Diese Arbeit befasst sich mit dem Thema der Leseförderung durch den kombinierten Einsatz von Kinderbuch und Kinderfilm im Deutschunterricht anhand des Beispiels "Herr der Diebe" von Cornelia Funke.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Lesen und Medienumgang in der Schule
2.1. Der Kompetenzbereich „Lesen - mit Texten und Medien umgehen“ im Kerncurriculum und in den Bildungsstandards
2.2. Sozialisation und Kompetenzerwerb
2.2.1. Literarische Sozialisation
2.2.2. Kompetenzen im Deutschunterricht
2.2.2.1. Was sind Kompetenzen?
2.2.2.2. Lesekompetenz
2.2.2.3. Literarische Kompetenz
2.2.2.4. Medienkompetenz
2.2.2.5. Das Zusammenspiel von Lesekompetenz, literarischer Kompetenz und Medienkompetenz
3. Roman und Film im Deutschunterricht
3.1. Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht
3.2. Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht als Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz des Lese-Film-Tagebuchs
3.3. Ästhetisches Lernen im Literaturunterricht
3.4. Das Lesetagebuch als lesedidaktischer Ansatz im Deutschunterricht
3.5. Abgrenzung des Begriffs Lesetagebuch vom gewöhnlichen Tagebuch
3.5.1. Zum Begriff des privaten Tagebuchs
3.5.2. Zum Begriff des Lesetagebuchs
3.6. Ein Lese-Film-Tagebuch - Was ist das?
3.7. Zum Verhältnis von Buch und Film
3.8. Der Kinderfilm im Deutschunterricht
3.8.1. Ein Strukturmodell zum unterrichtlichen Einsatz literarischer Kinderfilme
3.8.2. Was Kinder von Filmen erwarten
3.9. Didaktisch-methodische Konsequenzen des Lese-Film-Tagebuchs
3.10. Weitere Möglichkeiten von Medienkombinationen
4. Vorstellung und Analyse des Romans „Herr der Diebe“ von Cornelia Funke
4.1. Die Autorin
4.2. Entstehungsgeschichte des Romans
4.3. Inhaltsangabe
4.4. Einige wichtige Charaktere
4.4.1. Prosper und Bonifazius
4.4.2. Scipio, der „Herr der Diebe“
4.4.3. Riccio, Mosca und Wespe
4.4.4. Victor Getz und Ida Spavento
4.5. Einordnung des Buches in eine literarische Gattung
4.6. Formale und erzähltheoretische Aspekte
5. Vorstellung und Analyse des Films „Herr der Diebe“
5.1. Allgemeine Informationen zum Film
5.2. Filmkritiken
5.3. Analyse einiger ausgewählter Filmszenen
5.3.1. Szene 1: Prospers Flucht aus dem Waisenhaus - Beobachtung der Mimik
5.3.2. Szene 2: Bo sieht, wie sich der steinerne Wassermann bewegt - Fantastische Elemente im Film
5.3.3. Szene 3: Zwei Hunde verfolgen Prosper und Scipio auf der Isola Segreta - Die Wirkung der Kameraführung
6. Vorstellung und Analyse des Lese-Film-Tagebuchs „Herr der Diebe“
6.1. Möglichkeiten der Anwendung des Lese-Film-Tagebuchs im Unterricht
6.2. Verschiedene Auseinandersetzungsweisen
6.3. Erläuterung und Analyse der Aufgaben des Lese-Film-Tagebuchs
6.4. Einordnung der Aufgaben in die verschiedenen Auseinandersetzungsweisen
6.5. Die Verteilung der Aufgabentypen
7. Reflexion und Fazit
Literaturverzeichnis
Internetquellen:
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
8. Anhang
„ Lehrer und Lehrerinnen kommen an der Tatsache nicht vorbei, daß ein Großteil ihrer Schüler die Literatur heute nicht mehrüber das Buch, sondernüber andere Medien, vor allemüber Filme und Fernsehsendungen, kennenlernt. […]
Die Schule mußauf diese verhnderte Situation reagieren. Sie kann sich nicht länger der neuen Aufgabe verschließen, ihren Schülern bei der Rezeption und Verarbeitung von Filmen und Fernsehspielen zu helfen - […] mit dem Ziel, […] sie zu stützen und zu befähigen, mit diesen Medien kritischer und emanzipierter umzugehen. Dabei ist […] durchaus auch mit lesefördernden Wirkungen des literarischen Kinderfilms zu rechnen. […] Die Kinderbuch- Verfilmung als Möglichkeit eines Zugangs zur Literatur ist dann besonders aussichtsreich, wenn sie mit der Lektüre des Buches kombiniert wird. […]
Was immer noch fehlt, ist eine ‚ Didaktik des literarischen Kinderfilms ’ , die neben einer grundsätzlichen Auseinandersetzungüber die Funktionen und den Einsatz literarischer Kinderfilme vor allem Strukturmodelle für den kombinierten Einsatz von Kinderbuch und Kinderfilm […] enthalten müß te. “
Michael Sahr1
1. Einleitung
Die vorliegende Masterarbeit mit dem Titel „Roman und Film im Deutschunterricht - Der ‚Herr der Diebe von Cornelia Funke als Lese-Film-Tagebuch“ beschäftigt sich mit dem seit dem „PISA-Schock“ nach der Jahrtausendwende oft diskutierten Thema der Leseförderung in der Schule - in diesem Falle der besonderen Form der Leseförderung durch den kombinierten Einsatz von Kinderbuch und Kinderfilm im Deutschunterricht.
Die Wahl dieses Themas liegt einerseits begründet in dem Interesse, herauszufinden, wie Kindern, denen vorschulische familiäre Erfahrungen mit Büchern nicht oder wenig vergönnt waren, bzw. Kindern, denen das Lesen keine Freude bereitet und die es daher kaum praktizieren, geholfen werden kann, ein gutes Verhältnis zu Kinder- und Jugendliteratur zu entwickeln, um Lesemotivation zu wecken.
Andererseits ist die Situation in vielen Schulen so, dass Lehrer2 die Möglichkeiten der unterrichtlichen Beschäftigung mit Literatur kaum oder unzureichend kennen bzw. wahrnehmen. Dass ein Buch nicht einfach nur gelesen und zerredet werden muss, sondern vielfältige Chancen der Auseinandersetzung bietet, soll im weiteren Verlauf der Arbeit gezeigt werden.
Der literarische Kinderfilm im Unterricht (vgl. Kap. 3.8) fristet auch heute noch häufig ein Schattendasein. Sein Potential zur Leseförderung ist weitgehend unerkannt geblieben. Michael Sahr und andere führen den mangelnden Einsatz des literarischen Kinderfilms auf die auch heute noch innerhalb der Lehrerschaft zu konstatierenden Berührungsängste mit diesem Medium zurück.3 Im Folgenden soll dargelegt werden, warum auch das Medium Film einen Platz im Deutschunterricht verdient hat und für die Schüler eine Brücke zur Buchkultur sein kann.
Leseforschungen4 haben ergeben, dass die Chancen auf eine gute Bildung und beruflichen Erfolg umso größer sind, je früher Kinder vorgelesen bekommen, in einer bücherbestückten Umgebung aufwachsen und Lesekompetenz entwickeln. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Kinder aus bücher- und bildungsfernen Familien weitaus schlechtere berufliche Zukunftsaussichten haben.5 Das, was im Elternhaus nicht stattfindet, können Kindergärten und Schulen nur zu einem gewissen Teil kompensieren. Selbstverständlich ist der schulische Literaturunterricht kein Ersatz für frühkindliche Erfahrungen mit Büchern, wie sie im Elternhaus stattfinden sollten. Er kann aber durch bestimmte Konzepte versuchen, Defizite auszugleichen, um auch Kindern aus bildungsfernen Familien Leseerfahrungen zu ermöglichen.
Eines dieser Konzepte ist das „Lesetagebuch“ (vgl. Kap. 3.4). Es handelt sich um eine bewährte Methode, um im Unterricht mit Büchern zu arbeiten. Ingrid Hintz, Andrea Bertschi- Kaufmann, Liselotte Langemack und andere haben zu diesem Thema Forschungen angestellt.6 Das, was in dieser Arbeit vorgestellt wird, geht noch einen Schrittüber das bisher bekannte Lesetagebuch hinaus: Es integriert ein neues Medium und nennt sich fortan nicht mehr Lesetagebuch, sondern Lese-Film-Tagebuch (vgl. Kap. 3.6). Es handelt sich um den Versuch, mit einem medienkombinatorischen Konzept Vorschläge für einen innovativen Literaturunterricht zu entwickeln. Es gilt dabei, die Augen nicht vor neuen Medien zu verschließen, sondern sie einzubinden und Nutzen aus ihnen zu ziehen, um Leseförderung einmal mit anderen Mitteln als Printmedien zu gestalten. Dem Film kommt in diesem Konzept einerseits die Aufgabe zu, mediensozialisierten Schülern durch ein ihnen bekanntes und für sie leichter rezipierbares Medium den Weg zur Literatur und zum Lesen zu ebnen, und andererseits den Film als häufig genutztes Medium bewusster wahrzunehmen und die bereits auf diesem Weg erworbene Medienkompetenz weiterzuentwickeln.
In dieser Arbeit wird nun exemplarisch eine Möglichkeit aufgezeigt, mit einem Roman und seiner Verfilmung im Deutschunterricht zu arbeiten. Mit der Kombination von zwei verschiedenen Medien sollen Lesefreude und -motivation auf besondere Weise angeregt und aus Schülern kompetentere Literatur- und Medienrezipienten gemacht werden. Als Beispiel wurde der im Jahr 2000 erschienene Roman „Herr der Diebe“ von der Bestsellerautorin Cornelia Funke sowie seine literarische Verfilmung gewählt. Es handelt sich um einen von Kritikern hochgelobten, anspruchsvollen und ästhetisch wertvollen Roman, dessen Geschichte es bis ins internationale Kino geschafft hat. Sie verfügt daherüber eine moderne, die Lebenswelt der Schüler ansprechende Verfilmung, die sich eignet, um im Unterricht Anwendung und Zuspruch zu finden. In den Kapiteln 4 und 5 finden sich Analysen von Buch und Film, in denen Inhalt, Form, Charaktere und ähnliches eingehend untersucht werden.
Der „Herr der Diebe“ spricht in jedweder medialer Form eine breite Zielgruppe an. Das Lese- Film-Tagebuch ist daher nicht speziell für eine bestimmte Klassenstufe entwickelt worden. Es eignet sich jedoch von seiner Aufbereitung her am besten für die Jahrgänge 4 bis 6. Bei dieser Angabe handelt es sich jedoch um eine ungefähre Einschätzung, die jeder Lehrer in seinem Ermessen und auf Grund der Kenntnis seiner Schüler in beide Richtungen ausweiten kann.
Die zentrale Hypothese, die dieser Arbeit zu Grunde liegt, lautet:
Das Lese-Film-Tagebuch ist eine geeignete Methode, um Schüler an genussvolles und kompetentes Bücherlesen und Filmschauen heranzuführen und bereits vorhandene lese- und medienspezifische Kompetenzen weiterzuentwickeln.
Diese Arbeit ist zudem eine Antwort auf die Aussage Michael Sahrs, die zu Beginn zitiert wurde: „Was immer noch fehlt, ist eine ‚Didaktik des literarischen Kinderfilms , die neben einer grundsätzlichen Auseinandersetzungüber die Funktionen und den Einsatz literarischer Kinderfilme vor allem Strukturmodelle für den kombinierten Einsatz von Kinderbuch und Kinderfilm […] enthalten müßte.“7 Dieses Zitat stammt zwar bereits aus dem Jahre 1997, ist jedoch nach wie vor aktuell, da der Deutschunterricht noch immer dazu neigt, die Printmedien in den Vordergrund zu rücken - häufig, ohne das Potential zu nutzen, dass in einer Einbeziehung des Mediums Film liegen kann. Möglicherweise gibt es mittlerweile didaktische Anleitungen für den literarischen Kinderfilm, doch die geforderten „Strukturmodelle für den kombinierten Einsatz von Kinderbuch und Kinderfilm“ sind rar. Ziel der Arbeit soll es daher sein, mit dem Lese-Film-Tagebuch ein Beispiel dafür zu geben, wie der Umgang mit Literatur und ein Heranführen an die Wahrnehmung der Ästhetik und des Genussmittels Buch durch eine zusätzliche Filmrezeption erfolgreich sein kann. Weiterhin soll die Arbeit die schulische Lese- und Kompetenzförderung durch den Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur in Verbindung mit der entsprechenden Verfilmung durch Bezüge zum Kerncurriculum und den Bildungsstandards begründen (vgl. Kap. 2.1), und darlegen, warum eine solche Förderung notwendig und sinnvoll ist (vgl. Kap. 2.2 und folgende).
Das Forschungsfeld der Leseförderung ist groß. Gerade seit das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler im internationalen Vergleich der Lesekompetenzen publik wurde8, erscheinen viele Veröffentlichungen zu diesem Thema. Da das Thema der Arbeit sich auf die spezielle Art der Leseförderung durch eine Zwei-Medien-Kombination bezieht, fokussieren sich die einzelnen Ausführungen auf Leseförderungsbereiche, die für dieses didaktische Konzept relevant sind.
2. Lesen und Medienumgang in der Schule
Diese Arbeit konzentriert sich darauf, als Möglichkeit der Lese-, Literatur- und Medienkompetenzförderung in der Schule ein Lese-Film-Tagebuch zu einem momentan sehr populären Kinderbuch vorzustellen. Um aber erläutern zu können, inwiefern das Lese-Film- Tagebuch für diese Art der Förderung nutzbar und sinnvoll ist, ist es zunächst notwendig, die Legitimation eines solchen Konzepts anhand der Bildungsstandards und des Kerncurriculums9 zu belegen. Zusätzlich soll seine Bedeutsamkeit anhand einer Darstellung zur literarischen Sozialisation von heutigen Schülern offenbart werden. Bestimmte Aspekte des kompetenzorientierten Deutschunterrichts werden näher erläutert, das heißt, die Bedeutung der verschiedenen angestrebten Kompetenzen sowie ihre gegenseitige Beeinflussung werden ausgeführt.
2.1. Der Kompetenzbereich „Lesen - mit Texten und Medien umgehen“ im Kerncurriculum und in den Bildungsstandards
Die von der Kultusministerkonferenz 2004 verabschiedeten Bildungsstandards des Faches Deutsch für den Primarbereich sind „Formulierungen dessen, was Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe können sollen“.10
Das niedersächsische Kerncurriculum für das Fach Deutsch in der Grundschule greift die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz auf und konkretisiert sie, indem es notwendige Kenntnisse und Fertigkeiten für das Erreichen der einzelnen Kompetenzen benennt.
Für den Teil „Lesen - mit Texten und Medien umgehen“ und damit für das Thema dieser Arbeit, sind vor allem die folgenden vier Bereiche interessant:
-über Lesefähigkeiten verfügen
-über Leseerfahrungen verfügen
- Texte erschließen
- Texte präsentieren.11
Besonders betont wird das „Verfügenüber Leseerfahrungen“ und die damit verbundene Voraussetzung, dass der Deutschunterricht aktiv das Freizeit-Lese- und Medienverhalten der Schüler „in Rufweite“ hält, sich also für außerschulische Erfahrungen seiner Schüler interessiert und diese mit einbezieht.12
Die vier oben genannten Bereiche beinhalten verschiedene Standards, von denen die im Folgenden aufgeführten Teilaspekte für die Arbeit mit dem Lese-Film-Tagebuch besonders relevant sind, beziehungsweise durch sie gefördert werden können. Dazugehörige Kenntnisse und Fertigkeiten sowieüberprüfungsmöglichkeiten, die durch das Kerncurriculum benannt werden, stehen in Klammern.
- altersgemäße Texte sinnverstehend lesen (unterschiedlichen Medien Informationen entnehmen, Fragen zu einem Text beantworten, Inhalte zusammenfassen, zentrale Aussagen eines Textes erfassen)
- lebendige Vorstellungen beim Lesen und Hören literarischer Texte entwickeln
- Kinderliteratur kennen: Werke, Autorinnen und Autoren, Figuren, Handlungen (handlungs- und produktionsorientierter Umgang mit Texten und Kinderbüchern, z. B. Führen eines Lesetagebuchs, Umgestaltung von Texten)
- die eigene Leseerfahrung beschreiben und einschätzen
- eigene Gedanken zu Texten entwickeln, zu Texten Stellung nehmen und mit anderen über Texte sprechen
- bei der Beschäftigung mit literarischen Texten Sensibilität und Verständnis für Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen
- Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Texten finden (handelnd und produktiv mit Texten umgehen, ein Kinderbuch auswählen und vorstellen, literarische Figuren/Motive in unterschiedlichen Kulturen/Kontexten vergleichen, Texte in unterschiedlicher medialer Aufmachung untersuchen, z. B. Texte lesen, von Tonträgern hören, als Film sehen)
- handelnd mit Texten umgehen: z. B. illustrieren, inszenieren, umgestalten, collagieren13
(vgl. auch Kap. 3.2 der vorliegenden Arbeit zum handlungs- und produktionsorientierten Unterricht)
Das Kerncurriculum betont die Rolle der Grundschule auf dem Weg zum „genießenden, informierenden, selektiven, interpretierenden und kritischen Lesen“, um damit unter anderem zu einer selbstbestimmten, bewussten Auswahl an Medien zu führen.14
Zusätzlich weisen die Bildungsstandards darauf hin, dass Unterricht durch Vorlese- Geschichten, Lieder und Filme die Fähigkeit, komplexe Geschichten zu verstehen und Freude daran zu entdecken, von Anfang an fördern sollte.15 Für die Lektüreauswahl schlägt das Kerncurriculum unter anderem „aktuelle Kinder- und Jugendbücher sowie Kinderbuchklassiker“ vor und weist zudem darauf hin, dass Inhalte parallel in verschiedenen Medien angeboten werden sollten.16
Diese Vorschläge werden mit Cornelia Funkes Roman „Herr der Diebe“ und der entsprechenden Literaturverfilmung aufgegriffen.
2.2. Sozialisation und Kompetenzerwerb
Mit dem Lese-Film-Tagebuch zu Cornelia Funkes Roman „Herr der Diebe“ wird ein kleiner Beitrag geleistet, Methodenvorschläge für den produktiven und handlungsorientierten Deutschunterricht vorzustellen, der aktiv den Aspekt der Leseförderung integriert. Leseförderung beinhaltet den Aufbau bestimmter Kompetenzen, deren Entwicklungsstand bei jedem Schüler je nach seiner Lesesozialisation und seiner literarischen Sozialisation individuell verschieden ist. Was unter den verschiedenen Sozialisationsformen und den zu entwickelnden Kompetenzen zu verstehen ist, erläutert das folgende Kapitel.
2.2.1. Literarische Sozialisation
„ In [den] Gegenstandsbereich [der literarischen Sozialisation] fällt die Begegnung mit allen Formen fiktional-ästhetischer Texte […] . ‚ Literarische Sozialisation vollzieht sich in unserer Kultur nicht nur im Rahmen von Schriftlichkeit, sondern potentiell auch im Rahmen anderer künstlerischer Präsentationsformen von Literatur wie Theater, Kabarett, Hörspiel, Fernsehspiel, Film etc. “ 17 (Bettina Hurrelmann)
In der Fachliteratur zum Thema „Lesen“ ist häufig sowohl von Lesesozialisation als auch von literarischer Sozialisation die Rede. Im Folgenden soll kurz erläutert werden, warum im Zuge dieser Arbeit der Begriff der literarischen Sozialisation mehr Gewichtung erfährt als der der Lesesozialisation.
Der Terminus Lesesozialisation (abgeleitet vom angloamerikanischen „reading literacy“) bezieht sich weitestgehend auf das Lesen und Verarbeiten geschriebener Texte, also die schriftsprachliche Rezeptionsfähigkeit. Dazu zählen Verstehensleistungen bei der Lektüre verschiedener linearer Textsorten, aber auch Tabellen, Graphiken und Lexikonartikel.18
Der größte Teil der Lesevorgänge bei Erwachsenen betrifft - anders als bei Heranwachsenden - nicht literarische, sondern pragmatische Texte. Auf das Lesen Erwachsener bezogen ist Lesesozialisation der passende Begriff. Da in Kindheit und Jugend aber der Lesesozialisationsprozess eng an literarische Medien (Hörspiele, Filme) gebunden ist19, ist der Terminus „literarische Sozialisation“ im Kontext dieser Arbeit von größerem Interesse. Literarische Sozialisation ist nicht an individuelle Schriftlektüre gebunden. Sie bezieht sich auf die Kenntnis literarischer Traditionen und die entsprechende Rezeptions- und Genussfähigkeit.20 Sie beinhaltet nach Ulf Abraham21 jedwede Gelegenheit, in der eine Berührung mit Literatur in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen stattfindet. Darin integriert sind sowohl die medialen Zusammentreffen, als auch die beabsichtigten und die unbeabsichtigten Kontakte zwischen Mensch und Literatur. Das Ziel gelingender literarischer Sozialisation ist der Erwerb von literarischer Kompetenz (dazu mehr in Kapitel 2.2.2.3). Wie zuvor bereits erwähnt, steht literarische Sozialisation (im Gegensatz zur Lesesozialisation) auch im Zusammenhang mit künstlerischen Präsentationsformen von Literatur - darunter fällt unter anderem auch der Film. Gerade in Bezug auf das in dieser Arbeit vorgestellte Lese- Film-Tagebuch ist also der Begriff der literarischen Sozialisation interessant. Die literarische Sozialisation beginnt, indem Kinder ihre Umgebungssprache (Muttersprache) erwerben, also bereits weit vor Schuleintritt.22 Der Familie kommt im Hinblick auf die literarische Sozialisation die Hauptrolle zu, denn im familiären Umfeld kommt es zu ersten, prägenden Berührungen mit jeglichen Arten von Literatur: durch das bloße Vorhandensein von gefüllten Bücherregalen (und damit eine Verfügbarkeit von Büchern), durch das Vorlesen und Anschauen von Bilderbüchern, Kommunikationüber das Gelesene, durch das Wahrnehmen von Lesen als Freizeitbeschäftigung und Informationsquelle dank elterlicher oder geschwisterlicher Lesevorbilder, durch Besuche von Theaterstücken und Kinofilmen, Stadtbibliotheken und Buchhandlungen, durch die Beobachtung, dass Lesen etwas Alltägliches, Normales ist, das man aus Spaß und Genussfreude tun kann. Diese fördernden Faktoren des Literaturinteresses hängen laut Hurrelmann eng mit dem Bildungsniveau der Eltern zusammen.23 Der sozialökonomische Status scheint großen Einfluss auf die literarische Sozialisation zu haben: je höher der gesellschaftliche Status der Familie, desto besser die Chancen für die Grundsteinlegung des Literaturinteresses bei den Kindern.
Weitere, später hinzukommende Instanzen der literarischen Sozialisation sind neben der Familie Kindergarten und Schule sowie Freundeskreise („peer groups“).24
Schüler kommen mit sehr unterschiedlichen literarischen Erfahrungen in die Schule. Seit die Kindheit derart medial geprägt ist, wie es heute der Fall ist, und eine literarische Sozialisation durch verschiedene Faktoren in einigen Familien kaum noch stattfindet (unter anderem durch eine Flut an lesealternativen Medien, Veränderung der Familienstrukturen, Abhängigkeiten der literarischen Sozialisation von der Schichtzugehörigkeit), hat sich der Druck auf die Schule erhöht, dieses Defizit aufzufangen. Selbstverständlich kann der Unterricht nicht vollständig eine mangelnde vorschulische und familiäre Auseinandersetzung mit literarischen Werken ersetzen. Er kann jedoch versuchen, so vielen Schülern wie möglich einen Zugang zur Literatur zu eröffnen und damit Lesemotivation zu wecken. Damit gäbe er denjenigen Schülern, denen im Elternhaus die Pforte zur Literatur nicht geöffnet wurde, die Chance, ihre Entwicklung zu kompetenten Rezipienten selbst zu beeinflussen - auch wenn das, „[w]as in der Familie schief läuft, […] später nur mit hohem Aufwand wieder ausgeglichen werden“25 kann.
2.2.2. Kompetenzen im Deutschunterricht
In der Schule, die als eine von mehreren Sozialisationsinstanzen fungiert, können mit Hilfe des Lese-Film-Tagebuchs verschiedene Kompetenzen gefördert werden. Im Folgenden werden der Begriff der Kompetenz sowie die verschiedenen Kompetenzen im Deutschunterricht kurz definiert und charakterisiert. Anschließend wird in Kapitel 2.2.2.5 die Relation jener Kompetenzen herausgearbeitet.
2.2.2.1. Was sind Kompetenzen?
Unter Kompetenzen allgemein versteht man Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten,über die ein Mensch verfügen muss, um Anforderungen in bestimmten Situationen erfüllen zu können. Dazu gehört auch die Bereitschaft, diese Fähigkeiten anzuwenden. Dadurch, dass zunehmend komplexere Aufgaben bewältigt werden können, zeigt sich ein Kompetenzerwerb bzw. eine Kompetenzentwicklung.
Laut dem niedersächsischen Kerncurriculum für das Fach Deutsch in der Grundschule kann von einer Kompetenz dann gesprochen werden, wenn auf vorhandenes Wissen zurückgegriffen wird, erforderliches Wissen beschafft werden kann, zentrale Zusammenhänge erkannt, Handlungsschritte durchdacht und geplant, Lösungsmöglichkeiten kreativ erprobt, angemessene Handlungsentscheidungen getroffen, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten eingesetzt und Ergebnisse nach angemessenen Kriterienüberprüft werden.26
2.2.2.2. Lesekompetenz
„ Im Rahmen der Lesesozialisation wird der ‚ Weg zum Lesen erforscht und beschrieben, im Rahmen der literarischen Sozialisation der ‚ Weg zur Literatur . Was beim Durchwandern dieser Wege erworben wird, nennen wir auf der einen Seite ‚ Lesekompetenz , auf der anderen ‚ literarische (Rezeptions)kompetenz . “ 27 (Gerhard Härle, Bernhard Rank)
Lesekompetenz bezieht sich sowohl auf literarische als auch nichtliterarische Texte28 und ist ein Konstrukt aus diversen Kompetenzen. Margrit Schreier bezieht sich in ihrem Artikel „Entwicklung von Lesekompetenz - Fördernde Einflüsse des medialen Umfeldes“ auf Bettina Hurrelmann und teilt diese Kompetenzen ein in die Kategorien „kognitiv“, „motivationalemotional“ und „anschlusskommunikativ“.29 Die kognitiven Gesichtspunkte bestehen einerseits aus hierarchieniedrigen Prozessen (zum Beispiel die Fähigkeit zur Buchstaben- und Worterkennung) und andererseits aus hierarchiehöheren Prozessen (zum Beispiel ein globales Textverständnis). Unter die motivational-emotionalen Aspekte fallen das Aussuchen einer geeigneten Lektüre und die Bereitschaft, sich auf diese auch einzulassen. Die Fähigkeit zur Anschlusskommunikation beinhaltet eine bewusste Wahrnehmung und Reflexion des Leseerlebnisses, um diese mit anderen diskutieren zu können.
Verschiedene Schulleistungsuntersuchungen wie beispielsweise PISA (Programme for International Student Assessment) und IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) fassen drei Bereiche der Lesekompetenz zusammen:
1. Informationen ermitteln
2. Textbezogenes Interpretieren
3. Reflektieren und Bewerten.30
Lesekompetenz entwickelt sich nur zum Teil im Unterricht. Sie wird vielmehr, analog zur literarischen Sozialisation, bereits im frühen Kindesalter durch Vorlesesituationen in der Familie und im Kindergarten ausgebildet. Diese frühe Phase hat entscheidenden Einfluss auf die spätere Lesemotivation.31
Es lassen sich auf der Grundlage verschiedener Modelle aufeinander aufbauende Ebenen der Lesekompetenz unterscheiden, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden:
- Identifizieren der Buchstaben als Zeichen
- Buchstabenkombinationen als Wörter erkennen
- Semantische und syntaktische Beziehungen von Sätzen verstehen
-übergreifende inhaltliche Textstrukturen verstehen (Gesamtvorstellung des Textsinnes bilden)
- Texte auf eigene Lebenszusammenhänge beziehen.32
Bezüglich des Lesekompetenzbegriffs ist anzumerken, dass es sich beim verstehenden Lesen grundsätzlich um einen aktiven, geistigen Prozess handelt. Das heißt, es gibt einen eigenaktiven Anteil des Lesers daran, Informationen eines Textes zu ermitteln und zu erfassen.33
Cornelia Rosebrock teilt der Kinder- und Jugendliteratur medial eine zentrale Rolle im Prozess des Lesekompetenzerwerbs zu und definiert die Lesekompetenz als Schlüsselqualifikation in der Mediengesellschaft.34
2.2.2.3. Literarische Kompetenz
„ Literarische Kompetenz, verstanden als die Fähigkeit, mit einem Text Kontakt aufzunehmen und eine wie auch immer geartete, emotional-affektive oder kognitive Verbindung mit ihm einzugehen. “ 35 (Gerhard Haas)
Im kompetenzorientierten Literaturunterricht richtet sich das Hauptaugenmerk nicht mehr nur auf das Verständnis eines bestimmten Werks, sondern darauf, dass die Schüler am exemplarischen Beispiel Fähigkeiten entwickeln, die von ihnen im Umgang mit anderen Texten zu späteren Zeitpunkten erneut angewendet werden können.36
Kirsten Kumschlies bezieht sich in ihrem Buch „Es war sehr schön, in dir zu leben…“ auf einen Aufsatz Kaspar Spinners von 1993 zum Erwerb literarischer Kompetenz im Grundschulalter. Er unterteilt die literarische Kompetenz in die Bereiche
- Unterscheiden von Fiktion und Wirklichkeit
- Verallgemeinern und Abstrahieren
- Verstehen indirekten Sprachgebrauchs (Metaphern)
- Perspektiven und Gefühle nachvollziehen
- Moralverstehen
- Komikverständnis.37
Als besonders wichtig hebt er auch den Aspekt der Imaginationsfähigkeit hervor, da dieser als Voraussetzung für Identifikationsprozesse beim literarischen Lernen, für Perspektivenübernahme und symbolisches Verstehen anzusehen ist.38
Ulf Abraham definiert literarische Kompetenz als Fähigkeit literarischen Verstehens, die zu einem gewissen Grad durch Lese- und Literaturunterricht gefördert werden kann, sich aber grundsätzlich in individueller Auseinandersetzung mit poetischen, besonders mit fiktionalen Texten entwickelt.39 Notwendig ist diese Kompetenz, um die emotionale und ästhetische Wirkung dieser Texte wahrnehmen zu können.40
Gleichzeitig wird die Entwicklung der literarischen Kompetenz von Hans-Heino Ewers als „unbeabsichtigter Nebeneffekt“ bezeichnet, der eintritt, wenn der Leseanfänger durch das Konsumieren von Büchern an der literarischen Kommunikation teilnehmen will - und zwar nicht, weil er die Regeln des Spiels „Literatur“ erwerben will, sondern schlicht, weil er teilhaben möchte an den literarischen Gesprächen anderer.41
Das in Abbildung 2.1 dargestellte Organigramm soll die schriftliche Darstellung der Teilaspekte der literarischen Bildung nach Ewers42 modellhaft verdeutlichen:
Abb. 1: Der Gesamtprozess literarischer Bildung nach Ewers
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
unter anderem im Ermessen eines handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterrichts (vgl. Kap. 3.2), wie er beispielsweise durch das in dieser Arbeit vorgestellte Lese-Film- Tagebuch erfolgen kann.
Das nachstehende Schaubild verdeutlicht den Unterschied zwischen Lesekompetenz und literarischer Kompetenz in Abhängigkeit der jeweiligen Sozialisationsform.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Der Unterschied zwischen Lesekompetenz und literarischer Kompetenz43
2.2.2.4. Medienkompetenz
„ Medienkompetenz ist die Fähigkeit des Rezipienten bzw. Users zum sachgerechten und selbstbestimmten Umgang mit Medien. Medienkompetenz impliziert die Kenntnis nach Form und Inhalt unterschiedlicher Medienangebote und die Fähigkeit, die Qualität des Informationsgehaltes und derästhetischen Realisierung zu beurteilen. Medienkompetenz setzt darüber hinaus Fertigkeiten im Gebrauch und Einsatz von Medientechnik voraus, die eigene Gestaltung ermöglichen. “ 44 (Jutta Wermke)
Der Begriff „Medienkompetenz“ wird in der Literatur nicht einheitlich definiert. Je nach Zweck und Interesse werden häufig Teilaspekte herausgegriffen und als Ganzes dargestellt. Betont werden soll hier, dass Medienkompetenz - entgegen einiger Ansichten - keineswegs auf instrumentelle Fertigkeiten bezüglich der Bedienung und Handhabung technischer Geräte reduziert werden kann45. Vielmehr kann sie erstens als Teil der Kommunikationskompetenz nach Habermas verstanden werden (diese umfasst die Fähigkeit, an gesellschaftlicher Kommunikation als tragendes Element aktiv und selbstbestimmt teilzuhaben)46, und setzt sich zweitens aus diversen Teilkompetenzen zusammen:
- Medienwissen und Medialitätsbewusstsein
- Medienspezifische Rezeptionsmuster
- Medienbezogene Genuss- und Kritikfähigkeit
- Selektion und Kombination von Mediennutzung
- Produktive Partizipationsmuster
- Anschlusskommunikation mit anderen.47
Diese Teilaspekte von Medienkompetenz gilt es durch den Umgang mit Medien mittels des Erwerbs verschiedener Fähigkeiten kennenzulernen und aufzubauen. Diese Fähigkeiten sind sowohl von kognitiver, moralischer, sozialer, affektiver als auch ästhetischer und handelnder Art. Dazu gehören die folgenden Komponenten: Medien verstehen, unter ethischem Blickwinkel analysieren, Selbstreflexion, gemäß der eigenen Bedürfnislage angemessen mit Medien umgehen, sie nach kommunikationsästhetischen Gesichtspunkten gestalten sowie Medien technisch bedienen können.48
Zusammenfassend lässt sich sagen:
Medienkompetente Menschen sind fähig, Medien aller Art nach ihrem Verwendungszweck auszuwählen, zu verarbeiten, selbst zu gestalten und fachkundigüber sie zu urteilen.49
2.2.2.5. Das Zusammenspiel von Lesekompetenz, literarischer Kompetenz und Medienkompetenz
Margrit Schreier erläutert in ihrem Artikel „Entwicklung von Lesekompetenz - Fördernde Einflüsse des medialen Umfeldes“50, dass für jedes Medium, das wir nutzen, also Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Fernsehen gleichermaßen, Kompetenzen notwendig sind, um eine gelungene Rezeption zu garantieren. Gleichzeitig weist sie auf die Interrelation von Lese- und Medienkompetenz hin und auf die Möglichkeit, dass beide Kompetenzen sich förderlich aufeinander auswirken können. Dies gilt insbesondere, wenn man der häufig vertretenen These zustimmt, dass die Lesekompetenz Schlüsselkompetenz für andere Bereiche ist.51
Doch auch Thesen, die besagen, der Erwerb von Medienwissen und Verarbeitungsstrategien von AV-Medien könne sich positiv auf die Rezeption von Printmedien und damit auf den Erwerb von Lese- und literarischer Kompetenz auswirken, haben ihre Begründung: beispielsweise kann das Lernenüber Figurenentwicklung sowieüber narrative Strukturen und Genremerkmale durch Medienkonsum erfolgreich gefördert werden.52
Nach Hurrelmann umfasst die Lesekompetenz kognitive und motivational-emotionale Gesichtspunkte sowie die Fähigkeit zur Anschlusskommunikation (vgl. Kap. 2.2.2.2). Zu diesen Gesichtspunkten gehört es, eine Lektüre nach eigenen Bedürfnissen auszuwählen, sich auf sie einzulassen, Buchstaben und Wörter zu decodieren, einen Gesamtzusammenhang herzustellen, sich der eigenen Wahrnehmung bewusst zu sein und sich mit anderenüber seine Eindrücke austauschen zu können.
Diese Aspekte sind beinahe eins zu eins auf die Medienkompetenzübertragbar. Dazu bedarf es lediglich des Austausches einiger Wörter. So ließe sich „Lektüre“ durch „Medium“ oder „Film“ ersetzen. „Buchstaben und Wörter“ könnte durch „Bilder“, „Filmsequenzen“, „Sprache“, oder „Geräusche“ ausgetauscht werden.
Die Teildimensionen der Kompetenzen verdeutlichen im Vergleich einigeüberlappungsbereiche.
Auch Karin Richter weist auf den positiven Einfluss hin, den kindliche Medieninteressen und bereits erworbene Medienkompetenzen auf den Literaturunterricht und das Herausbilden literarischer Kompetenzen haben können.53 Sie betont, dass es keineswegs von Erfolg gekrönt sein könne, den Schülern das Medium Fernsehen ausreden zu wollen. Vielmehr gehe es darum, ihre medialen Kenntnisse für den Literaturunterricht fruchtbar zu machen, indem im Vergleich der beiden Medien das Besondere und Spezifische des poetischen Textes hervorgehoben und der Umgang mit ihm angeregt werde, ohne dabei die so beliebten AV- Medien zu verteufeln.
Sowohl beim Erwerb von literarischer Kompetenz, als auch beim Erwerb von Lese- und Medienkompetenzen (hier speziell auf AV-Medien bezogen) geht es also - je nach Kompetenz unterschiedlich gewichtet - um das Erkennen des Gelesenen/Gesehenen, das Verständnis desselben, die Herstellung eines Gesamtzusammenhangs, um Reflexions- und Urteilsfähigkeit und um zwischenmenschliche Kommunikationüber das Gelesene/Gesehene. Ist einer dieser Aspekte durch ein bestimmtes Medium gelernt worden, ist anzunehmen, dass sich das Gelernte positiv auf andere Bereicheübertragen lässt.
3. Roman und Film im Deutschunterricht
Das dritte Kapitel behandelt zunächst die Bedeutsamkeit von Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht und geht im Weiteren darauf ein, dass für einen erfolgreichen Einsatz des Lese- Film-Tagebuchs ein handlungs- und produktionsorientierter Unterricht vorausgesetzt werden muss. Dieser wiederum ist ebenfalls als Voraussetzung für ästhetisches Lernen zu betrachten. Im Anschluss daran wird zunächst die Methode des bereits bekannten und bewährten Lesetagebuchs vorgestellt und erläutert. Dies ist notwendig, um das Lese-Film-Tagebuch, das hier von Interesse ist, begrifflich einordnen zu können, da es auf der Methode des Lesetagebuchs basiert und „aus ihm geboren wurde“. Beim Lesetagebuch handelt es sich um eine Methode, die auf vielfältige Art und Weise im Unterricht angewendet werden kann und wird. Die Definition von Lesetagebüchern hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt, sodass Definitionsunterschiede verdeutlicht werden müssen. Zusätzlich ist eine Abgrenzung zum privaten Tagebuch von Nöten.
Im weiteren Verlauf des Kapitels wird die Rolle und Bedeutung des Films im Deutschunterricht erläutert sowie ein Strukturmodell zur unterrichtlichen Vorgehensweise vorgestellt.
3.1. Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht
„ Durch die ganzheitliche Begegnung hat das Kind vielfältige Erlebnisse, die zu seinen Erfahrungen werden. Literatur hat ihm etwas mitzuteilen, beantwortet seine Fragen, fördert seine Kompetenzen und eröffnet ihm Lebensperspektiven. Bücher werden für das Kind etwas Besonderes und Wertvolles, die sich zu lesen lohnen, seine Allgemeinbildung erweitern, seine Neugier wecken und sein Interesse an weiterer Literatur festigen. “ 54 (Edelgard Moers)
Häufig verzichten Lehrer auf das Lesen von so genannten „Ganzschriften“ im Unterricht und greifen stattdessen auf kurze Lesebuch-Abschnitte zurück, die sich in den 45 Minuten einer Schulstunde gut diskutieren und interpretieren lassen.
Wie aber soll Lesefreude entdeckt und Lesemotivation in der Schule aufgebaut werden, wenn keine Konfrontation mit vollständigen Geschichten in Romanlänge stattfindet? Malte Dahrendorf betont in seinem Artikel „Kinder- und Jugendliteratur in schulischer (didaktischer) Perspektive“ die Chancen, die Kinder- und Jugendliteratur im offenen Unterricht den Schülern bieten können. Sie können
- „relativ lehrer- und schulunabhängige Zugangswege zu Texten finden und erproben,
- mit persönlichen Interessen und Fragen an den Text herangehen,
- selbstüber die Art des Umgangs mit dem Text entscheiden, […],
- handelnd, das heißt verändernd und ergänzend mit Texten umgehen lernen“55.
Cornelia Rosebrock schreibtüber die Kinder- und Jugendliteratur in der Schule, dass sie, wenn sie denn angewendet wird, häufig leider nur ein einziges Amt innehabe, nämlich das der Lieferantin für Unterrichtsthemen.56 Nimmt ein Lehrer mit seiner Klasse das Thema Nationalsozialismus durch, liest er „Damals war es Friedrich“ (1961) oder „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (1971). Nimmt er das Thema Indianer durch, liest er „Fliegender Stern“ (1993) oder „Starker Sohn und Schwester“ (1996). Nimmt er Freundschaft und Liebe durch, liest er „Ben liebt Anna“ (1979).über viele Jahre hinweg hat sich in der Schule ein Kanon von Kinder- und Jugendliteratur herausgebildet, aus dem noch heute traditionellerweise, und weil es auf Grund von zahlreich verfügbaren Arbeitsmaterialien sehr praktisch ist, gern geschöpft wird. Zweifelsohne besitzen diese Werke hohen Bildungswert und haben ihren „Stammplatz“ daher verdient eingenommen. Erquicklich wäre es jedoch, parallel zu diesem Kanon auch aktuellere, neuere Titel der Kinder- und Jugendliteratur zu lesen, auch wenn es zu diesen noch keine Unterrichtsmaterialien gibt.
Häufig wird auch vergessen, dass Kinder- und Jugendliteratur nicht nur als Themenlieferantin dienen sollte, sondern auch literarästhetische Bildung und die Förderung von Lesesozialisation in der Mediengesellschaft entwickeln helfen soll. Schule soll durch ihren Literaturunterricht Sozialisationsinstanz für Lesen und Literatur sein, und Kinder- und Jugendliteratur ebnet den Weg dafür. Dahrendorf weist auf die „unübersehbare Korrespondenz“57 von Kinder- und Jugendliteratur und offenem Literaturunterricht hin. Die Wechselwirkung von individuellen Interessen und Antrieben und der Gruppe (den Schülern) mache den Reiz des offenen Literaturunterrichts aus; daher sei die Kinder- und Jugendliteratur „prädestiniert für einen offenen Literaturunterricht, weil sie aufgrund ihrer immanenten Didaktik auf selbstständigen Literaturerwerb hin angelegt ist.“58
Diese Selbstständig- und Selbsttätigkeit spielt in Bezug auf das Lese-Film-Tagebuch eine bedeutende Rolle. Es gibt den Schülern die Chance, sich individuell ein Buch und einen Film anzueignen und nimmt dabei Rücksicht auf individuelle Lesetempi, Verstehensprozesse und Vorlieben der Auseinandersetzung (sofern den Schülern bei der Wahl der Aufgaben ein wenig freie Hand gelassen wird).
Der offene Literaturunterricht, für den die Kinder- und Jugendliteratur so „prädestiniert“ ist, kann zum Beispiel in Form des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts praktiziert werden.
3.2. Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht als Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz des Lese-Film-Tagebuchs
„ Denn handlungsorientierte Aufgaben vermeiden prinzipiell das abstrakte Reden ‚ü ber den Text, sie verlangen von den Schülerinnen und Schülern vielmehr ein mentales Sichbewegen in den Textwelten. “ 59 (Bildungsstandards)
Immer noch ist es im Deutschunterricht gang und gäbe, Texte so zu analysieren, dass die Schüler nach der Textrezeption den Inhalt erkannt und vorgeschriebene Interpretationenübernommen haben. Das Lese-Film-Tagebuch benötigt einen anderen Nährboden: einen, der offen ist für eigene Interpretationen und Wahrnehmungen, für Selbsttätigkeit und Kreativität. Diesen Nährboden bietet der handlungs- und produktionsorientierte Unterricht. Er kann als Kontrast- und Ergänzungsprogramm zur traditionellen Textanalyse und - interpretation gesehen werden und zielt auf die Eigenaktivität der Schüler durch kreative Auseinandersetzungsweisen mit einem Text60, beispielsweise durch Ergänzungen, Umgestaltungen oder durch die Transformation in andere Medien (Illustration, Vertonung, Film).61 Im Film wie in der gedruckten Literatur sind durch Schnittstellen oder Auslassungen und Zeitsprünge oft so genannte „Leerstellen“ gegeben, die durch schriftliche, künstlerische, musikalische oder sonstige Eigenproduktionen der Schüler ausgefüllt werden können. Der Leser/Seher nimmt also nicht nur Informationen auf, sondern vollbringt aktive und produktive Denk- und Vorstellungsleistungen.62 Durch diese Beteiligung an der Sinngebung eines Textes seitens der Schüler kann unter anderem die für literarische Kompetenzen unerlässliche Imaginationsfähigkeit (vgl. Kap. 2.2.2.3) gefördert werden.
Der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht bietet eine Chance für alternative Auseinandersetzungsweisen, vor allem für kreatives Schreiben und künstlerische Interpretationen. Dadurch zeigt sich ein Zugang zur literarischen Welt, der nicht analytisch (also begrifflich-abstrahierend) ist, sondern ikonisch-abbildhaft.63 Dadurch können sich auch Schüler, deren Stärke eher im gestalthaften Erfassen liegt, einen Text ebenso gut aneignen und erschließen wie durch eine traditionelle Textanalyse, die selbstverständlich zusätzlich berücksichtigt werden kann.
Ziel des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts ist eine verzögerte und damit intensivere Auseinandersetzung mit Texten und anderen Medien. Diese sollen nicht als etwas Fertiges, Unveränderbares wahrgenommen werden, sondern als Kommunikationsangebot an den Leser. Individuelle Lernwege sollen Beachtung finden, subjektive Begegnungen mit verschiedenen Medien zugelassen und verschiedene Rezeptionswege eröffnet werden. Produktionsorientierter Unterricht gibt Raum für ästhetische Erfahrungen, fördert Selbsttätigkeit und vertieftes Lernen.64
3.3. Ästhetisches Lernen im Literaturunterricht
„Ä sthetisches Lernen findet dann statt, wenn die Schüler mehr erfahren als beispielsweise Textinhalt und einzelne Gestaltungsmerkmale. Wenn Staunen, Weiterdenken, sinnliches Erleben sich mit dem Verstehen des Textes verbinden, kann meines Erachtens vonästhetischem Lernen im Literaturunterricht gesprochen werden. “ 65 (Ute Dickgreber)
Das im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Lese-Film-Tagebuch erhebt den Anspruch, neben literarischen Kompetenzen und Lese- und Medienkompetenzen auch ästhetisches Lernen zu fördern, da es den Schülern durch verschiedenste Aufgabentypen und Fragestellungen ein ausgeprägtes Wahrnehmen von Besonderheiten des Romans sowie des Films ermöglicht. Ute Dickgreber erläutert in ihrem Artikel „Intensivierung ästhetischer Lernprozesse im Fach Deutsch - produktionsorientierte und textanalytische Methoden im Vergleich“, ästhetisches Lernen im Literaturunterricht biete den Schülern Chancen der Persönlichkeitsbildung, da sie anhand des Textes Rückschlüsse auf ihr eigenes Empfinden, Leben und Texterleben ziehen könnten. Dies sei kaumüber den häufigüberbeanspruchten kognitiv-wissenschaftlichen Weg möglich, sondern vor allemüber den sinnlich-emotionalen Weg.66 Dieser wird beispielsweise im vorliegenden Lese-Film-Tagebuch durch bestimmte Aufgabentypen beschritten, die sich auf eine imaginativ-identifikatorische Art und Weise mit Roman- oder Filmausschnitten beschäftigen (vgl. Kap. 6.2).
Dickgreber entwickelte weiterhin aus zehn Merkmalen ästhetischer Bildung von Kraemer und Spinner Beurteilungskriterien67, an deren Maßstäben ästhetisches Lernen gemessen werden kann, und von denen die folgenden drei besonders relevant für diese Arbeit sind:
- Mit den Sinnen wahrnehmen:
Mit diesem Kriterium wird die Frageüberprüft, ob die angewendete Methode eine intensive Wahrnehmung durch Sehen, Hören und Fühlen ermöglicht. Sinnliche Wahrnehmung ist laut Spinner die Grundlage eines ästhetischen Zugangs zur Welt.68
- Imagination:
Mit diesem Kriterium wirdüberprüft, ob es durch die Verwendung der Methode gelingt, nicht nur den Text in den Mittelpunkt der Wahrnehmung zu stellen, sondern das eigene Empfinden und die eigene Persönlichkeit in den Blick zu nehmen. Träume, Ängste, Erfahrungen und Deutungen sollen in die Texterschließung einfließen.
- Subjektivität
Mit diesem Kriterium wirdüberprüft, ob die Methode es dem Schüler ermöglicht, sich im Text selbst wiederzufinden, da dadurch die eigene Persönlichkeit als wertvoll wahrgenommen wird.
Die Methode des Lese-Film-Tagebuchs erfüllt alle diese Kriterien. Sie ermöglicht den Schülern, eine Geschichte durch das Lesen des Buches und das Schauen des Filmes sehend, hörend und fühlend wahrzunehmen,
Die Aufgaben sind häufig so gestellt, dass sie das eigene Empfinden des Schülers erfragen und in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Die Persönlichkeit des Schülers spielt im Kontext der Lese-Film-Tagebuch-Arbeit eine außerordentlich wichtige Rolle. Immer wieder wird nach seinen eigenen Erfahrungen, Ängsten, Meinungen, Deutungen, Träumen gefragt, und immer wieder sollen von ihm Vergleiche mit Buchsituationen angestellt werden, sodass der Bezug zwischen Lebenswelt und Buchwelt beständig betont wird.
Das Lese-Film-Tagebuch scheint - gemessen an den oben genannten Kriterien - eine geeignete Methode zu sein, um sich Texte und Medien auf sinnlich-emotionale Weise zu erschließen und damit ästhetische Lernprozesse anzuregen.
3.4. Das Lesetagebuch als lesedidaktischer Ansatz im Deutschunterricht
„ Mit dem Einsatz des Lesetagebuchs im Deutschunterricht sind zwei Intentionen verbunden: zum einen werden Methoden des vertieften Umgangs mit Büchern gelernt und angewendet, zum anderen wird die allgemeine Methodenkompetenz der Schülerinnen und Schüler gestärkt und dadurch das selbstständige und eigenverantwortliche Lernen gefördert. “ 69 (Ingrid Hintz)
Betrachtet man die Geschichte des Lesetagebuchs, so ist zu erkennen, dass sich eine Veränderung hinsichtlich des Sinns und Ziels seines Einsatzes im Unterricht ergeben hat. Seit den sechziger Jahren ging es zunächst hauptsächlich darum, im Lesetagebuch privat gelesene Bücher zu dokumentieren. Was aber dokumentieren, wenn privat kaum noch gelesen wird? Das Lesetagebuch wandelt sich. Seine Funktion liegt heute nicht mehr in der Auflistung gelesener Lektüren, sondern dient vielmehr als Hinführung zum Buch, zum Lesenüberhaupt70, um Lesemotivation bei den Schülern aufzubauen, denen das Lesen als Freizeitbeschäftigung vollkommen fremd oder unlieb ist. Durch eine schriftliche und künstlerische, vor allem aber durch eine grundsätzlich selbsttätige, produktive Auseinandersetzung soll ein intensives Lesen ermöglicht werden, das gleichzeitig Literaturverständnis fördert, zum Lesen weiterer Bücher motiviert sowie ein Reflektierenüber sich selbst als Leser gestattet. Besonders wertvoll und förderungswürdig ist auch der entstehende Zusammenhang von Textrezeption und -produktion71, die sich gegenseitig begünstigen können.
Für den Schüler liegt der Vorteil eines Lesetagebuchs darin, dass er nach der Lektüre des Buches ein „Beweisdokument“, also ein sichtbares Ergebnis seiner Bemühungen hat, sich auf selbstständige Weise mit einem Buch auseinandergesetzt zu haben. Dies kann sich sehr positiv auf die Lesemotivation auswirken.72
Die Lehrperson erhält durch das Lesetagebuch Aufschlussüber das tatsächliche Textverständnis der Schüler, sowieüber ihr Ausdrucksvermögen, ihre Interessen und ihre Lesekompetenz.73
Das Lesetagebuch taucht in verschiedenen Varianten auf. Das so genannte „freie Lesetagebuch“ ist meist ein leeres Din-A5- oder Din-A4-Heft, in dem die Schüler ihre Gedanken, Gefühle und Ideen hinsichtlich des gelesenen Buchinhalts, also ihre Leseeindrücke, festhalten. Auch das eigene Befinden während des Lesens, Begründungen von Leselust oder -unlust sowie Meinungsäußerungen können neben fiktiven Dialogen mit Buchcharakteren oder Autoren und neben Figurensteckbriefen oder Zitaten von besonders beeindruckenden Textstellen in das Lesetagebuch aufgenommen werden. Zur Inspiration der Schüler können Vorschläge zu denkbaren Auseinandersetzungsmöglichkeiten an der Tafel gesammelt werden, die dann allen Schülern in gedruckter Form zugänglich gemacht werden. Die Lehrperson kann auch einen Kanon von Anregungen herausgeben. Eigene Ideen der Schüler sind dabei durchweg geduldet, ja sogar erwünscht.
Wie frei und selbstbestimmt die Auseinandersetzung mit der Lektüre im Lesetagebuch stattfindet, ist der Lehrpersonüberlassen und sollte von der Situation der Klasse, deren Lernund Leistungsniveau sowie dem Bekanntheitsgrad einer solchen zur Selbsttätigkeit erziehenden Methode abhängig gemacht werden. Die Anregungen können verpflichtend, teilweise verpflichtend, oder eben - wenn es sich tatsächlich nur um Anregungen im eigentlichen Sinne handelt - gar nicht verpflichtend sein.
Sind die Anregungen buchbezogen und in Form von konkreten Aufgaben an Kapitel oder Abschnitte im Buch gebunden, so gibt es auch hier unterschiedliche Handhabungsweisen. Arbeitsblätter oder Karteikarten können kopiert und in die Lesetagebücher eingeklebt werden.74 Es gibt jedoch auch ganze Hefte, die mit vorgegebenen Aufgaben speziell auf ein bestimmtes Buch eingehen. Diese werden auch als „vorstrukturierte Lesetagebücher“ oder „Lesebegleithefte“ bezeichnet.75 Der Anteil an obligatorischen Aufgaben ist auch hier von der Lehrperson zu bestimmen.
Ein solches vorstrukturiertes Lesetagebuch wird in dieser Arbeit präsentiert - jedoch in einer neuen, innovativen Form, die das Medium Film integriert und damit zwei Arten von Medien kombiniert. Es enthält Anregungen zur Auseinandersetzung mit Cornelia Funkes Werk „Herr der Diebe“. Es sind aber auch eigene Ideen der Schüler erwünscht, so dass die Aufgaben dort eher als Angebot und Hilfe denn als Pflicht aufzufassen sind.
3.5. Abgrenzung des Begriffs Lesetagebuch vom gewöhnlichen Tagebuch
Im Folgenden soll der Unterschied verdeutlicht werden, der zwischen dem gemeinhin bekannten, privaten Tagebuch und dem in der Institution Schule eingesetzten Lesetagebuch besteht.
3.5.1. Zum Begriff des privaten Tagebuchs
Unter einem Eintrag im Tagebuch versteht man gemeinhin das Notieren von Ereignissen oder Gedanken im Leben einer Person. Dieser Eintrag beginnt in der Regel mit dem Datum des Eintragungstages, um später das Geschriebene zeitlich einordnen zu können. Das Datum am oberen Seitenrand ist ein charakteristisches Merkmal der Textform Tagebuch. Daher wird das Datieren des Tages auch im vorliegenden Lese-Film-Tagebuch beibehalten. Ebenso sind die völlig offenen und von Regeln der Grammatik und Rechtschreibung unabhängigen Vermerke charakteristisch76 - diese reichen von stichpunktartigen Notizenüber kurze Zusammenfassungen bis hin zu detaillierten, ausformulierten und sprachlich gut durchdachten Aufsätzen. Gerade bei jüngeren Schreibern fungiert das Tagebuch oft als Dialogpartner oder Brieffreund, den man als Person begrüßt und anspricht, beispielsweise durch die Floskel „Liebes Tagebuch“. Hier führt der Schreiber einen Briefwechsel mit einem fiktiven Individuum, also im Grunde sich selbst, und reflektiert dadurch unter anderem seine eigene Person.
Eintragungen in ein persönliches Tagebuch sind nicht beschränkt auf rein schriftliche Darstellungen von Sachverhalten. Sie können beliebig erweitert werden durch Illustrationen, Skizzen, eingeklebte Fotos, ausgeschnittene Bilder, Postkarten, gepresste Blumen und allem, was der Tagebuchführende für dokumentierenswert erachtet.
In der Regel sind Tagebücher rein private Dokumente, zu denen niemand außer dem Schreiber (und eventuell sehr vertrauten Personen) Zugang hat. Dies ist im Lesetagebuch anders.
3.5.2. Zum Begriff des Lesetagebuchs
Ein Aspekt, der ein Lesetagebuch von einem privaten Tagebuch unterscheidet, ist seine Anwendung im schulischen Kontext. Dies impliziert, dass es eine von der Lehrperson initiierte Methode und damit nicht mehr rein privat, sondern mindestens einer Person, nämlich dem Lehrer, zugänglich ist.77 Dies birgt die Gefahr, dass mitunter nicht das geschrieben wird, was der Schüler tatsächlich denkt, da er sich derüberprüfenden Einsicht des Lehrers in seine Notizen bewusst ist. In jedem Fall muss den Schülern vor Beginn der Eintragungen in die Lesetagebücher bekannt gegeben werden, was mit ihren Notizen geschieht und welche Personen befugt sein werden, diese zu lesen. Es muss stets damit gerechnet werden, dass im schulischen Kontext der Tagebuch-Charakter verfälscht wird - auch dadurch, dass es sich, wenn das Lesetagebuch in der Schule geführt wird, nicht immer um freiwilliges Tun handelt.78
Die Bezeichnung „Lesetagebuch“ ist vermutlich vor dem Hintergrund entstanden, dass es als Sonderform des allgemeinen Tagebuchs gelten kann, da dort dokumentiert wird, was an bestimmten Tagen gelesen worden ist.79 Auch „Lesejournal“, „Lesebegleitheft“ oder „Leseheft“ sind mögliche Definitionsbegriffe. Stets ist zu beachten: Je freier die Eintragungen vorgenommen werden dürfen, und je weniger Lenkung dabei durch die Lehrkraft stattfindet, desto näher kommt das Lesetagebuch der Form seines Verwandten, dem privaten Tagebuch.80
[...]
1 Sahr (1997), S. 20f.
2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei geschlechtsspezifischen Begriffen meist die maskuline Form verwendet. Zu verstehen sind darunter selbstverständlich beide Geschlechter.
3 Vgl. Abraham (2009), S. 7, sowie Sahr (1997), S. 5, und Lange, (1993), S. 98.
4 Zum Beispiel die jüngste Studie der Stiftung Lesen: „Lesen in Deutschland 2008“.
5 Vgl. Storm (2009), S. 5.
6 Als umfangreichstes Forschungsbeispiel sei hier genannt: Hintz, Ingrid: Das Lesetagebuch. Intensiv lesen, produktiv schreiben, frei arbeiten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 22005.
7 Sahr (1997), S. 20f.
8 Vgl. PISA-Ergebnisse 2001: Jeder fünfte 15-jährige Schüler erreicht nicht einmal die für die Lektüre einer gewöhnlichen Tageszeitung notwendige Kompetenzstufe. (Vgl. Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008, S. 9.)
9 Exemplarisch für andere Kerncurricula wird hier das niedersächsische Kerncurriculum für das Fach Deutsch in der Grundschule herangezogen. Mit dem vorliegenden Lese-Film-Tagebuch kann aber ebenso gut auch noch in höheren Klassen gearbeitet werden, da die Romanvorlage und die Literaturverfilmung auch Kinder und Jugendliche ansprechen, die die Grundschule bereits verlassen haben.
10 Bremerich-Vos u. a. (2009), S. 14.
11 Ebd., S. 16.
12 Vgl. Bremerich-Vos u. a. (2009), S. 114.
13 Ebd., S. 19., Niedersächsisches Kultusministerium (2006): Kerncurriculum, S. 21-26.
14 Niedersächsisches Kultusministerium (2006): Kerncurriculum, S. 21.
15 Vgl. Bremerich-Vos u. a., S. 107.
16 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (2006): Kerncurriculum, S. 21.
17 Hurrelmann (2005), S. 904f.
18 Vgl. Rosebrock (2003), S. 154.
19 Vgl. ebd., S. 154.
20 Vgl. ebd.
21 Vgl. Abraham (1998), S. 12.
22 Vgl. Niebuhr; Ritterfeld (2003), S. 101.
23 Vgl. Hurrelmann; Hammer; Nieß, (1993), S. 69f.
24 Vgl. Garbe; Philipp; Ohlsen (2009), S. 206.
25 Ebd., S. 89.
26 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum, S. 5.
27 Härle; Rank (2004), S. 1.
28 Vgl. Spinner (2007), S. 4.
29 Vgl. Schreier (2004), S. 402.
30 Vgl. Hurrelmann (2008), S. 24.
31 Vgl. Abraham (1998), S. 29f.
32 Vgl. Spinner (2006b), S. 7f.
33 Vgl. ebd., S. 9.
34 Vgl. Rosebrock (1998), S. 103.
35 Haas (2007), S. 35.
36 Vgl. Spinner (2007), S. 5.
37 Kumschlies (2007), S. 22f.
38 Vgl. Kumschlies (2008), S. 22-27.
39 Vgl. Abraham (1998), S. 29, 32.
40 Vgl. Graf (2007), S. 69.
41 Vgl. Ewers (1997), S. 59.
42 Vgl. ebd., S. 57f.
43 Inhaltlichübernommen aus: Härle; Rank (2004), S. 2.
44 Wermke (2006), S. 99.
45 Vgl. Hohmann (2002), S. 29.
46 Vgl. Barsch (2006), S. 66.
47 Vgl. Groeben (2002), S. 160-197.
48 Vgl. Hohmann (2002), S. 30f.
49 Vgl. Bartsch (1999), S. 12.
50 Vgl. Schreier (2004), S. 409.
51 Vgl. Hurrelmann (2003), S. 12.
52 Vgl. Schreier (2004), S. 413.
53 Vgl. Richter (1998), S. 123.
54 Moers (2001), S. 85.
55 Dahrendorf (2001), S. 23.
56 Vgl. Rosebrock (1997), S. 11.
57 Dahrendorf (2001), S. 24.
58 Ebd.
59 Bremerich-Vos u. a. (2009), S. 120.
60 Kommentare zu literarischen Texten sind hier immer auch als Kommentare zu literarischen Medien wie z. B. Literaturverfilmungen zu betrachten.
61 Vgl. Spinner (2003), S. 175.
62 Vgl. Hintz (2005), S. 48.
63 Vgl. Spinner (2003), S. 178.
64 Vgl. Hintz (2005), S. 50f.
65 Dickgreber (2008), S. 231.
66 Vgl. ebd.
67 Vgl. ebd., S. 232.
68 Vgl. Spinner (2008), S. 9.
69 Hintz (2000), S. 35.
70 Vgl. Hintz (2005), S. 67f.
71 Vgl. ebd., S. 78.
72 Vgl. Langemack (1989), S. 13.
73 Vgl. ebd.
74 Vgl. Hintz (2000), S. 34.
75 Vgl. Hintz (2005), S. 84.
76 Vgl. ebd., S. 86.
77 Vgl. Hintz (2005), S. 91.
78 Vgl. ebd., S. 92.
79 Vgl. ebd., S. 91.
80 Vgl. ebd., S. 92.
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