen der persönlichen Freiheiten von Individuen kommen (vgl. ebenda: 1340f). Portes und Sensenbrenner illustrieren diesen Vorgang anhand mehrerer Beispiele. So zitieren sie aus einer Publikation, in deren Rahmen marginalisierte puertoricanisch-stämmige Jugendliche aus New York interviewt wurden. Im Rahmen der zitierten Stellen wird deutlich, dass eine dem Zweck des sozialen Aufstiegs dienende Anpassung an die Standards der WASP-dominierten Gesellschaft hinsichtlich modischer Aspekte oder der Anglisierung des eigenen Namens und die damit einhergehende Entfernung aus der eigenethnischen Gruppe mit dem Ausschluss aus dieser Gruppe sanktioniert werden. Denn die Gegenkultur wird innerhalb der eigenen Gruppe als konstitutives Element der Gruppenidentität gewertet, was den Ausschluss bei Anpassung an eine andere Gruppe mit sich bringt. Dieser negative Effekt von Sozialkapital, welches auf geteilten Gruppennormen beruht, der sich gezielt gegen den ökonomischen Aufstieg von Mitgliedern der eigenen Gruppe richtet, wird von Portes und Sensenbrenner als downward leveling norms bezeichnet (vgl. ebenda: 1342f). An anderer Stelle beschreiben sie, wie ein vietnamesischer Geschäftsmann sich in den USA komplett aus der eigenethnischen Gruppe zurückzieht und seinen Namen anglisiert. Sein Antrieb war dabei weniger der Wunsch nach Assimilation in die ansässige Gesellschaft als eine Flucht vor den kollektiven und geschäftsschädigenden Ansprüchen, die an ihn aus der vietnamesischen Migrantengemeinschaft gestellt wurden (vgl. ebenda: 1339f). Portes und Sensenbrenner fassen in diesem Zusammenhang zusammen:

“ The greater the social capital produced by bounded solidarity and community controls, then the greater the particularistic demands placed on successful entrepreneurs and the more extensive the restrictions on individual expression. ” (ebenda: 1341)

Der von Portes und Sensenbrenner vorgestellte Punkt legt eine genauere Betrachtung der Homophilie-Thematik in Migrantennetzwerken nahe. „Homophilie liegt dann vor, wenn eine überzufällige Ähnlichkeit in den Merkmalen und Einstellungen der Personen zu beobachten ist, die durch eine bestimmte Art von Beziehung verbunden sind“ (Lang/Schnegg 2002: 29f).

Netzwerke weisen normalerweise, ganz nach dem Sprichwort „Gleich und Gleich gesellt sich gern“, einen recht hohen Grad an Homophilie unter anderem bezüglich der Merkmale Ethnie, Religion und Alter auf. Dies ist bei den Netzwerken von Migranten nicht anders, die verglichen mit der ansässigen Bevölkerung in der Regel jedoch über einen besonders hohen Grad an Familienzentriertheit und ethnischer Homogenität verfügen (vgl. Fenicia/Gamper/Schönhuth 2010: 320; Haug 2010: 248f). Zwar muss dabei in Betracht gezogen werden, dass ein hoher Grad an Familienzentriertheit im Netzwerk auch bis zu einem gewissen Grad die ethnische Homogenität bedingt, jedoch existieren auch häufig Bedingungen im Umfeld von Migranten, die solche Gelegenheitsstrukturen fördern, welche die Tendenz zu homogenen Netzwerkstrukturen zusätzlich verstärken. So ziehen eine segregierte Wohnlage oder hohe Migrantenanteile in Schulklassen auch eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit für ausgeprägte ethnisch homogene Netzwerkstrukturen nach sich. Eine weitere Determinante für die Gelegenheitsstrukturen bezüglich der Netzwerkhomogenität von Migranten liegt in deren Ausbildungsgrad. Eine geringe Schulbildung, die meist mit schlechteren Sprachkenntnissen und niedrigen Ressourcenoptionen einhergeht, erschwert den Zugang zu der ansässigen Gesellschaft. Im Gegenzug steigt die Wahrscheinlichkeit eines durchmischten Netzwerks, wenn nur wenige Personen mit gleicher Herkunft vor Ort leben (vgl. Haug 2010: 255). Bedenkt man, dass ganz nach der Debatte um strong ties und weak ties aus unterschiedlichen Netzwerkverbindungen verschiedene Arten von Sozialkapital generiert werden, muss zusätzlich dahingehend differenziert werden, dass je nach Typ der Unterstützungsleistung der Grad an Netzwerk-Homophilie unterschiedlich ausgeprägt sein kann. So erfolgt beispielsweise unabhängig von anderen Unterstützungsleistungen die emotionale Unterstützung in der Regel durch ethnisch homogene Kontakte, denn emotionale Themen sind sehr eng an kulturelle Hintergründe und Codes gekoppelt, die nicht ohne Weiteres jedem zugänglich sind (vgl. Fenicia/Gamper/Schönhuth 2010: 323). Demzufolge hält sich die ethnische Homophilie eines Netzwerks nicht immer in streng gezogenen ethnischen Grenzen. Determinante ist hier vielmehr ein geteilter sprachlich-kultureller Ursprungsraum (vgl. ebenda: 320), was sich beispielsweise bei der lateinamerikanischen Gemeinschaft in Deutschland zeigt, die sich in der Regel über nationalstaatliche Grenzen hinweg miteinander vernetzt und sich an sprachlichen und kulturellen anstelle von nationalstaatlichen Überschneidungen orientiert.

Bezieht man nun Granovetters Theorie der Stärke von schwachen Verbindungen auf die von Portes formulierte Problematik von geschlossenen, ethnisch homogenen Migrantennetzwerken, kann der Kontakt zu Angehörigen der Aufnahmegesellschaft als Brücke zu neuen, nicht redundanten Ressourcen gesehen werden, die Migranten zu sozialer Mobilität verhelfen können (vgl. Haug 2010: 250). In diesem Rahmen unterscheidet Haug bezüglich des Sozialkapitals von Migranten Aufnahmeland-spezifisches und Heimatland- spezifisches Sozialkapital. Hierbei können Migranten über das Aufnahmeland-spezifische Sozialkapital auf die Ressourcen der ansässigen Gesellschaft zurückgreifen, was besonders für die Arbeits- und Wohnungssuche einen Vorteil bietet. Herkunftsland-spezifisches Sozialkapital hingegen ist für die Binnenintegration der Migranten und ihren Zugriff auf Ressourcen der ethnischen Gemeinschaft wichtig (vgl. ebenda: 251). Als solche kommen die Teilhabe an Interessenvertretungen und der Kontakt zu Personen, die Hilfeleistungen in verschiedenen Lebensbereichen liefern, in Betracht (vgl. Fenicia/Gamper/Schönhuth 2010: 310). Voraussetzung für den Erwerb von Aufnahmeland-spezifischem Sozialkapital ist allerdings die Sanktionsfreiheit durch die eigenethnische Gruppe. Wenn die Loslösung aus der eigenen Gruppe mit dem Ausschluss aus selbiger und dem Entzug von den dort geltenden Privilegien einhergeht, kann der Verlust der strong ties in der Summe negative Auswirkungen auf Sozialkapital und Erfolgschancen haben.

Auf die eine oder die andere Art ist Sozialkapital für Migranten von besonderer Wichtigkeit. Während quasi jeder Mensch ab dem Zeitpunkt seiner Geburt auf ein persönliches Netzwerk zurückgreifen kann, lassen viele Migranten durch ihren Standortwechsel ihr vertrautes Netzwerk im Heimatland zurück und stehen in dem Zielland der Migration vor der Aufgabe des Neuaufbaus eines sozialen Netzes (vgl. Schütze 2006: 295). Diesem neuen Netzwerk der Migranten kommt nun eine fundamentale Rolle für die Orientierungsphase in der neuen Umgebung zu. Folgt man Esser und Eisenstadt, die davon ausgehen, dass der Migrationsprozess als Phase der Resozialisation zu verstehen ist (vgl. Oswald 2007: 111), wird die Bedeutung des sozialen Netzwerks als primäre Bezugsgruppe besonders deutlich. Diese These wird bezüglich der Arbeitsplatzsuche ebenfalls empirisch durch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) unterstützt. Laut der Studie haben fast die Hälfte der Migranten, die im Jahr 2003 eine neue Stelle gefunden haben, diese durch Kontakte aus ihrem persönlichen Netzwerk gefunden. Bei der deutschen Vergleichsgruppe traf dies nur auf etwa 30% zu (vgl. Fenicia/Gamper/Schönhuth 2010: 324). Problematisch ist hierbei, dass gerade Migranten mit geringer Ausbildung über wenige Personen in ihrem Netzwerk verfügen, die derartige Unterstützungsleistungen bieten können (vgl. ebenda: 324f).

2.3 Transnationalismus

2.3.1 Das Konzept des Transnationalismus

Seit das Transnationalismuskonzept in den 1990er Jahren in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde, hat es sich schnell in der Forschung etabliert und stellt mittlerweile eines der populärsten Konzepte der Migrationsforschung dar (vgl. Dahinden 2010: 393). Dabei beschreibt der Begriff weniger ein neues Phänomen als eine neuartige Perspektive der Untersuchung. Transnationale Lebensweisen existieren schon seit geraumer Zeit, sie standen jedoch vor ihrer weiten Verbreitung selten im Zentrum der Analyse der Migrationsforschung (vgl. Hühn et al. 2010: 12).

Die Notwendigkeit für den Transnationalismusbegriff in der Migrationsforschung erschließt sich aus der immer offensichtlicher gewordenen Tatsache, dass viele Migrationsprozesse nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt als abgeschlossen betrachtet werden können. Diese Beobachtung steht im Gegensatz zu den klassischen assimilatorischen Migrationstheorien, die, vereinfacht gesagt, von einer gerichteten Migrationsbewegung mit Start und Endpunkt ausgehen, die in einer Verschmelzung mit der ansässigen Bevölkerung bzw. einer alternativen Rückkehrmigration ihren Abschluss findet. Seit aus mehreren Forschungsarbeiten hervorgegangen ist, dass in vielen Fällen Migrationsbiographien in den USA nicht mittels der klassischen Modelle erklärt werden konnten, kam es infolgedessen in der dortigen Migrationsforschung zu einem Bruch mit den vorherrschenden Assimilations-Konzepten und zu einer vermehrten Hinwendung zu Erklärungsansätzen mit Transnationalismusbezug (vgl. Fuhse 2010a: 143).

Der ursprüngliche Transnationalismusbegriff bezieht sich dabei auf Gemeinschaften und deren Lebensweisen, die auf regelmäßiger Basis über nationalstaatliche Grenzen hinweg existieren und agieren (vgl. Hühn et al. 2010: 13). Vermehrt stellt eine Emigration nicht mehr einen einmaligen Wohnortwechsel dar, der mit einem Bruch mit dem Herkunftskontext einhergeht. Vielmehr entstehen durch die Migrationsbewegung vielfach neue Interaktionen und Interdependenzen zwischen Start- und Zielland der Wanderung (vgl. Dahinden 2010: 393). Migration wird folglich nicht mehr als unidirektional aufgefasst. Stattdessen geht man von einem zirkulären Prozess aus (vgl. ebenda: 396). Die transnational agierenden Migranten schaffen mittels ihrer Netzwerke neue soziale Räume, die sich über verschiedene geographische Regionen erstrecken. In diesen sozialen Räumen kommt es zu regelmäßigen Austauschprozessen von Gütern und Ideen durch Akteure, die sich zwischen den sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen in unterschiedlichen Ländern hin und her bewegen (vgl. Fuhse 2010a: 143). Die dadurch entstehenden Verbindungen über die Grenzen von Ländern hinweg stehen im Zentrum des Interesses des Transnationalismusansatzes, wodurch auch die sozialen Netzwerke von transnationalen Migranten in den Fokus rücken (vgl. Fuhse 2010b: 398).

Dabei kann der Inhalt von Transnationalität eine Vielzahl an Formen annehmen. Auf der ökonomischen Ebene kann sich Transnationalität durch das Versenden von Rimessen oder bestimmte ethnische Geschäftsformen ausdrücken. Ebenso kann es sich durch soziales oder politisches Engagement in mehreren Ländern äußern oder sich in der Bildung neuer hybrider Identitäten und religiöser Formen niederschlagen (vgl. Dahinden 2010: 394). Transnationale Beziehungen von Migranten enthalten auch soziales Kapital, was sich erheblich auf weitere Migrationsentscheidungen auswirken kann. Im Laufe der Zeit akkumuliert sich das soziale Kapital, das in den Beziehungen zwischen zwei Ländern existiert, wodurch Strukturen entstehen, die sich förderlich für Migrationsentscheidungen auswirken und die eine Kettenmigration zur Folge haben können (vgl. Haug 2010: 250). Die Untersuchung von transnationalen Beziehungen kann somit auch Rückschlüsse auf die Ursachen und Verläufe von Migrationsströmen erlauben.

2.3.2 Transnationale Identität

Durch das Abrücken von dem klassischen bipolaren Einbahnstraßen-Modell der Assimilation, das eine unausweichliche identifikative Angleichung an die Aufnahmegesellschaft vorsieht, stellt sich auch die Frage, wie transnationale Migranten ihre Identität konstruieren. Schließlich liegt der Gedanke nahe, dass die Konstruktion grenzübergreifender Sozialräume auch die Entstehung von grenzübergreifenden Identitäten fördert. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach, da die Identitätskonstruktion von Migranten per se ein komplexes Phänomen darstellt, welches nur schwer zu erheben ist (vgl. Fuhse 2010b: 364).

Dabei hat die Identität eines jeden an sich ein vielschichtiges Wesen, dem neben einem dynamischen, prozesshaften Charakter (vgl. Tilkeridoy 1998: 26) gleichzeitig eine grundlegende Kontinuität unterstellt werden kann (vgl. ebenda: 29). Während gewisse grundlegende Strukturen also beständig sind, kann sich die Identität einer Person durchaus verändern. Für Migranten, deren Umfeld durch ihre Emigration massiven Veränderungen unterworfen ist, ist dieser Punkt äußerst bedeutsam. Schließlich definiert sich eine Identität auch durch das eigene Umfeld und die Differenzen bzw. Überschneidungen, die dazu bestehen. Die soziale Identität einer Person kann somit als „die Wahrnehmung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie (oder Gruppe)“ (Kühne/Spellerberg 2010: 20)

[...]


1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde auf eine geschlechtsspezifische Unterscheidung verzichtet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die entsprechenden Formen im Folgenden für weibliche wie männliche Personen.

2 Zur Verwendung und Konstruktion des Kollektivbegriffs Lateinamerikaner bzw. Latinos jenseits nationaler Kategorien als Untersuchungspopulation oder im allgemeinen Sprachgebrauch siehe : Gruner - 2002: 275; Gruner - ; Gómez Londoño 2006: o.S.

Ende der Leseprobe aus 109 Seiten

Details

Titel
Migrantenselbstorganisationen und die Erfolgschancen ihrer Mitglieder
Untertitel
Potentiale der Nutzung von Sozialkapital und transnationalen Ressourcen. Lateinamerikanische Migranten in Deutschland
Hochschule
Universität Trier
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
109
Katalognummer
V333961
ISBN (eBook)
9783668246423
ISBN (Buch)
9783668246430
Dateigröße
882 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Migration, Migrationssoziologie, Migrantenselbstorganisationen, MSO, Transnationalität, Netzwerke, Netzwerkanalyse, Erfolg, Arbeit, Sozialkapital, Integration, Organisation, Transnationalismus, Fremdheit, Ressourcen, Identität, ethnische Öffentlichkeit, Latinos, Lateinamerikaner, Qualitative Forschung, Qualitative Daten
Arbeit zitieren
Robert Stockton (Autor:in), 2013, Migrantenselbstorganisationen und die Erfolgschancen ihrer Mitglieder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/333961

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